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In den ersten Dezembertagen schritt ein siebzigjähriger Greis ungeachtet des Regens durch die Rue de Varennes, schaute an jedem Gebäude empor und suchte mit der Naivität eines Kindes und der gedankenversunkenen Miene eines Philosophen die Wohnung des Marquis de Valentin. Aus diesem Gesicht, das von langen wirren Haaren umrahmt und eingedorrt war wie ein altes Pergament, das sich im Feuer krümmt, sprach bitterer Kummer im Kampf mit einem despotischen Charakter. Wäre ein Maler diesem seltsamen, klapperdürren alten Mann in seinem schwarzen Anzug begegnet, hätte er ihn, ins Atelier zurückgekehrt, wahrscheinlich sofort in seinem Skizzenbuch verewigt und darunter geschrieben: »Klassischer Poet auf der Suche nach einem Reim.« Nachdem dieser leibhaftig wiedererstandene RollinRollin, Charles (1661-1741): französischer Altertumsforscher und Schriftsteller, Rektor der Pariser Universität die Nummer gefunden hatte, die ihm angegeben worden war, klopfte er behutsam an das Tor eines prächtigen Gebäudes.
»Ist Monsieur Raphael zu Hause?« fragte der wackere Alte einen Schweizer in Livree.
»Monsieur le Marquis empfängt niemanden«, erwiderte der Diener und verschlang dabei eine riesige Brotscheibe, die er in eine große Kaffeetasse getunkt hatte.
»Sein Wagen steht dort«, sagte der unbekannte Alte und wies auf eine glänzende Equipage, die unter einem hölzernen Vordach in Form eines Zeltes stand, das zugleich die Stufen der Freitreppe vor dem Regen schützte. »Er wird bald ausfahren, ich werde warten.«
»Ja, Alterchen, da können Sie bis morgen früh hier warten«, versetzte der Schweizer. »Es steht immer ein Wagen für Monsieur bereit. Bitte, gehen Sie; ich würde 600 Francs Leibrente verlieren, wenn ich nur einmal unerlaubt einen fremden Menschen eintreten ließe.«
In diesem Augenblick trat ein hochgewachsener Greis, dessen Tracht der eines Türhüters in einem Ministerium glich, aus dem Vestibül und stieg rasch ein paar Stufen herab, wobei er den verblüfft dastehenden bejahrten Bittsteller prüfend musterte.
»Da kommt übrigens Monsieur Jonathas«, sagte der Schweizer, »sprechen Sie mit ihm.«
Die beiden alten Männer, die sich durch Sympathie oder durch gegenseitige Neugier zueinander hingezogen fühlten, trafen in der Mitte des weiten Innenhofes zusammen an einem Rondell, wo zwischen den Pflastersteinen ein paar Grasbüschel wuchsen. Schreckliche Stille herrschte in diesem Palast. Wer Jonathas sah, war versucht, das Geheimnis zu lüften, das seine Züge beschattete und von dem jede Kleinigkeit in diesem düsteren Hause zeugte. Als er die riesige Erbschaft seines Oheims angetreten hatte, war es Raphaels erste Sorge gewesen, herauszufinden, wo der alte ergebene Diener lebte, auf dessen Anhänglichkeit er sich verlassen konnte. Jonathas weinte vor Freude, als er seinen jungen Herrn wiedersah, dem er für ewig Lebewohl gesagt zu haben glaubte; aber nichts kam seinem Glück gleich, als der Marquis ihm die wichtigen Aufgaben eines Verwalters übertrug. Der alte Jonathas wurde eine Zwischeninstanz zwischen Raphael und der Welt. Oberster Vermögensverwalter seines Herrn, blinder Vollstrecker eines unbekannten Willens, war er gleichsam ein sechster Sinn, durch den allein die Wellen des Lebens zu Raphael gelangten.
»Monsieur«, sagte der Alte zu Jonathas und stieg ein paar Stufen der Freitreppe hinauf, um sich vor dem Regen zu schützen, »ich möchte Monsieur Raphael sprechen.«
»Monsieur le Marquis sprechen?« rief der Verwalter; »kaum daß er ein Wort zu mir sagt, und ich bin doch sein Pflegevater!«
»Aber auch ich bin sein Pflegevater!« rief der alte Mann; »wenn Ihre Frau ihn einst säugte, so war ich es, der ihn den Musen an die Brust legte. Er ist mein Pflegling, mein Kind, mein carus alumnus!carus alumnus: lat., teurer Zögling Ich habe seinen Verstand geformt, sein Urteilsvermögen entwickelt, seinen Geist geschärft, und, wie ich zu behaupten wage, mir zur Ehre und zum Ruhm. Ist er nicht einer der bedeutendsten Männer unserer Zeit? Bei mir war er in der Sexta, in der Tertia und in der Klasse für Rhetorik. Ich bin sein Lehrer.«
»Ah! Sie sind Monsieur Porriquet?«
»Richtig. Aber Monsieur . . .«
»Pst! pst!« fuhr Jonathas zwei Küchenjungen an, deren Stimmen das klösterliche Schweigen brachen, das über dem Hause ruhte.
»Aber, Monsieur«, begann der Lehrer von neuem, »der Marquis ist doch hoffentlich nicht krank?«
»Oh, Monsieur«, erwiderte Jonathas, »Gott allein weiß, wie es um meinen Herrn steht. Sehen Sie, es gibt in Paris kein zweites Haus wie das unsere. Verstehen Sie? Kein zweites. Monsieur le Marquis hat diesen Palast, der vormals einem Herzog und Pair gehört hat, kaufen lassen. Er hat es für 300 000 Francs ausstatten lassen. Nicht wahr, das ist doch ein Sümmchen: 300 000 Francs! Aber dafür ist auch jedes Zimmer unseres Hauses ein wahres Wunder. ›Schön!‹ sag ich mir also, wie ich diese Herrlichkeit sehe, ›das ist ganz so wie beim seligen Monsieur, seinem Großvater: der junge Marquis will die Stadt und den Hof empfangen.‹ Nichts damit. Monsieur wollte keine Menschenseele sehen. Er führt ein komisches Leben, Monsieur Porriquet, wissen Sie? Ein unverträgliches Leben. Monsieur steht jeden Tag zur selben Stunde auf. Ich allein, und weiter niemand, sehen Sie, darf in sein Zimmer. Ich öffne um sieben Uhr die Tür, im Sommer wie im Winter. Das ist ein für allemal festgelegt. Nach dem Eintreten sage ich: Monsieur le Marquis, Sie müssen aufwachen und sich ankleiden. Schön, er wacht auf und kleidet sich an. Ich muß ihm seinen Hausrock geben, der immer nach demselben Schnitt und aus demselben Stoff gemacht ist. Ist er abgetragen, so habe ich für einen neuen zu sorgen, nur um ihn der Mühe zu entheben, einen neuen zu verlangen. Man stelle sich das einmal vor! Allerdings hat er auch 1000 Francs täglich zu verzehren, der liebe Junge kann tun, was er will. Und übrigens habe ich ihn so lieb, ich würde ihm die linke Backe hinhalten, wenn er mir eine Backpfeife auf die rechte gäbe! Er könnte mir noch viel schwierigere Dinge auftragen, ich würde alles tun, verstehen Sie? Und dann habe ich so viel Kleinkram für ihn zu erledigen, daß ich kaum weiß, wo mir der Kopf steht. Also nicht wahr, er liest Zeitungen? Laut Befehl habe ich sie auf ein und dieselbe Stelle auf ein und denselben Tisch zu legen. Ich muß ihn auch in eigener Person und stets zur nämlichen Stunde rasieren und zittere dabei nicht im geringsten. Der Koch würde 1000 Taler Leibrente verlieren, die ihn nach dem Tod von Monsieur erwarten, wenn das Frühstück nicht unweigerlich jeden Morgen Punkt zehn Uhr und das Diner Punkt fünf Uhr auf dem Tische ständen. Der Speiseplan ist für das ganze Jahr festgelegt, Tag für Tag. Monsieur le Marquis bleibt nichts zu wünschen übrig. Er hat Erdbeeren, wenn es Erdbeeren gibt, und die erste Makrele, die in Paris ankommt, ißt er. Das Menü ist gedruckt, er weiß am Morgen auswendig, was er zum Diner bekommt. Ferner kleidet er sich zur nämlichen Stunde mit den nämlichen Kleidern, der nämlichen Wäsche, die ich immer – verstehen Sie? – auf den nämlichen Sessel lege. Ich habe auch dafür zu sorgen, daß er immer dasselbe Tuch hat, notfalls, wenn beispielsweise sein Rock schäbig wird, muß ich einen neuen dafür hinlegen und darf kein Wort darüber verlieren. Ist es schönes Wetter, so gehe ich hinein und sage zu meinem Herrn: »Sie sollten ausfahren, Monsieur le Marquis!« Er antwortet ja oder nein. Will er aber spazierenfahren, so wartet er nicht auf seine Pferde, sie sind immer angespannt; der Kutscher sitzt unweigerlich mit der Peitsche in der Hand, wie Sie ihn da sehen. Abends nach dem Diner fährt der Monsieur einmal in die Oper und ein andermal zu den Ital . . . aber nein, bei den Italienernbei den Italienern: Gemeint ist das ›Théâtre-Italien‹, das, 1804 neugegründet, italienische Opern mit italienischen Sängern aufführte und in den letzten Jahren der Restauration seine Glanzzeit hatte war er noch nicht, ich habe mir erst gestern eine Loge verschaffen können. Um elf Uhr pünktlich kommt er nach Hause und legt sich schlafen. Während der Zwischenzeiten am Tag, wo er nichts zu tun hat, liest er; er liest immerzu, sehen Sie! Das ist so seine fixe Idee! Ich habe Befehl, vor ihm das »Journal de la Librairie« zu lesen und die neuen Bücher zu besorgen, damit er sie am Tage des Erscheinens auf seinem Kamin liegen hat. Weiterhin bin ich gehalten, stündlich zu ihm hineinzugehen, um nach dem Feuer, nach allem zu schauen und darauf zu achten, daß nichts fehlt. Er hat mir ein kleines Buch zum Auswendiglernen gegeben, Monsieur, wo alle meine Pflichten drinstehen, ein kleiner Katechismus! Im Sommer muß ich mit großen Eisblöcken die Temperatur immer gleichmäßig kühl halten und jederzeit überall frische Blumen aufstellen. Er ist reich! Er hat 1000 Francs täglich zu verzehren, er kann seinen Launen nachgehen. Lange genug hat der arme Junge sogar das Notwendigste entbehrt. Er quält niemanden, er ist gut wie das tägliche Brot, nie sagt er ein einziges Wort, und Sie sehen: völliges Schweigen im Haus und im Garten! Kurz, mein Herr braucht keinen einzigen Wunsch zu äußern, alles läuft am Schnürchen und exakt! Er hat auch ganz recht: wenn man die Dienerschaft nicht kurzhält, geht alles drunter und drüber. Ich sage ihm alles, was er tun muß, und er hört auf mich. Sie können sich kaum vorstellen, wie weit er das getrieben hat. Seine Gemächer sind in einer . . . einer . . . na, wie denn nun? . . . in einer Flucht, will ich sagen. Aber macht er nun, sagen wir einmal, die Tür seines Schlafzimmers oder seines Studierzimmers auf, . . . krach! öffnen sich alle Türen von selbst durch einen Mechanismus. Sehen Sie, so kann er in seinem Haus von einem Zimmer zum anderen gehen und braucht keine einzige Tür zu öffnen. Das ist bequem und praktisch und sehr angenehm für uns! Aber das hat uns einen Batzen Geld gekostet, das können Sie glauben! Und, Monsieur Porriquet, schließlich und endlich hat er zu mir gesagt: ›Jonathas, du wirst für mich sorgen wie für ein Wickelkind.‹ Ein Wickelkind, so hat er gesagt, wie für ein Wickelkind hat er gesagt. ›Du wirst für mich an meine Bedürfnisse denken . . .‹ Ich bin der Herr, verstehen Sie? Er ist sozusagen der Diener. Warum? Ja, sagen wir einmal, das weiß niemand in der Welt als er und der liebe Gott. Das ist unweigerlich.«
»Er arbeitet an einer Dichtung«, rief der alte Professor.
