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Ebensowenig, wie ich genau sagen kann, warum ich gerade François le Maire und meine Vaterstadt Paris heißt, welch' eine Harmonie zwischen Wort und Wesen gerade diese Namen notwendig machte, – ebensowenig kann ich die Welt und meine Schicksale als etwas vernünftig und notwendig Vorhandenes ansehen, und ich selber, vom erschütterndsten Elend heimgesucht, mit tausendfachen Wunden und Schmerzen bleibe mir ein närrisches, belachenswertes Rätsel. –
Ich hatte mein zwanzigstes Jahr kaum zurückgelegt, als ich meinen Vater verlor. Meine Mutter war so früh gestorben, daß ich ihre Züge nur aus einem Bilde im Kabinett meines Vaters meinem Gedächtnisse einprägen konnte.
Alle Welt war der Meinung, mein Vater müsse ein bedeutendes Vermögen hinterlassen haben, aber leider fand sich's, daß seine Schulden seine Güter bei weitem überstiegen, und mir, dem einzigen Sohn, blieb nichts als ein kleines mütterliches Erbteil, das kaum hinreichte, die mäßigsten Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen.
Diese Umstände wirkten wie ein Zauber auf alle meine Freunde und Verwandten. Ich war nicht mehr imstande, an ihren Vergnügungen, Festen und Gelagen teilzunehmen; auch verscheuchten sie mich durch ein gewisses vornehmes Wesen, affektierten eine Fremdheit und Zerstreuung, wo sie mich sahen, daß sich mein Innerstes empörte. Einen doppelt so großen Stolz beschloß ich, der ganzen Menschheit entgegenzustellen, die, wie ich glaubte, zur Frevlerin an mir geworden war, und verscheuchte so vielleicht auch manchen, der es dennoch gut mit mir gemeint.
Mit einem Male stand ich ganz allein in der Welt, ohne Vertrauten, Freund, Ratgeber und Beschützer. Ich hatte keine Kunst oder Geschicklichkeit inne, wodurch ich mein Fortkommen in der menschlichen Gesellschaft begründen konnte. Einen Posten zu übernehmen, bedurfte ich der Empfehlung oder Fürsprache eines angesehenen Mannes. Ich kannte keinen, und einen Fremden um seine Protektion zu bitten, duldete mein Ehrgefühl nicht.
Da stand ich nun, ein zwanzigjähriger Jüngling, einsam, verlassen in der volkreichen, lebendigen Stadt Paris, und zum ersten Male fing mir an, vor dem Leben zu bangen, das ich bisher nur um des Genusses willen vorhanden glaubte. – Ich hatte meine Kindheit im eigentlichsten Sinne des Wortes verträumt mit schönen Hoffnungen für das Jünglingsalter. Denn wenn ich ehemals von den Palästen der Könige hörte, von der Pracht und Herrlichkeit ihrer Feste, von den paradiesischen Gegenden Italiens, von den Reichtümern und Schätzen des Orients, kurz, von allem Schönen, Merkwürdigen, Sehenswerten der Erde, so hielt ich das nur für eine Verheißung desjenigen, was mir im Jünglingsalter bevorstand, und ich bildete mir ein, der allgütige Gott könne den Menschen in keiner anderen Absicht auf eine Welt, voll von solchen Herrlichkeiten, gestellt haben, als um jedem einzelnen diesen ganzen, überschwenglichen Vollgenuß zu gewähren. Mit einer Art von Bedauern, mit einem mitleidigen Achselzucken betrachtete ich die Menschen, die nicht wie ich dachten. Ich hielt ihren Geist für viel niedriger als den meinen.
Nun war ich Jüngling geworden. – Ich hatte nur alle Mittel verloren, irgendeinen meiner Wünsche zu erfüllen; auch die Achtung der Leute hatte sich mit dem Gelde von mir abgewandt. – Mein Vater hatte mich oft vor einer solchen Lage gewarnt, aber er hielt mich für zu jung, um mir den Zustand seiner Finanzen zu eröffnen, und daher fehlte seinen Lehren die praktische Nutzanwendung.
Solange indessen mein mütterliches Erbteil noch standhielt, kann ich nicht eben sagen, daß ich mich den moralischen Sorgen und Betrachtungen sonderlich überließ. Ich führte meine Lebensart nach wie vor, bewohnte ein herrliches Quartier, kleidete mich aufs prächtigste, hielt mir Equipage und Bediente und konnte mich recht in der Seele freuen, wenn ich allen meinen Bekannten ein Rätsel blieb, die nicht begreifen konnten, wo ich mit diesem kostbaren Leben hinaus wollte.
Bald aber kam die Zeit heran, wo sich jene unangenehmen Besuche in meinem Vorzimmer einstellten, die meines Vaters letzte Lebenstage so sehr verbittert hatten, und ich wußte schon allzu gut, wie gefährlich die Krankheit ist, die in solchen Symptomen sich äußert. Dennoch aber haschte ich immer nach Zerstreuungen, eilte von Vergnügungen zu Vergnügen. Konzerte, Schauspiele, Bälle, alle Kaffeehäuser und Vergnügungsorte besuchte ich, aber nicht, um darin behaglich zu weilen; eine innere Ungeduld hetzte mich da- und dorthin und scheuchte mich überall so bald wieder fort, als könnte ich den Moment nicht erwarten, wo Schmach und Schande über mich ausbrechen würden, als scheute ich mich vor allem Nachdenken und Überlegen, dem einzigen Rettungsmittel.
Sicher wäre ich dem Abgrund nicht entgangen, hätte sich das Glück meiner nicht erbarmt, das Glück, der Vormund aller Unmündigen. Nicht die Kühnen begünstigt es, Fortuna wäre nicht die komische, hirnlose Göttin, wenn sie nicht das Abgeschmackteste und Widersinnigste am liebsten und mit entschiedener Vorliebe unterstützte.
