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Am 11. Februar 1933 wird Rudolf Hans Bartsch sechzig Jahre alt …
Siehe, du ewiger Deutscher, der du schon in der Nibelunge Not die Donau rauschen hörst und Walter den Vogelweider aus Österreich kommen sahst, der du Haydn, Mozart, Schubert, Bruckner, Raimund, Grillparzer, Schwind, Waldmüller, um nur ein paar zu nennen, als die Kinder des gleichen Österreich empfingst und seine große Geschichte, die ja nur ein Teil der deinen ist, seine merkwürdigen Menschen zu deuten weißt, dieser zur Feier eines zufälligen Alters Angerufene, der noch immer ein Jüngling ist und es in unbegreiflicher Gnade wohl bleiben wird bis in sein spätes Grab, ist »Österreichs« letzter Dichter. In ihm ist unsterblich vereinigt das zauberische Gut dieses Landes, das nicht nur Erde und Blut und Schicksal war; sein Österreich war ein Gefühl, eine Idee, ein Klang mit tausend Untertönen; es war ein Reich der allmählich und immerfort hochgezüchteten Seele, nicht aber ein Besitztum für die Landkarte. Von nirgendwo anders konnte dieser Dichter kommen, als von Österreich, schon hat er die Wärme mittägiger Sonne in sich, aber auch noch den Schneehauch der Firne, Früchte des Südens reifen in ihm, der Wein, das Welschkorn, die Edelkastanie, Sagen des Nordens raunen um seinen Kopf. Und nirgendwo andershin konnte dieser Dichter gehen, als in das ewige Deutschland, denn nur es hat Raum und Sinn für so glückhaften Überfluß an dichterischem Zustrom.
Als diese vorliegende Geschichte von den »Zwölf aus der Steiermark« erschien, ein Buch, das keine Vorläufer besaß und mit einer Frische ohnegleichen in die deutsche Dichtung sprang, da wanderte nicht nur der alte Peter Rosegger nach Graz, um dem neuen Dichter die Hand zu drücken. Es gab einen regelrechten Aufruhr im geistigen Deutschland, denn da war plötzlich ein herrlicher Rebell aus seiner Namenlosigkeit erwacht und hatte die unerhörte Kühnheit zu einem völlig neuen Ton. Damals war es der süße, seltsame, schon fast südliche Gesang, in den die Bäume von Graz rauschten, der auch die Nüchternen bezwang, denn niemand hatte je vorher solchen Aufbruch des Herzens zu bekennen gewagt; damals war es der Hauch des Mittelmeeres, der bis an die Mauern von Graz reicht, Seligkeit des südsteirischen Rebenlandes und Luft dieser lustreichen Stadt der Jugend, die den überraschten Lauscher bezauberten, lauter Dinge des sinnlichen Geschehens; damals entzückte uns der Wandel der Zwölf, ihre Liebe, ihre Betörtheit, ihr Glück und Ende. Heute, dreißig Jahre später, ist dieses Buch noch immer unserem Herzen nahe, nun aber durch seine besinnliche Schwermut, seine besessene Nachdenklichkeit. Einmal bewegte es uns, daß Kantilener eine schöne Frau liebt, daß Helbig sich ein ungewöhnliches Sterben wünscht, und daß Wigram seine wunderlichen Briefe an den Deutschen Kaiser schreibt. Nun aber schauen wir durch Liebe, Tod und Rausch hindurch, heute wissen wir, daß sie durchsichtig sind wie Glas, weil sich hinter diesen endlichen Ereignissen ein Urewiges bewegt. Sinnfälliges erhält nun seinen letzten Sinn, seine tiefere Deutung. Er wußte es von Anbeginn, wir brauchten ein ganzes Lebenswerk des Dichters, um zu erkennen, daß er ungewandelt bleiben wollte von dem ersten Ruf seiner Sehnsucht an, die Menschen glücklich zu machen. Alle seine Geschichten sind Umwege dahin, alle seine Gestalten sind letzten Endes nur ein Vorwand.
