Ernst Barlach
Güstrower Fragmente
Ernst Barlach

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Sonntag, den 2. März 1913

Was bedeutet es manchmal: Sonntagmorgen, Winterpracht, Nähe und Ferne, Form und Farbe – – – was hat man davon! Manchmal wirklich nichts, manchmal ist man wirklich nicht bei sich und schaut aus Augen um sich, die nichts wiedererkennen, denn es ist doch nur man selbst, was man draußen findet, wenn alles anfängt zu predigen. – – – Aber heute sieht man alles und erkennt nichts, hört das Knirschen des dünnen Eises unterm Wind und beim Anschlag der Wassernetze, denn die Kreuz- und Quer-Wellchen scheinen die Oberseite eines Netzes zu sein, in dem tief die Fische zappeln. Da knirscht fein und schaurig, durchschneidend wie ein Rasiermesser, das Eis an den Ufern des Deichs oder den Rändern offener Strecken. Man sieht die Stößer in der Luft stehen und die Krähen in der Sonne blau glänzen, man hört alles, und nichts sagt ein bekanntes Wort, daß man merkt, was es alles eigentlich ist. Es fahren einem Dinge durch den Kopf wie Dummheiten, die wohl einmal eine Fratze schneiden, aber gleich freiwillig abziehen. Aber diese Dinge möchte man festhalten. Warum, denkt man, fühlt man einen Augenblick, als erstickte man an ihnen, was steckt in ihnen, daß sie einem so unbequem werden? Daß es belanglose alte Zeiten gibt, nicht die Erinnerung an Personen und Erlebnisse mit ihnen, sondern die Zeiten sind selbst Personen geworden und stehen da, – – – und wie man sie stehen sieht, fühlt man sich ersticken. Man glaubt einen Augenblick, das Wesen der Dinge kommt nicht von den Dingen, sondern die Dinge und Menschen bekommen etwas ab von ihm. Man denkt an Wiedersehen und Wiederscheiden und wie das alles so kurz und tief und voll Schmerz war und doch leicht vergessen, aber nicht verschwunden. Das Rätsel taucht auf, und man befragt es ernst und dringlich, man klagt, daß es etwas Neues und Andres geben kann, daß das Wehtun jedes früheren Sonntagabends so schmählich vergessen und vom groben Wohlsein beiseite gedrückt worden. Man staunt, wie gemein man werden mußte, und glaubt doch aus diesem Neuen und Gemeinen wieder etwas Tiefes, [ein] schmerzlich-glückliches Geheimnis, einmal aufleben zu sehen. Erinnerung ist ein Gebet an die Dinge hinter den Dingen, wie Liebe eine Anbetung des Liebeschaffers ist, nicht des Mittels und Götzenbildes, das er uns hinstellt. Ja, wir brauchen Bilder, an die wir uns mit unseren Seelen halten können, wie Fernrohre, in deren Gläsern sich die Strahlen der Unendlichkeit sammeln. Nur daß sie uns gegeben werden, daß sie uns nahekommen, daß wir uns von ihnen täuschen lassen – – – ist die Gnade dabei.

Träumende, Kohlezeichnung, 1922
34.5 X 26,4 cm
Barlach-Gedenkstätte Ratzeburg


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