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Ein paar Tage später kam die Kunde von dem unglücklichen russischen Rückzug. Napoleon kehrte zurück, um neue Streitkräfte mobil zu machen und von Frankreich neue Opfer zu fordern. Da war die arme Mutter noch ganz andern Ängsten ausgeliefert. Philipp, dem es auf dem Lyzeum nicht behagte, wollte absolut in des Kaisers Dienste treten. Er wohnte einer Truppenschau in den Tuilerien bei, der letzten, die Napoleon dort abnahm, und die machte ihn ganz fanatisch. Damals übte die Soldatenpracht, der Glanz der Uniformen, die Würde der Epauletten einen unwiderstehlichen Reiz auf junge Leute aus. Philipp glaubte sich für den Militärdienst ebenso berufen wie sein Bruder für die Kunst. Hinter dem Rücken seiner Mutter verfaßte er folgende Bittschrift an den Kaiser:
»Sire, ich bin der Sohn Ihres Bridau, ich bin achtzehn Jahre alt, messe fünf Fuß sechs Zoll, habe gute Beine, guten Wuchs und den Wunsch, einer Ihrer Soldaten zu werden. Ich rufe Ihre Gunst an, um in die Armee einzutreten usw.«
Innerhalb vierundzwanzig Stunden schickte der Kaiser Philipp vom kaiserlichen Lyzeum nach Saint-Cyr und sechs Monate später, im November 1813, als Unterleutnant in ein Kavallerieregiment. Einen Teil des Winters blieb Philipp im Ersatzbataillon, aber sobald er reiten konnte, zog er voll Eifer ins Feld. Während des französischen Feldzuges wurde er Leutnant und zwar bei einem Vorpostengefecht, in dem er durch sein Ungestüm seinen Obersten rettete. In der Schlacht bei La Fère-Champenoise ernannte der Kaiser Philipp zum Hauptmann und bestimmte ihn zum Ordonnanzoffizier. Diese Beförderung feuerte ihn noch mehr an und bei Montereau bekam er das Kreuz. Der Hauptmann Philipp war Zeuge des Abschieds Napoleons zu Fontainebleau, und dies Schauspiel fanatisierte ihn: er verweigerte den Bourbonen den Dienst.
Als er im Juni 1814 zu seiner Mutter heimkam, fand er sie zugrunde gerichtet. In den Ferien wurde Josephs Stipendium aufgehoben, und Frau Bridau, deren Pension aus der Privatschatulle des Kaisers gezahlt worden war, bemühte sich vergeblich, sie auf das Ministerium des Innern überschrieben zu bekommen. Jetzt wollte Joseph nur noch Maler sein, die Ereignisse begeisterten ihn, und er bat seine Mutter, ihn zu Herrn Regnauld zu lassen, dort versprach er sich, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Er fühlte sich als Sekundaner stark genug, um sich die Prima schenken zu können. Es schmeichelte der Mutter über die Maßen, daß ihr Philipp mit neunzehn Jahren Hauptmann war, das Kreuz trug und auf zwei Schlachtfeldern des Kaisers Adjutant gewesen war; obwohl er sich roh und großspurig benahm und eigentlich nur die übliche Tapferkeit eines Draufgängers besaß, war er für sie der bedeutende Mann, während sie von dem kleinen magern, kränklichen Joseph mit seiner krausen Stirn, seiner sanftmütigen friedlichen Art und seinen Künstlerträumen nichts als Kummer und Sorgen erwartete. Der Winter von 1814 auf 1815 war für Joseph günstig: Im heimlichen Schutz der Descoings und des jungen Bixiou, der ein Schüler von Gros war, arbeitete er in dem berühmten Atelier dieses großen Künstlers, in der Pflanzstätte so vieler verschiedener Talente, und schloß dort innige Freundschaft mit Schinner. Dann kam der zwanzigste März. Hauptmann Bridau stieß in Lyon zum Kaiser, begleitete ihn in die Tuilerien und wurde zum Schwadronkommandanten bei den Gardedragonern ernannt. Bei Waterloo wurde er leicht verwundet und erhielt das Offizierskreuz der Ehrenlegion. Nach der Schlacht geriet er bei Saint-Denis zum Marschall Davoust und schloß sich nicht der Loirearmee an; Davoust sorgte dann auch dafür, daß er sein Offizierskreuz und seinen Rang behielt, aber er wurde auf Wartegeld gesetzt. Indessen studierte Joseph in Sorgen um die Zukunft mit einem Eifer, der ihn im Wirbel der Ereignisse wiederholt aufs Krankenbett warf.