An einem der letzten Tage, wo ich mich meiner Equipage noch bedienen konnte, kutschierte ich mit Abschiedsgefühlen durch die Straßen von Paris. Ich war eben in die Rue du Temple eingebogen, als ich anhalten mußte, denn ein Marktschreier mit einem roten Rocke, einer blonden Allongeperücke und Schellen an jeder Locke bot seine Waren feil, und ein unabsehbarer Volkshaufen umgab ihn. Ich wollte wieder umlenken, aber mehrere Equipagen hielten schon hinter mir; die Fußgänger dazwischen litten in der Tat Gefahr, und besonders einer dem Anscheine nach ältlichen Dame ward im Gedränge hart zugesetzt. Sie bat mit sichtbarer Verlegenheit, daß man ihr Platz gönnen möge, den Boulevard zu erreichen, aber mit jedem Augenblick ward es minder möglich, ihr den Willen zu tun. Ich bot ihr endlich einen Platz in meinem Wagen an, den sie, mit feinem Anstande dankend, ohne weitere Umstände annahm. Die Polizei schlug sich endlich ins Mittel: der Marktschreier mußte seinen Tisch zusammenschlagen und seinen Kasten auf den Rücken nehmen. Die Menge zog lärmend nach, die Wagen gewannen wieder Raum, und es versteht sich von selbst, daß ich meiner Unbekannten anbot, sie nach ihrer Wohnung zu begleiten. Sie nannte sich Madame Forget, war aus der Provinz, hatte ein Gut in der Nähe von Rochelle und war eines Prozesses halber, der sich seit dem Tode ihres Mannes angesponnen, nach Paris gekommen. – Als Wohnung bezeichnete sie ein Hotel in der Faubourg St. Germain, wohin ich sie auch führte. Vor dem Hause wollte ich mich verabschieden, allein, sie gab es nicht zu und bestand darauf, ihren Ritter, wie sie mich nannte, bewirten zu dürfen. Das aufdringliche Benehmen war höchstens einer schönen, jungen Dame verzeihlich, bei der ältlichen verriet es die Provinz mehr als billig, allein, ich fügte mich ihren Wünschen, ich bedurfte der Zerstreuung, und wenigstens neu war diese Situation. – Wir waren in ein einfach, aber geschmackvoll möbliertes Zimmer gelangt, als meine Unbekannte ihren Mantel abwarf, ihrer Schals und Schleier sich entledigte und, sich mit einem Male zu mir wendend, ein so reizendes, jugendliches Antlitz zeigte, daß ich nicht wußte, wie mir geschehen war; wohl zwanzig Jahre mochten in ihrem Mantel stecken, daß sie diese damit ablegen konnte: und wenn mich die frische, unerwartete Jugend überraschen mußte, so tat es mehr noch ihre Schönheit. Eine recht seltsame Figur mochte ich wohl spielen, als sie mich in ihrem reizenden Patois bat, einen Augenblick zu verweilen, derweil sie sich umkleiden wollte. – Noch war ich von meinem Erstaunen nicht zurückgekommen, als sie schon wieder erschien in einem weißen, reizenden Negligé, daß ich nie ein Wesen gesehen zu haben glaubte, das ihr an Liebenswürdigkeit zu vergleichen sei. Sie nötigte mich, Platz zu behalten, und begann die Unterhaltung mit so viel Geist, Witz, Güte, Vertrauen und Freundlichkeit, daß statt der vorigen Überraschung und des Staunens ich mich mit einem Male heimisch neben ihr fühlte und sie wie eine längst bekannte Freundin mir vorkam, deren Gegenwart ich nur allzulange entbehrt, um ihr mein volles, aufrichtiges Vertrauen zu widmen. Sie forschte wer ich sei und nach meinen Umständen, ich schilderte ihr meine trostlose Lage und ward mir jetzt erst der Verzweiflung bewußt, die lange schon in mir gelebt, die ich gewaltsam übertäubt und geflissentlich mir nicht eingestehen wollte. Sie tröstete mich, bot mir eine Summe Geldes an, um meine Umstände zu verbessern. Ich sträubte mich heftig dagegen, denn keine Hoffnung war, sie je erstatten zu können, ich fühlte in diesem Augenblick, daß mir nichts als der Tod übrig bliebe, doch ihre Teilnahme, ihr Trost fesselten mich ans Leben. – Meine Pächterin weinte mit mir, wir fühlten, daß wir uns liebten, ehe wir noch von Liebe gesprochen hatten. – Ich verließ sie, nachdem ich die Erlaubnis erhalten, am vierten Tage sie zu besuchen, erreichte meine Wohnung, warf mich weinend dort auf mein Bett und gab mich ganz der Verzweiflung und Trostlosigkeit hin, die ich schon lange zuvor hätte fühlen sollen. Endlich hatte ich mich satt geweint, mein Schmerz ermattete, und meine Geliebte im vollsten Liebreiz trat als Rettungsmittel vor meine Seele. Ich beschloß, ihr meine Dienste anzutragen, und hegte keinen Zweifel, daß sie darin willigen würde, mich mit sich nach ihrem Gute unweit Rochelles zu nehmen und auf demselben mich anzustellen. Als Landmann wollte ich mir ein mäßiges, friedliches Dasein sichern. Eine Hoffnung knüpfte sich an die andere, ich baute auf ihre Liebe; da ich ihr Herz besaß, hoffte ich, um so leichter ihre Hand zu erringen und im Besitz des schönsten, besten Weibes, deren Liebe ich Glück und Glückseligkeit verdankte, ein beneidenswertes Leben zu führen. – Ich sah meine Angebetete wieder, teilte ihr meinen Entschluß mit, sie schien gerührt, bewilligte mir alles, ich erhielt den ersten Kuß, und sie nannte mich schon vorläufig ihren kleinen, zärtlichen Gatten.
Von der Zeit an begab sich eine auffallende Veränderung mit meiner ganzen bisherigen Lage, und lange Zeit hindurch hielt ich die unerhörten Ereignisse, die sich mit mir zutrugen, für eine Kette der seltensten Glücksfälle.
Dahin gehört zu allererst, daß meine Gläubiger aus meinen Vorzimmern verschwanden. Ihr Ausbleiben war mir unbegreiflich, noch mehr aber die Achtung, mit der sie mich grüßten, wenn ich ihnen auf der Straße oder sonst begegnete. Ein Zusammentreffen, das immer peinlich ist. – Mein Erstaunen erreichte aber den Gipfel, als einst ein jüdischer Wechsler, der im schlimmsten Rufe der Wucherei stand, dem ich das meiste schuldig war, und von dessen Hartherzigkeit ich hinlängliche Proben an meinem Vater und mir selbst erhalten hatte, eines Tages demütig den Hut vor mir zog, mich fragte, wie ich mich befände, und ob ich etwa eine Kleinigkeit an Geld bedürfe, in diesem Falle möchte ich mich doch lieber an ihn als an einen andern wenden. Ich sei noch jung, meinte er, könne leicht in schlechte Hände geraten, und es sei doch auf alle Fälle sicherer und besser, einem geprüften und redlichen Manne sich anzuvertrauen.
Die Frechheit des Juden empörte mich. Ich hieß ihn seiner Wege gehen und fügte, wie ich glaube, noch einige Scheltworte und Schmähreden hinzu. Aber der Jude nistete sich an mich. »Gott!« rief er, »was ist die Welt doch voll Argwohn. Sie will nicht glauben an ein gutes Herz. Gott! ich habe doch besondere Verbindlichkeiten gegen Ihren seligen Herrn Vater, und er ist tot! Nu! einem Toten kann man kein Geld leihen. Aber Sie, Sie sind jung. Sie brauchen Geld. Ich habe keine Frau und keine Kinder, was soll ich machen mit allem Geld, wenn ich's nicht habe für meine Freunde? Nehmen Sie eine beliebige Summe, erstatten Sie sie mir, wann Sie können, wo nicht – nu – ich rechne nicht darauf.«
Dergleichen hatte ich bisher für ganz unerhört gehalten, und mehr aus Neugier als aus Verlangen nach seinen Reichtümern folgte ich dem Juden, der beteuerte, daß er noch viele Geschäfte zu verrichten habe, nach seiner Wohnung, wo er mir sogleich 6000 Franken aufzählte, mir noch mehr anbot, wenn ich's begehrte, denn diese Summe, versicherte er mir, habe er nur zwischen dem mindesten und meisten angesetzt, um die Sache schnell abzumachen.
»Aber mein Herr,« fragte ich, »seit wann verschenken Sie Ihr Geld?«
»Verschenken?« sprach er mit widerwärtiger Gutmütigkeit. »Heißen Sie verschenken, wenn ich bezahle, was ich schuldig bin Ihrem lieben, seligen Herrn Vater? Was staunen Sie, was wundern Sie sich? Wenn in heißen Julitagen ich durstig bin und es reicht mir jemand einen frischen Trunk Wasser, hat er mir da etwas geschenkt? – Nu! der Geldmangel macht schwüler als Sommerhitze, man schmachtet nach Geld mehr als nach Wasser. Nehmen Sie doch! Nehmen Sie doch! Denken Sie, diese 6000 Franken seien ein Glas Wasser.«
Ich fand dies Gleichnis passend, nahm das Geld und unterschrieb nun den Empfangsschein. Von Zinsen, von einem Termin zur Rückerstattung war keine Rede. »Wollen Sie vielleicht auch eine Wohltat tun,« fügte der Jude hinzu, »wollen Sie geben von dem vielen Geld einen Teil an die Armen, ich werde verteilen die Gabe an die Armen.« Ich bewilligte es. Er nahm 500 Franken davon und fügte hinzu: »Sie werden sagen, es gibt auch unter Juden barmherzige Leute.«
Voller Erstaunen war ich nach Hause geeilt. Meine erste Sorge war, mich von dem wirklichen Vorhandensein der geliehenen Summe zu überzeugen; sodann beschloß ich, gewisse Kostbarkeiten, deren ich mich früher aus Geldmangel entäußert hatte, wieder an mich zu bringen. Zu meinem Verdrusse aber waren gerade diejenigen Stücke, die mir das meiste galten, die meiner Mutter angehört oder mein Vater lebenslänglich getragen hatte, bereits verkauft. Am meisten schmerzte mich dabei der Verlust eines kostbaren Ringes.