Gewiß: diese Gestalten sind unvergeßbar, denn sie sind ja ein Stück unvergängliches Österreich, auch dann, wenn auf ihren Herkunftsschein nicht der österreichische Amtsstempel gedrückt ward. Aber vielleicht werden sie, die auch nur der Ausdruck eines endlich in Geschichte und Erinnerung mündenden Zeitalters sind, einmal sterben, wie eben Menschen sterben müssen, ob sie nun von Gott oder dem Dichter erschaffen wurden; doch darauf kommt es ja nicht an, von Bedeutung ist nur, was sie an seelischem Erbgut hinterließen, ob sie so inbrünstig lebten, daß sie mit deutlichem Nachhall auch im Tode noch fortdauern dürfen. Wesentlich ist, ob sie der Tonart, für die sie sich einmal entschieden, so durchgehends treu waren, daß sie als ein Eigenes im Ohre haften bleibt. Die Menschen von Bartsch nun, sie werden nicht nur ein Zeugnis ablegen für den Gehalt ihrer geographischen und geistigen Heimat, eben jenes ewigen Österreich, wie es etwa die Menschen bei Dostojewski für Rußland, die von Hamsun für Norwegen, und jene Flauberts für Frankreich tun, während ihnen allen natürlich das Menschliche schlechthin ohne Rücksicht auf ihre Urheimat gemeinsam sein wird, sie werden vielmehr bezeugen, daß sie alle zusammen nur eine Gestalt waren, mit vielen Namen benannt, zu verschiedenen Handlungen bestimmt, aber doch nur aus einem Grunderlebnis schöpfend; in ihnen trug der Dichter selbst immer neue Masken, sie waren nur der Ort seiner eigenen Verwandlung, und dieses Spiel auf der Bühne des Geschehens, oft nur ein Spiel aus dem Stegreif, aus dem Handgelenk, vom Dichter selbst gering geschätzt, war ein nebensächlicher Trug. Er hat es durch die gelenkige und berauschende Kunst, mit der er sein eigener Schauspieler war, den Meisten nicht leicht gemacht, den betörenden Klang seiner Stimme zu überhören und ihn frühzeitig schon zu durchschauen. So kam es, daß anfangs viele das bunte, selten schöne Gehäuse des Vortrags allein schon für Geschenk genug hielten und kaum ahnten, daß hier ein glücklicher und berufener Jemand daran war, eine neue Heilslehre zu verkünden; so kam es, daß seine Anhänger, die ihn von seinen früheren Büchern als einen anderen in Erinnerung zu haben glaubten, zuerst verwundert und ungläubig aufhorchten, als im »Er« zum erstenmal seine tiefere Absicht sich eindeutig zu erkennen gab. Nehmen wir zum Beweise auch einmal sein gepriesenes und verkanntes »Schwammerl«. Obwohl bestätigt und entschuldigt durch das wirkliche Ereignis im vormärzlichen Wien, im Kreise der musischen Freunde, das der Dichter nur nachzubilden brauchte, obwohl jede Zeit die Toten auf ihre eigene Weise erweckt und verlebendigt, ward die lockere Hand dennoch gescholten, weil sie dem ohnehin bunten Leben Schuberts einige farbige Schleifen anhing. Wie wenig aber wiegt diese herzliche Liebesgeschichte im Glasererhaus, mag sie auch durch die Operette noch so viel an Gewicht empfangen haben, wie wenig wiegt sie gegen die rührende und aufrührende Geschichte des Genies, gegen die sanfte Schwermut der Melodie, gegen das unvergleichbare Naturerlebnis. Freilich, später dann, eine köstliche Ernte der sechzig Jahre, ist dieses Naturerlebnis im reinen Kristall gewonnen, es ist nicht mehr aufgelöst in einer reifen, süßen Frucht, es ist für sich selber da, und nun, da der Dichter davon redet, wie »das Glück des deutschen Menschen« beschaffen sein muß, wie es zu erlangen ist, wie es Verzweifelnde zu erlösen imstande wäre, und jetzt, da er in einem tröstlichen Buche ein Beispiel gibt, »wie wir unsere Armut tragen« sollen, muß es endlich auch für die Blindesten und Taubsten offenbar geworden sein, was seines Amtes ist: ein zeitloses Glück zu lehren, durch das die Menschen, naturnäher, naturwahrer geworden, besser und fröhlicher leben könnten. Niemals ist eine Weisheitslehre gepredigt worden, die so heiter und so ernst in einem Atemzuge war, und dies ist das Schönste, Weiseste an ihr: wer sich von ihr bekehren läßt, dem ist nicht die große Wanderung nach Damaskus aufgetragen, gefordert ist von ihm nur ein kleiner Schritt in sich selbst zurück.
