Ernst Barlach
Der gestohlene Mond
Ernst Barlach

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Fünftes Kapitel

Wau hatte vielerlei durcheinander gelesen, behalten und vergessen. Nach welchem Richtpunkte nun aber das Behalten, nach welchem anderen das Vergessen geschah, blieb ihm verborgen, indem sich das Zurückbleibende der aufgenommenen Vorstellungen gleichsam ungefragt in ihm etablierte, das Entschwundene sich davonstahl, als müßte er es selbst wissen, wo seines Bleibens sein dürfe, aber gewiß nicht in Waus Wesen. Indessen mußte er wahrnehmen, daß manches Vergessene sich anscheinend nur darum ungegenwärtig gemacht hatte, weil ein Gleichwertiges in ihm es als unnötig und unerbeten verjagt oder ihm das Dasein und Bleiben sonstwie unbehaglich gemacht hatte. Der Platz war sozusagen schon besetzt, nur daß es, das Ding, das Wort oder Inbegriff von tausend Buchseiten geduldig im Bewußtlosen lag und den Verbleib in Unkenntlichkeit schlummernd und gleichmütig hatte geschehen lassen, bis ein Zeitpunkt sich erfüllt und ein Erwachen gekommen war. Dann, so schien es, hatte das Eingewachsene das Zugewachsene als überflüssig verscheucht. Das Zurückgebliebene, in Wau Wurzel Schlagende, in ihm wie in einem Treibhaus Wuchernde, was er hegte, pflegte und von dessen Gedeihen er gute Ernten erhoffte, dieser gern empfangene Wert begann zuzeiten und mit öfteren Malen immer stärker Waus Unbehagen auszumachen, denn womit, dachte er wohl, habe ich das alles verdient, wenn es gutes Gut ist, und was riskiere ich andererseits, wenn das Gut schlechten Wuchses ist, da ich schließlich nur durch Zufall gefunden und nach Belieben gewählt habe. Inwiefern ist es nun mein eigen, da ich es hingenommen habe, indem ich meinem geringen eigenen Gut ein höheres zuzufügen trachtete, ohne 23 Wissen vom Grunde und der Beschaffenheit seiner besseren Art? Ist es in der Tat mein geworden, oder verbleibt es nur in meiner Obhut, gewissermaßen auf Abruf anvertraut? So wankte Wau zuzeiten zwischen Überzeugungen und Zweifel hin und her, ertappte sich dabei auf Versuchen der Scheidung zwischen dem Eigentum aus angeborener Zugehörigkeit und dem erworbenen Besitz. Da ergaben sich dann Augenblicke der Bestürztheit, denen er schlecht gewachsen war, weil er den Grund unten seinen Füßen schwanken spürte und im Ernst zweifelte, ob er – er oder, wenn schon kein anderer, so doch überhaupt Jemand sei. Denn was er von sich selbst wußte, war lückenhaft und in Zeiten besonderer Bereitschaft zur Prüfung seiner selbst gleich nichts. Ich bin doch und trotzdem, sagte er dann wohl böse, denn wo ich aufzuhören scheine, findet sich sogleich etwas, als das ich mich alsbald wieder erkenne, nicht eben als etwas erhebend zu Bezeichnendes, aber, besser als das, als etwas Unbedingtes und Wirkliches, denn darauf kommt es am Ende überhaupt an. So sagte er dann und wußte doch, daß, worauf es ankommt, auch nicht ausgemacht, sondern wiederum von seinem Wünschen und Belieben nach Bedarf des Augenblicks bestimmt war. Wahl machte es ihm, wenn sich das Gespräch auf dieses und ähnliches richtete, nicht leicht. Er spöttelte ja nicht, was am Ende Wau in seinen Gedankengängen nicht verwirrt haben würde, aber er tat etwas Schlimmeres, indem er die Fragen wohl hin und her wendete, abwog und Waus Meinung so oder so bewertete, je nach seiner Aufgelegtheit, wobei in Wau der Zweifel immer neu erstand, ob Wahl die Probleme, Waus wichtigste Angelegenheiten, überhaupt als Probleme oder nur als Gesprächsstoff ansah, mit dem man in Ermangelung eines andern nicht gerade Mißbrauch trieb, solange es dem geselligen Beieinander nicht Abbruch tat.


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