Nur zwei Tage in jeder Woche ward mir gestattet, meine innig geliebte Pächterin zu sehen; wenn sonst die ungeduldige Sehnsucht mich nach ihrer Wohnung trieb, so wies mich die Wirtin des Hauses mit der Versicherung ab: »Madame ist nicht zu Hause,« oder »Madame hat Geschäfte mit ihrem Anwalt.« Diesmal brannte ich vor Verlangen, sie zu sprechen, wie noch nie zuvor, denn ich hielt sie für die geheime Ursache dieser seltsamen Ereignisse. Ihre Liebe und Delikatesse, bildete ich mir ein, wählte diese zärtliche Mystifikation, um mir eine Summe Geldes zum Geschenke aufzudringen. Nebenbei argwöhnte ich auch, daß sie nicht sei, wofür sie sich ausgab. Oft hatte sie ihr reizendes Patois im Gespräch vergessen und redete dann das vollkommenste, reinste Französisch der Residenz. Ihren Reden gab sie stets eine so geistreiche Wendung, ihre Empfindungen wußte sie mit solcher Geschicklichkeit und Innigkeit auszudrücken, daß die höchste Weltkenntnis zugleich mit einer ausnehmenden Belesenheit daraus hervorleuchteten. Ebenso auch konnten ihr zarter Gliederbau, ihre überaus sanfte und weiße Haut wohl schwerlich Zierden einer Landbewohnerin aus ferner Provinz sein. – Endlich schlug die Stunde, ich flog zu ihr, stattete zu ihren Füßen meinen Dank ab und beschwor sie, meiner Liebe zu enthüllen, wer die Person eigentlich sei, der sie gelte.
Sie antwortete mir hierauf: »Lieber Freund! Wie entzückt und rührt es mich, daß Sie in Ihrem Herzen mich zu derjenigen erkoren haben, der Sie gerne alles Gute danken möchten. Das Auge der Liebe, womit Sie mich betrachten, läßt Sie in mir ein besseres Geschöpf wahrnehmen, als ich wirklich bin. Oh, daß ich das Wesen wäre, das alle die Reize besäße, womit Ihre Schwärmerei es schmückt. So aber muß ich mich vor der Zukunft ängstigen, die Sie enttäuschen wird, und wo diejenige, die Ihnen alles, alles jetzt sein soll, aufhören wird, irgend etwas Ihnen zu gelten. Gewöhnen Sie sich, die Dinge im Leben anzusehen, wie sie wirklich sind, und hüten Sie sich vor übertriebener Vorliebe wie vor ungerechter Abneigung. – Warum sollte ein hartherziger Wucherer nicht einmal in seinem Leben Mitleid empfinden können, nicht einmal von dem gehässigen Geiz ablassen, da es doch ein Mensch ist und kein Gnome? Vielleicht hat er wirklich Verbindlichkeiten gegen Ihren seligen Vater, vielleicht ist er an dessen Verderben schuld oder hat ihn übermäßig betrogen, daß ihn jetzt das Gewissen drückt, und er glaubt, es dadurch zu erleichtern, daß er einen beliebigen Teil des unrechtmäßigen Eigentums seinem Sohn bietet, der dessen gerade bedarf. – Erklären Sie sich die Sache, wie Sie es können, von mir indessen denken Sie, daß, wenn mein Wille mit meinem Vermögen übereinstimmte, Sie dem ersten Prinzen Frankreichs es an Aufwand gleichzutun imstande sein sollten. Da indessen beides himmelweit getrennt bleibt, begnügen Sie sich, der Liebling einer bemittelten Witwe aus der Provinz zu bleiben.«
Was sollte ich denken, da mir diese Reden aus einem reizenden Munde mit bezaubernder Dreistigkeit ertönten? Ich liebte zu sehr, um irgendeines Mißtrauens fähig zu sein.
Aber es häuften sich immer mehr Rätsel auf Rätsel. Ich durfte nur einen Wunsch, ein Begehren nach irgendeiner Sache äußern, so ward sie mir. Ich fand sie, oder ein Verkäufer ließ sie mir zur Ansicht und holte sie nicht wieder, oder sie wurde mir geradezu von unbekannter Hand übersandt. Alle in Paris ohnedies schwierigen Nachforschungen blieben fruchtlos, und stets versicherte meine Geliebte, daß sie nicht imstande sei, so reiche Geschenke zu machen.
Einmal sogar erzählte ich, daß es mir nicht möglich gewesen sei, den Ring meines Vaters, den er zum Andenken meiner früh verstorbenen Mutter zeitlebens getragen hatte, wieder zu erhalten. Meine rätselhafte Freundin hieß mich auf die Zukunft hoffen, der Zufall, der mir darin widerwärtig war, könne sich einmal günstig für mich erklären.
Ich verließ sie, um heimzugehen. Aus einer Querstraße kam ein junger Mensch, eilte hastig an mir vorüber, zieht sein Schnupftuch hervor und schleudert damit etwas zu meinen Füßen. Ich hebe es auf und rufe, folge dem jungen Menschen eine Strecke, aber er war mir bald aus den Augen. Mein Benehmen hatte die Vorübergehenden aufmerksam gemacht. Ich erzähle alles, zeige das gefundene Etui, behaupte, es könne ein Kleinod von Wert darin sein, öffne es – und erkenne den Ring meines Vaters. Ich mochte wohl eine seltsame Miene dazu machen. Vor Erstaunen dachte ich nicht weiter daran, denjenigen zurückzurufen, der diesen Verlust erlitten. Die Umstehenden mißverstanden meine Bestürzung, und Spottreden wurden laut. Man glaubte, ich würde nicht so redlich gewesen sein, wenn ich geahnt hätte, welch ein Kleinod das Etui bewahre. Darüber erzürne ich mich, fordere einige wohlgekleidete Umstehende auf, mich zur nächsten Zeitungsexpedition zu begleiten. Dort ließ ich meinen Fund öffentlich bekannt machen. Es meldete sich aber niemand zu dem Eigentum. Als ich meine Geliebte wiedersah und ihr zärtliche Vorwürfe über das Geheimnisvolle ihres Wesens und Benehmens machte, erwiderte sie still lächelnd: »Wie nur war es möglich, daß ich die Hand dabei im Spiele hatte, kannte ich den Ring? Haben Sie Leute bei mir gesehen, die gewandt genug sind, solche Dinge, die den Schein der Zauberei haben, auszuführen? Sie haben mir am selben Abend erst den Verlust geklagt, aber weder habe ich das Zimmer verlassen, noch kam jemand hier herein, um Rücksprache mit mir zu solch einem Blendwerke zu nehmen.«
Diese Reden konnten mich jetzt nicht mehr überführen, und ach! die seltenen Zufälle häuften sich immer mehr. Das Glück stand der Geliebten bei, und ich konnte mit allem Scharfsinn nichts enträtseln. Wohl tausendmal flehte ich sie an und beschwor sie, mir zu sagen, wer sie sei, und warum sie auf solche Weise mit mir spiele. – Aber mir ward keine Antwort. Meine dreisten Bitten erregten wohl öfter auch ihren Zorn, und sie ließ mich empfinden, mit wie leichter Mühe sie sich mir gänzlich entziehen könne.