»Sie glauben, er schreibt ein Gedicht, Monsieur? Das muß ja eine schöne Plackerei sein, was? Aber sehen Sie, ich glaub das nicht. Er sagt mir oft, er wolle durchaus vergetieren, ja, sagen wir einmal, ganz vegetatierisch wolle er leben. Ja, erst gestern, Monsieur Porriquet, besah er sich eine Tulpe, so beim Ankleiden, wissen Sie, und da sagte er: »So ist mein Leben. Ich vergetiere, guter Jonathas!« Nun wahrhaftig, es gibt andere, die behaupten, er sei ein Monomane. Das ist unweigerlich!«
»Das alles beweist mir«, versetzte der Professor mit schulmeisterlicher Würde, die dem alten Kammerdiener tiefen Respekt einflößte, »daß Ihr Herr sich mit einem großen Werk beschäftigt. Er ist in tiefe Meditationen versunken und will durch die Bedürfnisse des gemeinen Lebens nicht davon abgelenkt werden. Ein geistvoller Mensch vergißt in seiner Gedankenarbeit alles. Eines Tages verbrachte der berühmte Newton . . .«
»Ah! Newton, schön . . .«, sagte Jonathas; »den kenne ich nicht.«
»Newton, ein großer Mathematiker«, fuhr Porriquet fort, »blieb 24 Stunden unbeweglich sitzen, die Ellbogen auf einen Tisch gestützt; als er aus seinem Sinnen erwachte, glaubte er, es sei noch der vorige Abend, als hätte er geschlafen. Ich will den lieben Jungen sehen, ich kann ihm nützlich sein.«
»Halt!« rief Jonathas. »Und wenn Sie der König von Frankreich wären, der alte natürlich, würden Sie nur hineingelangen, wenn Sie die Türen sprengten und über mich hinwegschritten. Aber, Monsieur Porriquet, ich lauf hin und sag ihm, daß Sie da sind, und frage ihn etwa so: ›Soll man ihn heraufkommen lassen?‹ Dann kann er ja oder nein antworten. Niemals sage ich zu ihm: ›Wünschen Sie? Wollen Sie? Möchten Sie?‹ Solcherlei Worte sind aus unserem Gespräch gestrichen. Einmal ist mir solch eins entwischt, und da fragte er mich gleich in vollem Zorn: ›Willst du mich töten?‹
Jonathas ließ den alten Lehrer im Vestibül zurück und bedeutete ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren; aber es dauerte nicht lange, bis er mit einem günstigen Bescheid zurückkam und den alten pensionierten Professor durch kostbar ausgestattete Gemächer führte, deren Türen samt und sonders offenstanden. Porriquet sah seinen Schüler schon von weitem an seinem Kamin sitzen. Raphael trug einen auffallend gemusterten Schlafrock, saß in einem bequemen Lehnstuhl und las die Zeitung. Die tiefe Schwermut, der er zum Opfer gefallen schien, drückte sich in der hinfälligen Haltung seines abgezehrten Körpers aus; sie stand auf seiner Stirn und auf seinem bleichen Antlitz, das einer verkümmerten Blüte glich. Seine Erscheinung verriet eine gewisse weibliche Anmut und die reichen Kranken eigenen bizarren Absonderlichkeiten. Seine Hände waren weiß, weich und zart wie die einer hübschen Frau. Seine blonden, bereits schütteren Haare lockten sich mit gesuchter Koketterie um seine Schläfen. Eine griechische Kappe aus Kaschmir wurde von einer für den leichten Stoff zu schweren Quaste heruntergezogen und saß schief auf seinem Kopf. Er hatte ein mit Gold ausgelegtes Malachitmesser, das er zum Aufschneiden eines Buches benutzt hatte, achtlos zu Boden fallen lassen. Auf seinen Knien lag das Bernsteinmundstück einer prachtvollen indischen Nargileh,Nargileh: orientalische Wasserpfeife. Der Rauch wird in einem Schlauch durch einen Wasserbehälter geleitet und gekühlt deren glasierter Schlauch sich wie eine Schlange in seinem Zimmer ringelte, doch er vergaß, ihren frischen Duft einzuziehen. Die offenkundige Schwäche seines jungen Körpers wurde indessen von blauen Augen Lügen gestraft, in die sich das ganze Leben zurückgezogen zu haben schien: ein außerordentliches Gefühl strahlte aus ihnen, das sogleich ergriff. Dieser Blick tat weh, wenn man ihn sah. Der eine mochte Verzweiflung darin lesen; ein anderer einen inneren Kampf ahnen, der so schrecklich sein mußte wie Gewissenspein. Es war der tiefe Blick des Ohnmächtigen, der seine Wünsche auf den Grund seines Herzens zurückdrängt, oder der Blick des Geizigen, der in Gedanken mit all den Freuden spielt, die sein Geld ihm verschaffen könnte und auf die er verzichtet, um seinen Schatz nicht anzutasten; oder der Blick des gefesselten Prometheus, des gescheiterten Napoleon, der 1815 im Elysée vom strategischen Fehler. . . vom strategischen Fehler seiner Feinde erfährt: 1815 rückten die preußischen Truppen unter Marschall Blücher, den englischen Verbündeten um zwei Tagesmärsche voraus, auf Paris zu seiner Feinde erfährt, für 24 Stunden das Kommando verlangt und es nicht erhält. Wahrhaft der Blick des Eroberers und Verdammten! Ja, mehr noch, der Blick, den Raphael einige Monate zuvor auf die Seine oder auf das letzte Goldstück geworfen hatte, das er im Spiel setzte. Er unterwarf seinen Willen, seinen Intellekt dem plumpen gesunden Menschenverstand eines alten Bauern, den 50 Jahre Dienststellung nur notdürftig zivilisiert hatten. Fast froh, eine Art Automat zu werden, entsagte er dem Leben, um zu leben, und versagte seiner Seele alle Poesie des Wünschens. Um der grausamen Macht, deren Herausforderung er angenommen hatte, besser entgegenzutreten, war er nach Art des OrigenesOrigenes (um 185 - um 254): griechischer Theologe, Begründer der christlichen Gnostik und Bibelauslegung keusch geworden, indem er seine Phantasie entmannte. An dem Tag, nachdem er, durch ein Testament schlagartig reich geworden, gesehen hatte, wie das Chagrinleder kleiner wurde, hatte er seinen Notar aufgesucht. Dort hatte ein damals beliebter Arzt beim Dessert allen Ernstes erzählt, wie ein Schweizer sich von der Schwindsucht geheilt hatte. Dieser Mann hatte zehn Jahre lang kein Wort gesprochen und sich gezwungen, nur sechsmal in der Minute in der dicken Luft eines Kuhstalles zu atmen, außerdem hatte er nur ganz leichte Speisen zu sich genommen. »So werde ich es auch machen!« hatte sich Raphael gesagt. Er wollte um jeden Preis leben. Von Luxus umgeben, führte er das Leben einer Maschine. Als der alte Professor diesen jungen Leichnam ansah, erbebte er; alles schien ihm an diesem schmächtigen und gebrechlichen Körper künstlich zu sein. In diesem Marquis mit dem brennenden Blick, der gedankenschweren Stirn konnte er nicht mehr den Schüler mit dem frischen und rosigen Gesicht, den jugendlichen Gliedern erkennen, wie er in seiner Erinnerung lebte. Wenn der wackere Verfechter klassischer Ideale, der feinsinnige Kritiker und Bewahrer des guten Geschmacks Lord Byron gelesen hätte, hätte er geglaubt, einen Manfred vor sich zu sehen, wo er einen Childe HaroldManfred, Childe Harold: Gestalten aus dem Versdrama ›Manfred‹ (1817) von Lord Byron (1788-1824) erwartet hatte.
»Guten Tag, Vater Porriquet«, sagte Raphael zu seinem Lehrer und drückte die eisigen Finger des alten Mannes mit seiner heißen, feuchten Hand. »Wie geht es Ihnen?«
»Mir geht es schon gut«, erwiderte der Greis, von der Berührung mit dieser fiebernden Hand erschreckt. »Und Ihnen?«
»Oh! Ich hoffe, mich bei guter Gesundheit zu erhalten.«
»Sie arbeiten ohne Zweifel an einem schönen Werk?«
»Nein«, erwiderte Raphael, »exegi monumentum,exegi monumentum: lat., Ich habe ein Denkmal errichtet (Horaz, Carmen III, 30) Vater Porriquet, ich habe eine große Schrift vollendet und der Wissenschaft für immer Valet gesagt. Ich weiß nicht einmal genau, wo mein Manuskript sich befindet.«
»Es ist doch hoffentlich in einem reinen Stil geschrieben?« fragte der Professor; »ich hoffe, Sie haben nicht die barbarische Sprache dieser neuen Schule angenommen, die wunder was zu tun glaubt, wenn sie RonsardRonsard, Pierre de (1524-1585): französischer Lyriker, Haupt der Pléiade, der bedeutendsten Dichterschule der französischen Renaissance entdeckt!«
»Mein Werk ist ein rein physiologisches Buch.«
»Oh, damit ist alles gesagt!« gab der Professor zurück; »in den Wissenschaften muß die Grammatik den Erfordernissen der Entdeckungen Genüge leisten. Nichtsdestoweniger, mein Sohn, kann ein klarer, harmonischer Stil, die Sprache Massillons,Massillon, Jean-Baptiste (1663-1742): französischer Kanzelredner Monsieur de Buttons, des großen Racine,Racine, Jean-Baptiste (1639-1699): französischer klassischer Dramatiker kurz, ein klassischer Stil nie von Schaden sein. Aber, mein Freund«, unterbrach sich der Professor, »ich vergaß den Zweck meines Besuchs. Es ist ein eigennütziger Besuch.«
Raphael erinnerte sich zu spät der wortreichen Eleganz und der beredten Umschreibungen, an die ein langjähriges Professorendasein seinen alten Lehrer gewöhnt hatte. Er bereute jetzt fast, ihn empfangen zu haben; aber in dem Augenblick, als er geneigt war, den Alten lieber wieder draußen zu sehen, unterdrückte er hastig diesen geheimen Wunsch und warf einen verstohlenen Blick auf das Chagrinleder, das vor ihm, auf einen weißen Stoff gespannt, hing, auf dem seine prophetischen Konturen sorgfältig mit einer roten Linie nachgezogen waren, die das Leder genau abschlossen. Seit der verhängnisvollen Orgie unterdrückte Raphael den leisesten Anflug eines Begehrens und lebte in einer Weise, die dem schrecklichen Talisman nicht das geringfügigste Zucken verursachen konnte. Das Chagrinleder war wie ein Tiger, mit dem er leben mußte, ohne seine blutdürstigen Instinkte zu wecken. Er hörte also die weitläufigen Erklärungen des alten Professors geduldig an. Vater Porriquet brauchte eine Stunde, um ihm von den Verfolgungen zu erzählen, deren Gegenstand er seit der Julirevolution geworden war. Der biedere Bürger hatte, vom patriotischen Verlangen nach einer starken Regierung beseelt, geäußert, man möge die Krämer in ihren Läden, die Staatsmänner in der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, die Advokaten im Justizpalast und die Pairs von Frankreich im Luxembourg lassen; aber einer der populären Minister des Bürgerkönigs hatte ihn des Karlismus beschuldigt und ihn von seinem Katheder verbannt. Der alte Mann war ohne Stellung, ohne Einkünfte, ohne Brot. Da er für einen armen Neffen zu sorgen hatte, für den er im Seminar von Saint-Sulpice die Pension bezahlte, kam er, weniger für sich selbst als für seinen Adoptivsohn, seinen ehemaligen Schüler zu bitten, er möchte sich bei dem neuen Minister für ihn verwenden. Es war ihm nicht einmal um die Wiedereinsetzung in sein früheres Lehramt zu tun, sondern nur um eine Rektorstelle an irgendeinem Provinzgymnasium. Raphael war von einer unüberwindlichen Schlafsucht befallen, als die eintönige Stimme des redlichen Alten schließlich aufhörte, in seinen Ohren zu tönen. Aus Höflichkeit hatte er dem Greis bei dessen langsamen und umständlichen Darlegungen in die farblosen und fast starren Augen geblickt, und eine unerklärliche Trägheit war über ihn gekommen und hatte ihn magnetisiert und fast betäubt.
»Nun ja, guter Vater Porriquet«, erwiderte er, ohne recht zu wissen, auf welche Frage er antwortete, »da kann ich nichts tun, gar nichts. Ich wünsche lebhaft, es möchte Ihnen gelingen . . .«
Mit einemmal bäumte sich Raphael, der gar nicht darauf achtete, welche Wirkung diese banalen, egoistischen und leichtfertigen Worte auf der gelben, runzligen Stirn des Alten hervorbrachten, heftig auf wie ein aufgescheuchtes junges Wild. Er bemerkte eine dünne weiße Linie zwischen dem Rand des schwarzen Leders und der roten Kontur; er stieß einen so furchtbaren Schrei aus, daß der arme Professor entsetzt zusammenfuhr.
»Fort, alter Blödian!« rief er, »Sie werden zum Rektor ernannt werden! Konnten Sie nicht eine Leibrente von 1000 Talern erbitten, statt eines derart mörderischen Wunsches! Dann hätte Ihr Besuch mich nichts gekostet. Es gibt 100 000 Stellen in Frankreich, und ich habe nur ein Leben! Ein Menschenleben ist mehr wert als alle Stellen der Welt . . . Jonathas!«
Jonathas erschien.
»Das hast du nun angestellt, du dreifacher Trottel! Warum hast du mir vorgeschlagen, diesen Herrn da zu empfangen?« Damit wies er auf den Alten, der wie versteinert dastand. »Habe ich meine Seele in deine Hände gelegt, damit du sie in Stücke reißt? Du hast mir in diesem Augenblick zehn Jahre meines Lebens geraubt! Noch einen Fehler wie den, dann kannst du mich an den Ort bringen, wo ich meinen Vater hingebracht habe. Da hätte ich doch wahrhaftig besser getan, die schöne Fœdora zu besitzen, als dem alten Gerippe da, diesem Jammerlappen, einen Dienst zu erweisen! Ich habe Gold für ihn genug. Und außerdem, wenn alle Porriquets in der Welt Hungers stürben, was kümmert das mich?«
Raphaels Gesicht war vor Zorn fast weiß geworden; ein leichter Schaum trat auf seine zitternden Lippen, und in seinen Augen lag Mordlust. Bei diesem Anblick wurden die beiden Alten von krampfhaftem Zittern befallen; sie standen da wie zwei Kinder vor einer Schlange. Der junge Mann sank in seinen Sessel zurück; in seiner Seele vollzog sich eine Art Reaktion, und in Strömen flossen die Tränen aus seinen flammenden Augen.
»Oh, mein Leben! mein schönes Leben!« stöhnte er. »Keine wohlwollenden Gedanken mehr! Keine Liebe! Nichts!« Er wandte sich zum Professor. »Das Unglück ist geschehen, alter Freund«, sagte er mit sanfter Stimme. »Sie sind für Ihre treuen Dienste nun reichlich belohnt; und mein Unglück wird wenigstens einem guten und würdigen Manne Gutes bringen.« Es lag in diesen fast unverständlichen Worten so viel Seele, daß die beiden Alten weinten, wie man wohl beim Anhören einer rührenden Melodie in einer fremden Sprache weint.
»Er ist Epileptiker«, flüsterte Porriquet.
»Ich verstehe Ihre Güte, alter Freund«, versetzte Raphael sanft, »Sie wollen mich entschuldigen. Krankheit ist ein mißlicher Zufall, Unmenschlichkeit hingegen wäre ein Laster. Verlassen Sie mich jetzt!« fügte er hinzu. »Sie werden morgen oder übermorgen, vielleicht noch heute abend Ihre Ernennung erhalten, denn der »Widerstand« hat über die »Bewegung« gesiegt . . . Adieu.«
Der Greis zog sich, von Entsetzen gepackt und in lebhafter Unruhe über Valentins Geisteszustand, zurück. Dieser Auftritt hatte für ihn etwas Übernatürliches gehabt. Er zweifelte an sich selbst und fragte sich, ob er aus einem schweren Traum erwache.
