Ernst Barlach
Der gestohlene Mond
Ernst Barlach

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Einundzwanzigstes Kapitel

Wessen waren die Stimmen gewesen, und wer hatte sie als »eure« bezeichnet? – Wau ergab sich ohne Vorbehalte einer prüfenden Überlegung, wie er sie nur zu oft im stillen mißachtend abgetan hatte, der Sicherheit, daß er als Person existierend dennoch an einem Ganzen für sich teilhabe, das ein besonderes Selbst erst ausmache mit zwei andern. Er widerstrebte nicht mehr, von seinem Ichsicheren und Unverwechselbaren als dem Einen von Dreien zu denken. Es ist so klar, dachte er, wie es klar ist, daß der Garten des Leidens bepflanzt werden, Leid gehegt und Haß gesät werden soll, damit die Ernte der Liebe gedeihe. Und dennoch das Leid und das Tun des Hasses nicht geschehen sein darf. Dieses Größte darf nicht mit Naseweisheit bemakelt werden. Und obendrein, dieses Andere, das mein Ich noch in zwei anderen Gleichen und Untrennbaren ist, soll als Vorstufe einer noch weiterreichenden Gemeinsamkeit gleichfalls meinem Bewußtsein nicht mehr verlorengehen. Einssein der ganzen Menschheit, Tierheit und Pflanzenheit, alles Seienden und jeder gewesenen und zukünftigen Möglichkeit ist ja doch schon längst ausgemacht, erkannt wie eine Merkwürdigkeit, die es darum nicht weniger ist, weil die Spatzen sie von den Dächern pfeifen.

Er dachte weiter, und es schien ihm, als wäre Wahl zur Stelle, der richtige und doch seltsam veränderte 104 Wahl, verändert, weil sein sonstiges nur zu bekanntes Sein und Wesen, obgleich bis auf alle Nebensächlichkeiten die gewohnten unbeträchtlichen Umstände nicht fehlten, nun fast der Wahrnehmung entzogen schien, dachte weiter und sprach in stummer Wechselrede bald Wahls vorgestellte, bald seine eigenen Sprüche. Er mußte Dinge laut werden lassen, an die er sich selbst im stillen Kämmerlein kaum zu erinnern wagte. Es ließ sich nicht verhehlen, es waren Leute gestorben, deren Dasein ihm unbequem gewesen, deren Kenntnis von Umständen seines Lebens für ihn zwar nicht verhängnisvoll, aber doch schädlich war, und er konnte nicht anders als sich vorstellen, daß hier unbewußte Einwirkungen von ihm selbst im Spiele waren. Warum aber gerade jetzt etwas denken, was ihm eigentlich nie vorher eingefallen, obgleich er gelegentlich hätte fühlen müssen: Der und der ist nun tot, der kann also nichts weitersagen, überschlug er nicht, denn er überlegte weiter: Wenn man jemandes Verderben herbeiführen kann, warum nicht auch jemandes Wohl? Und wenn das – warum nicht vieler Wohl durch Wünschen und Wollen? Und Wahl, der Wausche Wahl, wie er ihn sich mit allen Ungebärden und Lust an Übertreibungen dachte, Wahl stimmte bei: Vieler Wohl, nein aller Wohl, der ganzen Welt, aller Zeit in aller Ewigkeit. Wir drei, die zusammen eins sind, betreiben das Gleiche und also auch das gleiche Wünschen, und was kann uns hindern, daß es auf sie übergeht, ein guter Einfluß auf Herz und Hirn, auf alles, was Mensch ist, überhaupt. Ja, Wau, Vetter Wau, wenn wir drei so etwas wären wie das Herz der Welt! Ja, man lache dreist, aber haben nicht oft Einzelne das Schicksal ganzer Kontinente bestimmt, die einen mit Geschrei, die anderen in der Stille? Durch bloßes Beispiel während zeitlichen Daseins? Und Wau ließ ihn in Gedanken weiterreden, denn es tat ihm wohl, aus anderem Munde seine eigenen Gedanken bestätigt zu sehen. Wie oft sind Einzelne nicht schon Erfüller dessen gewesen, was die Gesamtheit ihrer Mitwelt wünschte oder wessen sie bedurfte! Erfindern ist was eingefallen, sie wissen selbst nicht wieso, irgendwie lag 105 es in der Luft, sie bekamen's mitgeteilt, und sie waren's, die es mitteilten, waren also die Organe der Gesamtheit, nicht ihre Bestimmer, sondern Bestimmte: Warum sollen wir's nicht schaffen, wenn wir nur wüßten, was?

Du als ein Nichts im All, das Nichts, was du bist?