»Das macht der Farbengeruch,« sagte Agathe zu Frau Descoings, »er sollte einen Beruf, der seiner Gesundheit so schädlich ist, aufgeben.« Sie grämte sich viel mehr um ihren andern Sohn, den Oberstleutnant; als sie ihn im Jahre 1816 wiedersah, war aus seinem Dragonermajorgehalt von ungefähr neuntausend Franken ein Wartegeld von monatlich dreihundert Franken geworden; sie verwandte einen Teil ihrer Ersparnisse dazu, ihm eine Dachkammer über der Küche einzurichten. Philipp wurde einer der wildesten Bonapartisten des Café Lemblin und nahm Gewohnheiten, Manieren und Lebensstil der pensionierten Offiziere an. Wie es bei seinen einundzwanzig Jahren natürlich war, übertrieb er sie noch, weihte den Bourbonen einen tödlichen Haß, dachte nicht daran, sich ihnen anzuschließen und ging allen Gelegenheiten aus dem Wege, als Oberstleutnant in die Linie eingestellt zu werden. Das war in den Augen seiner Mutter Seelengröße. »Sein Vater hätte nicht besser gehandelt«, sagte sie.
Das Wartegeld genügte Philipp, er machte dem Haushalt keine Kosten, während Joseph noch ganz den beiden Witwen zur Last fiel. Nunmehr kam Agathes Vorliebe für Philipp zum Vorschein. Bisher war dieser Vorzug ein Geheimnis gewesen; aber die Verfolgungen, die der getreue Krieger des Kaisers erlitt, die Erinnerung an die Verwundung des geliebten Kindes, sein Mut im Mißgeschick, das ihr, wenn es auch selbst verschuldet war, als ein erhabenes Mißgeschick erschien, erweckten Agathes ganze Zärtlichkeit. Mit dem einen Wort: »Er ist unglücklich!« war alles gerechtfertigt. Joseph hatte die große Einfalt, welche der Künstlerseele zu Beginn der Laufbahn eigen ist; auch war er in einer gewissen Bewunderung für den großen Bruder aufgewachsen, und statt sich an der Vorliebe der Mutter zu stoßen, rechtfertigte er sie noch und teilte den Kult des Tapferen, der Napoleons Befehle in zwei Schlachten überbracht hatte und bei Waterloo verwundet worden war. Konnte er an der Überlegenheit des Bruders zweifeln, den er in der schönen grün und goldenen Gardedragoneruniform gesehen hatte, wie er seine Schwadron auf das Maifeld führte? Übrigens blieb Agathe bei aller Vorliebe eine gute Mutter; sie liebte auch Joseph, aber ohne Blindheit; sie verstand ihn eben nicht. Joseph verehrte die Mutter, während Philipp sich von ihr verehren ließ. Ihr gegenüber milderte der Dragoner einigermaßen seine soldatische Brutalität, aber seine Verachtung Josephs ließ er, wenn auch in freundschaftlicher Weise, durchblicken. Er pflegte den schmächtigen, von hartnäckiger Arbeit abgemagerten Siebzehnjährigen mit dem gewaltigen Kopf »das Jüngelchen« zu nennen und benahm sich gönnerhaft gegen ihn. Einen andern hätte das verletzt. Aber der unbefangene Künstler glaubte an den zarten Kern in der rauhen Schale des Soldaten. Das arme Kind wußte noch nicht, daß die wirklich großen Kriegsmänner sanft und höflich sind wie alle bedeutenden Menschen.
»Der arme Bursche,« sagte Philipp zu seiner Mutter, »ihr müßt ihn nicht plagen, laßt ihn sich amüsieren.« Sein herablassender Ton war für die Mutter ein Zeichen brüderlicher Liebe. »Philipp wird seinen Bruder immer lieben und schützen«, dachte sie.