»Höre, Jonathas«, sagte der junge Mann zu seinem alten Diener, »gib dir Mühe, die Aufgabe, die ich dir anvertraut habe, endlich zu begreifen.«
»Ja, Monsieur le Marquis.«
»Ich bin wie ein Mensch, der außerhalb der gewöhnlichen Daseinsgesetze steht.«
»Ja, Monsieur le Marquis.«
»Alle Genüsse des Lebens wiegen sich um mein Totenbett und umtanzen mich wie schöne Frauen; wenn ich sie rufe, sterbe ich. Immer der Tod! Du mußt eine Schranke sein zwischen mir und der Welt.«
»Ja, Monsieur le Marquis«, sagte der Diener und trocknete die Schweißtropfen, die auf seiner runzligen Stirn standen. »Aber wenn Sie keine schönen Frauen sehen wollen, was wollen Sie dann heute abend in der Italienischen Oper? Eine englische Familie, die nach London zurückreist, hat mir den Rest ihres Abonnements abgetreten, und Sie haben eine schöne Loge, oh, eine prächtige Loge im ersten Rang.«
Raphael war in tiefes Träumen versunken und hörte nicht mehr zu.
Sehen Sie diesen prunkvollen Wagen, dieses äußerlich schlichte und braune Coupé, auf dessen Türen aber das Wappen einer alten Adelsfamilie glänzt? Wenn dieses Coupé vorüberrollt, bewundern es die Grisetten, werfen begehrliche Blicke auf den gelben Atlas, die echte Savonneriedecke, die Borten, die wie Reisstroh blinken, die molligen Kissen und die geschlossenen Scheiben. Zwei Lakaien in Livree stehen hinten auf diesem aristokratischen Gefährt; innen aber liegt auf Seidenkissen ein fiebrig-brennender Kopf mit umränderten Augen, der Kopf von Raphael, traurig und in sich gekehrt. Düsteres Bild des Reichtums. Er rast durch Paris wie eine Rakete, langt am Säulenvorbau des Théâtre FavartThéâtre Favart: die 1781-1783 entstandene Opéra Comique, die 1838 durch einen Brand vernichtet wurde an, der Tritt wird heruntergelassen, seine beiden Diener stützen ihn, eine neidische Menge starrt ihn an.
»Was hat der getan, daß er so reich ist?« fragte ein armer Student der Rechte, dem der Taler fehlte, um die bezaubernden Klänge Rossinis hören zu können.
Raphael schritt langsam durch die Gänge des Theaters; er versprach sich von diesem Vergnügen, das er früher so ersehnt hatte, keinerlei Genuß. Den zweiten Akt der »Semiramis«›Semiramis‹: 1823 uraufgeführte Oper von Rossini erwartend, ging er im Foyer auf und ab, irrte durch die Galerien, unbekümmert um seine Loge, die er noch nicht betreten hatte. Das Gefühl für Eigentum existierte für ihn nicht mehr. Wie alle Kranken dachte er nur an sein Leiden. An den Kamin im Foyer gelehnt, wo junge und alte Stutzer, frühere und jetzige Minister, Pairs ohne Pairswürde und Pairswürden ohne Pairs, wie sie die Julirevolution hervorgebracht hat, und schließlich eine Menge Spekulanten und Journalisten auf und ab wandelten, erblickte Raphael, einige Schritte von sich entfernt, unter all diesen Köpfen ein seltsames, gleichsam übernatürliches Gesicht. Er näherte sich diesem absonderlichen Wesen, um es aus der Nähe zu betrachten, wobei er ungeniert die Augen zusammenkniff. »Was für eine wunderbare Malerei!« sagte er sich. Die Brauen, die Haare, das Spitzbärtchen à la Mazarin, mit dem der Unbekannte sich eitel spreizte, waren schwarz gefärbt; aber da das Schönheitsmittel offenbar auf zu weißes Haar aufgetragen war, hatte es eine violette, widernatürliche Färbung erzeugt, deren Töne je nach den mehr oder weniger starken Reflexen der Lichter wechselten. Sein schmales und plattes Gesicht, dessen Falten mit einer dicken Schicht Puder und Rouge bedeckt waren, drückte zugleich Verschlagenheit und Unruhe aus. An einigen Stellen fehlte die Schminke, und das abgelebte Gesicht, seine bleierne Haut traten um so deutlicher hervor; so konnte man das Lachen nicht verbeißen, wenn man diesen Kopf mit dem spitzen Kinn und der vorstehenden Stirn sah, der an die grotesken Holzschnitzereien erinnerte, die deutsche Schäfer in ihren Mußestunden schnitzten. Wer abwechselnd diesen alten Adonis und Raphael betrachtete, hätte in dem Marquis die Augen eines Jünglings in der Maske eines Greises und in dem Unbekannten die erloschenen Augen eines Greises in der Maske eines jungen Mannes zu erkennen geglaubt. Valentin suchte sich zu erinnern, wo und wann er diesen vertrockneten Alten schon gesehen hatte, der so eine zierliche Halsbinde trug, gestiefelt und gespornt wie ein Jüngling einherschritt, und die Arme über der Brust kreuzte, als hätte er alle Kräfte einer sprühenden Jugend zu verschwenden. In seinem Gang lag nichts Vorgetäuschtes oder Erzwungenes. Den alten, starkknochigen Körper vermummte ein eleganter, sorgfältig zugeknöpfter Rock und verlieh ihm das Aussehen eines alten Gecken, der noch der Mode huldigt. Diese seltsame lebendige Puppe hatte für Raphael den ganzen Reiz einer Gespenstererscheinung, und er betrachtete sie wie einen alten, verräucherten, kürzlich restaurierten, gefirnißten und in einen neuen Rahmen gesteckten Rembrandt. Dieser Vergleich führte ihn in seinen wirren Erinnerungen wieder auf die rechte Spur: er erkannte den Antiquitätenhändler wieder, den Mann, dem er sein Unglück verdankte. In diesem Augenblick lachte dieser phantastische Alte ein lautloses Lachen, das sich auf seinen blutleeren Lippen abzeichnete, hinter denen ein falsches Gebiß sichtbar war. Bei diesem Lachen entdeckte Raphaels lebhafte Phantasie die frappierende Ähnlichkeit dieses Gesichts mit dem Typus des Kopfes, den die Maler Goethes Mephistopheles gegeben haben. Tausend abergläubische Vorstellungen bemächtigten sich Raphaels starker Seele, auf einmal glaubte er an die Macht des Teufels, an all die Hexenkünste, die in den Legenden des Mittelalters überliefert und von den Dichtern aufgegriffen worden sind. Ihn schauderte vor dem Schicksal Fausts, er rief den Himmel an, denn den Sterbenden gleich erfüllte ihn plötzlich ein glühender Glaube an Gott und die Jungfrau Maria. Ein strahlendes Licht ließ ihn den Himmel Michelangelos und Raffaels schauen: Wolkengebilde, einen alten Mann mit weißem Bart, Engelsköpfe, eine schöne Frau, von einem Heiligenschein umgeben. Jetzt begriff er diese wunderbaren Schöpfungen und machte sie sich zu eigen, da ihre geradezu menschlichen Phantasien ihm sein Abenteuer deuteten und ihm noch eine Hoffnung ließen. Als er aber seine Augen wieder ins Foyer der Oper senkte, erblickte er anstelle der Heiligen Jungfrau ein reizendes Mädchen, die verdorbene Euphrasie, die Tänzerin mit dem biegsamen und graziösen Körper, die in einem strahlenden, mit orientalischen Perlen überladenen Gewand ungeduldig auf ihren ungeduldigen Greis zuschritt und sich mit kecker Stirn und blitzenden Augen dreist dieser neidisch lauernden Gesellschaft präsentierte, um den grenzenlosen Reichtum des Händlers zu bezeugen, dessen Schätze sie verschwendete. Raphael entsann sich des spöttischen Wunsches, mit dem er das verhängnisvolle Geschenk des Alten angenommen hatte, und genoß alle Wonnen der Rache, da er nun die tiefe Erniedrigung dieser erhabenen Weisheit sah, deren Sturz noch vor kurzem unmöglich schien. Das Grabeslächeln des Hundertjährigen war an Euphrasie gerichtet, die es mit einem Liebeswort erwiderte; er bot ihr seinen Knochenarm, machte zwei- oder dreimal die Runde um das Foyer, empfing selig die leidenschaftlichen Blicke und die Komplimente, welche die Menge seiner Geliebten zuwarf, ohne das verächtliche Lachen und den beißenden Spott zu bemerken, dessen Gegenstand er war.
»Auf welchem Kirchhof hat dieser junge Vampir den Leichnam ausgescharrt?« rief der eleganteste der Romantiker.
Euphrasie lächelte. Der Spötter war ein schlanker junger Mann mit blonden Haaren, blauen, strahlenden Augen und einem Schnurrbart; er trug einen kurzen Frack, den Hut auf dem Ohr, war nicht auf den Mund gefallen: ganz die Sprache der neuen Schule.
»Wie viele Greise«, sagte sich Raphael im stillen, »krönen ein ehrbares, arbeitsames, tugendhaftes Leben mit einer Torheit! Der steht schon mit den Füßen im Grab und hält sich eine Geliebte.«
»Nun, wie ist es?« rief er den Händler an und liebäugelte mit Euphrasie; »erinnern Sie sich nicht mehr der strengen Grundsätze Ihrer Philosophie?«
»Ach«, antwortete der Händler mit schon gebrochener Stimme, »ich bin jetzt glücklich wie ein Jüngling! Ich hatte das Leben verkehrt angefangen. In einer Liebesstunde liegt ein ganzes Leben.«
In diesem Augenblick ertönte das Klingelzeichen, und die Zuschauer verließen das Foyer, um sich auf ihre Plätze zu begeben. Der Alte und Raphael trennten sich. Als der Marquis in seine Loge trat, bemerkte er Fœdora, die ihm gerade gegenüber auf der anderen Seite des Theaters saß. Sie war offenbar eben erst gekommen, löste ihren Schal, entblößte den Hals und vollführte all die unbeschreiblichen kleinen Bewegungen einer Kokotte, die sich zur Schau stellt: alle Blicke waren auf sie gerichtet. Ein junger Pair von Frankreich begleitete die Comtesse; sie ließ sich von ihm das Opernglas reichen, das sie ihm zu tragen gegeben hatte. An ihren Gesten, an der ganzen Art, wie sie den neuen Verehrer ansah, erriet Raphael, welcher Tyrannei sein Nachfolger unterworfen war. Sicher ebenso bezaubert, ebenso betrogen wie einst er selber und wie er mit der ganzen Kraft einer wahren Liebe gegen die kalten Berechnungen dieser Frau ankämpfend, mußte dieser junge Mann Qualen erleiden, auf die Valentin zu seinem Glück verzichtet hatte. Nachdem Fœdora ihr Opernglas auf alle Logen gerichtet und mit einem Blick die Toiletten gemustert hatte, strahlte unbeschreibliche Freude aus ihrem Gesicht; denn sie hatte sich vergewissert, daß sie mit ihrem Schmuck und ihrer Schönheit die schönsten und elegantesten Frauen von Paris ausstach; sie lachte, um ihre weißen Zähne zu zeigen, und neigte ihren blumengeschmückten Kopf lebhaft, um sich bewundern zu lassen. Ihr Blick glitt von Loge zu Loge; mal machte sie sich über ein Barett lustig, das schlecht auf dem Kopf einer russischen Fürstin saß, mal über einen geschmacklosen Hut, der einer Bankierstochter abscheulich schlecht stand. Plötzlich wurde sie blaß, sie war den starren Augen Raphaels begegnet; ihr verschmähter Liebhaber schmetterte sie mit einem unerträglichen Blick der Verachtung nieder. Keiner ihrer in Ungnade gefallenen Liebhaber entzog sich ihrer Macht, nur Raphael war, als einziger von allen, gegen ihre Verführungskünste gefeit. Eine Macht, der man ungestraft trotzen kann, nähert sich dem Untergang. Dieser Grundsatz ist in ein Frauenherz tiefer eingegraben als in das Hirn der Könige. So sah denn Fœdora in Raphael das Ende ihres Ruhms und ihrer Koketterie. Ein Wörtchen, das er gestern in der Oper hatte fallenlassen, war in sämtlichen Pariser Salons von Mund zu Mund gegangen. Der schneidende Witz dieses furchtbaren Epigramms hatte die Comtesse unheilbar verletzt. Wir können in Frankreich zwar eine Wunde ausbrennen, aber wir kennen noch kein Heilmittel gegen den Schaden, den ein Wort anrichtet. In dem Augenblick, da alle Frauen abwechselnd auf den Marquis und auf sie blickten, hätte Fœdora ihn in ein Verlies der Bastille stürzen mögen; denn trotz all ihrer Verstellungskunst, die Rivalinnen errieten, wie sie litt. Und schließlich wurde sie ihres letzten Trostes beraubt. Die köstlichen Worte: »Ich bin die Schönste!«, dieser ewige Satz, der alle Kümmernisse ihrer Eitelkeit besänftigte, fing an zur Lüge zu werden. Während des Vorspieles zum zweiten Akt nahm eine Frau in Raphaels Nähe Platz, in der Nachbarloge, die bis dahin leer geblieben war. Aus dem Parterre drang ein Murmeln der Bewunderung. Alle Augen und alle Sinne in diesem Meer von menschlichen Gesichtern waren auf die Unbekannte gerichtet. Jung und alt gerieten in eine so lang anhaltende Unruhe, daß die Musiker im Orchester sich, während der Vorhang hochging, erst einmal umdrehten, um Schweigen zu gebieten; aber auch sie brachen in beifällige Rufe aus und vermehrten so den wirren Lärm. Lebhafte Unterhaltung setzte in jeder Loge ein. Die Frauen hatten sich alle mit ihren Operngläsern bewaffnet, Greise wurden wieder jung und putzten mit dem Leder ihrer Handschuhe die Lorgnetten. Allmählich flaute die Begeisterung ab; auf der Bühne begann der Gesang; alles kehrte zur Ordnung zurück. Die gute Gesellschaft schämte sich, einer natürlichen Regung nachgegeben zu haben, und nahm wieder die aristokratische Kälte ihrer höfischen Manieren an. Die Reichen wollen über nichts staunen, sie wollen beim ersten Anblick eines schönen Werks den Fehler entdecken, der sie der Bewunderung – einem niederen Empfinden – enthebt. Indessen blieben doch einige Männer reglos, ohne die Musik zu hören, in naiver Bewunderung verloren und hörten nicht auf, Raphaels Nachbarin zu betrachten. Valentin bemerkte in einer Parterreloge neben Aquilina das gemeine, blutunterlaufene Gesicht Taillefers, der ihm wohlwollend zugrinste. Dann sah er Émile, der in seiner Orchesterloge stand und ihm zu sagen schien: »Aber sieh doch das himmlische Geschöpf neben dir an!« Schließlich entdeckte er noch Rastignac, der neben Madame de Nucingen und ihrer Tochter saß und die Handschuhe unruhig in der Hand ballte, als sei er verzweifelt, an seinen Platz gebannt zu sein und nicht zu der entzückenden Unbekannten eilen zu können. Raphaels Leben hing von einem Pakt ab, den er mit sich selbst geschlossen und bis jetzt noch nicht verletzt hatte: er hatte sich gelobt, niemals ein weibliches Wesen aufmerksam anzusehen; und um sich vor jeder Versuchung zu schützen, benutzte er ein Opernglas, dessen Gläser so kunstvoll geschliffen waren, daß es die Harmonie der schönsten Züge zerstörte und ihnen ein häßliches Aussehen gab. Raphael stand noch unter dem Eindruck des Entsetzens, das ihn heute morgen ergriffen hatte, als sich der Talisman auf einen bloß aus Höflichkeit geäußerten Wunsch unverzüglich zusammengezogen hatte, und war fest entschlossen, sich nicht nach seiner Nachbarin umzuwenden. Er saß da wie eine Herzogin, mit dem Rücken gegen die Ecke seiner Loge und nahm der Unbekannten rücksichtlos den halben Ausblick auf die Bühne, geradeso, als wäre sie für ihn Luft, als wüßte er gar nicht, daß eine schöne Frau hinter ihm saß. Die Nachbarin ahmte Valentins Stellung genau nach. Sie hatte ihren Ellbogen auf die Brüstung der Loge gestützt und wandte den Kopf zu drei Vierteln den Sängern zu; es sah aus, als säße sie einem Maler. Die beiden glichen zwei verzankten Liebenden, die schmollen, sich den Rücken zukehren und sich beim ersten Liebeswort wieder um den Hals fallen. Manchmal streiften die leichten Marabufedern oder die Haare der Unbekannten Raphaels Kopf und erregten ein sinnliches Gefühl in ihm, gegen das er sich tapfer wehrte; bald spürte er die schmeichelnde Berührung der Spitzenrüschen, mit denen ihr Kleid besetzt war, vernahm das seidige Rascheln der Falten, ein frauliches Geräusch, süß und bestrickend; endlich teilten sich die kaum merklichen Atembewegungen der Brust, des Rückens, der Kleider der schönen Frau, ihr ganzes holdes Leben Raphael mit, wie ein elektrischer Funke, der überspringt. Der Tüll und die Spitzen, die an seiner Schulter hinstrichen, übertrugen ihm getreulich die köstliche Wärme dieses weißen nackten Rückens. War es eine Laune der Natur, daß diese beiden durch den guten Ton getrennten und durch die Abgründe des Todes geschiedenen Wesen im selben Takt atmeten und vielleicht aneinander dachten? Ein durchdringendes Aloeparfüm berauschte Raphael vollends. Seine Einbildungskraft, durch ein Hindernis gereizt und die ihr aufgezwungenen Fesseln bis ins Phantastische gesteigert, entwarf gedankenschnell in feurigen Linien das Bild einer Frau. Er wandte sich rasch um. Die Unbekannte, der es gewiß unangenehm war, mit einem Fremden in Berührung zu kommen, machte die gleiche Bewegung; ihre Gesichter, die derselbe Gedanke beseelte, verharrten einander unmittelbar gegenüber.