Ich aber konnte nicht mehr ohne sie leben. – Am lebhaftesten empfand ich dies an denjenigen Tagen, wo ich sie nicht sah. Da war die Zeit mir eine Last, ich wußte sie nicht hinzubringen. Ich hatte mein ganzes früheres Leben wieder begonnen, schwärmte aus einem Vergnügen wieder in das andere hinein, betäubte mich in Zerstreuungen, gleich als haßte ich mich selbst, und mußte mich vor einem Augenblick der Ruhe fürchten, wo mein Bewußtsein mit mir reden würde. Oft auch verfolgte mich diese qualvolle Unruhe, diese fürchterliche Langeweile selbst bis in die Nähe meiner Geliebten: dann bildete ich mir ein, die Enthüllung ihrer Geheimnisse müsse mir den Frieden geben, und wagte doch nicht mehr, darum zu bitten. Ich mußte mich schon entschließen, alles zu glauben, wenigstens über nichts nachzudenken, denn sie zu verlieren, dies war ein Gedanke, den ich am allerwenigsten fassen mochte. –
Alle Pariserinnen haben gewisse Eigenschaften, die für Zauberei gehalten werden können; sie wissen durch jede Kleidung, die sie sich anlegen, ihre Reize zu verdoppeln und zu verdreifachen, ihre Worte und Bewegungen atmen eine Unschuld, Zierlichkeit und Reinheit, die ihrem Herzen fremd ist, und die höchste Kunst nur nachschafft. Vor allem war meine Geliebte in diesem Sinne eine gar gefährliche Zauberin, und ihre Absicht war, mich immer mehr durch ihre Reize zu überwältigen, in Sehnsucht zu ihr mich zu verderben. So oft ich sie in der Folge besuchte, war das Zimmer und sie selbst auf eine besondere Weise ausgestattet. Bald prangten an den Wänden Orangenbäume, Blumen und Gewächse, die nur in den heißesten Himmelsstrichen gedeihen: sie selbst empfing mich in der Tracht einer Zigeunerin; bald stellte das ganze Gemach ein türkisches Zelt dar, alles blitzte und flimmerte von Flittern und Schmelz, und sie hatte ein Kleid vom Golde strotzend an, ihr Schmuck wog ein Fürstentum auf. Ein anderes Mal war aber auch die Umgebung einfach, ja dürftig: meine Angebetete trug die Kleider einer Savoyarde, um ihren zarten Gliederbau und ihre weiße Haut noch rührender erscheinen zu lassen; oft auch war sie zur Abwechselung wieder die zärtliche Hausfrau und die Liebe und Güte selbst. Für mich hatte aber die Woche nur zwei Tage und diese nur wenige Stunden. Im übrigen marterte ich mich mit dem Bestreben ab, die Zeit und mich ganz zu vegessen.
Damals geriet ich einstens auch an einen grünen Tisch. Ich pointierte eine Kleinigkeit und gewann, ich wagte größere Summen, das unbeständige Glück schien vor lauter Unbestand mir einmal beständig sein zu wollen. Ich brachte eine große Summe in Gold und Banknoten mit nach Hause. Dort zählte ich meinen Gewinn. Er schien mir zuzureichen, alle meine Schulden zu tilgen. – Ich machte ein Verzeichnls derselben nebst den übermäßig hohen Zinsen, und zu meinem Erstaunen traf die Summe meiner Schulden auf Heller und Pfennig mit meinem Gewinne zu.
Was sollte ich dazu sagen? War dies ein Zufall, der in keinem weiteren Zusammenhang mit meinem übrigen Glücke stand, oder war meine Geliebte wirklich eine Zauberin, die jedweden Umständen gebot, mir günstig zu sein, und ihnen auftrug, ihren schalkhaften Liebesgruß zu bestellen? – Man halte mich weder für einen kopf- noch herzlosen Menschen, wenn ich erzähle, daß ich damals wirklich anfing, an Zauberei zu glauben; berücksichtige lieber die gewaltige Wirkung so vieler seltsamen Ereignisse, vor allem aber, daß dieser Glaube mir den Besitz meiner Geliebten sicherte. Das Glück hat eine zu große Rednergabe, zumal wenn es seine Gunst verheißt denen, die an seinen Glaubenspredigten hangen. Am andern Tage hatte ich mir lauter Gold eingewechselt, welches hoch aufgestapelt auf meinem Tische lag. Meine Gläubiger waren herbeschieden, um meine ganze Rechnung mit ihnen zu schließen. Da aber behaupteten alle, ich sei ihnen nichts schuldig, und boten mir noch dazu eine beliebige Summe zur Benutzung an. Anfänglich war mir das ganze Benehmen der Wucherer nur lächerlich, da aber jeder versicherte, gegen meinen Vater Verbindlichkeiten zu haben, jeder die Dankbarkeit auf seinen Sohn zu übertragen wünschte, jeder sich vor dem andern als der solideste Wechsler anpries, jeder von Barmherzigkeit sprach und sich das Ansehen gab, als wolle er mir die Summe schenken, – da verlor ich endlich die Geduld und jagte alle mit Verwünschungen und Drohungen zum Hause hinaus. Meine Geliebte, der ich alles erzählte, lachte herzlich darüber und sprach: »Endlich werden Sie doch einsehen, daß Sie ein Kind des Glückes sind, denn unmöglich können Sie von mir glauben, daß ich mit einem verworfenen Spieler gemeinschaftliche Sache mache.« – Von ihrem geringen Reichtum sprach sie nicht mehr, denn was an die Ausstattung der Zimmer verwendet worden und ihr Schmuck verrieten ein mehr als fürstliches Vermögen. –
Als ich sie in der Folge einmal wieder besuchte, fand ich ihr Zimmer künstlich wie eine Laube ausgeschmückt. Den Hintergrund, der Tür gegenüber, bildete ein Gemälde von amerikanischen Wilden, die sich um ein Feuer herum gruppiert hatten. Sie befanden sich in einem dichten Urwalde. Durch breite Stämme und dichtverworrenes Laub brach das Licht nur in dünnen Strahlen, um die wundersamen Blätter goldig zu säumen und gleißend auf den Rücken schillernder Schlangen, Kröten und Gewürme zu spielen. Dies alles aber zog meine Blicke nicht dermaßen an wie meine Huldin selbst. Sie war als Wilde gekleidet. Ein Schmuck von hohen Federn reihte sich rings um ihr schönes Haupt, dessen blonde, schwere Locken fast den Boden berührten. In den Ohren trug sie Goldbleche und um den Nacken goldene Ketten. Ihr Kleid schien ebenfalls aus Vogelfedern zu bestehen. Ich hatte sie noch niemals so reizend erblickt, dennoch aber erwachte bald der finstere Geist des Unmuts wieder in mir, und zwar quälender, niederdrückender als je. Mich wollte bedünken, daß meine Geliebte immer noch viel zu wenig für mich täte, und ich warf mich ihr zu Füßen und rief aus: »Wunderbares Wesen, wer du auch bist! Hast du Wunderkräfte, warum mit solchem Tand, mit dieser herausgeputzten Alltäglichkeit dich befassen? Zeig mir die Wunder selbst, die Urbilder dieses Flitterstaates wirklich. Hast du unermeßliche Reichtümer, so mache diese Pracht zur Wirklichkeit, laß uns Schlösser bauen in so reizenden Gegenden, uns selbst aber herrlich schmücken, um ganz zu vergessen, daß wir noch Menschen sind. Und haben wir selbst uns genug gelebt, dann laß uns mit unserer Liebe vor allen Königen und Großen uns prahlen und sehen, ob der Glanz ihrer Umgebung sich mit der unseren messen kann. Ach, nur Proben, nur den leisesten Vorschmack von all demjenigen, was du sein könntest, gewährtest du mir bisher – aber ich liebe dich und alles, was du bist. Kannst du Wunder tun, tue sie, doch so, daß ich's weiß. Stehn dir Zaubermächte zu Gebote, walte vor meinen Augen darüber, aber reize meine glühenden Wünsche nicht länger durch träge, allmähliche Enthüllung, sonst wird es zu spät, und ehe du dich ganz offenbart und ich dein ganzes Wesen liebe, hat die Sehnsucht schon mich verzehrt.« – Ach, hätte ich diese Worte doch nie gesprochen, denn sie beschleunigten mein Unglück und waren der Anlaß, der uns auf ewig feindlich trennte. – Aber meiner Geliebten waren solche leidenschaftliche Ausbrüche sehr willkommen, und es schmeichelte ihr, daran wahrzunehmen, wie sehr ich sie liebte. Sie gestand mir mit einer Art von Rührung ein, daß wir auch darin aufs innigste sympathisierten, daß sie oft eben so empfände wie ich, daß eine bange Beklemmung sich ihrer bemeistere, die sie zu Tränen brächte, ohne daß sie wüßte, wie und warum; mich nannte sie dann die einzige Versöhnung mit ihrem Dasein.
Oh, hätte ich sie doch damals besser begriffen, in diesen ihren Worten war gleichsam alle Ursache ihres grausamen Spiels mit mir verborgen.
Ein Mohr erschien in diesem Augenblick, um das Abendessen aufzutragen. Es bestand in Trauben, Feigen, Datteln, Geflügel, Backwerk und süßen Weinen, alles war auf kostbaren Muscheln zierlich geordnet und paßte ganz zur Umgebung. Meine Geliebte nötigte mich, eine Schale Wein auf ihr Wohl zu leeren. Ich tat es, aber vermutlich war ein Schlaftrunk in dem Wein. Meine Besinnung war betäubt. Ich erinnere mich nur noch, welche vergebliche Gewalt ich mir antat, um das Gähnen zu unterdrücken, und wußte bald gar nicht mehr, was um mich vorging. –
Ein heftiges Rütteln gab mir einen Teil meiner Besinnung wieder, meine Geliebte drang mit heftigen Schwüren und Bitten in mich, ja zu schweigen und kein Wort zu reden, was ich auch sehen werde, denn sie sei gesonnen, einen Teil meiner Wünsche zu erfüllen.