Im Jahre 1816 setzte Joseph bei seiner Mutter die Umwandlung des Bodens in ein Atelier durch, und die Descoings gab ihm etwas Geld, um die für sein »Malerhandwerk« unentbehrlichen Gegenstände anzuschaffen, denn für die beiden Hausfrauen war die Malerei nur ein Handwerk. Mit dem Geist und Eifer des wahrhaft Berufenen baute sich Joseph sein armseliges Atelier selbst auf. Der Wirt ließ sich von Frau Descoings dazu bereden, das Dach zu öffnen und ein großes Fenster einzulassen. Der Boden wurde zu einem weiten Saal, den Joseph schokoladenbraun ausmalte; an die Wände nagelte er Skizzen; Agathe setzte halb wider Willen einen kleinen gußeisernen Ofen hinein, und nun konnte Joseph zu Hause arbeiten, worüber er aber das Atelier von Gros und das von Schinner nicht vernachlässigte.
Im Namen der Verfassung, nach der niemand fragte, umgab die konstitutionelle Partei, hauptsächlich gestützt auf die pensionierten Offiziere und die Bonapartisten, die Kammer mit allerhand Unruhen und zettelte mehrere Verschwörungen an. Philipp, der darein verstrickt war, wurde festgenommen und mangels Beweisen wieder freigelassen, aber der Kriegsminister entzog ihm sein Wartegeld und teilte ihn einem Truppenkörper zu, den man als eine Art Strafbataillon bezeichnen könnte. In Frankreich war es nicht mehr auszuhalten, Philipp konnte am Ende noch den Spitzeln in die Falle geraten. Man sprach damals viel von Spitzeln. Während er in verdächtigen Cafés Billard spielte, die Zeit totschlug und sich an den Dunst der kleinen Gläser verschiedener Liköre gewöhnte, war Agathe in Todesangst um den großen Mann der Familie. Die drei Weisen Griechenlands waren nun ganz an den täglichen Weg gewöhnt, die Treppe hinaus zu den beiden Witwen, die sie immer erwarteten, um sie nach den Erlebnissen und Eindrücken des Tages zu fragen und mit ihnen im grünen Salon Karten zu spielen. Als das Ministerium des Innern im Jahre 1816 gesäubert wurde, blieb Claparon verschont; er war einer der Ängstlichen, die im Flüsterton die Neuigkeiten aus dem Moniteur weitergaben und hinzufügten: »Bitte mich nicht bloßzustellen«. Desroches hatte einige Zeit nach dem alten Du Bruel seinen Abschied bekommen und kämpfte noch um seine Pension. Die drei Freunde und Zeugen von Agathes Verzweiflung gaben ihr den Rat, den Obersten Philipp auf Reisen zu schicken.
»Es wird soviel von Verschwörungen gesprochen, und da kann ein Mann von dem Charakter Ihres Sohnes zum Opfer der Umstände werden. Verräter gibt es überall.«
»Zum Teufel! Er ist aus dem Holze, aus dem der Kaiser seine Marschälle geschnitten hat,« sagte Du Bruel mit leiser Stimme und scheu umherblickend, »er darf seinen Beruf nicht aufgeben. Er sollte in Dienst gehen nach dem Orient, nach Indien . . .«
»Und seine Gesundheit?« fragte Agathe.
»Weshalb sucht er nicht eine Anstellung?« meinte der alte Desroches, »es bilden sich jetzt so vielerlei Privatgesellschaften. Ich zum Beispiel gedenke als Büroleiter in eine Versicherung einzutreten, sobald meine Pension geregelt ist.«
»Philipp ist Soldat, er liebt nur den Krieg«, sagte die heroische Agathe.
»Also müßte er Vernunft annehmen und um Dienst nachsuchen . . .«
»Bei denen da? Aus meinem Mund wird er den Rat nicht hören«, rief die Witwe.
»Das ist unrecht von Ihnen«, erklärte Du Bruel. »Meinem Sohn hat der Herzog von Navarrein seinen Platz verschafft. Die Bourbonen sind für die, welche sich ihnen redlich anschließen, vortreffliche Herren. Ihr Sohn könnte Oberstleutnant in irgendeinem Regiment werden.«
»In der Kavallerie will man nur adlige, und er würde es nie bis zum Obersten bringen«, meinte die Descoings.
Verängstigt bat Agathe ihren Philipp flehentlich, in das Ausland zu gehen und in den Dienst irgendeines fremden Staates zu treten; jeder würde einen Ordonnanzoffizier des Kaisers mit offenen Armen empfangen.