»Pauline!«
»Monsieur Raphael!«
Starr vor Staunen, sahen sie einander einen Augenblick lang schweigend an. Raphael sah Pauline in schlichter und geschmackvoller Toilette. Durch den Schleier, der ihren Busen keusch verhüllte, hätte ein scharfes Auge die lilienweiße Haut sehen und Formen erraten können, die jede Frau bewundern würde. Dazu bestach sie wie einst durch ihre jungfräuliche Bescheidenheit, ihre himmlische Unschuld, ihre anmutige Haltung. Der Stoff ihres Ärmels verriet das Zittern, welches sich von ihrem bebenden Herzen auf ihren Körper übertrug.
»Oh«, sagte sie, »kommen Sie morgen in das Hotel Saint-Quentin und holen Sie Ihre Papiere! Ich bin um zwölf Uhr dort. Seien Sie pünktlich!«
Sie stand rasch auf und entfernte sich. Raphael wollte Pauline folgen, fürchtete, sie zu kompromittieren, blieb, sah Fœdora an und fand sie häßlich; da er aber der Musik nicht mehr zu folgen vermochte, in dem Saal fast erstickte und das Herz ihm überströmte, stand er auf und fuhr nach Hause zurück.
»Jonathas«, sagte er zu seinem alten Diener, als er im Bett lag, »gib mir ein Tröpfchen LaudanumLaudanum: Opiumtinktur auf ein Stückchen Zucker und wecke mich morgen erst zwanzig Minuten vor zwölf Uhr.«
»Ich will von Pauline geliebt werden!« rief er am nächsten Tag und blickte mit unbeschreiblicher Angst auf den Talisman.
Das Leder bewegte sich nicht um ein Haarbreit, es sah aus, als hätte es seine Kraft, sich zusammenzuziehen, eingebüßt. Ohne Frage konnte es einen Wunsch, der schon erfüllt war, nicht noch einmal erfüllen.
»Ah!« rief Raphael. Er fühlte sich wie von einem bleiernen Mantel befreit, der seit dem Tage, an dem er den Talisman erhalten hatte, auf ihm lastete.
»Du lügst«, rief er aus, »du gehorchst mir nicht, der Pakt ist gebrochen! Ich bin frei, ich werde leben. Alles war nur ein schlechter Scherz.«
Während er diese Worte sprach, wagte er nicht, an seine eigenen Gedanken zu glauben. Er kleidete sich so einfach wie früher und ging zu Fuß in seine einstige Wohnung. Unterwegs versuchte er, sich in jene glücklichen Tage zurückzuversetzen, wo er sich gefahrlos seinen rasenden Begierden überlassen konnte, wo er noch nicht allen menschlichen Freuden abgeschworen hatte. So ging er seines Wegs, sah Pauline vor sich, nicht mehr die Pauline des Hotel Saint-Quentin, sondern die des vergangenen Abends, diese vollendete Geliebte, die er so oft erträumt hatte, ein kluges, liebevolles junges Mädchen, das künstlerisches Gefühl besaß, Dichter und Dichtung verstand und im Luxus lebte; mit einem Wort: Fœdora, nur mit einer schönen Seele begabt, oder Pauline als Comtesse und zweifache Millionärin, wie Fœdora es war. Als er auf der abgetretenen Schwelle stand, auf der zerbrochenen Fliese an dieser Tür, wo er so oft mit seinen verzweifelten Gedanken gestanden hatte, trat eine alte Frau aus dem Vorsaal und fragte ihn:
»Sind Sie nicht Monsieur Raphael de Valentin?«
»Jawohl, gute Frau«, antwortete er.
»Sie kennen Ihr altes Zimmer«, fuhr sie fort, »Sie werden dort erwartet.«
»Wird dieses Haus nicht mehr von Madame Gaudin geführt?« fragte Raphael.
»O nein, Monsieur, Madame Gaudin ist jetzt Baronin. Sie wohnt in einem schönen Haus, das ihr gehört, auf der anderen Seite des Flusses. Ihr Mann ist zurückgekehrt. Ja, sehen Sie, der hat einen schönen Batzen Geld mitgebracht. Die Leute sagen, sie könnte das ganze Quartier Saint-Jacques kaufen, wenn sie wollte. Sie hat mir die ganze Einrichtung und die restliche Pacht umsonst überlassen. Ja, sie ist eine gute Frau geblieben. Sie ist heute nicht stolzer, als sie gestern war.«
Raphael stieg langsam zu seiner Mansarde hinauf. Als er die letzten Treppenstufen erreichte, hörte er die Klänge des Klaviers. Pauline war da; sie trug ein einfaches Kattunkleid; aber der Schnitt des Kleides, die Handschuhe, der Hut, der Schal, nachlässig aufs Bett geworfen, sprachen von großem Reichtum. »Aber da sind Sie ja!« rief Pauline und wandte sich um. Sie sprang rasch auf und verhehlte ihre Freude nicht. Raphael setzte sich neben sie. Er war errötet, beschämt, glücklich. Er betrachtete sie, ohne ein Wort zu sagen.
»Warum haben Sie uns denn verlassen?« fragte sie, schlug die Augen nieder, und purpurne Röte überzog ihr Antlitz. »Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Ach, Pauline, ich war sehr unglücklich und bin es noch!«
»Ach!« rief sie bewegt; »ich habe Ihr Schicksal gestern abend geahnt. Ich sah, wie fein Sie gekleidet waren, wie reich Sie aussahen, aber in Wirklichkeit, nicht wahr, Monsieur Raphael, ist es immer noch wie früher?«
Valentin konnte die Tränen nicht zurückhalten, die aus seinen Augen rollten. »Pauline! . . .« rief er. »Ich . . .«
Er brach ab. Seine Augen strahlten vor Liebe, und sein ganzes Herz lag in seinen Blicken.
»Oh! Er liebt mich! Er liebt mich!« rief Pauline.
Raphael nickte stumm. Er fühlte sich außerstande, ein einziges Wort hervorzubringen. Bei dieser Bewegung ergriff das junge Mädchen seine Hand, drückte sie und sagte bald lachend, bald schluchzend: »Wir sind reich, reich, glücklich und reich! Deine Pauline ist reich! Aber heute müßte ich eigentlich sehr arm sein. Ich habe tausendmal gesagt, ich wollte für dieses Wort: »Er liebt mich!« alle Schätze der Erde geben. O mein Raphael! Ich besitze Millionen. Du liebst den Luxus, du sollst zufrieden sein; aber du mußt auch mein Herz lieben; es lebt soviel Liebe für dich darin! Du weißt es noch nicht? Mein Vater ist zurückgekommen. Ich bin eine reiche Erbin. Meine Mutter und er überlassen es mir, über mein Leben frei zu bestimmen; ich bin frei, verstehst du?«
Raphael war wie im Taumel; er hielt Paulines Hände und küßte sie so glühend, so gierig ungestüm, ja fast gewaltsam. Pauline machte ihre Hände frei, legte sie auf Raphaels Schultern und zog ihn an sich; sie umfingen, umarmten und küßten sich mit der heiligen, köstlichen Glut, die keinen anderen Gedanken kennt und die man in einem einzigen Kuß empfängt, im ersten Kuß, wenn zwei Seelen Besitz voneinander ergreifen.
»Ach!« rief Pauline und sank in den Stuhl zurück. »Ich will dich nie mehr verlassen. Ich weiß nicht, woher ich soviel Kühnheit nehme!« setzte sie errötend hinzu.
»Kühnheit, meine Pauline? Oh, fürchte nichts, das ist die Liebe, die wahre Liebe, so tief, so ewig wie die meine. Ist es nicht so?«
»Oh! sprich, sprich!« rief sie; »dein Mund war so lange stumm für mich!«
»Du liebtest mich also?«
»O Gott! ob ich dich liebte! Wie oft habe ich geweint, hier, wenn ich dein Zimmer aufräumte, wie oft habe ich dein und mein Elend beklagt. Ich hätte mich dem Teufel verschrieben, um dir einen Kummer zu ersparen! Heute ›mein Raphael‹ sagen zu dürfen. Ja, du bist mein; mein dieser schöne Kopf, mein dein Herz! O ja, dein Herz vor allem, ein unergründlicher Schatz! Nun, wo hielt ich vorhin inne?« fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Ja, siehst du, wir haben drei, vier, fünf Millionen, glaube ich. Wenn ich arm wäre, würde ich mir vielleicht wünschen, deinen Namen zu tragen, deine Frau genannt zu werden; jetzt aber möchte ich dir die ganze Welt opfern, möchte ich noch immer deine Magd sein und immer und ewig bleiben. Siehst du, Raphael, wenn ich dir heute mein Herz, meine Person, mein Vermögen darbringe, gebe ich dir nicht mehr als damals, als ich hier hinein« – sie zeigte auf die Tischlade – »ein gewisses 100-Sous-Stück schob. Oh! wie hat mir damals deine Freude weh getan!«
»Warum bist du reich?« rief Raphael. »Warum bist du nicht eitel? Ich kann nichts für dich tun!«
Er rang die Hände vor Glück, vor Verzweiflung, vor Liebe.
»Wenn du die Marquise de Valentin sein wirst, ich kenne dich, himmlisches Herz, werden dieser Titel und mein Vermögen dir nicht soviel wert sein . . .«
»Wie ein einziges Haar von dir!« rief sie.
»Auch ich habe Millionen; aber was ist jetzt für uns der Reichtum? Ach, ich habe mein Leben, das kann ich dir bieten, nimm es!«
»Oh, deine Liebe, Raphael, deine Liebe wiegt die Welt auf. Wie, dein Denken gehört mir? So bin ich die Glücklichste aller Glücklichen!«
»Man wird uns hören«, sagte Raphael.
»Ach, es ist kein Mensch da«, gab sie übermütig zurück.
»Dann komm!« rief Valentin und breitete die Arme aus.
Sie sprang auf seine Knie und umschlang Raphaels Hals.
»Küssen Sie mich«, sprach sie, »um des Kummers willen, den ich um Ihretwillen erlitt, um die Schmerzen zu tilgen, die Ihre Freuden mir zugefügt haben, um all der Nächte willen, die ich wach saß, um meine Lichtschirme zu bemalen . . .«
»Deine Schirme?«
»Da wir reich sind, mein Schatz, kann ich dir alles sagen. Armer Junge! wie leicht ist es doch, geistvolle Männer zu täuschen! Konntest du für drei Francs Waschgeld im Monat zweimal in der Woche weiße Westen und saubere Hemden haben? Trankst du nicht doppelt so viel Milch, als dir für dein Geld zukam? Ich führte dich in allem an: mit dem Feuer, dem Öl und auch mit dem Geld! Liebster Raphael, nimm mich nicht zur Frau, ich bin eine zu raffinierte Person.« Sie lachte.
