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Wie kam die Sultanin der Place Saint-Jean zu dem Beinamen »Käscherin«. Wie hatte sie sich im Hause Rouget eingenistet?
Je älter der Doktor Rouget, der Vater von Frau Bridau und Jean-Jacques Rouget wurde, um so deutlicher wurde es ihm, daß sein Sohn eine Null war. Er hielt ihn also ziemlich streng und bemühte sich, ihn an ein alltägliches Gleichmaß zu gewöhnen, das ihm die Lebensklugheit ersetzen sollte; aber unbewußt machte er ihn dadurch reif für die erste Tyrannei, die ihm ihr Joch auferlegen sollte. Einmal bemerkte der alte lasterhafte Schalk auf dem Rückweg von seinen Besuchen in der Avenue de Tivoli am Wiesenrand ein entzückendes kleines Mädchen. Bei dem Geräusch von Wagen und Pferd erhob sich das Kind aus einem der Bäche, die wie Silberstreifen in einem grünen Kleide aussehen, wenn man sie von Issoudun aus unten liegen sieht. Sie tauchte auf wie eine Nixe und zeigte plötzlich dem Doktor das schönste Jungfrauenköpfchen, das je ein Maler träumte. Der alte Rouget kannte das ganze Land, aber dies Wunder an Schönheit kannte er nicht. Sie war fast nackt. Sie trug einen armseligen kurzen Rock, durchlöchert und zerschlissen, aus schlechter, braun und weiß gestreifter Wolle. Ihr Kopfputz war ein Blatt derbes Papier, ihr Hutband ein Weidenzweig. Das Papier war voller Grundstriche und Os, ein Blatt aus einem Schulheft, und ein richtiger Pferdeschwanzkamm befestigte es auf dem schönsten Blondhaar, das sich eine Evatochter wünschen konnte. Die reizende Brust, kaum verhüllt von einem zerrissenen Seidenfetzen, zeigte unter der Sonnenbräune ein helles Weiß. Wie ein Schwimmhöschen sah der Rock aus, der zwischen den Beinen aufgerafft, um den Bauch gewickelt und mit einer dicken Nadel festgesteckt war. Füße und Beine, die durch das klare Wasser schimmerten, waren von einer Zartheit, die sie der mittelalterlichen Bildhauerkunst würdig machte. Im Sonnenschein bekam der reizende Körper einen rötlichen Schimmer von besonderer Anmut. Solch ein Hals, solch eine Brust verdienten in Kaschmir und Seide gehüllt zu werden. Zu all dem hatte die Nymphe Augen, vor deren Bläue ein Maler oder Dichter in die Knie gesunken wäre. Der Arzt war Anatom genug, um einen herrlichen Wuchs festzustellen, und begriff, wieviel die Kunst einbüßen würde, wenn dies entzückende Modell sich durch Feldarbeit ruinierte.
»Woher bist du, Kind? Ich habe dich doch noch nie gesehen«, sagte der alte Arzt. Er war damals zweiundsechzig Jahre alt. Der Auftritt spielte sich im September des Jahres 1799 ab.
»Ich bin aus Vatan«, antwortete das Mädchen.
Jetzt erhob in einer Entfernung von zweihundert Schritt ein Mensch von üblem Aussehen, der im Oberlauf des Baches stand, als er die Stimme eines Bürgers vernahm, den Kopf.
»Was gibt's da, Flora? Du schwatzest statt zu käschern, die Ware geht verloren.«
Ohne diesen Zuruf zu beachten, fragte der Arzt weiter: »Und wozu kommst du von Vatan hierher?«
»Ich käschere für meinen Onkel Brazier da.«
Käschern, im Dialekt von Berry »rabouiller«, ist ein lautmalerischer Ausdruck, der die Tätigkeit eines Menschen bezeichnet, der mit einem großen Ast, dessen Zweige die Form eines Fangbechers bilden, das Wasser eines Baches trübt und zum Schäumen bringt. Dieser ihnen unbegreifliche Vorgang erschreckt die Krebse, sie stürzen stromaufwärts und werfen sich in ihrer Verwirrung mitten in die Behälter, die der Fischer in gehöriger Entfernung aufgestellt hat. Flora Brazier hielt mit der natürlichen Anmut der Unschuld ihren Käscher in der Hand.
»Hat denn dein Onkel die Erlaubnis, Krebse zu fischen?«
»Stehen wir etwa nicht mehr unter der einen und unteilbaren Republik?« schrie der Onkel Brazier herüber.
»Wir stehen unter dem Direktorium,« sagte der Arzt, »und ich kenne kein Gesetz, das einem Mann aus Vatan gestattet, auf dem Gebiet der Gemeinde Issoudun zu fischen . . .« Dann wandte er sich wieder an Flora: »Hast du noch deine Mutter?«
»Nein, Herr, und mein Vater ist in Bourges im Spital; er ist verrückt geworden von einem Sonnenstich, den sein Kopf bei der Feldarbeit abbekommen hat . . .«
»Wieviel verdienst du?«
»Fünf Sous am Tag in der Käscherzeit, ich gehe bis in die Braisne krebskäschern. Während der Ernte gehe ich nachlesen. Im Winter spinne ich.«
»Du wirst bald zwölf Jahr?«
»Ja, Herr.«
»Willst du zu mir kommen? Sollst gut zu essen bekommen, gute Kleider, hübsche Schuhe . . .«
»Nein, nein, meine Nichte soll bei mir bleiben, ich habe sie übernommen vor Gott und den Menschen«, sagte der Onkel Brazier und kam näher. »Sie müssen wissen, ich bin ihr Vormund.«
Der Arzt bewahrte seine ernste Miene und unterdrückte das Lächeln, das ein andrer beim Anblick des Onkels Brazier nicht hätte zurückhalten können. Dieser Vormund trug einen Bauernhut, in dem Regen und Sonne gewütet hatten, eingekerbt war er wie ein Kohlblatt, auf dem eine Raupenfamilie gehaust hat, und mit weißem Zwirn zusammengeflickt. Unter dem Hut erschien ein schwärzliches, zerwühltes Gesicht, darin waren Mund, Nase und Augen nur vier Schwarze Flecken. Seine garstige Jacke sah aus wie ein Tapetenfetzen, seine Hose war aus Scheuerlappenstoff.