Ich saß in einem Wagen, der ziemlich rasch zufuhr, und da ich an meinen Leib fühlte, fand ich mich in einen leichten Harnisch gekleidet, hatte einen Helm auf mit geschlossenem Visier, unter dem eine große Allongeperücke hervorquoll und über Schulter und Nacken floß. – Der Wagen hielt vor einem glänzend illuminierten Portal. Wir stiegen aus, traten in einen herrlich glänzenden Palast ein, in dessen prächtigen Zimmern wir über kostbare Teppiche schreiten mußten. Wie im Traume schwebte mir alles Blendende vorüber; ich kann die Zimmer nicht weiter beschreiben, als daß sie von Silber und Gold strotzten, daß herrlich geschmückte Schenktische, Pyramiden von Lichtern, Blumengewinde, Kristallkronen und Marmorstatuen und Büsten überall angetroffen wurden, wohin man blickte. Ein Schwarm von Masken empfing die Eintretenden. Meine Geliebte wiederholte mir das Gelübde des Schweigens. Sie bedurfte dessen nicht. Meine Besinnung war viel zu dumpf, als daß ich vernünftige Worte hätte zusammensetzen können. Die kreischenden Maskenschwärme neckten uns der Stummheit halber; doch ich erinnere mich nur, daß sie uns schwarze Automaten nannten, denn ich stellte einen Trauerritter mit seiner Dame vor, und alles war schwarz an mir, bis auf die Perücke, und an meiner Gefährtin bis auf Arme, Nacken, Kinn und Haar, welches durch den Flor hindurchschimmerte. Als wir die Säle durchschritten, gelangten wir zu einem großen Garten, der ebenfalls hell erleuchtet war, so daß das gekappte Laub wie smaragdene Wände sich glänzend vom dunklen Nachthimmel abhob; Fontainen sprangen darin, und Lampen und Spiegel, die dahinter angebracht waren, gaben ihnen vom Saale aus das Ansehen, als ob sie Feuer und bunte Strahlen spieen. – Mit einem Male wurde: Platz! Platz! gerufen. Aus dem Garten kam ein Maskenaufzug her, den Hof Karls VII. darstellend. – Ich hätte geglaubt, mich in jene Zeiten versetzt zu sehen, wären nicht alle Anzüge, trotz dem Ansehen der Rittertracht, modisch gewesen. Die Ritter alle trugen Allongeperücken und Stoßdegen, wie ich, und die Damen Reifröcke und hohe Frisuren. Der Zug kam naher, eine hohe, königliche Gestalt war Karl VII. Neben ihm eine Dame von reizendem Wuchs, Agnes Sorel. Ihr Hals und Busen war mit Perlschnüren, goldnen Ketten und Bändern von Edelsteinen bedeckt. Mit einem Male war mir's, als sähe ich den König selbst, mit seiner schönen Geliebten, der Gräfin Dubarry. Doch war ich keines sicheren Gedankens fähig, denn tausend abenteuerliche Gestalten schwebten schon wieder an meinem blöden Auge vorüber. Ritter, Türken, Zigeuner, alle Völker, alle Trachten, die durch Auswüchse von Locken, Bändern, Kostbarkeiten, Schleifen und Blumen um so phantastischer sich ausnahmen. Nur die italienischen Masken, Pantalon, Kolombine, Skapin und Skapine, Arlequins und Polichinells hatten ihr gehöriges Kostüm.
Eine gellende Musik tobte durch die Säle. Eine Polonaise ward aufgeführt vom Hofe Karls VII., und ich folgte willenlos meiner Führerin, die sich dem Zuge anschloß.
Wie wir so herumschritten, bückte sich meine Führerin plötzlich. Sie hatte ihre Maske verloren.
Ein Pole hob sie ihr auf und reichte sie ihr mit den Worten: »Herzogin . . ., Ihre siegreiche Schönheit sträubt sich mit Unwillen gegen die verhüllende Maske.«
Ängstlich blickte meine Begleiterin nach mir, doch mein blöder Blick mochte sie wohl beruhigen: als wir an einen Haufen maskierter Zuschauer kamen, traten wir sogleich aus.
Meine Gebieterin zog mich durch mehrere Säle und durch den Garten. An einem Hinterpförtchen hielt der Wagen, der Kutscher fuhr auf das gegebene Zeichen vor, und wir stiegen ein. Ich folgte ohne Gedanken, und das Rütteln des Wagens wiegte mich bald wieder in einen festen Schlaf zurück.
Ich erwachte mit ziemlichem Kopfschmerz.
»Ei!« – fragte meine Geliebte, »schickt es sich in Gegenwart einer Dame, mit der man nicht verheiratet ist, so fest zu schlafen?« – Ich blickte im Zimmer umher, die Laube, das Tageslicht, alles hatte ein falbes Ansehen, meine Geliebte selbst war bleich und überwacht und im Negligé minder reizend als gestern, ich selbst aber empfand sogar körperlich die trostlosesten Nachwehen meines süßen Rausches. Ich erzählte den Traum. Mit einem erkünstelten Lächeln hörte meine Geliebte mir zu, doch wie ich von der Maske sprach, die sie verloren, sah ich ganz deutlich, wie sie die Farbe änderte. Ich wollte den Namen nennen, den ich gehört, doch sann und sann ich, er war aus meinem Gedächtnisse verwischt, und doch wußte ich genau, einen bestimmten Namen gehört zu haben. Aber sie unterbrach mein Nachsinnen mit einer zärtlichen Umarmung.
»Sie wissen,« sprach sie, »ich bin Ihre zärtliche Witwe Forget und Sie mein innigstgeliebter François.«
Nichtsdestoweniger blieb ich still und zerstreut, denn mir war schlimm zumute.
Da ich zu Hause anlangte, fühlte ich mich sehr unpaß und mußte mich zu Bette legen. Zwei unerträglich lange Tage gingen hin, das körperliche und geistige Unbehagen stieg auf einen solchen Punkt, daß ich, wie ich glaube, mir das Leben genommen hätte, wenn ich nicht Hoffnung gehabt, am dritten Tage meine Geliebte wiederzusehen.
Der dritte Tag brach an, ich fühlte mich hergestellt, um mein Lager zu verlassen. Ich sah mich im Spiegel, mein Blick war matt und meine Wange bleich, mein krankes Aussehen aber flößte mir eine süße Wehmut ein.
So, dachte ich, soll meine Geliebte mich zu ihren Füßen sehen, so wollte ich ihr verkünden, daß die Sehnsucht zu ihr mich verzehre, und daß ich kein anderes Glück kenne als diesen Tod. und ich malte mir die Wirkung dieser Worte und meiner Gestalt auf sie in einer solchen Lage recht rührend aus.
Ich erreichte ihre Wohnung – und noch erschüttert es mich, wenn ich dieses Augenblicks gedenke.
Madame Forget, sagte die Wirtin des Hauses, habe plötzlich heimreisen müssen und mir in einem Briefe ihr Lebewohl zurückgelassen. Ich erbrach ihn; er lautete:
Teuerster François!
Wenn Sie diese Zeilen lesen, so bin ich schon meilenweit von Ihnen entfernt. Ich betrog Sie, indem ich sagte, ich sei unvermählt. Mein Mann lebt und darf nie von unserer Liebe erfahren. – Alles Schöne in der Welt ist Traum, daraus wir erwachen müssen: danken wir dem gütigen Geschick, das uns zwar grausame Trennung auflegt, aber doch in der Blüte der Jugend und Reize uns scheidet, ehe die Zeit ein Haar nach dem andern uns ausriß, einen Zahn nach dem andern uns ausbrach und mit der Liebe selbst dem Gedächtnisse das reizvolle Bild des Geliebten mordet. Dies Bild bleibt uns, bedenken Sie, wir leben in einer Welt, wo sich nichts Höheres gewinnen läßt als solch ein Bild; es ist mein Trost, indem ich mit tausend, tausend Tränen scheide.