»Aber wie hast du das nur gemacht?«
»Ich arbeitete bis zwei Uhr morgens und gab meiner Mutter die Hälfte des Erlöses für meine Lichtschirme und dir die andere Hälfte.«
Sie sahen sich an. Beide waren vor Glück und Liebe wie betäubt.
»Oh!« rief Raphael, »wir müssen sicher dieses Glück einmal mit einem furchtbaren Schmerz bezahlen.«
»Bist du verheiratet?« rief Pauline angstvoll; »oh, ich will dich keiner Frau überlassen.«
»Ich bin frei, mein Liebes.«
»Frei!« wiederholte sie; »frei und mein!«
Sie sank auf die Knie, faltete die Hände und sah Raphael mit inbrünstiger Glut an.
»Ich fürchte toll zu werden. Wie schön du bist!« fuhr sie fort und strich mit der Hand über das blonde Haar ihres Geliebten. »Ist sie dumm, deine Comtesse Fœdora! Wie freute ich mich gestern abend, als all diese Menschen mir huldigten! Sie ist nie so begrüßt worden, sie nicht! Denk doch, Lieber, als mein Rücken gestern deinen Arm berührte, hörte ich eine innere Stimme, die mir zurief: »Er ist da!« Ich habe mich umgedreht und sah dich. Oh, ich flüchtete, denn ich fühlte das Verlangen, dir vor aller Welt um den Hals zu fallen.«
»Wie glücklich du bist, daß du sprechen kannst!« rief Raphael. »Mir ist das Herz zugeschnürt. Ich möchte weinen und kann nicht. Zieh deine Hand nicht zurück. Mir ist, als ob ich mein Leben lang dich nur immer ansehen müßte, zufrieden und glücklich.«
»Oh, sag das noch einmal, Geliebter!«
»Ach, was sind Worte!« versetzte Valentin, und seine heißen Tränen fielen auf Paulines Hände. »Später will ich versuchen, dir von meiner Liebe zu sprechen; jetzt kann ich sie nur fühlen . . .«
»Oh!« rief sie, »diese schöne Seele, dieser große Geist, dieses Herz, das ich so gut kenne, das gehört alles mir, wie ich dir gehöre?«
»Für immer, du holdes Geschöpf«, sagte Raphael bewegt; »du wirst meine Frau sein, mein guter Engel. Deine Gegenwart hat immer meine Sorgen verscheucht und meine Seele erquickt; in diesem Augenblick hat mich dein himmlisches Lächeln gleichsam gereinigt. Mir ist, als beginne ich ein neues Leben. Die grausame Vergangenheit und meine traurigen Torheiten scheinen mir nur noch böse Träume zu sein. Ich bin rein, wenn ich bei dir bin. Ich spüre den Hauch des Glücks. O bleib immer bei mir!« Er drückte sie innig an sein schnell pochendes Herz.
»Nun mag der Tod kommen, wann er will«, rief Pauline verzückt, »ich habe gelebt!«
Glücklich, wer ihre Wonnen errät, er hat sie empfunden!
»Mein Raphael«, sagte Pauline nach Stunden des Schweigens, »ich wollte, kein Mensch käme je mehr in unsere liebe Mansarde.«
»Da muß die Tür vermauert und das Dachfenster vergittert werden; wir müssen das Haus kaufen«, versetzte der Marquis.
»Das ist das Rechte«, sagte sie. Einen Augenblick später fiel ihr ein: »Wir haben eigentlich vergessen, deine Manuskripte zu suchen!«
Sie fingen in süßer Unschuld zu lachen an.
»Bah! ich spotte aller Wissenschaft!« rief Raphael.
»Ah! Und wo ist der Herr, der nach dem Ruhm begehrte?«
»Du bist mein einziger Ruhm.«
»Du warst sehr unglücklich, als du diese kleinen Krähenfüße maltest«, sagte sie und blätterte in den Papieren.
»Meine Pauline . . .«
»O ja, ich bin deine Pauline. Nun?«
»Wo wohnst du eigentlich?«
»In der Rue Saint-Lazare. Und du?«
»Rue de Varennes.«
»Wie weit wir voneinander sind, bis . . .« Sie hielt inne und sah ihren Geliebten kokett und schelmisch an.
»Aber«, versetzte Raphael, »wir werden höchstens noch vierzehn Tage getrennt sein.«
»Wahrhaftig! In vierzehn Tagen sind wir Mann und Frau!« Sie sprang umher wie ein kleines Kind. »Oh!« fuhr sie dann fort, »ich bin ein entartetes Kind, ich denke nicht mehr an Vater und Mutter, noch sonstwas auf der Welt! Du weißt nicht, Liebster, daß mein Vater sehr krank ist. Er ist sehr leidend aus Indien zurückgekehrt. In Le Havre, wo wir ihn abgeholt haben, lag er auf den Tod darnieder. Mein Gott«, sie sah auf die Uhr, »es ist schon drei Uhr. Ich muß bei ihm sein, wenn er um vier Uhr aufwacht. Ich bin Herrin im Haus: meine Mutter tut, was ich will, und mein Vater betet mich an; aber ich will ihre Güte nicht mißbrauchen, das wäre nicht recht! Der arme Vater, er war es, der mich gestern in die Italienische Oper geschickt hat. Du besuchst ihn morgen, nicht wahr?«
»Wollen Madame la Marquise de Valentin mir die Ehre erweisen, meinen Arm zu nehmen?«
»Ach, ich will den Schlüssel zu dieser Kammer mitnehmen«, sagte sie. »Ist sie nicht ein Palast, diese holde Kammer?«
»Pauline, noch einen Kuß!«
»Tausend! Mein Gott«, sagte sie und sah Raphael ins Auge, »so soll es immer bleiben. Ich glaube zu träumen.«
Sie stiegen langsam die Treppe hinab; dann gingen sie einträchtig nebeneinander, in gleichem Schritt, in gleicher Glückseligkeit erbebend, eng aneinandergeschmiegt wie zwei Tauben, bis zur Place de la Sorbonne, wo Paulines Wagen wartete.
»Ich will mit zu dir fahren. Ich will dein Zimmer, dein Kabinett sehen und mich an den Tisch setzen, an dem du arbeitest. Dann wird es sein wie früher«, setzte sie errötend hinzu. – »Joseph«, befahl sie einem Diener, »ich fahre in die Rue de Varennes, ehe ich nach Hause zurückkehre. Es ist Viertel vier, und um vier muß ich zu Hause sein, Georges soll die Pferde antreiben.«
In wenigen Augenblicken waren die beiden Liebenden in Valentins Palast.
»Oh, wie gut, daß ich das alles gesehen habe!« rief Pauline und knüllte die Seide von Raphaels Bettvorhängen in ihrer Hand. »Wenn ich einschlafe, werde ich in Gedanken hier sein. Ich werde deinen lieben Kopf auf diesem Kissen vor mir sehen. Sage mir, Raphael, es hat dich niemand bei der Einrichtung deines Hauses beraten?«
»Ganz sicher? Hat gewiß keine Frau . . .«
»Pauline!«
»Oh, ich bin furchtbar eifersüchtig! Du hast einen guten Geschmack. Ich will morgen ebenso ein Bett haben wie deines.«
Raphael war trunken vor Glück, er umarmte Pauline.
»Oh, mein Vater, mein Vater!« rief sie.
»Ich will dich nach Hause begleiten; ich will so selten wie möglich ohne dich sein.«
»Wie du lieben kannst! Ich wagte es dir nicht vorzuschlagen . . .«
»Bist du denn nicht mein Leben?«
Es wäre ermüdend, all dieses entzückende Liebesgeplauder wortgetreu aufzuzeichnen, dem der Ton, der Blick, eine unbeschreibliche Gebärde allein Wert verleihen. Valentin begleitete Pauline bis zu ihrem Hause und kehrte dann zurück, das Herz voller Freude, wie der Mensch hienieden nur empfinden und ertragen kann. Als er in seinem Lehnstuhl am Kamin saß und an die plötzliche und völlige Erfüllung all seiner Hoffnungen dachte, drang ihm ein Gedanke in die Seele, eisig wie der Stahl eines Dolches, der die Brust durchbohrt; er sah nach dem Chagrinleder, es war etwas kleiner geworden. Er stieß den großen Lieblingsfluch der Franzosen ohne die jesuitischen Weglassungen der Äbtissin. . . die jesuitischen Weglassungen der Äbtissin: Anspielung auf eine Episode aus Sternes Roman ›Tristram Shandy‹, in der die Äbtissin die Todsünde zu mildern sucht, indem sie die Flüche nur zur Hälfte ausspricht. von Andouillettes aus, ließ den Kopf in den Stuhl zurücksinken und blieb reglos liegen; seine Augen waren auf eine Rosette gerichtet, aber er sah sie nicht.
»Großer Gott!« rief er aus. »Alle meine Wünsche, alle! Arme Pauline!«
Er nahm einen Zirkel und maß, wieviel Leben ihm der Vormittag gekostet hatte.
»Mir bleiben kaum noch zwei Monate!« stöhnte er.
Kalter Schweiß brach aus seinen Poren; dann gab er plötzlich einem unaussprechlichen Wutanfall nach, ergriff das Chagrinleder und rief: »Was bin ich für ein Narr!« Er eilte hinaus, lief durch die Gärten und warf das Leder in einen tiefen Brunnen. »Und nun komme, was mag!« rief er. »Zum Teufel mit all diesem Unsinn!«
Raphael überließ sich also dem Liebesglück und lebte Herz an Herz mit Pauline. Ihre Hochzeit, durch Schwierigkeiten verzögert, die zu erzählen sich nicht lohnt, sollte in den ersten Tagen des März gefeiert werden. Sie hatten sich geprüft, zweifelten nicht aneinander, und da das Glück ihnen die ganze Tiefe ihrer Neigung enthüllt hatte, waren nie zwei Herzen, zwei Naturen so völlig eins, wie sie es durch ihre Liebe waren. Je vertrauter sie einander wurden, desto mehr liebten sie sich, beide in gleicher Reinheit und gleicher Zartheit, gleicher Wollust, der süßesten Wollust, der Wollust der Engel; keine Wolke trübte ihren Himmel; die Wünsche des einen waren das Gesetz des anderen. Da sie alle beide reich waren, gab es für sie keine Launen, die sie nicht befriedigen konnten, und daher hatten sie überhaupt keine Launen. Ein erlesener Geschmack, Gefühl für das Schöne, wahre Poesie lebten in der Seele der Braut; sie verachtete den teuren Flitterputz der Frauen, und ein Lächeln ihres Geliebten schien ihr schöner als alle Perlen von Ormuz; Musselin und Blumen waren ihr reichster Schmuck. Pauline und Raphael flohen überdies die Welt, die Einsamkeit war für sie so hold, so freudenvoll! Die Müßiggänger sahen das schöne, heimliche Paar jeden Abend in der Italienischen oder der Großen Oper. Wenn auch anfangs allerlei übler Klatsch in den Salons verbreitet wurde, ließ der Strom der Ereignisse, der Paris durchflutete, zwei harmlose Liebesleute bald in Vergessenheit geraten; schließlich war es für die Prüden eine Art Entschuldigung, daß ihre Hochzeit angekündigt war, und da ihre Dienerschaft zufällig verschwiegen war, strafte sie keine zu scharfe Bosheit für ihr Glück.
Gegen Ende Februar, da schöne Tage schon die Freuden des Frühlings verhießen, frühstückten Pauline und Raphael eines Morgens zusammen in einem kleinen Gewächshaus, einer Art Salon voller Blumen, von dem aus man unmittelbar in den Garten gelangte. Die milde, blasse Wintersonne, deren Strahlen durch seltene Sträucher brachen, erwärmte bereits die Luft. Die Augen wurden durch die kräftigen Gegensätze des verschiedenen Laubwerks, durch die Farben der blühenden Blumenbüschel und durch die Spiele von Licht und Schatten erquickt. Während sich noch ganz Paris am tristen Kaminfeuer wärmte, lachten die beiden jungen Liebenden schon vergnügt unter einer Laube von Kamelien, Flieder und Erika. Ihre fröhlichen Gesichter tauchten aus Narzissen, Maiglöckchen und bengalischen Rosen hervor. In diesem üppigen und reichen Gewächshaus schritten die Füße auf einer afrikanischen Matte, bunt wie ein Teppich. Die mit festem grünen Stoff bespannten Wände ließen keinerlei Feuchtigkeit durch. Die Möbel waren allem Anschein nach aus rohem Holz gefertigt, dessen geglättete Rinde jedoch vor Sauberkeit glänzte. Ein junges Kätzchen hockte, vom Duft der Milch angelockt, auf dem Tisch und ließ sich von Pauline mit Kaffee besprenkeln; Pauline neckte es, zog ihm die Sahne weg, an der es gerade mal schnuppern durfte, um es in Geduld zu üben und das mutwillige Spiel fortzusetzen; sie brach bei jedem seiner possierlichen Bewegungen in Lachen aus und verfiel auf tausenderlei Scherze, um Raphael am Lesen der Zeitung zu hindern, die ihm wohl schon zehnmal aus den Händen gefallen war. Es lag in dieser Morgenszene eine Fülle unaussprechlichen Glücks, wie in allem, was natürlich und wahr ist. Raphael tat immer so, als läse er sein Blatt, beobachtete indes verstohlen Pauline bei ihren Neckereien mit der Katze, seine Pauline, in einen langen Morgenmantel gehüllt, der sie seinen Blicken nicht völlig verbarg, seine Pauline mit ihrem noch ungeordneten Haar und dem kleinen weißen, blaugeäderten Fuß, der in einem schwarzen Samtpantoffel steckte. In ihrem Négligé war sie entzückend anzusehen, köstlich wie die phantastischen Gestalten von Westall,Westall, Richard (1765-1836): englischer Zeichner und Aquarellist, Illustrator der Werke von Shakespeare und Milton schien sie Mädchen und Frau zugleich zu sein; mehr Mädchen vielleicht als Frau, genoß sie ein ungetrübtes Glück und kannte von der Liebe nur die ersten Wonnen. Kaum hatte Raphael über seiner süßen Träumerei seine Zeitung vergessen, als Pauline nach ihr griff, sie zusammenknüllte, eine Kugel aus ihr ballte und sie in den Garten warf; die Katze sprang der Politik hinterher, die sich wie immer um sich selbst drehte. Als Raphael, von dieser kindlichen Szene erheitert, seine Lektüre fortsetzen und das entschwundene Blatt aufheben wollte, brach frisches, fröhliches Lachen los, das wie der Gesang eines Vogels sich selbst immer von neuem erzeugt.