»Ich bin der Doktor Rouget,« sagte der Arzt, »und da du der Vormund dieses Kindes bist, so bringe es zu mir an die Place Saint-Jean, das wird kein schlechter Arbeitstag sein weder für dich noch für das Mädchen . . .«
Und ohne eine Antwort abzuwarten – er war seiner Sache sicher –, gab der Doktor Rouget seinem Pferd die Sporen und ritt nach Issoudun.
Und wirklich meldete ihm, als er sich zu Tische setzte, seine Köchin den Bürger und die Bürgerin Brazier.
»Nehmt Platz«, sagte der Arzt zum Onkel und zur Nichte. Flora und ihr Onkel standen barfuß da und sahen mit blödem Staunen die Wände an.
Das Haus, das Rouget von den Descoings geerbt hatte, liegt mitten auf der Place Saint-Jean, einem länglichen, schmalen Viereck, das mit einigen schmächtigen Linden bepflanzt ist. Hier stehn die bestgebauten Häuser der Stadt, und das der Descoings ist eines der schönsten. Es liegt dem Hause des Herrn Hochon gegenüber. Im ersten Stockwerk hat es drei Fenster nach vorn heraus und im Erdgeschoß eine Toreinfahrt, die in einen Hof führt, von dem man in den Garten geht. Unter der Wölbung der Einfahrt öffnet sich eine Tür nach einem großen Saal, den zwei Frontfenster erhellen. Die Küche befindet sich hinter dem Saal, ist aber von ihm getrennt durch eine Treppe, die in das erste Stockwerk und zu den Dachmansarden führt. Hinter der Küche liegt ein Holzschuppen, ein Waschhaus, ein Stall für zwei Pferde und eine Remise für den Wagen, im Obergeschoß dieser Nebengebäude sind kleine Böden für Hafer, Heu und Stroh und eine Schlafkammer für des Doktors Diener. Den Saal, den die kleine Bäuerin und ihr Oheim so sehr bewunderten, schmückte eine in dem reichen Geschmack der Louis-XV.-Zeit geschnitzte und grau gemalte Vertäfelung und ein schöner Marmorkamin. Darüber konnte sich Flora in einem hohen Spiegel sehen, der an den Seiten in geschnitzte vergoldete Rahmen gefaßt war und oben ohne Aufsatz abschloß. Hier und dort an der Vertäfelung hingen einige Bilder, die aus den Abteien von Déols, Issoudun, Saint-Gildas, La Prée, Le Chézal-Benoît, Saint-Sulpice und aus den Klöstern von Bourges und Issoudun stammten, welche der Freigebigkeit unserer Könige und den Stiftungen der Frommen die schönsten Werke der Renaissance verdankten. Unter diesen Gemälden, die aus dem Besitze der Descoings auf die Rougets übergegangen waren, gab es eine Heilige Familie des Albano, einen Hieronymus von Dominichino, einen Christuskopf von Giovanni Bellini, eine Jungfrau von Leonardo da Vinci, eine Kreuztragung von Tizian, aus dem Besitz jenes Marquis de Belabre, der unter Louis XIII. belagert und geköpft wurde, ferner einen Lazarus von Paolo Veronese, eine Vermählung der Jungfrau von dem Genueser Priester, zwei Kirchenstücke von Rubens und die Kopie eines Perugino, die entweder ein Werk Peruginos oder Raffaels war; ferner noch zwei Correggio und einen Andrea del Sarto. Diese Schätze hatten die Descoings aus dreihundert Kirchenbildern ausgewählt, und zwar nur nach dem Grade ihrer Erhaltung, da sie von ihrem Werte nichts verstanden. Die Bilder waren meist prachtvoll gerahmt, einige waren sogar unter Glas. Die Schönheit der Rahmen und das besondre Ansehen, das die ›Scheiben‹ den Bildern gaben, veranlaßten die Descoings, diese Schätze aufzubewahren. Heutzutage würde die Ausstattung dieses Saales sehr hoch eingeschätzt werden, damals hatte sie in Issoudun keinen besondern Wert. Auf dem Kamin stand zwischen zwei herrlichen sechsarmigen Silberleuchtern eine Uhr, deren kirchliche Pracht aus der Werkstatt von Boulle stammte. Auch die Sessel aus geschnitzter Eiche, bezogen mit Stickereien hochadeliger frommer Stifterinnen, würden heute sehr geschätzt werden; sie waren alle mit Wappen gekrönt. Zwischen den beiden Fenstern stand eine prächtige Konsole aus adeligem Besitz. In das mächtige chinesische Tongefäß, das sich auf der Konsole erhob, tat der Doktor seinen Tabak. Weder er noch sein Sohn, weder die Köchin noch der Diener kümmerten sich um die Pflege dieser Reichtümer. Man spie auf die vergoldeten und grünspangestreiften Zierate des Kaminrostes. Das geblümte Porzellan des reizenden Lüsters war wie die Decke über ihm voll schwarzer Flecken, ein ungestörter Tummelplatz der Fliegen. Die Brokatellvorhänge, mit denen die Descoings ihre Fenster drapiert hatten, waren von dem Bett eines vornehmen Weltgeistlichen abgerissen. Eine Truhe im Werte von mehreren tausend Franken diente als Büfett.