Es will mir scheinen, als ob es kein Zufall, keine beiläufige Laune, sondern eine vom höheren Sinn des Dichterlebens gefügte Eigentümlichkeit wäre, daß die Namen seiner Novellenbücher auch die Reihe seiner hauptsächlichsten greifbaren Eigenschaften ergeben, mit denen er von der Oberfläche der Dinge her erklärt werden könnte. Mit der Lust des wirklichen, nicht erschöpfbaren Geschichtenerzählers berichtet er in seinen Büchern eine Unmenge von »Histörchen«, kleine, eingestreute Anekdoten von vollkommener Rundung und feinster Spitze. Doch es ist nicht nur das nackte Ereignis, das er hingibt, wie auch seine Landschaft niemals nur das seelenlose, nur rein natürliche Bild bleibt, das durch die Sinne eingeht, es weht stets ein Hauch von unwirklicher, seelischer »Musik« darum. Weil er nie den Hang besaß, das allzu robuste Leben zu begreifen, weil er Jäger war nicht nur, um das Wild selten genug zu töten, sondern mehr noch zu hegen, weil er tief in sich eine pflanzenstille, erleidende Natur zu bewahren wußte, gerieten ihm die Begebenheiten um Frauen meist zu »Bittersüßen Liebesgeschichten«. Und auf der Flucht vor Enttäuschung und Gegenwart kam er zu einem Zeitalter, das sich seiner zärtlicher, spielerischer Grazie nicht abholden Art leicht erschloß. Freilich: es war wieder nicht die gesättigte Höhe der Zeit an fremdem Gestade, er dichtete sich in das »Sterbende Rokoko« hinein, das der Besinnung näher ist als der blinde Taumel vollen Lebensglückes. (Später dämmert ebenfalls der Schatten des Todes über »Das Lächeln der Marie Antoinette«.) Diese halb schmerzlichen »Unerfüllten Geschichten« sind es, die sich für einen zum Licht Erwachten, der dem heißen Leben aber doch nicht völlig abschwören kann, gerade noch lohnen, denn ihr unzulängliches Ende entsühnt und entschuldigt zuletzt ja die menschliche Torheit. Es ist dafür gesorgt, daß in einem richtigen Mannesleben die Sünde von der Buße abgelöst wird und diese wieder von der Sünde. Denn »Wild und frei« muß es manchmal aller Fesseln spotten können. Wild und frei ist in unserem Falle nicht nur die Gabe, das verrückte und tiefsinnige Leben an sich zu reißen, wild und frei ist auch der Ingrimm gegen äußerliche Sucht, mit dem er seine Jünger zu erfüllen hofft. Es ist etwas von dem heiligen Zorn und Eifer der Religionsstifter an ihm, die immer wieder Händler und Wechsler aus dem Tempel zu verjagen haben. Die ihn, gewöhnlich nur Stumpfen und Mißwollenden nachredend, weich und verzärtelt, täntelnd oder überhitzt schelten, die wissen nicht, wie männlich wild und frei, wie männlich ernst und gefaßt er zu sein vermag.