»Ich bin eifersüchtig auf die Zeitung«, sagte sie und trocknete die Tränen, die bei ihrem kindlichen Gelächter hervorgeschossen waren. »Ist es nicht ein frevelhafter Treubruch«, fuhr sie, plötzlich die Frau hervorkehrend, fort, »daß du in meiner Gegenwart russische Proklamationen liest und daß du die Prosa des Zaren Nikolaus meinen Worten und Blicken der Liebe vorziehst?«
»Ich habe nicht gelesen, geliebter Engel, ich habe dich angesehen.«
In diesem Augenblick hörte man den schweren Schritt des Gärtners herankommen, unter dessen nägelbeschlagenen Stiefeln der Sand der Gartenwege knirschte:
»Entschuldigen Sie, Monsieur le Marquis, wenn ich Sie und Madame störe, aber ich bringe ein Ding, das so seltsam ist, wie ich noch keins gesehen habe. Zieh ich doch eben, mit Respekt zu sagen, einen Eimer Wasser hoch und bringe da diese kuriose Wasserpflanze mit herauf! Hier ist sie! Das Ding muß ganz gut ans Wasser gewöhnt sein, denn es war gar nicht aufgeweicht und nicht einmal feucht. Trocken wie ein Stück Holz und dabei kein bißchen Fett dran. Monsieur le Marquis sind sicher gelehrter als ich, und da dachte ich, ich will es Ihnen bringen, das wird Sie interessieren.«
Damit zeigte der Gärtner Raphael das unerbittliche Chagrinleder, das keine sechs Zoll im Quadrat mehr maß.
»Danke, Vanière«, sagte Raphael; »das Ding ist sehr merkwürdig.«
»Was hast du, mein Engel? Du wirst blaß!« rief Pauline.
»Es ist gut. Gehen Sie, Vanière!«
»Deine Stimme ängstigt mich«, fing das junge Mädchen wieder an, »sie ist seltsam verändert. Was hast du? Wie fühlst du dich? Wo tut es dir weh? Dir ist nicht wohl! – Ein Arzt!« rief sie; »Jonathas, zu Hilfe!«
»Sei still, liebe Pauline!« erwiderte Raphael, der sich wieder gefaßt hatte; »wir wollen hinausgehen. Hier in der Nähe muß eine Blume sein, deren Duft mir Übelkeit erregt. Vielleicht ist es dieses Eisenkraut?«
Pauline stürzte sich auf den unschuldigen Strauch, riß ihn heraus und warf ihn in den Garten.
»O mein Alles!« rief sie, umschlang Raphael fest und stark wie ihre Liebe und bot ihm mit beseligender Hingabe ihre glühenden Lippen zum Kuß; »als ich dich erbleichen sah, wußte ich, daß ich dich nicht überleben würde: dein Leben ist mein Leben! Raphael, mein Raphael, leg deine Hand auf meinen Rücken! Ich spüre noch den frostigen Schauer dort, noch die Kälte. Deine Lippen glühen. Und deine Hand? . . . Sie ist eiskalt.«
»Närrisches Kind!« rief Raphael.
»Was soll diese Träne?« fragte sie. »Laß mich sie trinken.«
»O Pauline, Pauline, du liebst mich zu sehr!«
»Es geht etwas Außerordentliches mit dir vor, Raphael. Sag mir die Wahrheit, ich werde dein Geheimnis doch bald erfahren. Gib mir das!« Damit griff sie nach dem Chagrinleder.
»Du bist mein Henker!« rief der junge Mann und warf einen grauenvollen Blick auf den Talisman.
»Wie verändert deine Stimme ist!« erwiderte Pauline und ließ den verhängnisvollen Schicksalskünder fallen.
»Hast du mich lieb?« fragte er.
»Ob ich dich liebe, ist das eine Frage?«
»Nun, dann laß mich, geh!«
Das arme Kind ging.
»Wie!« rief Raphael, als er allein war, »in einem Jahrhundert der Aufklärung, da wir gelernt haben, daß die Diamanten Kristalle des Kohlenstoffs sind, in einer Zeit, da alles eine Erklärung findet, da die Polizei einen neuen Messias vor Gericht stellen und seine Wunder von der Akademie der Wissenschaften prüfen lassen würde, in einer Zeit, da wir an nichts mehr glauben als an die Unterschrift der Notare, da sollte ausgerechnet ich! an eine Art MenetekelMenetekel: Mene Tekel Upharsin; die im Buch Daniel von Geisterhand an die Wand geschriebenen Flammenworte, die dem König Belsazar seinen nahen Sturz verkündeten glauben? Nein, bei Gott! ich will nicht denken, daß das höchste Wesen Vergnügen daran finden kann, ein ehrliches Geschöpf zu martern. Ich will die Gelehrten befragen.«
So war er denn bald zwischen der Weinhalle, diesem ungeheuren Lager von Fässern, und der Salpêtriêre,Salpêtrière, Hospice de la: 1656 gegründetes ehemaliges Pariser Armenhaus für alte Frauen mit einer Heilstätte für Geisteskranke dieser ungeheuren Pflanzstätte der Trunksucht, vor einem kleinen Teich angekommen, auf dem sich Enten tummelten, die durch die Seltenheit ihrer Arten bemerkenswert waren und deren schillerndes Federkleid bunt wie die Glasfenster eines Doms in der Sonne funkelte. Es waren da alle Enten der Welt, und sie quakten, schnatterten, wimmelten durcheinander und bildeten eine Art wider Willen einberufenes Entenparlament, zum Glück aber ohne Charta und politische Prinzipien. Sie lebten da, ohne sich vor Jägern fürchten zu müssen, unter den Augen der Naturforscher, die sie gelegentlich betrachteten.
»Da ist Monsieur Lavrille«, sagte einer der Wärter zu Raphael, der nach diesem Hohepriester der Zoologie gefragt hatte.
Der Marquis sah ein kleines Männchen, das beim Anblick zweier Enten tief in weise Betrachtungen versunken schien. Der Gelehrte stand in mittleren Jahren und hatte ein sanftes Gesicht, das durch seine entgegenkommende Miene noch gewann; aber aus seiner ganzen Erscheinung sprach die Zerstreutheit eines Gelehrten: seine Perücke, an der er sich unablässig kratzte, war abenteuerlich auf den Kopf gestülpt, ließ einen Kranz weißer Haare sehen und zeugte von einer Entdeckerwut, die uns, wie alle Leidenschaften, den Dingen dieser Welt so weit entrückt, daß wir das Bewußtsein des eigenen Ichs verlieren. Raphael bewunderte als Mann der Wissenschaft und der Forschung diesen Naturforscher, dessen Nächte der Erweiterung der menschlichen Kenntnisse gewidmet waren und dessen Irrtümer sogar noch Frankreich zum Ruhm gereichten; aber ein Modedämchen hätte ohne Zweifel über die Lücke gelacht, die sich zwischen der Hose und der gestreiften Weste des Gelehrten auftat, obwohl dieser Zwischenraum recht sittsam durch ein Hemd ausgefüllt war, das durch das Bücken und Wiederaufrichten während seiner zoogenetischen Beobachtungen einen reichen Faltenwurf bekommen hatte.
Nach den ersten Höflichkeitsfloskeln hielt Raphael es für nötig, Monsieur Lavrille ein Kompliment über seine Enten zu machen.
»O ja, an Enten sind wir reich«, erwiderte der Naturforscher; »diese Gattung ist übrigens, wie Ihnen sicher bekannt ist, die fruchtbarste in der Ordnung der Schwimmvögel: Sie beginnt beim Schwan und endet bei der Zinzinente und umfaßt 137 verschiedene Arten, die alle einen eigenen Namen, eigene Gewohnheiten, eine eigene Heimat und ein eigenes Aussehen haben und einander nicht ähnlicher sind als ein Weißer und ein Neger. Sie können versichert sein, Monsieur, daß wir, wenn wir eine Ente essen, meistens gar nicht ahnen, wie ausgedehnt . . .«
Er unterbrach sich, als er eine reizende kleine Ente sah, welche die Böschung des Teiches heraufwatschelte.
»Da ist die Krawattenente, das arme Kind aus Kanada hat so weit herkommen müssen, um uns sein graubraunes Gefieder und seine kleine schwarze Krawatte zu zeigen. Sehen Sie, wie es sich kratzt. Da ist die berühmte Eiderente, auf deren Daunen unsere feinen Damen schlafen; wie hübsch sie ist! Muß nicht jeder diesen niedlichen rötlichweißen Leib, diesen grünen Schnabel bewundern? Eben gerade, Monsieur, war ich Zeuge einer Paarung, die ich bislang kaum erhoffte. Die Hochzeit ist recht glücklich vonstatten gegangen, und ich warte ungeduldig auf das Ergebnis. Ich schmeichle mir, eine 138ste Art zu züchten, die vielleicht meinen Namen erhalten wird. Sehen Sie, da haben wir die Neuvermählten!« Damit deutete er auf zwei Enten. »Die eine ist eine Lachgans (anas albifrons), die andere die große Pfeifente (anas ruffina Buffon). Ich habe lange zwischen der Pfeifente, der Ente mit den weißen Augenlidern und der Löffelente (anas clypeata) geschwankt. Sehen Sie, da ist die Löffelente, der dicke schwarzbraune Schlingel mit dem grünlichen Hals, der so reizend irisiert. Aber die Pfeifente, Monsieur, hat eine prächtige Haube, da werden Sie begreifen, daß ich nicht mehr geschwankt habe. Es fehlt uns hier nur noch die Entenvarietät mit der schwarzen Kappe. Die Herren Zoologen behaupten einstimmig, diese Ente sei nur eine Spielart der krummschnabeligen Knäkente; aber ich für mein Teil . . .«
Er machte eine bewunderswerte Handbewegung, in der zugleich die Bescheidenheit und der Stolz des Gelehrten lagen; ein eigensinniger Stolz und eine dünkelhafte Bescheidenheit.
»Ich allerdings glaube das nicht«, fuhr er fort. »Sie sehen, Monsieur, wir sind nicht zu unserem Vergnügen hier. Ich beschäftige mich zur Zeit mit der Monographie der Entengattung. Aber womit kann ich Ihnen dienen?«
Auf dem Weg zu einem recht hübschen Haus in der Rue de BuffonBuffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de (1707-1788): französischer Naturforscher und Schriftsteller trug Raphael Monsieur Lavrille sein Anliegen vor, das Chagrinleder zu untersuchen.
»Ich kenne dieses Produkt«, sagte der Gelehrte endlich, nachdem er den Talisman mit der Lupe genau betrachtet hatte; »es hat einmal irgendwie als Schachteldeckel gedient. Das Chagrinleder ist sehr alt! Heutzutage ziehen die Futteralmacher ein Chagrin vor, der nach seinem Erfinder Galuchat genannt wird. Dieser wird, wie Sie zweifellos wissen, aus der Haut des »raja sephen« gewonnen, eines Fisches, der im Roten Meer . . .«
»Aber das Stück hier, wenn Sie die Güte haben wollten . . .«
»Das«, unterbrach ihn der Gelehrte, »ist ganz etwas anderes; der Unterschied zwischen dem GaluchatGaluchat: musivartiges Chagrin aus der Haut des Hundshais oder Rochens, nach seinem Erfinder Galluchat genannt und dem Chagrin ist so groß wie zwischen Ozean und Land, zwischen Fisch und Vierfüßer. Die Haut des Fisches ist härter als die des Landtieres. Das«, damit deutete er auf den Talisman, »ist, wie Sie fraglos wissen, eins der seltsamsten Produkte der Zoologie.«
»Wirklich?« rief Raphael.
»Ja«, erwiderte der Gelehrte und ließ sich in seinen Lehnstuhl sinken, »es ist eine Eselshaut.«
»Das weiß ich«, erwiderte der junge Mann.