Wau fühlte sich aufgelegt, den Wahlschen Galopp zu hemmen. Aber Wahl, der Wausche Wahl, stürmte weiter: Pah – bin kein Nichts, ich fühle, daß der Satan leichtes Spiel hat, weil die Leute jemand brauchen, auf den sie die Schuld schieben können, der erwünschte und erfundene Satan ist ein so großer Satan geworden, weil das böse Wallen so groß ist. Ich traue mir zu, ein guter Satan zu werden, dann nämlich, wenn das Wollen aller gut ist. Ist der Wunsch zum Wohlergehen groß, so bin ich ein entsprechend großer Satan, das heißt: ich mit allen beschaffe das große Wohl – und ein guter Satan anderswo besteht genau besehen so wenig wie ein böser. Das Böse ist die böse Beschaffenheit aller, das Gute ist die gute Beschaffenheit aller. Man muß nur wissen, daß das Ganze von dem Teil beeinflußt wird, weil es mit ihm zusammen eins ist. – Mit deinen schwachen Kräften? warf Wau ein. – Schwach? sagte Wahl. Sie sind so wenig schwach wie eine Pille, mit der du einen Riesen vergiftest. Meine Pille ist im guten oder bösen vielleicht gerade so, daß sie den Bedarf deckt. Und dann: Die beiden andern, die mit mir das eine ausmachen. Ich wittere Morgenluft, bin frisch und wie neu geboren, mich kann kein Elend mehr drücken. Ich lasse das Gemeinsame zum gewiß Hochwertesten aufsteigen, bin im Bewußtsein wie ein Turm – ich mit Quadern und Strebpfeilern der Anderen. Wir zu dreien sind voll Gewalt – und das nennst du ein Nichts, eine Schwäche? Denn nun erst der Dritte! Der ist noch ganz anders mächtig, ich sehe ihn geradezu vor mir – er muß ja wohl im Himmel hausen, einer von den echten Göttersöhnen, kein halbierter Gott. Hat viel Zeit im Himmel, macht mal den Laden zu, will Umschau halten und zum Guten sehen. Da möchte mancher sagen, warum haben denn nicht alle ihr WC, und ziemlich schlechte Anzüge gibt's 106 auch noch ziemlich viele in dieser unserer Welt. Aber der würde hören müssen, daß Anzüge und Dinge wie WC bloß Apparate sind, Spazierstöcke zur Erleichterung der Lebensgänge. Nein, der Dritte im Himmel hat vielleicht selbst kein WC und kann sich keinen Kautabak leisten, aber da sieht man wieder mal, wie du und mancher nicht anders als ökonomisch denkst. Das Ganze ist doch keine Wirtschaftsfrage!

Wau ließ von sich selbst einwenden: Vielleicht ist das Ganze doch eine Magenfrage, ein Wirtschaftsproblem. Wenn der im Himmel so gestellt ist, daß er nicht mal seine Steuern prompt bezahlen kann, wie will er die Magenfrage bei anderen zum Guten lenken? Die Leiden der Welt schreien zum Himmel hinauf, aber der Himmel ist ein Laden, wie du selbst sagst, – und ein teurer. Sie stehen davor und können nichts kaufen, hätten sie Groschen, so würden sie den Laden aufkaufen. Die Leiden der Menschen stinken auf zum Himmel, aber das Parfüm im Himmel ist verdammt teuer, und der Hunger rumort den Leuten im Leibe, sie pfeifen auf Parfüm, sie brauchen Knackwürste, du Guter!

Und Wau ließ Wahl weiterlästern – aber mit dem Atem seiner eigenen Wütigkeit: Ich will und wir alle drei wollen nicht mehr leiden, wir stecken mit unserem Nichtleiden die ganze Welt an, wie der gute Satan mit einer guten Pest. Unsere Kraft, nicht zu leiden, ist die Pille, von der schon die Rede war, kein Gift, sondern Entgift.

Oh! tat Wau von sich selbst aus hinzu, die Leiden sind in der Ewigkeit, sie müssen lange und tapfer losspazieren, um bis ans Ende zu kommen, wie lange, denkst du, spaziert man durch eine Ewigkeit? Ein Konzern wäre vonnöten, um alle diese Geschäfte so zu besorgen, daß etwas dabei herauskommt – ein Konzern – nein, Millionen Konzerne –, und du trinkst hier in Ruhe deinen Kaffee. Spute dich!

Ich für mein Teil glaube, daß ich mich geirrt habe, wenn ich dachte, es gäbe keinen bösen Satan, ich glaube 107 vielmehr, du selbst bist es, schaffst Leiden, häufst Leiden auf Leiden und treibst es immer toller!

Und Wau legte nun Wahl in den Mund: Schließlich ist doch alles eins, wie also kann ich mit dir eins sein, wenn ich das Böse selbst bin, du aber das Gute? Wären wir aber eins, so müßte auch böse und gut das Gleiche sein, warum also streiten? Vielleicht ist das böse Leiden so gut und schön wie der dritte von uns im Himmel der sich keinen Kautabak leisten kann. Wenn du schon Leute tot gewünscht hast und sie sind richtig gestorben, was ist denn das für ein Einssein?

Mir scheint, antwortete außer sich gebracht Wau, es gibt so etwas wie eine satanische Gemütlichkeit, eine Behäbigkeit des bösen Gemüts in guter Ruhe und bei bestem Gewissen – hebe dich weg von mir, Satan!


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