»Den Fremden dienen? . . .« rief Philipp mit Abscheu.
Agathe küßte ihren Sohn inbrünstig: »Ganz der Vater!«
»Recht hat er,« sagte Joseph, »der Franzose kennt nur einen Herrn; und der kommt vielleicht doch noch einmal wieder!«
Seiner Mutter zuliebe kam Philipp auf den großen Gedanken, sich dem General Lallemand in den Vereinigten Staaten anzuschließen und an der Freistättengründung mitzuarbeiten, einer der schwindelhaftesten, angeblich vaterländischen Unternehmungen. Agathe opferte zehntausend Franken und brachte ihren Sohn nach Le Havre, wo er zu Schiff ging. Den letzten Teil des Jahres 1817 kam Agathe mit den sechshundert Franken aus, die ihr von ihren Staatspapieren blieben, dann hatte sie den glücklichen Einfall, den Rest ihrer Ersparnisse, zehntausend Franken, gleich anzulegen, die ihre Rente um weitere siebenhundert Franken vermehrten. Joseph wollte mithelfen und mitopfern; er trug Röcke wie ein Henkersknecht, derbe Stiefel und blaue Strümpfe; er kaufte sich keine Handschuhe mehr und brannte in seinem Ofen Torf; er lebte von Brot, Milch und Käse. Niemand ermutigte den armen Jungen, außer der alten Descoings und seinem früheren Schulfreund und jetzigen Atelierkameraden Bixiou, der einen kleinen Posten in einem Ministerium bekleidete und nebenbei köstliche Karrikaturen zeichnete. »Ach, wie hab ich mich gefreut, als es im Jahre 1818 Sommer wurde!« hat Bridau später oft gesagt, wenn er von seinem Jugendelend erzählte. »Die Sonne ersparte mir die Kohlen.«
Im Kolorit war er schon so stark wie Gros und suchte seinen Lehrer nur noch auf, um seinen Rat zu hören. Er dachte schon daran, den Kampf mit der klassischen Kunst aufzunehmen, mit der griechischen Konvention zu brechen und die Bande abzustreifen, an denen man eine Kunst gängelte, der doch die Natur, wie sie ist, gehört, in der Allmacht ihrer Schöpfungen und Grillen. Er bereitete sich auf den Kampf vor, der von seinem ersten Erscheinen in der Ausstellung des Jahres 1823 an nicht mehr aufhören sollte. Die Zeit war furchtbar. Roguin, der Notar der beiden Witwen, verschwand mit den seit sieben Jahren zurückgelegten Geldern, die jetzt schon zweitausend Franken Rente einbringen sollten. Drei Tage nach diesem Unglück kam aus New York ein Wechsel über tausend Franken, den Oberst Philipp auf seine Mutter ausgestellt hatte. Der Arme war wie so viele bei der Freistättengründung hereingefallen und hatte alles verloren. Sein Brief berichtete von seinen Schulden bei Unglücksgefährten, die in New York für ihn bürgten; beim Lesen brachen Agathe, die Descoings und Joseph in Tränen aus.
»Und ich selbst habe ihn gezwungen, hinüberzufahren«, weinte die arme Mutter, der immer etwas einfiel, um die Fehler ihres Philipp zu rechtfertigen.
Frau Descoings benahm sich heroisch. Sie gab Frau Bridau immer noch tausend Taler, doch hielt sie auch immer noch ihre Terne in der Lotterie, die seit 1799 nicht herausgekommen war. Allmählich begann sie nun, an der Redlichkeit der Verwaltung zu zweifeln. Sie klagte die Behörde an, hatte sie im Verdacht, die drei Nummern in der Urne zu unterdrücken, um die Aktionäre zu wilden Einsätzen zu verlocken. Eine rasche Überprüfung der Hilfsquellen ergab die Unmöglichkeit, die tausend Franken flüssig zu machen, ohne etwas von der Rente zu verkaufen. Schon sprachen die beiden Frauen davon, das Silber, einen Teil der Wäsche oder die überflüssigen Möbel zu verpfänden. Da wandte sich Joseph an den Maler Gérard, dem er seine Lage darlegte, und der ihm beim Ministerium des königlichen Hauses den Auftrag von zwei Kopien des Porträts Ludwigs XVIII. verschaffte zu einem Honorar von je fünfhundert Franken. Gros, der sonst nicht gerade freigebig war, versorgte seinen Schüler mit den nötigen Malutensilien. Aber die tausend Franken sollten erst nach Lieferung der Kopien ausgezahlt werden. Da vollendete Joseph in zehn Tagen vier Staffeleibilder, verkaufte sie an Händler und brachte seiner Mutter die tausend Franken, mit denen sie den Wechsel saldieren konnte. Acht Tage später kam ein zweiter Brief, in dem Philipp der Mutter seine Abreise mitteilte; der Kapitän des Schiffes nahm ihn auf sein Ehrenwort mit, und so brauchte Philipp bei seiner Landung in Le Havre wieder mindestens tausend Franken.