Was sind sechzig Jahre eines Auserwählten? Ein Augenaufschlag, nicht mehr; denn noch ist in ihm die rührende Reinheit des Kindes, dem alles wahr ist, was es wahr zu haben wünscht, aber auch die gottvolle, das heißt buchstäblich: des Gottes volle Herrschsucht des Kindes, dem diese Erde nur eine einzige Landschaft ist und die Ewigkeit ein winziges Atom, die köstliche Angstlosigkeit des Kindes, das noch nicht die zwar heilsamen, aber doch traurig beengenden Maßstäbe der Ordnung achtet, und die sich wunderbarerweise schon in dem Knaben vermaß, an Kaiser Franz Joseph I. zu schreiben. Wie dies damals in dem süßen, reinen Kinderglauben wirklich geschah, wie es Bartsch seinem Cyrus Wigram andichtet, daß er an Kaiser Wilhelm II. schreibt, so schreibt er selber immer wieder in jenem Glauben, der imstande sein soll, Berge zu versetzen, an die Geringen und Mächtigen dieser Welt; ja, er schreibt wohl auch an Gott. Manches seiner Bücher ist ein langer Brief, der jene, an die er gerichtet war, noch nicht erreicht hat, manches ein Gesang, der in einem letzten Winkel immer noch nachhallt. Könnten wir, die wir daran gehen wollen, die Städte aufzulockern, die wir ihre stillen Ränder ferner draußen im grünen Lande besiedeln möchten, je vergessen, daß er es uns lehrte, von geringem Besitze beglückt, über ein »Ewiges Arkadien« hinzuträumen? Wissen wir es nicht von ihm, wie sich ein williges Leben in beseligendem »Heidentum« aufzulösen vermag? Und es ist etwa nicht nur eine schöne, heilige, für sich währende Anekdote, wenn er erzählt, wie Christus nach seiner Auferstehung noch einmal auf Erden zu wandeln begann und erst starb, als er auch das Tier erlöste, denn »Erlösung« ist nicht ein Vorrecht des Menschen; für jemand, der an das Bruderhafte der Geschöpfe glaubt, nein, nicht glaubt, denn Glaube stammt von Erziehung, für jemand, der in dieses urhaft Gemeinsame hinein geboren ward, ist Erlösung in jeder Form der Sinn stofflichen Daseins. Und wie Bartsch in dem andachtsvollen Buche, dem »Er« seinen Namen und seine Güte gab, es ist ein Gedicht von unirdischer Melodie, und der Geist Hölderlins könnte es beträufelt haben, den Heiland und Pan einander begegnen läßt, so berühren sich in ihm selbst Christ und Heide.
Was ist das Geheimnis einer währenden Jugend? Nicht nur der Leidenschaft des Jünglings ergeben bleiben in immer gleich frischer Neigung für die animalischen Wunder und sich des rascheren Blutes nicht schämen, denn es ist ja eine Gabe der wohlmeinenden Natur, sondern mehr noch: sich trotzdem nie erfüllen, immer voll Sehnsucht und Unruhe sein, die Satten bedauern und verachten, die ewig Hungrigen, die Fiebernden umarmen, den Wildgänsen nachtrauern und sie doch mit tiefem Erschrecken wiederkehren sehen, und jeden ersten Kuß mit Bangen erwarten, denn in seinem Honig lauert schon der Tod. Darum rast »Elisabeth Kött« durch ihr wunderbares Leben, unter ihren Sohlen brennt die Erde, und ihr Herz schreit das Weiter! Weiter! gleich einem unirdischen Zugvogel; darum zerrinnt das geliebte Leben des süßen Hannerls in den Händen Van den Boschs; darum wendet Franz Schubert aus einem bunten Dasein sein Gesicht zu einer grauen Wand und stirbt. Zu dieser Sehnsucht, die nie in vollendendem Tode erlischt, gehört nun auch, daß irgend einmal jede der heiteren Figuren mitten in Genuß und großer Lebensfeier stockt und sich, wenn auch oft nur für Augenblicke, dem Rätsel einer plötzlichen Besinnung ergibt; die verschiedenen Himmelmayer opfern auf ihre Weise dem dunklen, nachdenklichen Gotte; dazu gehört aber auch, daß der Dichter düstere Menschen von Natur aus, die zu Weltabkehr und gewollter Vereinsamung neigen, wie Beethoven, Schopenhauer und sein »Lukas Rabesam«, der, eine der seltsamsten, schönsten Gestalten im geträumten Deutschland, verdichtet ist aus