»Fanchette,« rief der Arzt seine Köchin, »bring uns zwei Gläser und von dem Federweißen.«
Die dicke Berrichonner Magd, die vor den Zeiten der Cognette für die beste Köchin von Issoudun galt, kam mit einem Eifer gelaufen, der auf die Tyrannei des Arztes und auch auf ihre eigene Neugier schließen ließ.
»Was kostet ein Hektar Wein bei dir zu Hause?« fragte der Arzt den Onkel Brazier, und schenkte ihm ein.
»Hundert Silbertaler . . .«
»Gut! Gib deine Nichte bei mir in Dienst, sie soll hundert Taler Lohn bekommen, und die sollen an dich als ihren Vormund ausgezahlt werden . . .«
»Alle Jahr?« fragte Brazier, und seine Augen wurden so groß wie Untertassen.
»Das mußt du mit deinem Gewissen abmachen. Flora ist Waise: bis zu ihrem achtzehnten Jahre hat sie über die Einnahmen noch nicht zu verfügen.«
»Sie geht ins zwölfte Jahr, das macht also sechs Hektar Wein«, meinte der Oheim. »Aber es is ein liebs Kindl, sanft wie'n Lämmchen, schlank und geschwind und recht brav, arms Gschöpferl, sie war meinem armen Bruder seine Augenweide!«
»Und ich zahle ein Jahr voraus«, sagte der Arzt.
»O mei, o mei,« sagte da der Oheim, »so gebens halt zweihundert, und's ghört Ihnen, bei Ihnen wird's besser dran sein als bei uns, wo's die Frau schlägt, weils net ausstehn kann . . . Ich bin noch der Einzige, der sie behütet, wo's doch so unschuldig ist wie ein Neugebornes, die heilige Kreatur.«
Bei den letzten Worten gab der Arzt, dem das Wort ›unschuldig‹ einen besondern Eindruck machte, dem Onkel Brazier einen Wink und ging mit ihm hinaus in den Hof und von dort in den Garten. Die Käscherin ließ er vor dem gedeckten Tisch zwischen Fanchette und Jean-Jacques, die sie ausfragten und sich von dem naiven Kind die Begegnung mit dem Doktor erzählen ließen.
Der Onkel Brazier erschien wieder, küßte Flora auf die Stirn und sagte: »Alsdann, leb wohl, mein Herzenskind, kannst schon sagen, daß ich dein Glück gemacht hab, daß ich dich bei dem gütigen und ehrwürdigen Armenvater hier eingetan hab; mußt ihm gehorchen wie du mir gehorcht hast . . . bist auch recht brav und artig und tust, was er dir anschafft . . .«
»Sie können das Zimmer über meinem zurechtmachen«, sagte der Arzt zu Fanchette. »Da soll die kleine Flora – sie hat einen passenden Namen – von heut an schlafen. Morgen lassen wir ihr Schuster und Schneiderin kommen. Legen Sie ihr gleich ein Besteck aus, sie soll uns Gesellschaft leisten.«
Am Abend sprach ganz Issoudun von nichts anderm als der Aufnahme einer kleinen Käscherin bei dem Doktor Rouget. Der Spitzname Käscherin verblieb Fräulein Brazier in dieser Spöttergegend vor, während und nach ihrem Glück.
Der Arzt wollte wohl im kleinen für Flora Brazier tun, was Ludwig XV. im großen für Mademoiselle de Romans getan hat; aber er fing zu spät an: Ludwig XV. war damals noch jung, der Arzt war schon ein alter Mann. Vom zwölften bis zum vierzehnten Lebensjahre genoß die reizende Käscherin ein ungemischtes Glück. Sie war gut angezogen und viel schmucker ausstaffiert als die reichsten Mädchen von Issoudun, sie bekam eine goldene Uhr, und um sie zum Fleiß anzuhalten beim Lesen, Schreiben und Rechnen, das ihr ein Lehrer beibringen mußte, schenkte ihr der Arzt kleine Schmucksachen. Aber von ihrem fast animalischen Bauerndasein war der kleinen Flora eine solche Abneigung gegen den bitteren Kelch der Wissenschaft verblieben, daß der Doktor mit seiner Erziehung nicht weit kam. Es war auffallend, daß dieser Mann, dem man keinerlei Zärtlichkeit zutraute, sich so sorglich um die Verfeinerung, den Aufputz und die Ausbildung dieses Kindes bemühte, und was für Absichten er dabei verfolgte, darüber gab es unter den klatschsüchtigen Bürgern von Issoudun verschiedene Meinungen, und auch ärgerliche Irrtümer wurden, wie gelegentlich der Geburt von Max und Agathe, von dem Gerede beglaubigt. Es wird den Kleinstädtern schwer, aus tausend Vermutungen und widersprechenden Auslegungen, denen irgendeine Tatsache Raum gibt, die Wahrheit herauszuschälen. Die Provinz braucht wie ehedem die Vorzimmerpolitik der »Petite Provence« in den Tuilerien für alles eine Erklärung und findet sie am Ende auch. Dabei hält sich jeder an die Seite der Sache, die ihm liegt: in ihr sieht und beweist er die Wahrheit, und seine Version ist immer die einzig richtige. Trotz dem dauernd beobachteten und deutlich zutage liegenden Leben der Kleinstädte wird gerade in ihnen die Wahrheit oft verdunkelt, und es bedarf schon der Unparteilichkeit des Historikers oder des überragenden Menschen, der die Dinge von oben sieht, um sie zu erkennen.
»Was, meinen Sie, kann so ein alter Sünder mit einem kleinen Mädchen von fünfzehn Jahren anfangen wollen?« sagten die Leute zwei Jahre nach der Ankunft der Käscherin.