»Gut,« sagte Philipp, »bis dahin hab ich meine Kopien fertig und du kannst ihm das Geld bringen.«
»Geliebter Joseph,« rief weinend Agathe, »Gott wird dich segnen. Du hast ihn also lieb, den armen Verfolgten? Er ist unser Ruhm, unsere ganze Zukunft. So jung, so tapfer und so unglücklich! Alles ist gegen ihn, so wollen wenigstens wir drei für ihn sein.«
»Siehst du, die Malerei ist doch zu etwas gut,« meinte Joseph, froh, daß die Mutter ihm endlich erlaubte, ein großer Künstler zu sein.
Frau Bridau eilte nun ihrem geliebten Sohne Philipp entgegen. In Le Havre ging sie Tag für Tag hinter den Rundturm Franz I. und wartete dort auf das Amerikaschiff, und von Tag zu Tag wuchs ihre quälende Unruhe. Wie solche Qualen die Mutterschaft neu beleben, das wissen nur die Mütter. Eines schönen Oktobermorgens des Jahres 1819 kam das Schiff an und hatte weder Seeschaden noch das geringste Unwetter gehabt. Selbst auf den rohesten Menschen macht die Atmosphäre des Vaterlandes und der Anblick der Mutter einen gewissen Eindruck, zumal nach einer Reise voller Elend. Philipp überließ sich dem Strom der zärtlichen Gefühle, und Agathe dachte: »Wie er mich liebt!« Ach! Oberst Philipp liebte nur ein Wesen auf der Welt und dies Wesen war der Oberst Philipp. Das Unglück in Texas, das Leben in New York, wo Spekulation und Selbstsucht ihr Höchstmaß erreichen, wo die Nacktheit der Interessen zum Zynismus führt, wo der ganz vereinzelte Mensch gezwungen ist, immer selbst seine Sache durchzufechten, wo Höflichkeit nicht existiert, kurz alle Ereignisse seiner Reise hatten in Philipp die üblen Neigungen des Haudegens entwickelt: er war ein Rohling geworden, Trinker, Raucher, eigennützig, unhöflich; das Elend hatte ihn verdorben. Außerdem glaubte sich der Oberst verfolgt, und dieser Glauben macht unintelligente Menschen zu unduldsamen Verfolgern. Für Philipp fing die Welt bei seinem Kopf an und hörte bei seinen Füßen auf. Das Schauspiel New York hatte diesem Tatmenschen die letzten moralischen Skrupeln genommen. Er hatte dem Anschein nach die ungezwungene, freimütige, umgängliche Art des Soldaten behalten. Und gerade weil er unbefangen wie ein Kind schien, war er doppelt gefährlich. Dabei handelte er, der ja nur an sich selbst zu denken hatte, so überlegt, wie ein schlauer Advokat, der Meisterstreiche ausklügelt. Worte kosteten ihn nichts; davon gab er soviel, wie seine gläubigen Zuhörer brauchten. Wehe dem, der die Erklärungen, mit denen er den Widerspruch zwischen seinem Tun und Reden rechtfertigte, nicht gelten ließ. Philipp war ein ausgezeichneter Pistolenschütze, der es mit dem gewandtesten Fechtmeister aufnehmen konnte; er besaß die Kaltblütigkeit aller, denen am Leben nichts liegt, und war immer bereit, für ein heftiges Wort Rechenschaft zu fordern. In dieser Sicherheit leistete er sich Gewalttätigkeiten, die sich nicht gütlich beilegen ließen. Seine mächtige Gestalt war etwas in die Breite gegangen, sein Gesicht war durch den Aufenthalt in Texas bronzefarben geworden; er behielt das kurze Wort und den schneidenden Ton eines Mannes bei, der sich mitten in dem Pöbel von New York durchzusetzen hatte. Für die arme Mutter war diese