Mit grenzenloser Zärtlichkeit
ewig die Ihre,
Adele Forget.
Ich hatte den Brief gelesen, die Wirtin mußte mir einen Sessel reichen, sonst wäre ich zu Boden gesunken. Endlich brach ein Tränenstrom aus meinen umflorten Augen und linderte die Beklemmung.
Da die Aufwärterin mich so heftig weinen sah, trat sie zu mir und sprach: »Fügen Sie sich, mein Herr, dem, was nicht zu ändern ist. Madame Forget hat, im Falle Sie Geld bedürfen, noch eine Summe für Sie zurückgelassen, die ich Ihnen einhändigen soll.«
»Verfluchte Kupplerin!« donnerte ich im Zorn die Wirtin an, »glauben Sie, ich durchschaute das Spiel nicht? ich hätte es nicht geahnt? aber ich wagte es nicht zu glauben. Weder war das ein Traum, noch war sie eine Zauberin, sondern ich befand mich wirklich mit ihr in königlicher Gesellschaft.«
»Mein Herr, ich verstehe Sie nicht, nehmen Sie Ihre Sinne zusammen und reden Sie nicht irre!«
»Ich rede nicht irre! Aber ich habe ihren Namen ja gehört – verflucht! mein Gedächtnis – hm – hm! – oh, mein Kopf, mein Kopf!«
»Barmherziger Gott! das ist ja der helle Wahnsinn.«
Aber in diesem Augenblick war mir der Name eingefallen, und mit gellender Stimme schrie ich: »Herzogin ***.«
Ich hatte nicht geträumt, nur der Schlaftrunk hatte mich so betäubt, daß ich zu träumen wähnte, daß, als ich erwachte, mir jene Nacht jahrelang verstrichen schien. Ich war wirklich auf einem Feste zugegen gewesen, das der König seiner schönen Geliebten gab, und hatte es leider zu früh verlassen müssen, ehe die Schauspiele, Ballets, Feuerwerke, die sich später einander verdrängten, ihren Anfang genommen.
Wie der Name kaum meinen Lippen entflohen war, verlor die Wirtin alle Fassung.
»Barmherzigkeit, mein Herr!« rief sie. »Bedenken Sie, wie jene Dame Sie liebte, was sie für Sie tat, und nur lebte, alle Ihre Wünsche mit Aufopferung ihrer Ehre zu erfüllen.«
»Und wie ich sie liebe, soll sie bedenken, und daß ich nichts bedenken werde als diese Liebe. Mit ihrem Verlust ist mir mein Leben gleichgültig, sie muß mir Gift geben, wie sie mir den Schlaftrunk gab, oder mich ferner lieben.«
Die Wirtin antwortete hierauf: »Gut, gut! mein Herr, beruhigen Sie sich nur, bedenken Sie, welche kostbare Ehre hier auf dem Spiele steht. Alles, was Sie wünschen, muß geschehen.«
»Liebe oder Tod!« rief ich, »eins von beiden. Aber Entscheidung! heut noch Entscheidung!«
»Bei so bewandten Umständen«, versetzte sie, »muß geschehen, was Sie wünschen, je eher, je besser: warten Sie nur eine halbe Stunde.«
Sie ließ mich allein in dem Zimmer, das mir so oft der Schauplatz von Seligkeiten war – ich fühlte mich ruhiger, als ich jemals noch gewesen, denn ich dünkte mir ein Mann von entschiedenem Entschlüsse.
Eine halbe Stunde war verstrichen. Niemand kam: mit mäßigen Schritten ging ich im Zimmer auf und nieder; noch eine Viertelstunde verging, und ich verlor die Geduld. Ich eilte zur Tür, sie war fest verschlossen und verriegelt, die Fenster gingen nach dem Hofe hinaus. Kein Mensch war sichtbar, niemand konnte mich hören, wenn ich rief. Ich wollte eben mit all meiner Kraft die Tür sprengen, da hörte ich es leise rauschen, klirren: die Schlösser wurden geöffnet, und ein Polizeileutnant mit Häschern trat ein, zeigte mir einen Verhaftsbefehl vor, und im selben Augenblick ward ich von den Häschern mit Henkergriffen gepackt und gebunden, mein Mund wurde mit Tüchern verstopft.
Als man mich fortschleppte, flüsterte mir die Wirtin zu: »Ei, mein Herr, wie diskret sind Sie mit einemmal geworden. Ja, Sie sind ein Muster eines heimlichen Liebhabers, Sie sind nicht stumm, und dennoch wird es Ihnen unmöglich, von Ihrer Geliebten zu schwatzen.«
Ich ward in eine dichtverschlossene Kutsche gebracht. Ein Häscher saß neben mir, und wir fuhren lange, bis ich eine schwere Pforte öffnen hörte und aus dem Hallen des Wagens schließen konnte, daß wir durch einen Torweg fuhren.
Hier wurde der Kutschenschlag geöffnet. Ein Graukopf mit einem großen Schlüsselbunde ging vor uns her; er geleitete mich in ein ärmliches Zimmer, in welchem sich nichts befand als ein Stuhl, ein Tisch und ein schlechtes Bett. Meine Bande wurden mir genommen, und da mein Mund wieder frei, bat ich, daß man mir behilflich sein möge, das Bett zu erreichen, weil ich mich sehr übel befände. Dies geschah. Schweigend entfernten sich meine Begleiter, und schwere Schlösser und Riegel fielen vor die Tür. Nach Verlauf einiger Zeit hörte ich wieder die Schlösser öffnen, der Graukopf mit dem Schlüsselbunde und ein stattlicher Mann, der ihm folgte, traten zu mir.
Wie groß war meine Freude, in letzterem den ehemaligen Hausarzt zu erkennen, der noch in den letzten Lebenstagen meinem Vater beigestanden.
»Mein Herr,« flüsterte ich ihm leise zu, »retten Sie mich! Sie sind es imstande, und ich vertraue Ihnen mein Geheimnis!«
»Stille! Stille!« versetzte der Arzt sehr sanft. »Ihnen tut vor allen Dingen Ruhe not.«
»Nur zwei Augenblicke hören Sie mich ohne Zeugen.« flehte ich.
»Haben Sie Appetit zum Essen und Trinken?« fragte er, und als ich leise zu flehen fortfuhr, mir doch nur eine Minute ohne Zeugen Gehör zu schenken, verlor er die Geduld und rief:
»Genug der Albernheiten, ich habe keine Zeit dazu, Patienten Ihrer Art anzuhören, und es wäre schlimm, wenn ich sie alle anhören müßte.«
Dadurch ward mir plötzlich meine Lage klar. Der Arzt, ein sehr angesehener Mann und Leibarzt einer sehr hohen Person, war nebenbei auch Mitinspektor einer Irrenanstalt.
»Barmherziger Gott!« rief ich, »Sie nehmen mich doch nicht etwa gar für einen Wahnsinnigen? Und bin ich hier in Ihrer Irrenanstalt?«
Die Antwort war: »Da Sie es wissen, lieber Francis, will ich Ihnen kein Geheimnis daraus machen, denn es hängt von Ihrem Benehmen ab, wie bald Sie Ihre Freiheit wieder erhalten.«
Unbekümmert um die Gegenwart eines dritten, denn so hatte ich alle Geistesgegenwart verloren, rief ich kläglich:
»Mein Herr, ich bin nicht wahnsinnig, obwohl ich es leicht werden könnte. Ein Bubenstück sondergleichen bringt mich hierher. So gewiß Sie den Verständigen vom Tollen unterscheiden können, hören Sie mich nur, und Sie werden den Irrtum einsehen, retten Sie mich, bei allen Heiligen! denn hier, wo Sie so menschenfreundlich Tolle bessern, muß ich toll werden.«
Ein gebieterischer Blick des Arztes entfernte den Wärter, und ich berichtete ihm, was ich bisher erzählt habe, obschon verworrener und unzusammenhängender, wie sich von meinem damaligen Zustande leicht denken läßt.
Der Arzt hörte mich mit großer Unruhe an. Ich hielt sie für Teilnahme. Als ich meine Erzählung geendigt, sprang er zornig auf und rief nach dem Wärter.