Wunsch und Leiden einer großen Zeit, daß er also diese Geister mit beschatteten Stirnen von dem sanften Lächeln menschlicher Schwäche angolden läßt. Wie es niemandem sonst hätte einfallen dürfen, Schopenhauer den »großen alten Kater« zu heißen, weil es nur in dem einzigartigen, nie nachbildbaren Tonfall dieses Dichters geschehen kann, so hat er nicht selten sonderbare, ja gefährliche Meinung ausgesprochen, und man hat sie ihm gerne geglaubt, denn wie sein blaues, sich unbeschreibbar ansaugendes Auge bezaubert, das helle, scharfe Auge eines Jägers und Wanderers, wie kaum ein zweites »zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt«, so hat auch sein inneres Gesicht eine unerhörte Kraft der Werbung. Vieles daran läßt sich ja wohl mit Hilfe äußerer Lebensumstände deuten, aus der Mischung des Blutes, aus der Ahnenschaft, zu der auch der schlesische Schuster Jakob Böhme zählt, aus frühem Umgang mit eigenwillig geratenen Prachtstücken von Menschen, und stets war er angeatmet von der panisch berückten Natur. Aber dann kommt man zu einer Stelle, da hört plötzlich jene gegenständliche Deutung auf, und es beginnt etwas Geheimnisvolles, etwas Unwiedergebbares, das diesen Dichter erst vollendet. Jedesmal, wenn ich ihm gegenübersaß, habe ich dies leise erschauern, manchmal auch befangen Machende gespürt, ich wußte ihm keinen Namen zu geben, ich könnte nicht einmal die Form seiner Wirkung annähernd benennen, doch es ist dieselbe nervenüberrieselnde Ahnung, die aus den meisten seiner Bücher kommt, die dort freilich nicht ein vollkommener Kristall werden konnte, weil das Gestaltwerden natürlicherweise noch beschränkter sein muß wie das Nachhören. Aber gerade dieses Geheimnis, das man nur an ganz wenigen Menschen zu fühlen meint, vielleicht ist es Einbildung, vielleicht auch nicht, mag es welcher Herkunft immer sein, ist erregend schön. Und es erklärt den frühen Erfolg, es sichert auch die späte Wiedergeburt. Um seinetwillen wird dieser Dichter immer wieder auferstehen.
Es ist eine sonderbare Gewohnheit geworden, das seelische Bild eines Dichters zu betrachten, als wäre es nicht das Bildnis eines Geschöpfs aus Fleisch und Blut, ihn sich als einen düsteren, feierlichen Stubenhocker, als einen eleganten, behutsam sich gebärdenden Herrn oder aber auch als einen Wildling außerhalb aller Ordnung zu denken. Das kommt her von alter, überlebter Meinung, das kommt aber auch von dieser entsetzlich törichten Überschätzung alles Geistigen. Die gelassene Kühle, die an sich sehr schöne Ruhe Einzelner war anfangs nichts anderes als ein Ersatz für den schmerzlichen Mangel an dem brausenden Urton. Sie werden nicht dauern. Dauern werden die leidenschaftlichen, die unbedingten Prachtkerle, dauern wird von allen unter ihnen am längsten, der ihnen voranging, dieser heißblütige, hinreißende Steirer, den sie heute ja noch gar nicht völlig begreifen, den sie um irgend eines nebensächlichen Lautes willen mißverstehen, vielleicht sogar auch mißverstehen wollen, dessen Zeit – wüßte ich nur alles so gewiß! – erst kommen wird, dauern wird seine Art, dieses wilde, schöne Leben nicht zum sorgsam zurechtgestutzten Stoff zu machen, sondern sich kopfüber hineinzustürzen, auch auf die Gefahr hin, sich für einige Zeit darin zu verlieren. Ein Dichter wie Bartsch ist nicht wägbar, nicht zählbar, er ist launisch und gesetzmäßig wie die Jahreszeiten, er vergaß große Bildung, Zeitnähe und Menschengewalt, und weil er sie angstlos hingab, kehrten sie ihm auf einer höheren Ebene wieder. Darum ist vor aller Augen seine Ernte scheinbar mühelos, weil er im geheimen so mühevoll säte; freilich, die Gnade war immer bei ihm. Nur die Lieblinge der Götter dürfen sich solcherart verzaubern lassen, sie sind dann in ihrem Vorzug unheimlich, allerdings zauberhaft unheimlich.