Erscheinung in ihrem schlichten Rocke mit dem von ausgestandenem Elend gestählten Leibe ein Held, während der wirkliche Philipp ganz einfach das war, was man gemeinhin einen Strauchdieb nennt. Die Not des geliebten Sohnes erschütterte Frau Bridau; sie ließ ihn in Le Havre vollständig neu einkleiden, und während sie seinen schrecklichen Berichten zuhörte, war sie schwach genug, ihn ruhig essen, trinken und sich amüsieren zu lassen, wie eben einer, der von den Freistätten zurückkam, trinken und sich unterhalten mußte. Die Eroberung von Texas mit den Resten des kaiserlichen Heeres war gewiß ein schöner Plan gewesen, und daß er scheiterte, lag weniger an den Umständen als an den Menschen; denn heute ist Texas eine zukunftsreiche Republik. Diese Erfahrung des Liberalismus zur Zeit der Restauration zeigt deutlich, daß seine Interessen nur selbstsüchtig und durchaus nicht national waren. Der Fehlschlag lag nicht an den Menschen noch am Lande, es mangelte nicht an Ideen und Aufopferung, aber an den Talern und der Hilfe der verlogenen Partei, die über ungeheure Summen verfügte und nichts hergab, als es darauf ankam, ein Kaiserreich wiederzugewinnen. Hausfrauen wie Agathe haben die gesunde Vernunft, die solchen politischen Betrug durchschaut. Die arme Mutter ahnte bei den Erzählungen des Sohnes die Wahrheit, während sie, als er in der Ferne war, im Gedanken an den Verbannten auf die pompösen Reklamen der konstitutionellen Zeitungen gehört und den Fortgang der berühmten Subskription gläubig verfolgt hatte, die kaum hundertfünfzigtausend Franken ergab statt der erforderlichen fünf bis sechs Millionen. Die Führer des Liberalismus wurden bald gewahr, daß sie nur der Sache der Bourbonen dienten, indem sie die ruhmvollen Trümmer unserer Armeen aus Frankreich entfernten, und so ließen sie ihre ergebensten, glühendsten, begeistertsten Anhänger und Vorkämpfer im Stich. Nie konnte Agathe ihrem Sohne erklären, wieviel mehr er ein Betrogener als ein Verfolgter war. Im Glauben an ihr Götzenbild warf sie lieber sich selbst Unwissenheit vor und klagte die Not der Zeit an, die ihren Sohn so hart traf. Bisher war er ja auch weniger schuld an all dem Elend als vielmehr ein Opfer seines Edelmutes, seiner Energie, des Sturzes des Kaisers, der Unzuverlässigkeit der Liberalen und der Wut der Bourbonen auf die Bonapartisten. Während dieser ganzen Woche in Le Havre, einer schrecklich kostspieligen Woche, wagte sie nicht, ihm eine Versöhnung mit der königlichen Regierung und eine Vorstellung bei dem Kriegsminister vorzuschlagen; sie hatte vollauf zu tun, um ihn von dem teuren Le Havre fortzubekommen und nach Paris heimzubringen, als sie nur noch das Geld zur Reise hatte. Die Descoings und Joseph, die den Verbannten im Hof der königlichen Post erwarteten, waren betroffen von Agathes verändertem Aussehen.
»Deine Mutter ist in zwei Monaten zehn Jahre älter geworden« sagte die Descoings zu Joseph, während man die beiden Koffer ablud.
»Tag, alte Descoings,« war Philipps ganze Zärtlichkeitsäußerung zu der guten Krämerin, die Joseph herzlich »Mama Descoings« nannte.
»Wir haben kein Geld mehr für den Fiaker«, sagte Agathe mit schmerzlicher Stimme.