»Es gibt in Persien«, fuhr der Naturforscher fort, »einen überaus seltenen Esel, den Onager der Alten, equus asinus, den Kulan der Tataren. Pallas ist hingereist, hat ihn beobachtet und der Wissenschaft wiedergegeben. Dieses Tier hat tatsächlich lange als Fabeltier gegolten. Es ist, wie Sie wissen, durch die Heilige Schrift bekannt; Moses hatte verboten, es mit anderen Arten seiner Gattung zu kreuzen. Aber der Onager ist noch berühmter durch die Abgötterei, die mit ihm getrieben wurde, von der die Propheten oft sprechen. Pallas erklärt, wie Sie ohne Zweifel wissen, in seinen Act. Petrop. Band II, daß diese abnormen Ausschweifungen noch bei den Persern und den nogaischen Tataren zu den religiösen Gebräuchen gehören; sie gelten als unübertreffliches Heilmittel gegen Nierenkrankheiten und Hüftweh. Von solchen Dingen haben wir armen Pariser gar keine Ahnung! Das Museum besitzt keinen Onager. Ein wunderbares Tier! Es steckt voller Geheimnisse; sein Auge ist von einer reflektierenden Haut überzogen, der die Orientalen eine bannende Kraft zuschreiben; sein Fell ist geschmeidiger und glatter als das unserer schönsten Pferde, mit mehr oder weniger hellen falben Streifen und gleicht dem des Zebras. Das Haar hat etwas Molliges, Welliges und fühlt sich fettig an. Sein Blick gleicht an Genauigkeit und Schärfe dem des Menschen. Er ist etwas größer als unsere schönsten Hausesel und hat einen außergewöhnlichen Mut. Wenn er zufällig angefallen wird, wehrt er sich gegen die gefährlichsten Raubtiere mit erstaunlicher Überlegenheit. Die Schnelligkeit seines Galopps kann nur mit dem Flug der Vögel verglichen werden. Ein Onager, Monsieur, würde die besten arabischen und persischen Pferde hinter sich lassen. Den Beschreibungen zufolge, die der Vater des gewissenhaften Dr. Niebuhr . . .der Vater des gewissenhaften Dr. Niebuhr: Karsten Niebuhr (1733-1815) unternahm von 1761 bis 1767 im Auftrag der dänischen Regierung eine Forschungsreise in den Orient. Seine Reisebeschreibungen galten lange Zeit als Grundlagenwerk. Das Hauptwerk seines Sohnes Barthold Georg Niebuhr (1776-1831), Staatsmann und Historiker, ist eine 1811 erschienene ›Römische Geschichte‹. veröffentlicht hat, dessen Verlust wir, wie Sie wissen, seit kurzem beklagen müssen, beträgt die durchschnittliche Geschwindigkeit dieser prächtigen Tiere 7000 Feldmesserschritte7000 Feldmesserschritte entsprechen 11,340 km in der Stunde. Unsere degenerierten Esel können uns von diesem unabhängigen, stolzen Esel gar keine Vorstellung geben. Er hat eine anmutige, lebendige Haltung, einen klugen und verständigen Blick, eine gefällige Erscheinung und überaus zierliche Bewegungen. Er ist der König des Tierreichs im Orient. Die abergläubischen Vorstellungen der Türken und Perser schreiben ihm sogar eine geheimnisvolle Abstammung zu, und der Name Salomos kommt in den Berichten vor, welche in Tibet und der Tatarei von den Heldentaten dieser edlen Tiere erzählen. Ein gezähmter Onager kostet enorme Summen; es ist fast unmöglich, ihn in den Bergen zu fangen, wo er wie ein Reh davonsetzt und wie ein Vogel zu fliegen scheint. Die Sage von den geflügelten Pferden, von unserem Pegasus, hat ihren Ursprung ohne Zweifel in den Ländern, wo Hirten oft einen Wildesel im Sprung von einem Felsen zum anderen beobachten konnten. Die Reitesel, die man in Persien aus der Paarung einer Eselin mit einem gezähmten Onager erlangt, werden nach einer uralten Tradition rot bemalt. Dieser Brauch hat vielleicht zu unserer Redewendung: ›Störrisch wie ein roter Esel‹ Veranlassung gegeben. In einer Zeit, wo die Naturgeschichte in Frankreich sehr im argen lag, wird, so denke ich mir, ein Reisender eins dieser seltsamen Tiere, welche die Sklaverei nur widerwillig ertragen, in unser Land gebracht haben. Daher diese Redensart. Die Haut, die Sie mir hier zeigen, ist die Haut eines Onager. Über den Ursprung des Namens gehen unsere Meinungen auseinander. Die einen behaupten, ›Chagri‹ sei ein türkisches Wort, andere geben an, ›Chagri‹ sei die Stadt, in der diese Tierhaut einer chemischen Prozedur unterworfen werde, die PallasPallas, Peter Simon (1741-1811): deutscher Naturforscher; unternahm im Dienst der Kaiserin Katharina II. Expeditionen in den östlichen und südlichen Teil des russischen Reiches. Seine Werke enthalten seine umfassenden wissenschaftlichen Beobachtungen recht gut beschrieben hat und die ihm jene eigenartig genarbte Oberfläche verleiht, die wir so schätzen; Monsieur Martellens hat mir geschrieben, Châagri sei ein Bach.«
»Ich danke Ihnen sehr, daß Sie mir Aufschlüsse gegeben haben, die einem Dom CalmetDom Calmet, Augustin (1672-1757): Lothringischer Gelehrter des Benediktinerordens, Verfasser eines Bibellexikons, von Bibelkommentaren und kirchenhistorischen Werken sowie einer Geschichte Lothringens Stoff zu einer trefflichen Anmerkung geben könnten, wenn die Benediktiner noch existierten; aber ich hatte mir mitzuteilen erlaubt, daß dieses Stück ursprünglich so groß war . . . wie diese Landkarte«, sagte Raphael und wies auf einen aufgeschlagen daliegenden Atlas, »seit drei Monaten aber hat es sich unverkennbar zusammengezogen . . .«
»Schön«, erwiderte der Gelehrte, »ich verstehe. Monsieur, jede abgezogene Haut, die von einem Lebewesen stammt, ist, wie leicht zu begreifen, einem natürlichen Verfall ausgesetzt, dessen Fortschreiten von atmosphärischen Einflüssen abhängt. Selbst die Metalle dehnen sich aus und ziehen sich zusammen, und zwar sehr merklich; die Ingenieure zum Beispiel haben ziemlich beträchtliche Lücken zwischen Steinblöcken festgestellt, die ursprünglich von Eisenklammern zusammengehalten wurden. Die Wissenschaft ist lang, und unser Leben ist kurz. So können wir nicht den Anspruch erheben, alle Erscheinungen der Natur zu kennen.«
»Monsieur«, sagte Raphael in einiger Verwirrung, »gestatten Sie, daß ich noch eine sonderbare Frage stelle. Sind Sie ganz sicher, daß dieses Stück Leder den allgemeinen Gesetzen der Natur unterworfen ist; daß es sich ausdehnen läßt?«
»Oh, kein Zweifel! Donnerwetter!« rief Monsieur Lavrille bei seinem Versuch, den Talisman zu strecken: »Nun Monsieur, vielleicht suchen Sie einmal Planchette auf, den berühmten Professor der Mechanik, er wird sicher ein Mittel finden, auf dieses Leder zu wirken, es geschmeidig zu machen und zu dehnen.«
»Ich danke Ihnen, Monsieur, Sie retten mir das Leben!«
Raphael verabschiedete sich von dem gelehrten Naturforscher, eilte zu Planchette und ließ den guten Lavrille in seinem Arbeitskabinett zurück, inmitten all der Glasflaschen und getrockneten Pflanzen. Ohne es zu wissen, hatte er bei seinem Besuch die ganze menschliche Wissenschaft mit auf den Weg bekommen: ein Namenverzeichnis! Der wackere Lavrille ähnelte Sancho Pansa, wie er Don Quijote die Geschichte der Ziegen erzählte; er fand Vergnügen daran, Tiere zu zählen und zu numerieren. Er stand nun am Rande des Grabes und kannte kaum einen kleinen Teil aus der unermeßlichen Zahl der großen Herde, die Gott, wir wissen nicht wozu, über den Ozean der Welten verteilt hat. Raphael war zufrieden. »Ich werde meinen Esel im Zaume halten!« rief er. Sterne hatte vor ihm gesagt: »Wer alt werden will, muß seinen Esel schonen«. Aber das Vieh ist so störrisch.
Planchette war groß und hager, ein richtiger Dichter, der immer in Betrachtung eines unermeßlichen Abgrundes, der Bewegung nämlich, versunken war. Gewöhnliche Menschen halten diese erhabenen Geister, diese Unverstandenen, die bewundernswert unbekümmert um Luxus und weltliches Treiben leben, die ganze Tage lang an einem ausgegangenen Zigarrenstummel kauen und einen Salon betreten, ohne die Knöpfe ihres Anzugs in die geziemende Verbindung mit den Knopflöchern gebracht zu haben, für eine Art Verrückte. Eines Tages haben sie, nachdem sie lange die Leere gemessen oder Reihen von X unter Aa-gG gesetzt haben, irgendein Naturgesetz analysiert und ein simples Prinzip zerlegt; auf einmal staunt die Menge über eine neue Maschine oder irgendeinen Karren, dessen einfache Konstruktion uns erstaunt und verblüfft. Der bescheidene Gelehrte lächelt und sagt zu seinen Bewunderern: »Was habe ich denn Neues hervorgebracht? Nichts. Der Mensch kann keine Kraft erfinden, er lenkt sie, und die Wissenschaft besteht darin, die Natur nachzuahmen.«
Raphael fand den Mechaniker so starr und steif dastehend, daß er einem Gehenkten glich, der geradewegs vom Galgen gefallen ist. Planchette beobachtete eine Achatmurmel, die auf einer Sonnenuhr rollte und wartete darauf, daß sie stehenbliebe. Der Ärmste hatte weder einen Orden noch ein Ehrengehalt; er verstand es nicht, seine Berechnungen effektvoll publik zu machen. Er war glücklich zu leben, einer Entdeckung auf der Spur zu sein, und dachte dabei weder an den Ruhm noch an die Welt, noch an sich selbst. Er lebte in der Wissenschaft und für die Wissenschaft.
»Das ist unerklärlich!« rief er. »Ah, Monsieur«, unterbrach er sich, als er Raphael bemerkte, »Ihr ergebener Diener. Wie geht's der Mama? Treten Sie nur bei meiner Frau ein.«
»So hätte ich auch leben können!« dachte Raphael. Er entriß den Gelehrten seinen Träumen, indem er ihm den Talisman zeigte und ihm die Frage vorlegte, wie man auf ihn einwirken könnte. »Sie mögen über meine Leichtgläubigkeit lachen, Monsieur«, sprach der Marquis abschließend, »ich will Ihnen nichts verhehlen. Dieses Stück Leder scheint mir eine Widerstandskraft zu besitzen, die nichts zu zwingen vermag.«
»Verehrter«, antwortete nun Planchette, »die Menschen der Gesellschaft pflegen die Wissenschaft gemeinhin recht von obenherab zu behandeln, und ungefähr sagen sie uns alle das, was ein Stutzer, der nach der Sonnenfinsternis mit ein paar Damen zu LalandeLalande, Joseph-Jérôme Lefrançois de (1732-1807): französischer Astronom. Seine ›Bibliographie astronomique‹ (1804) umfaßt das astronomische Wissen seiner Zeit kam, zu ihm sagte: »Wollen Sie so freundlich sein, die Sache zu wiederholen.« Welche Wirkung wollen Sie erzielen? Die Mechanik hat die Aufgabe, die Gesetze der Bewegung entweder anzuwenden oder sie unwirksam zu machen. Was die Bewegung an sich angeht, so erkläre ich Ihnen in aller Bescheidenheit, daß wir nicht imstande sind, sie zu definieren. Das dahingestellt, haben wir einige gleichbleibende Erscheinungen beobachtet, welche die Bewegung der festen und flüssigen Körper fortsetzen, ihnen eine Antriebskraft im Verhältnis zu einer bestimmten Geschwindigkeit verleihen, sie fortschleudern, sie einfach oder ins Unendliche teilen, dadurch daß wir sie zerbrechen oder pulverisieren; wir können sie ferner drehen, sie rotieren lassen, sie verändern, zusammendrücken, dehnen, strecken. Diese ganze Wissenschaft beruht auf einer einzigen Tatsache. Sie sehen diese Kugel. Sie befindet sich auf diesem Stein. Jetzt ist sie hier. Wie nennen wir diesen Akt, der physisch so natürlich und geistig so außergewöhnlich ist? Bewegung, Ortswechsel, Ortsveränderung? Welch ungeheurer Dünkel steckt in den Worten! Ist ein Name denn eine Lösung? Und trotzdem beruht darauf die ganze Wissenschaft. Unsere Maschinen wenden diesen Vorgang, diese Tatsache an oder neutralisieren sie. Wird dieses unscheinbare Phänomen auf große Massen übertragen, kann ganz Paris in die Luft fliegen. Wir können die Geschwindigkeit auf Kosten der Kraft oder die Kraft auf Kosten der Geschwindigkeit vermehren. Was ist Kraft, und was ist Geschwindigkeit? Unsere Wissenschaft ist unfähig, das zu sagen, so wie sie unfähig ist, eine Bewegung hervorzubringen. Eine Bewegung, wie sie auch beschaffen sein mag, ist eine ungeheure Kraft, und der Mensch erfindet keine Kraft. Die Kraft ist ein Ganzes wie die Bewegung; sie ist das Wesen der Kraft. Alles ist Bewegung. Der Tod ist eine Bewegung, deren Grenzen uns wenig bekannt sind. Wenn Gott ewig ist, dann ist er, das dürfen Sie glauben, immer in Bewegung. Vielleicht ist Gott die Bewegung. Darum ist die Bewegung wie er unerklärlich, wie er unergründlich, grenzenlos, unfaßbar und ungreifbar. Wer hat je die Bewegung berührt, erfaßt, gemessen? Wir spüren ihre Wirkung, ohne sie zu sehen. Wir können sie sogar leugnen, wie wir Gott leugnen. Wo ist sie? Wo ist sie nicht? Wo beginnt sie? Wo ist ihr Ursprung? Wo ist ihr Ende? Sie umgibt uns, drängt uns und entweicht uns. Sie ist klar wie eine Tatsache, dunkel wie eine Abstraktion, ist Ursache und Wirkung in einem. Sie braucht wie wir den Raum, und was ist der Raum? Die Bewegung allein erklärt ihn uns; ohne die Bewegung ist er nichts mehr als ein leeres Wort ohne Sinn. Die Bewegung ist wie der leere Raum, wie die Schöpfung, wie das Unendliche ein unlösbares Problem, sie verwirrt das menschliche Denken, und alles, was der Mensch zu begreifen vermag, ist, daß er sie niemals begreifen wird. Zwischen jedem der Punkte, die diese Kugel nacheinander im Raum einnimmt, klafft für die menschliche Vernunft ein Abgrund, der Abgrund, in den Pascal gestürzt ist. Um nun auf den unbekannten Stoff, den Sie einer unbekannten Kraft unterwerfen wollen, einzuwirken, müssen wir zuerst diesen Stoff untersuchen; nach seiner Natur wird er entweder unter einem Stoß zerbrechen oder wird ihm widerstehen; wenn er in Stücke bricht und es nicht in Ihrer Absicht liegt, ihn zu teilen, so können wir das gesetzte Ziel nicht erreichen. Wollen Sie ihn komprimieren, so muß auf alle Teile des Stoffes eine gleiche Bewegung derart übertragen werden, daß der Raum zwischen den Teilen gleichmäßig vermindert wird. Wollen Sie ihn ausdehnen, so müssen wir versuchen, auf jedes Molekül eine gleiche exzentrische Kraft auszuüben; denn ohne genaue Anwendung dieses Gesetzes würden wir den Zusammenhang des Stoffes vernichten. Sie müssen bedenken, die Bewegung kennt unendliche Modalitäten, zahllose Kombinationen. Zu welcher Wirkung wollen Sie sich entschließen?«
»Monsieur«, versetzte Raphael ungeduldig, »ich wünsche irgendeinen Druck, der stark genug ist, um dieses Leder beliebig zu dehnen . . .«
»Da die Substanz nicht beliebig groß, sondern begrenzt ist«, erwiderte der Mathematiker, »kann sie nicht beliebig oder unbegrenzt gedehnt werden; der Druck wird mit Notwendigkeit den Umfang auf Kosten der Dicke vergrößern; die Substanz wird dünner werden, bis es an Materie zu fehlen beginnt . . .«
»Wenn Sie dieses Resultat erreichen«, rief Raphael, »so haben Sie Millionen verdient!«
»Ich würde Ihnen Ihr Geld stehlen«, erwiderte der Professor mit dem Phlegma eines Holländers. »Ich will Ihnen mit zwei Worten eine Maschine beschreiben, unter der sogar Gott selber wie eine Fliege zerquetscht würde. Sie ist imstande, einen Menschen samt Stiefeln, Sporen, Krawatte, Hut, Geld, Schmuck, kurz, mit allem in ein Blatt Löschpapier zu verwandeln . . .«
»Was für eine furchtbare Maschine!«
»Anstatt ihre Kinder ins Wasser zu werfen, sollten die Chinesen sie sich lieber auf diese Weise nutzbar machen«, fuhr der Gelehrte fort, ohne daran zu denken, daß ein Mensch seinen Nachkommen eine gewisse Achtung zollen sollte.