»Recht haben Sie,« war die Antwort, »bei ihm sind sie lange vorbei, die Tage der Rosen . . .«
»Aber mein Lieber, der Doktor ist aufgebracht über die Blödheit seines Sohnes, und sein Haß gegen seine Tochter Agathe hat noch immer nicht nachgelassen; in diesem Dilemma hat er vielleicht deshalb zwei Jahre lang so sittsam gelebt, um nun diese Kleine zu heiraten und zuzusehen, daß er von ihr einen schlanken und ranken Buben bekommt, schön und munter wie der Max«, bemerkte ein besonders Scharfsinniger.
»Lassen Sie uns mit solchen Gedanken in Frieden! Bekommt man denn nach einem Leben, wie es Lousteau und Rouget in den siebziger und achtziger Jahren geführt haben, mit zweiundsiebzig Jahren noch Kinder? Nein, dieser alte Übeltäter hat im Alten Testament gelesen, nicht gerade aus Frömmigkeit, aber als Mediziner, und nun tut er's dem König David gleich, der sein Greisenalter mit der blühenden Jugend wärmte . . . Das ist das Ganze, Herr Nachbar!«
»Der Brazier soll, wenn er betrunken ist, sich vor den Leuten in Vatan rühmen, daß er den Doktor kräftig bestohlen habe!« meinte einer von denen, die gern das Schlimme glauben.
»Ach, mein Gott, was wird in Issoudun nicht alles geredet, Gevatter?«
Fünf Jahre lang, von 1800 bis 1805, hatte der Doktor seine Freude an Floras Erziehung und hatte dabei nicht den Verdruß, den der Ehrgeiz und die Ansprüche der Mademoiselle de Romans Ludwig dem Vielgeliebten bereitet haben sollen. Wenn die kleine Käscherin ihr Dasein bei dem Doktor mit dem Leben, das sie bei dem Oheim geführt hatte, verglich, war sie so zufrieden, daß sie sich gern allem, was ihr Gebieter von ihr verlangte, mit der Ergebenheit einer orientalischen Sklavin fügte. Mögen es uns die Idyllenverfertiger und Philantropen nicht verübeln, aber auf dem Lande haben die Leute von gewissen Tugenden keinen deutlichen Begriff, und ihre gelegentlichen Skrupel beruhen mehr auf eigennützigen Absichten, als auf einem Gefühl für das Gute und Schöne; sie sehen von klein an immer Armut, Arbeit und Elend um sich her, und so erscheint alles, was einen der Hölle des Hungers und der ewigen Mühsal entreißen kann, als erlaubt, besonders wenn das Gesetz sich nicht einmischen kann. Gibt es Ausnahmen, so sind sie selten. Vom sozialen Standpunkt aus gesehen, ist die Tugend eine Gefährtin des Wohlstandes und fängt erst mit der Bildung an. Von allen Mädchen zehn Meilen in der Runde wurde die Käscherin beneidet, obschon ihr Leben in den Augen der Frömmigkeit höchst sträflich war. Flora war 1787 geboren und wuchs inmitten der Saturnalien der Revolution auf, deren Abglanz auf diese Landstriche fiel, die nun ohne Priester, ohne Kult, ohne Altäre und religiöse Zeremonien waren; die Ehe war nur eine gesetzlich erlaubte Paarung; die revolutionären Grundsätze hinterließen tiefe Spuren, besonders in Issoudun, wo der Aufstand schon seine Tradition hatte. Noch im Jahre 1802 war der katholische Kultus kaum wiederhergestellt. Es war keine leichte Aufgabe für den Kaiser, Priester zu finden. Ja, noch im Jahre 1806 waren viele Kirchspiele verwaist; es währte lange, bis sich die Geistlichkeit wieder zusammenfand, die so gewaltsam zerstreut oder vom Schafott dezimiert worden war. So hatte denn Flora nur ihr Gewissen zum Richter. Und mußte das nicht bei einem Mündel des Onkels Brazier schwächer sein als der Eigennutz? Wenn auch, wie zu vermuten ist, den Doktor sein hohes Alter zwang, ein Kind von fünfzehn Jahren zu schonen, so galt die Käscherin doch für eine, die »es verstand«. Immerhin haben einige ein Zeugnis für ihre Unschuld darin erblicken wollen, daß des Doktors Fürsorge und Aufmerksamkeit mit der Zeit nachließ und schließlich in den beiden letzten Jahren seines Lebens seine Neigung zu ihr geradezu erkaltete.
Der alte Rouget hatte genug Menschen umgebracht, um sein eigenes Ende vorauszusehen; sein Notar fand ihn auf dem Sterbebette in den Mantel des encyklopädistischen Philosophen gehüllt, er drang in ihn, etwas für die damals siebzehnjährige Flora zu tun.
»Gut, wir wollen sie mündig sprechen«, sagte der Doktor.
Dies Wort kennzeichnet den Alten, der es sich nie entgehen ließ, seine Spöttereien mit Vorliebe dem Beruf seines jeweiligen Unterredners zu entnehmen. Indem er über seine Übeltaten den Mantel des Witzes deckte, wurden sie ihm vergeben in einer Stadt, wo der Witz immer im Recht ist, zumal wenn er auf wohlverstandenem Eigennutz fußt. Dem Notar kam es vor, als wäre in diesem Wort, wie in einem Racheschrei, aller Haß angesammelt, den der alte Lüstling, von der Natur in seinen geilen Berechnungen enttäuscht, auf den unschuldigen Gegenstand seines ohnmächtigen Begehrens geworfen hatte. In dieser Meinung bestätigte ihn noch der verbohrte Eigensinn, mit dem der Doktor der Käscherin nichts hinterlassen wollte. »Ihre Schönheit ist ja Reichtum genug!« wehrte er mit bitterem Lächeln alle weiteren Einwände des Notars ab.