Der Dichter hat manchmal geklagt – und ich selbst habe es einigemale von ihm gehört – daß er den großen Umfang seines Lebenswerkes bedauere, daß er sparsamer und schweigsamer hätte sein müssen. Ach, wie sehr versündigt er sich gegen den heiligen, immerwährenden Zustrom der Quelle. Heiße den Wind, nicht mehr zu wehen, und den Saft in den Bäumen, nicht mehr zu steigen! Heiße ein solch glühendes Herz, solche brennende Unruhe verstummen! Es gibt einen Geist, der schweigend wirkt, und wieder einen anderen, der es nur redend vollbringen kann. Jenen aber, die nur nach dem Zollstab geraten sind, ist als Geringstes eine andächtige Verwunderung aufgetragen über Phantasten, Eiferer und Rebellen. Diese seltenen Menschen sind erschaffen, sich zu verschwenden, sie haben die Gnade empfangen und den Beruf, sich zu verschenken ohne Beschränkung, ohne Vorbehalt, ohne Maß. Erschauernd erkennt man ihr wunderbares Stigma, sie selber aber wissen es oft gar nicht. Sie haben menschliche Gestalt nur angenommen, weil sie auf irgend eine sichtbare und für diese Erde geläufige Weise wirken müssen, in Wirklichkeit sind sie ein Stück der panischen Natur. Neun von zehn unter ihnen, nein, was sage ich: von hundert bis auf einen alle anderen, verbrennen wie ein Meteor. Ihr kurzes Leuchten hat den Glanz aller übrigen bürgerlichen Sterne in sich. Ihr Augenblick besiegt die Ewigkeit der andern. Hier aber brennt Einer seit dreißig Jahren und länger, seine Glut ward manchmal wohl stiller, aber immer war es Glut, und nie währte es lange, bis wieder eine Flamme aus ihr hochschlug. Ja, wenn sie mühsam genährt hätte werden müssen, wenn sie erloschen wäre und abermals entzündet hätte werden sollen – wieviele mühen sich um solches kärgliche, erbarmungswürdige Feuer – dann dürfte der Dichter klagen. Aber rauscht sein Blut nicht empor, als wäre in ihm die Gewalt aller Geschlechter seiner Familie bis zu Adam zurück angebohrt? Er kann sich dem Druck dieser Fontäne nicht widersetzen, sie reißt auch ihn mit sich. Niemals spielt oder dichtet er ja nur seinen wilden Rausch, es ist immer der Rausch selber, der sich den Schülern dieses einmaligen Dichters mitteilt. Und Himmel und Hölle lassen sich nicht befehlen, wann sie sich dem Auserwählten öffnen sollen. Er muß zur Gnade und Sünde nur bereit sein; wie oft sie sich dann ereignen, das ist nebensächlich. Jeder Sturz in die Nacht, jede Erhöhung in das Licht ist verursacht von der Einsicht eines höheren Willens; darum ist jede Eingebung, jede Meinung des Dichters wesentlich. Dieses muß wider ihn selbst behauptet werden, und es gibt in der Weltgeschichte erhabene Zeugen dafür. Menschlicher werden sie durch Irrtum und irdischen Mangel; aber auch durch eingebildete Schuld.