»Kanaille!« donnerte er ihn an, »warum habt Ihr diesen Mann hierher gebracht? Unordnung und kein Ende! Er gehört ja in die untersten Kellergewölbe, marsch fort! schafft ihn dahin!«
Solche Teilnahme fand ich bei demjenigen, der meinem Vater die Augen zugedrückt, und dieser reiche, angesehene Mann konnte ein solcher Schurke sein.
Ich ward indessen wieder von meinem Lager aufgerissen und in die unterirdischen Kellergewölbe geschleppt, wo ich zwar ein besseres Bette erhielt, aber auch hinter weit festeren Schlössern und Riegeln verwahrt wurde. – Als ich mich nun wieder allein befand, fing das Bewußtsein meines grenzenlosen Elends an, in mir aufzugehen. Ich bedachte, wie glücklich ich gewesen, wie meine Wünsche nichts Höheres erstreben konnten, als was ich genossen, und wie ich vor lauter Genuß und Üppigkeit stets mehr gefordert und immer mehr erhalten. Ich bedachte alsdann, wie dumm, wie blödsinnig ich war, mich von der Urheberin meines Mißgeschicks also täuschen und blenden zu lassen, zu einem solchen Spielwerk mich ihr hinzugeben und zuletzt so arglos ihr in die Falle zu gehen. Hatte ich nicht durch meine Leidenschaft und Unerfahrenheit sie gleichsam aufgefordert, mich hier, getrennt von allen Menschen, einsam, ohne Hoffnung, die freie Luft, das Sonnenlicht wieder zu genießen, in dieses Grab, wo nur Wahnsinn hauste, einzukerkern? – Wäre ich doch klüger gewesen, welch eine Rolle hätte ich in der Welt durch eine solche Beschützerin gespielt. Und wie ich voll Verzweiflung auf diese Weise mich selbst anklagte, sprang ich plötzlich mit erneuten Kräften von meinem Lager auf und rief aus: »Ich bin ja wahnsinnig, wann ist der Verstand je so dumm gewesen? Phantasie lügt mir vor, wo ich mir einbilde, mein Gedächtnis sei es, drum wollen die vernünftigen Menschen mich los sein, und jenen Arzt kenne ich als einen redlichen Mann. Oh, hört mich, meine Brüder und Mitgefangenen. Sind wir wahnsinnig, laßt uns auch rasen, daß es der Mühe sich lohnt. Wir sind glücklich, wir fühlen ja kein Leid. Wir sind die Könige der Welt, alle Schätze der Erde sind unser. Auf! schwärmen wir zum höchsten Genuß, laßt uns jubeln, wie der Wind heult! laßt uns toben, wie Donner rollt. Auf! wir sind die Glücklichen!« – So jauchzte ich laut und sprang in meinem Kerker wild herum, und es war mir, als ob ich tausend Stimmen aus den Wänden und der Decke meines Kerkers vernahm, von Tollen, die mitschrien, ihre Köpfe und Glieder wider die Mauer schlugen, sie riefen: »Wir hören dich und freuen uns mit dir, daß das Fleisch uns vom Leibe fällt, und jede Faser ist ein Herz, das vor Wonne schlägt. Heißa, heißa! das tolle Glück!
Von diesem Augenblicke an hatte ich kein Bewußtsein weiter, mein Gedächtnis sagt mir nichts von allem, was sich in den folgenden Stunden mit mir zutrug. Meine Erinnerung beginnt erst wieder mit einem Traum.
Ich sah meine Kerkerwände nicht mehr, sondern eine weite Ebene, wo die Sonne hinter schweren, schwarzen Wolken blutig unterging. Donner und Posaunentöne brüllten aus den Wolken, und ein häuserhoher Triumphwagen kam daher, er war aus braunen, ehernen Stäben zusammengeflochten, die ineinanderklirrten, wie er daherrollte, und der Boden dröhnte unter ihm, und der Kopf schmerzte mich, weil ich's hörte. Zwei riesige Schmetterlinge waren daran gekettet, und es war ein Wunder mit anzusehen, wie leicht sie den schweren Wagen zogen, indem sie ihre bunten, herrlich großen Schwingen weit, aber ganz langsam nur regten. Viel Männer und Weiber tanzten wild um den Wagen her, sie schwangen in der einen Hand Pechfackeln, die alles ringsumher röteten und mit dickem Qualm umgaben; in der andern hielten sie Posaunen, in welche sie alle auf einmal stießen, dann sprach es im mächtigen Trompetenton: »Das allein ist die Wahrheit!« Alle Männer und Weiber waren mit Laubkränzen geschmückt, und zwischen ihren Reihen hindurch sprangen Gerippe wie Tolle umher, sie hielten in ihren hochausgestreckten Knochenarmen große Glocken, worauf sie mit Hämmern unermüdlich losschlugen. Und die Glocken bebten und summten: »Betrogen! Betrogen! Betrogen!« – Oben auf dem Wagen aber stand meine Geliebte als Göttin der Wollust, in der einen Hand einen Becher, in der andern eine Pechfackel, die sie mit einer solchen Röte umfloß, als sei sie der untergehenden Sonne entstiegen. Sie sprach: »Hier bringe ich dir den Wollustkelch, leere ihn, so ist alles dein. Alle Freuden, alle Genüsse, die je empfunden sind, fühlst du in dir, bist du selbst.«
Ein sinnbetäubender Duft umfing mich aus dem Becher, der Trank war mir im Innersten zuwider, aber ich griff nach ihm, und mühevoll, wie jemand, der ohne Durst trinkt, leerte ich ihn bis auf den letzten Tropfen.
Da ward mir's, als müßte ich zum Nebel mich auflösen, und ich ward allgegenwärtig an allen Orten, die ich sah, immer weiter dehnte ich mich und wirbelte in immer weitere Fernen, und mit jedem weiteren Kreis, den ich zog, wuchs die fürchterliche Angst, und gleich mir hatten alle übrigen Gestalten sich in Dampf aufgelöst und waren mit mir, zu meinem Entsetzen und Widerwillen, aufs innigste verschlungen: wir waren ein Wesen. Da faßte ich den Entschluß, kühn mich dem Strudel der Angst zu überlassen und in das unendliche Entsetzen mich wild und jauchzend hineinzustürzen. Dieser Entschluß kam aber nicht aus mir, jubelnd hatten ihn die andern Wesen gefaßt, ich hatte nur eingestimmt, und nicht beschreiben kann ich, wie mir ward – die Qual der Unseligkeit, eine Seelenfolter empfand ich da – lebend – im voraus.
Zum Glück rief eine klägliche Stimme, die mich durch ihren Schmerz innig erschütterte:
»O Wollust! dein Los ist Verdammnis, denn du mordest die Unschuld, die Gott selbst nicht herstellen kann. Weh euch, ihr Großen der Erde, kein irdisches Gericht wartet euer, weil ihr nicht irdisch mordet. Den Erdensündern wird vergeben, doch für euch gibt's keine Erlösung. Es lebt ein Gott, der die Unschuld rächt.«
Diese Stimme hatte mich aus dem entsetzlichen Fiebertraum zum Bewußtsein aufgerüttelt. Ich fand mich wieder außerhalb des Bettes auf dem Boden meines Kerkers liegen: die Stimme kam von einer Mitgefangenen, die in einem Kerker neben dem meinigen aufbewahrt wurde. Vermutlich war es ihr gelungen, ihr Gefängnis einen Augenblick zu verlassen, ohne daß sie etwas Weiteres erreichen konnte, als solche Kunde ihres unglückseligen Daseins zu geben. Gleich darauf hörte ich sie von den Kerkerknechten ergreifen, es fielen unbarmherzige Streiche, und eine rauhe Stimme rief: »Hund von einem Weibe! Schließt sie in Ketten, wenn sie sich sträubt.« Die Ärmste ward zurückgeschleppt in ihren Käfig und schrie: »Es lebt ein Gott, der die Unschuld rächt!«
Ich war von Schmerz, Angst und Entsetzen tief ergriffen, ich wußte kein Rettungsmittel mehr als den Tod, die einzige Zuflucht dünkte er mich vor der Marter des Lebens. Das Dasein, zu dem mich der Schöpfer verdammt, schien mir eine Grausamkeit. – Ich beschloß den Selbstmord und wandte zuvor noch einmal meine Seele zu Gott. – Ich konnte innig beten, und zugleich floß ein reuiges Bekenntnis meines sündigen, unsauberen Lebens über meine Lippen. – Da fühlte ich süßen Trost und Linderung. – Oh, wie segensreich ist der Glaube an einen Gott, der über uns wacht; ich ließ in diesem Gedanken meinen tödlichen Wunsch fahren, fing an, meinen Kerker zu lieben und den Willen des Himmels zu verehren, der mich hierher gesandt, wo ich mich selbst finden sollte. Mein Entschluß war, zu leben, zu dulden und zu tragen. – Mein Wärter erschien endlich und brachte mir ein für einen Gefangenen ziemlich reiches Mahl. Ich verlangte Gebetbücher und eine Bibel.