Jean-Jacques Rouget beweinte den Tod seines Vaters nicht, aber Flora weinte um den Alten. Der hatte seinen Sohn, besonders seit dieser großjährig war, sehr unglücklich gemacht, während er der kleinen Bäuerin das materielle Glück gegeben hatte, das für die Leute vom Lande das wahre Glück ist. Als Fanchette nach dem Begräbnis des Verstorbenen zu Flora sagte: »Was soll aus dir werden, jetzt, da unser Herr nicht mehr ist?« da leuchteten Jean-Jacques' Augen auf, zum ersten Male belebte sich sein sonst so unbewegtes Gesicht, bekam den Glanz des Gedankens, die Farbe des Gefühls.
»Laß uns allein«, sagte er zu Fanchette, die gerade den Tisch abräumte.
Die siebzehnjährige Flora besaß immer noch die Zartheit des Wuchses und Ausdrucks, ihre Schönheit hatte noch diese kindliche Vornehmheit, die den Doktor verführt hatte, eine Schönheit, die sonst bei Bäuerinnen so schnell vergeht, wie die Blüte der Felder, während die Damen der großen Welt sie zu konservieren verstehen. Indessen machte sich schon eine Neigung zur Üppigkeit bei ihr bemerkbar. Darin erging es ihr wie allen ländlichen Schönen, die nicht mehr das mühselige und entbehrungsreiche Leben im Feld und in der Sonne führen. Sie war stark entwickelt. Die vollen weißen Schultern gingen in reicher Rundung in den Hals über, in dem sich schon eine zarte Falte zeichnete. Aber der Umriß des Gesichtes blieb rein, das Kinn schmal.
»Flora,« fing jetzt Jean-Jacques mit bewegter Stimme an, »du hast dich an dieses Haus gewöhnt?«
»Ja, Herr Jean . . .«
Doch als er nun seine Erklärung machen wollte, fühlte der Erbe bei dem Gedanken an den frischbegrabenen Toten seine Zunge erstarren, er mußte sich fragen, wie weit die Wohltätigkeit seines Vaters gegangen sein mochte. Ohne seine recht einfachen Gedanken auch nur zu ahnen, sah Flora ihren neuen Herrn an und wartete eine Weile darauf, daß Jean-Jacques weiter spräche. Dann verließ sie ihn, weil sie nicht wußte, was sie von seinem hartnäckigen Schweigen zu halten hatte. Was der Doktor der Käscherin auch beigebracht haben mochte, ihre Erfahrung reichte nicht aus, um den Charakter Jean-Jacques' gleich zu verstehen. Bis ihr das gelang, sollte noch geraume Zeit vergehen.
Beim Tode seines Vaters war Jacques siebenunddreißig Jahre alt und doch immer noch so schüchtern und unter die väterliche Zucht geduckt wie ein Kind von zwölf Jahren. Wer einen Charakter wie diesen und damit die Ereignisse dieser Geschichte (und es gibt ähnliche Geschichten überall in der Gesellschaft, selbst unter Fürsten) für unwahrscheinlich hält, dem muß Jean-Jacques' Schüchternheit seine Kindheit, seine Jugend, sein ganzes Leben erklären.
Es gibt zwei Arten von Schüchternheit, die des Geistes und die der Nerven, eine seelische und eine körperliche. Eine ist von der andern unabhängig. Der Körper kann Furcht haben, zittern, während der Geist ruhig und tapfer bleibt, und umgekehrt. In diesem Widerspruch liegt der Schlüssel zu vielen wunderlichen Tatsachen des Seelenlebens. Vereinigen sich die beiden Arten der Schüchternheit bei einem Menschen, so bleibt er lebenslänglich eine Null, einer von denen, die alle Welt einen Einfaltspinsel nennt. In solch einem Einfältigen liegen oft große unterdrückte Fähigkeiten verborgen. Vielleicht verdanken wir dieser doppelten Gebrechlichkeit das wunderbare Wesen mancher Mönche, die in der Extase gelebt haben. Eine solche unglückliche geistig und körperliche Veranlagung beruht ebensooft auf einer Art Vollkommenheit der Organe und der Seele, wie auf gewissen bisher noch nicht erforschten Fehlern. Die Ursache von Jean-Jacques' Schüchternheit war eine derartige Lähmung seiner Fähigkeiten; ein großer Pädagoge oder ein Chirurg wie Desplein hätte die gelähmten Fähigkeiten wecken können. Bei ihm war, wie bei den Kretins, die Liebe so stark und reizbar, wie der Intellekt schwach und stumpf war, wobei ihm immerhin noch genug Verstand blieb, um sein tägliches Leben zu führen. Die Heftigkeit seiner Leidenschaft vergrößerte, da ihr das Ideal fehlte, dem sonst bei jungen Menschen die Leidenschaft zuströmen kann, noch seine Schüchternheit. Nie konnte er sich entschließen, einer Frau einfach, wie man sagt, den Hof zu machen. Nun war es aber weder von den jungen Mädchen noch von den Bürgersfrauen von Issoudun zu erwarten, daß sie einem jungen Manne Avancen machten, der sich ungraziös und schüchtern hielt und dessen gewöhnliches Gesicht die großen blaßgrünen vortretenden Augen nicht verschönten und die gequetschten Züge und der fahle Teint vorzeitig alt erscheinen ließen. Die Gegenwart einer Frau machte den armen Burschen ganz zunichte. So heftig ihn Leidenschaft vorwärts drängte, so stark hielt ihn die blöde Schüchternheit zurück. Steif stand er da, ihm fiel nichts ein, und er zitterte vor jeder Frage, so sehr fürchtete er sich davor, antworten