Hier ist in dieser alltäglichen, auf nichtigen Zweck bedachten, nüchternen Zeit noch Einer, ein Letzter, der den gar nicht so einfachen Mut besaß, sein eigenes Leben zu leben, und er versündigte sich dabei nicht etwa an dem Gesetz der Menschengemeinde. Er hat ihr brav und innig gedient, sogar nach dem Buchstaben, nicht nur nach dem Sinn, ihrer viele von seiner Art würden nicht, wie manche meinen, das Gefüge der Welt zerstören, es wäre dann nur undenkbar, daß Gott aus ihr verbannt sein könnte, Gott in seinen vielen Gestalten, wie ihn mannigfaltiger Wunschtraum erschuf; Bartsch hat nur den Ameisenstaat verflucht, den Betrieb, den Wahn, der bewußte Mensch sei der geheiligte Mittelpunkt. Er tat es mit deutlichen Worten, in jeder seiner Erzählungen stehen sie, fast jede seiner Gestalten legt irgend einmal für ihn so ein Bekenntnis ab, und er vollbrachte es auf seine Weise, indem er ein Beispiel gab, wie man berauscht zu sein vermag, um des Rausches willen; er war Einer, der nicht erst lange nach dem Leide des Erwachens fragt, der überhaupt nicht aufwacht aus seiner glückseligen Narkose. In solchem entrückten Zustand, den er nicht nur zu leben, sondern auch zu lehren weiß, sieht er die gewöhnlichen und gemeinen Dinge dieser verruchten Erde nicht, und sie sind auf einmal nicht mehr; als ein Träumender rührt er an Felsen, und sie öffnen sich, rührt er an Leblose, und sie leben. Er wendet sich vorerst an die blumenhaften Menschen; die Sanften, die aber hartnäckig sind und nicht ablassen, werden in dieser Welt den letzten und schönsten Aufruhr verursachen. Dies ist der beste Beweis für seine Berufung: manche verhüllen ihr Antlitz vor ihm, es ist die Flucht vor der Erkenntnis, denn es gibt niemanden unter halbwegs Empfindsamen, den seine Stimme nicht bekehren könnte. Sie ist genährt von der wunderbaren Kraft des Besessenen, sie hat heute keinen anderen Klang als in jenen verschollenen ersten kleinen Gedichten, die schon damals ein »Wald-, Wiesen- und Feldbrevier« sein wollten, nur daß diese Stimme dort das Evangelium von irdischer Glückseligkeit noch gedämpfter vortrug als dort, wo sie, nun vollendet und immer wieder neu bestätigt, die Lehre vom Glück des deutschen Menschen verkündet. Diese Treue zu sich und zu einem erhabenen Lehramte, diese niemals schwankende Überzeugung, die nur unzählige Formen fand, um sich zu offenbaren, die heilige und manchmal wohl auch unheilige Glut, der berauschte Ton: in welchem Dichter sind sie sonst noch vereinigt mit Weisheit und Liebe? Hier ist eine oft schmerzliche und dennoch stets verzückte Klugheit, die sich nicht zu dunklen Ufern abtreiben ließ; sie erkennt die Krankheit, aber schon hat sie auch die Arznei bereit, sie spürt den Dämon, und gleich ruft sie den Engel an. Wo blieb sonst noch solche menschliche Vollendung in dionysischem Rausche schweben? Ich weiß kein anderes Beispiel für solches oder ähnliches Gleichgewicht.
Ich habe mich immer gewundert, daß dieser Dichter, der eine riesenhafte Welt neu erschaffen hat, und dessen erzählendes Werk, rein der Menge nach betrachtet, in den gegenwärtigen Tagen kaum seinesgleichen hat, so wenig und so selten fremden Völkern nahe gebracht wurde. Was ist in der letzten Zeit nicht alles in die vielen Sprachen der Erde übertragen worden, welchen sonderbaren Dichtern lieferte man das schöne, bedeutsame Amt aus, oder sie haben es sich auch selbst angemaßt, für Deutschland allein zu reden. Und da war Einer, der nur den Mund zu öffnen brauchte, und man hörte aus ihm, wunderbar erneuert, den Klang jenes ewigen Deutschland. Es hieße dessen Sinn verfälschen, wollte man die zärtlichen Stimmen schweigen lassen, die von Eichendorff, Hölderlin, Stifter herkommen, die aus grünen Tälern wehen, von schneeigen Gipfeln, denn nicht alles ist Ansammlung und kluge Rede, für die nichts fremd und unberührt bleibt, mehr noch ist einsame Stummheit und ehrfürchtiges Ahnen. Dieser Hang zum Geheimnis aber, dieses gottesdienstliche Hingegebensein, diese freudige, vertrauende Demut kommt aus deutschem Blute, sie sind so deutsch und arteigen, so seltsam und wirklich gnadenhaft, daß sie einer fremden Seele und Zunge nicht mitgeteilt werden können; sie können in eine andere Sprache nicht übersetzt werden, weil sie nicht einmal in der Sprache desjenigen, der sie in seinem Blute ahnt, gegenständlich zu sein vermögen. Es ist ein verschollener, in unbewußter Eifersucht gehüteter Mythos, der nicht beschworen werden kann, der vielmehr von Anbeginn in der Berufung zugegen sein muß, es ist das Geheimnis, die Legende, die das umfangreiche Werk von der anderen Welt abschlossen. Es gibt nur noch einen Dichter, freilich geographisch und geistig in einer herberen, kühleren Landschaft daheim, der so eigensinnig deutsch die dunklen Unterströme unnachahmlicher Wesenheit spüren läßt wie Bartsch: Hermann Stehr. Auch er ist natürlich dem Auslande unbekannt; auch er leidet das scheinbar unwiderrufliche Schicksal des großen Deutschen: Undank.