»Ich habe Geld«, erwiderte der junge Maler, und des Bruders Anblick entlockte ihm den Ausruf: »Der Philipp hat ja prachtvolle Farbe.« »Ja, ich bin angeraucht wie eine Pfeife. Aber du siehst noch aus wie früher, Kleiner.«
Einundzwanzig Jahre alt und schon geschätzt von einigen Freunden, die ihm in den schlimmen Tagen beistanden, war sich Philipp seiner Kraft und Begabung bewußt; er vertrat in einem Kreise junger Wissenschaftler, Literaten, Politiker und Philosophen die Malerei, so mußte ihn des Bruders Anrede verletzen, die Philipp noch durch eine Geste unterstrich: er zupfte Joseph wie ein Kind am Ohr. Agathe entging es nicht, daß bei der Descoings und Joseph auf die erste Herzlichkeit des Willkommens eine gewisse Kühle folgte. Um alles wieder auszugleichen, erzählte sie ihnen, was Philipp im Exil durchgemacht hatte. Die Descoings, die aus der Heimkehr des Sohnes, den sie, wenn auch nur für sich, den verlorenen Sohn nannte, einen Festtag machen wollte, hatte das denkbar beste Diner bereitet und dazu den alten Claparon und Desroches senior eingeladen. Abends sollten alle Freunde des Hauses kommen, und sie kamen. Joseph hatte aus seinem Kreise Léon Giraud, d'Arthez, Michel Chrestien, Fulgence, Ridal und Bianchon aufgefordert. Zu ihrem angeblichen Stiefsohn Bixiou sagte die Desroches, die jungen Leute sollten Ecarté spielen. Es war auch der jüngere Desroches, der auf Befehl seines Vaters Referendar geworden war, zugegen. Du Bruel, Claparon, Desroches und der Abbé Loraux beschäftigten sich mit dem Geächteten und entsetzten sich über seine rohe Art und Weise, seine heisere Säuferstimme, seine gemeine Wortwahl, seinen Blick. Während Joseph die Spieltische richtete, scharten sich die Getreuen um Agathe und befragten sie: »Was gedenken Sie mit Philipp zu tun?«
»Ich weiß nicht. Den Bourbonen will er noch immer nicht dienen.«
»Schwer wird es sein, in Frankreich einen Posten für ihn zu finden. Wenn er nicht wieder in das Heer eintritt, in der Verwaltung wird er so bald nicht unterzubringen sein«, meinte der alte Du Bruel. »Man braucht ihm nur eine Weile zuzuhören, um zu verstehen, daß er nicht wie mein Sohn den Ausweg hat, mit Theaterstücken Geld zu verdienen.«
Agathe antwortete mit einem Blick, dem alle anmerken konnten, wie Philipps Zukunft sie beunruhigte; und da keiner der Freunde ihr Rat wußte, blieben alle stumm. Der Geächtete, Desroches junior und Bixiou spielten Ecarté, ein Spiel, das damals sehr beliebt war.
»Mama Descoings, mein Bruder hat kein Geld zum Spielen«, sagte Joseph der guten Alten ins Ohr. Die Aktionärin der königlichen Lotterie holte zwanzig Franken und gab sie dem Künstler; der schob sie heimlich dem Bruder zu.
Alle Gäste waren versammelt. An zwei Tischen wurde Boston gespielt, und die Unterhaltung wurde lebhaft. Philipp erwies sich als schlechter Spieler. Erst gewann er viel, dann verlor er und schuldete schließlich um elf Uhr dem jungen Desroches und Bixiou fünfzig Franken. Immer wieder hallte Lärm und Zank vom Ecartétisch den friedlichen Bostonspielern in die Ohren; verstohlen lugten sie nach Philipp hinüber, der ein recht garstiges Wesen zur Schau trug; schließlich, als er wieder einmal Streit mit Desroches junior bekam, der auch nicht der beste war, gab der alte Desroches seinem Sohne unrecht, obwohl er recht hatte, und verbot ihm, weiter zu spielen. Da verbot auch Madame Descoings ihrem Enkel das Spiel; denn er ließ bereits Witze los, so geistreich, daß Philipp sie nicht verstand. Wie leicht konnte ein Widerhaken seiner Pfeile durch das dicke Fell des Obersten dringen, und dann wehe dem grausamen Spötter!
»Du mußt müde sein«, sagte Agathe Philipp ins Ohr, »geh zu Bett.«
»Das Reisen bildet die Jugend«, bemerkte Bixiou, als der Oberst und seine Mutter fort waren.