zu müssen. Das Begehren, das sonst rasch die Zungen löst, machte seine erstarren. So blieb er einsam und suchte die Einsamkeit, in der ihn nichts beunruhigen konnte. Als der Doktor erkannte, wie selbstzerstörerisch solch ein Temperament und Charakter wirkte, war es zur Abhilfe zu spät. Gern hätte er seinen Sohn verheiratet, aber das hieß ihn einer Herrschaft ausliefern, die absolut werden mußte, und das schreckte ihn zurück. Er mochte nicht einer Fremden, Unbekannten die Behandlung und Bewegung seines Vermögens anvertrauen. Er wußte, wie schwer es ist, von dem Wesen des jungen Mädchens auf das der Frau zu schließen. Und während er sich umtat nach einer, auf deren Erziehung und Charakter er sich verlassen könnte, bemühte er sich, einstweilen in seinem Sohne die Anlagen zum Geiz auszubilden. Damit hoffte er dem armen Toren statt des Geistes eine Art Instinkt beizubringen. Zunächst gewöhnte er ihn an ein mechanisches Dasein und übertrug ihm feste Grundsätze über Anlage der Einkünfte; sodann hinterließ er ihm den Landbesitz in bestem Zustande und langfristig verpachtet und ersparte ihm so von vorne herein die hauptsächlichen Schwierigkeiten der Verwaltung eines aus Grundbesitz bestehenden Vermögens. Dabei entging aber das beherrschende Moment dieses armen Lebens dem scharfen Blick des Alten. Schüchternheit ist der Heuchelei ähnlich, sie hat dieselbe Tiefe. Jean-Jacques liebte die Käscherin leidenschaftlich. Und das war nur natürlich. Flora war die einzige Frau, die in seiner Nähe blieb, die einzige, die er bequem sehen, heimlich betrachten und zu jeder Zeit studieren konnte. Sie erhellte ihm das Vaterhaus, sie gab ihm, unbewußt, die einzigen Genüsse seiner Jugend. Er war durchaus nicht eifersüchtig auf seinen Vater, er war entzückt von der Erziehung, die dieser Flora gab: er brauchte ja eine Frau von leichtem Umgang, der man nicht erst lange den Hof zu machen hatte. Die Leidenschaft hat immer ihren besonderen Geist und gibt Tröpfen, Toren und Narren die nötige Intelligenz, besonders solange sie jung sind. Noch der Beschränkteste besitzt den animalischen Instinkt, dessen Ausdauer stark ist wie Denkkraft.
Das Schweigen des neuen Herrn hatte Flora nachdenklich gestimmt, und so machte sie sich am nächsten Tage auf wichtige Mitteilungen gefaßt, Jean-Jacques schlich immer um sie herum und sah sie duckmäuserisch mit begehrlichen Mienen an, aber er fand nicht das rechte Wort. Schließlich fing er mittags beim Nachtisch die Szene von gestern an und sagte zu Flora:
»Fühlen Sie sich hier auch wohl?«
»Ja, Herr Jean.«
»Gut! So bleiben Sie hier.«
»Danke, Herr Jean.«
Dieser eigenartige Zustand dauerte drei Wochen. Einmal nachts, als es besonders still war, hörte Flora bei einem zufälligen Erwachen den gleichmäßigen Hauch eines Menschenatems an ihrer Tür. Sie erschrak, als sie bemerkte, daß Jean-Jacques wie ein Hund auf dem Vorplatz lag; es war ein Loch unten in der Tür, das er sich selbst gebohrt hatte, um in das Zimmer sehen zu können.
»Er liebt mich,« dachte sie, »aber bei dem Geschäft wird er sich Rheumatismus holen.«
Am nächsten Tag sah Flora ihren Herrn auf eine besondere Art an. Diese stumme, fast instinktive Liebe hatte ihr Eindruck gemacht. Sie fand ihn nicht mehr so häßlich, den armen Tropf mit der gräßlichen Krone von geschwürähnlichem Ausschlag an Stirn und Schläfe, dem Kennzeichen verdorbenen Blutes.
»Aufs Land möchten Sie nicht zurück, nicht wahr?« fragte Jean-Jacques, als sie allein waren.
Sie sah ihm ins Gesicht: »Warum fragen Sie mich das?«
»Um es zu wissen«, sagte Rouget und wurde krebsrot.
»Wollen Sie mich wieder dahin schicken?« fragte sie.
»Nein, Fräulein.«
»Nun, was wollen Sie dann wissen? Sie haben doch einen Grund . . .«
»Ja, ich möchte wissen . . .«
»Was?«
»Sie werden mir's nicht sagen!«
»Doch, so wahr ich ein anständiges Mädchen bin . . .«
»Das ist's ja«, schreckte Rouget auf. »Sie sind ein anständiges Mädchen . . .«
»Allerdings.«
»Wirklich?«
»Wenn ich's Ihnen sage . . .«
»Ja? Sind Sie noch so wie damals, als Sie barfuß ankamen mit Ihrem Onkel?«
»Das ist mir eine schöne Frage!« antwortete Flora errötend.
Niedergeschmettert senkte der Erbe den Kopf und wagte nicht aufzuschauen. Und Flora war ganz überrascht von einer derartigen Bestürzung und zog sich zurück.
Drei Tage später, zur selben Zeit – sie schienen sich einer wie der andre den Nachtisch zum Schlachtfelde auserwählt zu haben – fing Flora an: »Haben Sie etwas gegen mich?«
»Nein, Fräulein,« antwortete er, »nein . . . (Pause). Im Gegenteil.«
»Neulich schien Sie's zu verdrießen, daß ich ein anständiges Mädchen bin . . .«
»Nein, ich wollte nur wissen . . . (Neue Pause.) Aber Sie sagen es mir doch nicht . . .«
»Doch, ich sage Ihnen die ganze Wahrheit.«
»Die ganze Wahrheit über . . . meinen Vater . . .« fragte er mit erstickter Stimme.