»Ich möchte,« sagte Bartsch zu mir, »einmal bei euch in Kärnten sein, droben im Turiawalde, von dem unheimliche Geschichten umgehen, die ihr wahrscheinlich selber gar nicht kennt. Dort möchte ich mit dem Gewehr auf einem Baumstrunk sitzen; ich will nicht schießen, höchstens auf irgend ein Raubzeug, aber dagewesen möchte ich sein.« Da haben wir ihn in einem winzigen Wunsch, den ganzen Menschen und Dichter. Vielleicht genügte, daß er entstand, irgend ein dunkles Gerücht, das jenem einsamen Hochwalde auf Kalk und Nagelfluh eine Legende andichtete, dort leben ja wohl Slowenen, und deren Aberglaube ist schön und eigentümlich, vielleicht hat er es auch nur geträumt, und das Gesicht der Nacht war ihm, dem sich auch andere Grenzen verwischen, plötzlich Wirklichkeit. Was immer aber auch der unmittelbare Anlaß zu dieser plötzlichen Sehnsucht gewesen sein mochte, er vermutete in der weltentrückten Gegend jedenfalls eine Stätte, wo er seinem Gott nahe sein konnte. Wahrscheinlich hörte er von den urwaldhaften Baumriesen, die dort in Schluchten noch stehen, von den dämmerigen Hohlwegen, durch die allein man zur Hochfläche steigen kann, wahrscheinlich ist es ihm nicht fremd, daß dort in den Bauernhäusern noch ein letztes, zähes, stilles Heidentum umgeht; von solchen gegenständlichen Botschaften, hinter denen sich sein Gott verbarg, der ihn damit anrief, wurde er gewöhnlich angelockt. Da ist das Baumrauschen in den »Zwölf aus der Steiermark«, da ist das trauliche Klopfen und Plappern der Klapoteze im »Deutschen Leid«, da ist das geisterhafte Gurgeln der Save in der Geschichte von »Frau Utta und dem Jäger«, sie sind immer wieder der Mund des großen, einsilbigen Geistes der Natur; das Letzte freilich blieb unaussprechlich, es wurde niemals Wort, es wurde nur ein Glücksgefühl und das Bewußtsein von einer hohen Gnade. Darum ist dieses schöne, blaue Dichterauge hell, so oft es auch in irdische Finsternis blicken mußte, darum blieb dieser Sechzigjährige ein Jüngling, und sein Anblick bringt Freude und Gewinn. Wer sich des Vorzuges rühmen darf, seinen Gott in sich zu tragen und ihn nicht unter Irrtum und Qual ewig suchen zu müssen, der hat natürlich keinen Sinn mehr für lauten Markt, eilige Menge und törichten Wahn, der kann der Menschen entraten, und er wird nicht einsam sein, denn jedes andere Geschöpf ist ihm Ersatz. Ihr Schweigen erst und ihr stummes Dienen in dem erhabenen Kreislauf der Dinge ist heilige Weisheit. Auf seinem Grabstein könnte einstens die Inschrift stehen: »Die Jahreszeiten waren seine erlauchten Ahnen, sein Bruder war der große Pan.«
Josef Friedrich Perkonig