Joseph, der mit Tagesanbruch aufstand und früh schlafen ging, schenkte sich das Ende dieser Abendgesellschaft. Am nächsten Morgen stellten Agathe und die Descoings beim Frühstückstischdecken zu ihrem Leidwesen fest, daß die Abendgesellschaften recht teuer kommen würden, wenn Philipp, wie die alte Descoings sich ausdrückte, immer solche Karten ausspielte. Die alte, nunmehr sechsundsiebzigjährige Frau schlug vor, ihre Möbel zu verkaufen, ihre Wohnung im zweiten Stock dem Wirt, der nur darauf wartete, sie wiederzubekommen, zurückzugeben, sich ihr Zimmer in Agathes Salon einzurichten und den ersten Raum in ein Wohn- und Eßzimmer umzuwandeln. Dann würde man jährlich siebenhundert Franken ersparen und könnte davon Philipp monatlich fünfzig Franken geben, bis er einen Posten gefunden hätte. Agathe nahm das Opfer an. Als der Oberst herunterkam, fragte seine Mutter ihn erst, ob er sich wohlfühlte in seinem Zimmerchen; dann setzten ihm die beiden die Lage der Familie auseinander. Die Frauen besaßen zusammen fünftausenddreihundert Franken Einkommen, wovon die viertausend der Descoings Leibrente waren. Die Descoings gab Bixiou, den sie seit einem halben Jahr als ihren Enkel bekannte, sechshundert Franken Taschengeld und Joseph die gleiche Summe; den Rest ihrer Einkünfte und alles, was Agathe besaß, verschlang der Haushalt; alles Zurückgelegte war aufgebraucht.
»Beruhigt euch«, sagte der Oberstleutnant, »ich falle euch nicht lange zur Last, ich suche mir einen Posten, ich brauche nur für den Augenblick Futter und Unterschlupf.«
Agathe küßte ihren Sohn, und die Descoings steckte ihm hundert Franken in die Hand, um seine Spielschulden von gestern zu bezahlen. In zehn Tagen waren Möbelverkauf, Umzug und Umbau mit der Schnelligkeit bewerkstelligt, die es nur in Paris gibt. In dieser Zeit brach Philipp regelmäßig nach dem Frühstück auf, war zum Essen wieder da, ging abends fort und kam erst um Mitternacht zum Schlafen heim. Geradezu mechanisch nahm dieser abgedankte Offizier Gewohnheiten an, die sich bei ihm einwurzelten. Für die zwei Sous, die er auf dem Pont des Arts hätte Brückengeld zahlen müssen, um zum Palais Royal hinüberzukommen, ließ er sich auf dem Pont Neuf die Stiefel putzen; im Palais Royal trank er zwei kleine Glas Schnaps und las dazu die Zeitungen, und über dieser Tätigkeit wurde es Mittag; dann spazierte er die Rue Vivienne hinaus und begab sich ins Café Minerva, wo dazumal die liberale Politik gebraut wurde, dort spielte er Billard mit früheren Offizieren. Er gewann und verlor und goß dazu drei bis vier Liköre hinter die Binde, und beim Hin- und Herflanieren rauchte er seine zehn Regiezigarren. Abends pflegte er noch einige Pfeifen im holländischen Estaminet zu rauchen, ehe er gegen zehn Uhr zum Spielsaal hinaufstieg; der Saaldiener gab ihm Karte und Nadel; er erkundigte sich bei einigen Veteranen des Spieles nach den jeweiligen Chancen und setzte im günstigsten Augenblick zehn Franken, aber nie mehr als dreimal, ob er verlor oder gewann. Hatte er, was meistens geschah, gewonnen, trank er noch einen Becher Punsch und begab sich heim in seine Dachkammer. Dabei pflegte er zu verkünden, er werde die Ultras und die von der Garde umbringen; und auf der Treppe sang er: »Wir sind des Kaiserreiches Hüter!« Die gute Mutter hörte ihn und sagte: »Heut abend ist er lustig, der Philipp«; und sie stieg hinauf und küßte ihn, ohne sich über den Punsch-, Schnaps- und Tabakgestank zu beschweren.
»Na, bist du nun mit mir zufrieden, Mutter?« sagte er einmal im Januar zu ihr. »Ich führe doch das regelmäßigste Leben von der Welt.«
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