Sie sah ihrem Herrn tief in die Augen: »Ihr Vater,« sagte sie, »war ein braver Mann . . . er lachte gern . . . nicht wahr? . . . so ein bißchen . . . Aber, der arme gute! . . . an gutem Willen hat's ihm nicht gefehlt . . . Kurzum, er war anders als Sie, er hatte Absichten . . . schlimme Absichten. Er hat mich oft lachen gemacht. Das schon . . . Nun und? . . .«
»Ach, Flora,« sagte der Erbe und faßte die Käscherin bei der Hand, »da mein Vater Ihnen nichts gewesen ist . . .«
»Was sollte er mir denn gewesen sein.« Sie spielte das Mädchen, das sich durch eine beleidigende Vermutung verletzt fühlt.
»Mein Wohltäter war er, das ist alles. Oh, er hätte mich gerne zur Frau haben wollen . . . aber . . .«
»Aber,« nahm Rouget auf und faßte wieder nach der Hand, die Flora ihm entzogen hatte, »da er Ihnen nichts gewesen ist, könnten Sie nicht hier bei mir bleiben? . . .«
»Wenn Sie wollen«, antwortete sie und schlug die Augen nieder.
»Nein, nein, wenn Sie wollen! Sie können hier die Herrin sein. Alles, was da ist, würde Ihnen gehören, Sie würden sich um mein Vermögen kümmern, es wäre ja sozusagen Ihr eignes . . . denn ich liebe Sie und habe Sie immer geliebt, von dem Augenblick an, als Sie hier eingetreten sind, als Sie da standen, barfuß.«
Flora antwortete nicht. Das Schweigen wurde peinlich. Dann kam Jean-Jacques mit einem neuen schrecklichen Argument: »Das ist doch wohl besser als aufs Land zurückzukehren?« fragte er mit sichtlichem Eifer.
»Ach ja, Herr Jean, wie Sie wollen!« antwortete sie. Allein, trotz dieses »Wie Sie wollen« war der arme Rouget nicht weiter vorwärts gekommen. Menschen dieses Schlages brauchen Gewißheit. Es kostet sie so viel Mühe und Selbstüberwindung, ihre Liebe zu gestehen, daß sie sich außerstande fühlen, dies Bekenntnis zu wiederholen. Daher ihre Anhänglichkeit an die erste Frau, die sich ihrer annimmt. Nur das Resultat läßt auf die Ereignisse schließen. Zehn Monate nach dem Tode seines Vaters war Jean-Jacques ganz verändert: sein bisher fahles, bleifarbenes, durch Ausschlag entstelltes Gesicht hellte sich auf und der Teint wurde rein und rosig. Aus seinen Mienen strahlte Glück. Flora hielt darauf, daß ihr Herr sein Äußeres peinlich pflegte, sie setzte ihren Stolz darein, daß er gut angezogen war; wenn er ausging, sah sie ihm nach, blieb auf der Schwelle stehen, solange sie ihn sehen konnte. Der ganzen Stadt fiel es auf, daß Jean-Jaques ein anderer Mensch geworden war.
»Wissen Sie schon das neueste?« fragte man einander in Issoudun.
»Was denn?«
»Jean-Jacques hat alles von seinem Vater geerbt, sogar die Käscherin.«
»Hatten Sie dem verstorbenen Doktor nicht so viel Schlauheit zugetraut, seinem Sohne eine Gouvernante zu hinterlassen?«
»Das ist wahrhaftig ein Schatz für Rouget«, rief alle Welt.
»Und pfiffig ist sie! Ein schönes Mädchen, sie wird sich heiraten lassen.«
»Die hat Glück gehabt!«
»Ein Glück, wie es nur die schönen Mädchen haben.«
»Sagen Sie das nicht! Sie haben doch meinen Onkel Borniche-Héreau gekannt und von Fräulein Ganivet gehört? Die war häßlich wie die sieben Todsünden und hat doch tausend Taler Rente von ihm bekommen . . .«
»Ja, das war 1778!«
»Das bleibt sich gleich. Rouget tut unrecht; sein Vater hinterläßt ihm schöne vierzigtausend Franken Rente, er hätte Fräulein Héreau heiraten können . . .«
»Der Doktor hat's versucht, sie hat nicht gewollt, Rouget ist zu dumm . . .«
»Zu dumm? Gerade mit der Art von Männern sind die Frauen am glücklichsten.«
»Ist Ihre Frau glücklich?«
Das war der Inhalt der Gespräche in Issoudun. Hatte man anfangs, wie es in der Provinz nun einmal Brauch ist, nur gelacht über diese Quasi-Ehe, am Ende lobte man Flora dafür, daß sie dem armen Burschen ergeben war. So kam von Vater auf Sohn, wie es der junge Goddet ausgedrückt hatte, Flora Brazier zur Regierung im Hause Rouget. Zur Belehrung aller Junggesellen wird es nicht unnützlich sein, die Geschichte dieser Regierung zu skizzieren. Es gab nur einen Menschen in Issoudun, der etwas dagegen hatte, daß Flora Brazier bei Jean-Jacques Rouget Königin wurde, das war die alte Fanchette. Sie protestierte gegen die Unsittlichkeit dieses Arrangements und übernahm die Sache der verletzten Moral; sie mußte es allerdings als Demütigung empfinden, in ihrem Alter eine Käscherin zur Herrin zu bekommen, ein kleines Mädchen, das barfuß ins Haus gekommen war. Fanchette befaß dreihundert Franken Rente in Staatspapieren, so hatte ihr der Doktor ihre Ersparnisse angelegt; dazu kamen weitere hundert Taler Leibrente, die ihr verstorbener Herr ihr vermacht hatte, sie konnte also behaglich leben, und so verließ sie neun Monate nach dem Begräbnis des alten Herrn, am 15. April 1806, das Haus. Dem Scharfsichtigen wird dieses Datum die Epoche bezeichnen, in der Flora aufhörte, ein ehrbares Mädchen zu sein. Die Käscherin war klug genug, um die Abtrünnigkeit der Fanchette vorauszusehen, denn Macht haben lehrt Politik; sie beschloß, ohne ihre Magd auszukommen. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, studierte sie seit sechs Monaten die kulinarischen Künste, die Fanchette zu einer wahren Doktorsköchin gemacht hatten. Als Tafelfreunde gehören die Arzte in eine Reihe mit zu den Bischöfen. Der Doktor Rouget hatte Fanchette vollkommen ausgebildet. Mangel an Beschäftigung und Monotonie des Daseins locken in der Provinz die Tatkraft der Geister in die Küche. Man speist in der Kleinstadt nicht so üppig wie in Paris, aber man speist besser, die Gerichte sind durchdacht, ausstudiert. Tief in der Provinz gibt es unansehnliche Wesen, unbekannte Genies, die aus einem einfachen Bohnengericht etwas zu machen verstehen, das des bewundernden Kopfschüttelns würdig wäre, mit dem Rossini das vollkommen Gelungene zu begrüßen pflegt. In seiner Pariser Studienzeit hatte der Doktor die Chemievorlesungen Rouelles besucht und dabei Kenntnisse erworben, die dann seiner Küchenchemie zum Nutzen gereichten. Er ist noch in Issoudun berühmt durch mehrere Verfeinerungen, die man allerdings außerhalb des Landes Berry kaum kennt. Seine Entdeckung ist es, daß die Omelette viel delikater gerät, wenn man Weißei und Gelbei nicht mit der üblichen Köchinnenbrutalität zusammenschlägt. Nach seiner Vorschrift muß man erst das Weiße zum Schäumen bringen und dann nach und nach das Gelbe einlaufen lassen, und zwar nicht in die gewöhnliche Pfanne, sondern in einen sogenannten »Cagnard« aus Porzellan oder Steingut. Der Cagnard ist eine dicke Schüssel, die auf vier Füßen ruht, damit, wenn sie auf dem Herde steht, die dazwischen streifende Luft das Feuer hindert, das Porzellan zum Platzen zu bringen. In der Touraine heißt der Cagnard Cauquemarre. In solch einem Cauquemarre läßt, glaube ich, Rabelais die »Coquecigrues« kochen, was das hohe Alter dieses Gerätes beweist. Der Doktor hatte auch eine Methode entdeckt, das Scharfwerden der braunen Butter zu verhindern, aber dies Geheimnis, das er zum Unglück nicht aus der eignen Küche herausließ, ist verlorengegangen. Flora war die geborene Bäckerin und Braterin, das sind Begabungen, die man weder durch Beobachtung noch Fleiß erwerben kann, und in kurzer Zeit übertraf sie Fanchette. Indem sie Köchin wurde, dachte sie an das Glück ihres Jean-Jacques, aber wir wollen nicht verschweigen, daß sie auch selbst die gute Kost nicht verschmähte. Da sie wie alle Ungebildeten keine Möglichkeiten hatte, sich geistig zu betätigen, entwickelte sie ihre Energie im Haushalt. Ihre Möbel glänzten in einer geradezu holländischen Sauberkeit. Sie steuerte die Lawinen der Wäsche und die Sintfluten der großen Lauge, die nach Provinzbrauch nur dreimal im Jahre stattfindet. Ihr Hausfrauenauge überwachte das Leinen. Schließlich hatte sie den Ehrgeiz, in die Geheimnisse der Vermögensverwaltung einzudringen, eignete sich rasch das Wenige, das Rouget von Geschäften wußte, an und vermehrte es durch Gespräche mit dem Notar des verstorbenen Doktors, Herrn Héron. Bald konnte sie ihrem lieben Jean-Jacques ausgezeichnete Ratschläge geben. In der Sicherheit, immer die Herrin im Hause zu bleiben, widmete sie den Interessen des Junggesellen so viel Zärtlichkeit und Habsucht, als wären es ihre eigenen. Forderungen ihres Oheims hatte sie nicht mehr zu fürchten. Zwei Monate vor dem Tode des Doktors war Brazier an den Folgen eines Sturzes beim Verlassen der Schenke, in der er, seit er reich geworden, sein Leben verbrachte, gestorben. Auch den Vater hatte Flora verloren. Und so diente sie ihrem Herrn mit einer Ergebenheit, wie sie von einer Waise, die glücklich ein Heim und eine Wirkungsstätte gefunden hat, zu erwarten war. Diese Zeit wurde paradiesisch für den armen Jean-Jacques, der in die sanften Gewohnheiten eines animalischen Daseins geriet, welches durch eine Art klösterliche Regelmäßigkeit noch verschönt wurde. Er schlief bis in den hellen Tag, Flora war schon früh am Morgen mit Einkaufen oder Haushalt beschäftigt und weckte ihren Herrn so spät, daß er sein Frühstück bereit fand, sobald er seine Morgentoilette gemacht hatte. Nach dem Frühstück, so gegen elf Uhr, ging Jean-Jacques spazieren, plauderte mit den Leuten, die er unterwegs traf, und kam um drei Uhr nach Hause, um seine Zeitungen zu lesen, die des Departements und eine Pariser Zeitung, die er drei Tage nach Erscheinen bekam, wenn sie schon fett war von dreißig Händen, durch die sie gegangen, schmutzig vom Tabak, den die Nasen über ihr geschnupft hatten, braun von all den Tischen, auf denen sie herumgelegen hatte. So erreichte der Junggeselle glücklich die Stunde seines Diners, auf das er dann möglichst viel Zeit verwandte. Flora erzählte ihm alle Begebenheiten und den ganzen Klatsch des Tages, den sie für ihn in der Stadt eingesammelt hatte. Gegen acht Uhr wurde das Licht ausgemacht. In der Kleinstadt ist es üblich, früh zu Bett zu gehen, um Kerze und Feuer zu sparen. Diese Sparsamkeit trägt dazu bei, die Leute durch zuviel im Bette liegen stumpfsinnig zu machen. Das Übermaß des Schlafes beschwert und verschleimt den Geist.
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