Auf solche Fälle ist man in Gefängnissen vorbereitet, denn was ist den Wächtern lieber, als die Gefangenen in ihr Schicksal ergeben zu finden?
Ich erhielt mehr, als ich für den Anfang bedurfte, und beschäftigte mich damit, solange das Tageslicht es mir gestattete.
So verstrichen drei Tage, und ich hatte mich gänzlich darin gefunden, den Kerker für mein Grab anzusehen, in welchem ich mit dem Gedanken an Gott der Ewigkeit entgegenlebte. Aber es war anders über mich beschlossen.
Am vierten Tage meiner Gefangenschaft trat mein Kerkermeister zu mir mit einem Diener, der alle Kleider und Habseligkeiten trug, die man mir bei meiner Ankunft hier abgenommen hatte, und er sprach die wunderbaren Worte:
»Kleiden Sie sich an, mein Herr, Sie sind frei auf allerhöchsten Befehl.«
Ich gehorchte augenblicklich. Wie heftig schlug mein Herz: kaum vermochte ich ein Dankgebet zum Himmel emporzusenden, und nur mit einem einzigen Blicke schied ich von den Büchern, die mein Kerkerleid zum Trost und Heil umgeschaffen.
Ehe man mich völlig in Freiheit setzte, mußte ich heilig auf die Bibel schwören, nichts von allem, was ich innerhalb der Mauern erlebt, gehört und gesehen, irgend wem zu veroffenbaren.
Als ich wieder die freie Luft atmete, war es Nacht, und wie ein Träumender wankte ich durch die Straßen, meiner Wohnung zu. Dort empfing man mich ganz unbefangen. Ich war nur vier Tage ausgeblieben, und niemandem war dies aufgefallen, keiner ahnte von dem, was sich mit mir zugetragen hatte.
Über meine Rettung erfuhr ich nachmals folgendes: Der König pflegte mit der Dubarry zu Nacht zu speisen, und der Polizeimeister hatte sich am Tage meiner Verhaftung zu diesem petit souper eingefunden, wo gewöhnlich die geheimen Hofgeschlchten, wenn nicht wichtigere Dinge, besprochen wurden.
Dort hatte er zur großen Belustigung des Königs erzählt, auf welche Weise man mir mitgespielt.
Die Gräfin aber war höchlich darüber entrüstet, daß ich deshalb zur lebenslänglichen Gefangenschaft verdammt sei, und ließ nicht nach, in den König zu dringen, bis dieser in meine Freiheit willigte.
Ich ward am folgenden Tage zur Gräfin beschieden. Die Vorzimmer waren mit Supplikanten angefüllt, aber nachdem ich meinen Namen genannt, ward ich bald vorgelassen.
Durch eine Reihe schöner Zimmer gelangte ich in das Boudoir der Gräfin, die bei ihrer Toilette begriffen war. Schon einmal hatte ich die Paläste der Erdengötter betreten, nach denen sich meine Kindheit gesehnt, aber diesmal mit anderen Empfindungen; ich achtete die Pracht nicht höher als die Alltäglichkeit und hatte ein einfaches Dasein, die behagliche Häuslichkeit lieben gelernt.
»Mein Herr!« begann die Gräfin mit einem selbstbewußten, spöttischen Lächeln, worin der Stolz auf alle Vorzüge ihres Geschlechts und ihre eigenen sich malte, »man hat Ihnen arg mitgespielt, ich freue mich, daß ich davon hörte, um Ihnen Ihre Freiheit wieder schaffen zu können: dies geschieht aber unter der Bedingung, daß Sie Paris und Frankreich so bald als möglich für immer verlassen.«
»Glückselig!« erwiderte ich, »wer die Macht, die ihm der Himmel verliehen, wie Sie benutzt.«
»Sie werden einsehen,« fuhr die Gräfin fort, »daß Indiskretion Ihnen nichts helfen wird, und um so sicherer auf Ihre Verschwiegenheit rechnen zu dürfen, händige ich Ihnen hier eine Anweisung auf 30 000 Franken ein, die Ihnen mein Bankier auszahlen wird. Sehen Sie es als ein Reisegeld an.«
»Madame!« rief ich aus, »bin ich Ihnen nicht schon für meine Freiheit die größte Dankbarkeit schuldig? Darum erlassen Sie es mir anzunehmen, was Ihre überschwengliche Großmut mir ferner bietet, ich müßte sonst als ein Unwürdiger vor Ihnen stehen, was ich um alles in der Welt nicht möchte. – Bin ich nicht etwa allzu gering durch diese Verbannung bestraft? – Ja, Madame, ich weiß, es ist ein Verbrechen, seine Liebe einem so erhabenen Gegenstande zu weihen, und es war verruchte Bosheit von mir, den Rang einer so hohen Dame zu ihrem Verderben benutzen zu wollen. Für ein Verbrechen, das ich bereue, wage ich es nicht, noch Wohltaten in Empfang zu nehmen. Auch habe ich so viel von dem erhabenen Gegenstand meiner Zuneigung empfangen, daß ich bei einem so mäßigen Leben, als ich zu führen entschlossen bin, unmöglich Mangel leiden kann: jede Vermehrung meines Reichtums würde aber meine heilsamen Entschlüsse nur stören. Viel, Madame, viel habe ich von jener hohen Dame empfangen, doch von allem, was mir durch sie ward, ist nichts mir ersprießlicher und heilsamer geworden als der Kerker, wo ich in mich ging und mich selbst kennen lernte. Für diese Strafe werde ich sie stets verehren und ihr Bild allenthalben mit mir herumtragen, aber nur, um mich zu erinnern, wie unwürdig ich des Glückes war, das sie mir gewährte, und gerne verzichte ich darauf, denn ich fühle, es ist für bessere Wesen als ich. So, Madame, denkt einer, den Mißgeschick gebessert, und dieses Mißgeschicks halber sollte mich mancher Glückliche beneiden. Aber ich bitte um Vergebung. In einem fürstlichen Palaste eifre ich wider das Glück und verschmähe die Reichtümer. War es zu dreist, gnädigste Gräfin, so bedenken Sie, daß ich einem Irrenhause erst gestern entkam.« – So schloß ich, denn meine eifrige Rede erregte ein Lächeln, welches meine hohe Gönnerin mit Mühe unterdrückte: sie erhob sich hierauf mit ungemeiner Grazie und deutete mit der Hand zur Türe. Als ich ihren Palast verlassen hatte und über die ganze Szene nachdachte, konnte ich mich auch nicht genug darüber verwundern, daß ich in meiner Arglosigkeit Dinge geäußert, die der Gräfin sehr beleidigend sein mußten.
Von meinem ferneren Geschicke läßt sich nicht viel mehr sagen. Ich verließ Paris; doch mein Vorsatz, ein nützliches, stilles Leben zu führen, kam nicht zum Gedeihen. Ich durchreiste Italien, das südliche Deutschland und Ungarn, in der Hoffnung, die Weltherrlichkeiten so zu genießen, wie meine Jugend davon geträumt; ich besaß zu wenig Kenntnisse, um die Kunstschätze nach Verdienst zu würdigen, und nicht Unbefangenheit genug und war zu träumerisch und unruhvoll, die Naturschönheiten zu genießen. Vor den stolzesten Werken des menschlichen Geistes, in den paradiesischen Gegenden Italiens, erfaßte mich das Gefühl der Alltäglichkeit, und ich fand an keinem Orte Ruhe. – –