Planchette war ganz von seiner Idee erfüllt, nahm einen leeren Blumentopf, der ein Loch im Boden hatte, und stellte ihn auf die Scheibe der Sonnenuhr; dann holte er aus einem Winkel des Gartens etwas Ton. Raphael stand gespannt da wie ein Kind, dem seine Amme ein Märchen erzählt. Planchette legte seinen Ton auf die Scheibe, zog dann ein Gartenmesser aus der Tasche, schnitt zwei Holunderzweige ab und begann, das Mark herauszudrücken, dabei pfiff er vor sich hin, als ob Raphael gar nicht da wäre.
»Da haben wir die einzelnen Bestandteile der Maschine«, sagte er.
Mit Hilfe eines aus dem Ton geformten Knies befestigte er eine der Holzröhren am Boden des Topfes, so daß die Öffnung des Holunders mit dem Loch des Topfes verbunden war. Es sah wie eine unförmige Pfeife aus. Auf der Scheibe breitete er eine Schicht des Tons aus, daß die Form einer Schaufel entstand, setzte den Blumentopf auf den breitesten Teil und drückte den Holunderzweig auf dem Teil, der den Griff vorstellte, fest. Schließlich klebte er etwas Ton um das äußere Ende des Holunderrohrs, steckte den zweiten hohlen Zweig aufrecht hinein, formte den Ton zu einem zweiten Kniestück, das ihn mit dem horizontalen Zweig verband, so daß die Luft oder eine beliebige Flüssigkeit in dieser improvisierten Maschine von der Mündung des vertikalen Rohres durch den Verbindungskanal bis zu dem leeren Blumentopf fließen konnte.
»Dieser Apparat, Monsieur«, sagte er nun zu Raphael mit dem Ernst eines Akademikers, der seine Antrittsvorlesung hält, »ist eine der wunderbarsten Erfindungen des großen Pascal.«
»Ich verstehe nicht.«
Der Gelehrte lächelte. Er nahm von einem Obstbaum ein Fläschchen, in der sein Apotheker ihm eine Flüssigkeit zum Fangen der Ameisen geschickt hatte; er schlug den Boden ab, so daß ein Trichter entstand, hielt ihn sorgfältig auf die Öffnung des hohlen Zweiges, den er vertikal gegenüber dem großen Reservoir, das der Blumentopf bildete, in den Ton gesteckt hatte; dann goß er aus einer Gießkanne so viel Wasser in den Trichter, daß es in dem großen Topf und in dem kleinen kreisrunden Mundstück des Holunderzweiges gleich hoch stand. Raphael dachte an sein Chagrinleder.
»Das Wasser«, dozierte der Mechaniker, »gilt heute noch als ein Körper, der nicht komprimiert werden kann; beachten Sie dieses fundamentale Prinzip; es kann allerdings komprimiert werden, aber nur so gering, daß wir seine Kontraktionsfähigkeit gleich Null setzen dürfen. Sehen Sie die Oberfläche des Wassers, das in den Blumentopf gelangt ist?«
»Ja, Monsieur«.
»Nun nehmen Sie an, diese Oberfläche wäre tausendmal größer als das Mundstück des Holunderrohrs, durch das ich die Flüssigkeit eingegossen habe. Sehen Sie, ich nehme den Trichter weg.«
»Ganz recht.«
»Wenn ich nun irgendwie das Volumen dieser Masse vergrößere, indem ich durch das Mundstück des kleinen Rohrs noch Wasser einführe, so wird die Flüssigkeit darin hinuntergetrieben und in dem Reservoir, das der Blumentopf bildet, steigen, bis die Flüssigkeit in beiden gleich hoch steht . . .«
»Das ist einleuchtend!« rief Raphael.
»Aber der Unterschied ist der«, fuhr der Gelehrte fort, »daß, wenn die dünne Wassersäule, die in das kleine Vertikalrohr eingeführt wird, dort eine Kraft darstellt, die beispielsweise etwa dem Gewicht eines Pfundes entspricht, daß sich dann in dem Blumentopf, da die Leistung des Wassers sich getreu auf die flüssige Masse überträgt und auf alle Punkte der Wasseroberfläche im Blumentopf einwirkt, tausend Wassersäulen befinden, die alle die Tendenz haben, zu steigen, als wären sie von einer Kraft getrieben, die derjenigen gleich ist, welche die Flüssigkeit in dem vertikalen Holunderzweig herabtreibt, und also mit Notwendigkeit hier« – er deutete auf die Öffnung des Blumentopfes – »eine Leistung hervorbringen, die tausendmal beträchtlicher ist als die Leistung, die da eingeführt wird.« Der Gelehrte wies dabei mit dem Finger auf die Holzröhre, die senkrecht in dem Ton befestigt war.
»Das ist ganz einfach«, meinte Raphael.
Planchette lächelte.
»Mit anderen Worten«, fuhr er mit der hartnäckigen Logik, die den Mathematikern eigen ist, fort, »müßte man, wenn man dem Anprall des Wassers Widerstand leisten wollte, auf jeden Teil der großen Oberfläche eine Kraft wirken lassen, die der in der vertikalen Röhre gleich ist; nur von dem Unterschied abgesehen, daß, wenn die flüssige Säule hier einen Fuß hoch ist, die tausend kleinen Säulen der großen Oberfläche nur um ein Geringes ansteigen werden. Jetzt aber« – damit stieß Planchette seine Holunderstöckchen verächtlich zur Seite – »denken wir uns diesen komischen kleinen Apparat durch Metallrohre von genügender Stärke und Länge ersetzt. Bedecken wir nun die flüssige Oberfläche des großen Reservoirs mit einer starken beweglichen Platte, setzen wir ihr eine andere, deren Widerstandskraft und Festigkeit erprobt ist, entgegen, verschaffen wir uns ferner die Möglichkeit, der flüssigen Masse durch das kleine Vertikalrohr fortgesetzt Wasser hinzuzufügen, so muß der Gegenstand zwischen den beiden festen Platten notwendigerweise dem ungeheuren Druck, der unaufhörlich auf ihn ausgeübt wird, nachgeben. Das Mittel, durch das kleine Rohr fortwährend Wasser zuzuführen, ist für die Mechanik ein Kinderspiel, ebenso das Verfahren, den Druck der flüssigen Masse auf eine Platte zu übertragen. Zwei Kolben und ein paar Ventile genügen. Verstehen Sie nun, Verehrtester« – damit faßte er Valentin am Arm –, »daß es kaum einen Stoff geben kann, der, wenn man ihn zwischen diese beiden unaufhörlichen Widerstände bringt, sich nicht zwangsläufig ausdehnen müßte.« – »Wie, der Verfasser der ›Lettres provinciales‹ hat das erfunden?« rief Raphael.
»Er allein, Monsieur. Die Mechanik kennt nichts Einfacheres und nichts Schöneres. Das entgegengesetzte Prinzip, die Expansionskraft des Wassers, hat die Dampfmaschine hervorgebracht. Aber die Expansionskraft des Wassers geht nur bis zu einem gewissen Grade, während seine Nichtkomprimierbarkeit, die eine gewissermaßen negative Kraft ist, notwendigerweise unendlich ist.«
»Wenn dieses Leder sich dehnt«, sagte Raphael, »verspreche ich Ihnen, Blaise PascalPascal, Blaise (1623-1662): französischer Schriftsteller, Philosoph, Mathematiker und Physiker. Als Parteigänger der Jansenisten veröffentlichte er 1656/57 seine berühmte Streitschrift gegen die Jesuiten eine Kolossalstatue zu errichten, einen Preis von 100 000 Francs für das beste Problem zu stiften, dessen Lösung der Mechanik in jedem Jahrzehnt gelingt, Ihre Nichten und Großnichten auszustatten und schließlich ein Hospital für verrückte oder verarmte Mathematiker zu gründen.«
»Das wäre sehr nützlich«, erwiderte Planchette und fuhr dann mit der Ruhe eines Mannes, der nur in der Sphäre des Verstandes lebt, fort: »Gehen wir also morgen zu Spieghalter. Dieser treffliche Mechaniker hat nach meinen Angaben unlängst eine vervollkommnete Maschine gebaut, mit der ein Kind tausend Bund Heu in seinen Hut brächte.«
»Auf morgen, Monsieur.«
»Auf morgen.«
»Da sage mir noch einer was von der Mechanik!« rief Raphael. »Ist sie nicht die schönste aller Wissenschaften? Der andere mit seinen Onagern, seinen Klassen, seinen Enten, seinen Gattungen und seinen Glasgefäßen voller Scheußlichkeiten taugte zu weiter nichts, als in einem Café die Billardstöße zu markieren.«
Am anderen Tag suchte Raphael ganz vergnügt Planchette auf, und sie fuhren zusammen in die Rue de la Santé,Rue de la Santé: Straße der Gesundheit ein Name, der von guter Vorbedeutung schien. Spieghalter hatte einen riesigen Betrieb; der junge Mann sah überall rote und donnernde Eisenhämmer. Es war ein Feuerregen, eine Sintflut von Nägeln und Haken, ein Ozean von Kolben, Schrauben, Hebeln, Stangen, Querstücken, Feilen, Muttern, ein Meer von Gußeisen, Holz, Ventilen und Eisenstangen. Die Feilspäne machten das Atmen schwer. In der Luft lag Eisen, die Männer waren mit Eisen bedeckt, alles stank nach Eisen, das Eisen hatte Leben, hatte Organe, es verflüssigte sich, bewegte sich, dachte, indem es alle Formen annahm, allen Launen gehorchte. Durch das Geheul der Blasebälge, das Crescendo der Hämmer, das Pfeifen der Walzen, unter denen das Eisen ächzte, gelangte Raphael in einen großen sauberen und gut durchlüfteten Raum, in dem er die ungeheure Presse, von der ihm Planchette gesprochen hatte, in Muße betrachten konnte. Er bewunderte eine Art gußeiserne Bohlen und Preßwangen aus Eisen, die durch einen unzerstörbaren Kern verbunden waren.
»Wenn Sie siebenmal hintereinander schnell diese Kurbel drehen würden«, sagte Spieghalter und wies auf eine Art Pumpenschwengel aus blankem Eisen, »dann würden Sie eine Stahlplatte in tausend Splitter zersprengen, die Ihnen wie Nadeln ins Fleisch dringen würden.«
»Donnerwetter!« rief Raphael.
Planchette legte eigenhändig das Chagrinleder zwischen die beiden Platten der mächtigen Presse und bediente, voll der von wissenschaftlichen Überzeugungen getragenen Sicherheit lebhaft den Schwengel.
»Auf den Boden, oder wir sind alle des Todes!« schrie Spieghalter mit donnernder Stimme und warf sich selbst flach hin.
Ein schreckliches Pfeifen erfüllte die Werkräume. Das Wasser in der Maschine sprengte das Eisen, schoß in einem Strahl von furchtbarer Gewalt hervor, der sich zum Glück gegen einen alten Schmiedeherd lenkte, den er umwarf, zerschmetterte und herumschleuderte, wie eine Windhose ein Haus erfaßt und mit sich fortreißt.
»Oh«, sagte Planchette in aller Ruhe, »das Chagrinleder ist heil wie mein Auge! Meister Spieghalter, es war ein Sprung in Ihrem Guß oder eine undichte Stelle im großen Rohr.«
»Nein, nein, ich kenne meinen Guß. Monsieur soll nur sein Zeug wieder mitnehmen, der Teufel sitzt drin.«
Der Deutsche nahm einen Schmiedehammer zur Hand, legte das Stück Leder auf einen Amboß und ließ mit der ganzen Kraft, die der Zorn verleiht, einen so furchtbaren Schlag auf den Talisman niedersausen, wie er in seinen Werkstätten noch nie erdröhnt war.
»Er zeigt sich bloß nicht!« rief Planchette und strich über das widerspenstige Leder.
Die Arbeiter liefen herbei. Der Werkmeister nahm das Leder und steckte es in die glühende Steinkohle seines Schmiedefeuers. Alle standen im Halbkreis um das Feuer und beobachteten ungeduldig das Auflodern der von einem ungeheuren Blasebalg angefachten Flammen. Raphael, Spieghalter und Professor Planchette standen in der Mitte dieser schwarzen lauernden Menge. Als Raphael all diese weißen Augen, diese mit Eisenstaub gepuderten Köpfe, diese rußig glänzenden Arbeitskleider, diese behaarten Brüste sah, glaubte er sich in die nächtliche, phantastische Welt der deutschen Balladen versetzt. Der Werkmeister ergriff schließlich das Leder mit einer Zange, nachdem er es zehn Minuten lang im Feuer gelassen hatte.
»Geben Sie es mir«, sagte Raphael.
Der Werkmeister streckte es Raphael wie zum Spaß hin. Der Marquis nahm es einfach in die Hand: es war kalt und geschmeidig. Die Arbeiter schrien vor Entsetzen auf und flohen. Valentin blieb mit Planchette allein in der leeren Werkstatt.
»Kein Zweifel, es sitzt etwas Teuflisches darin!« rief Raphael verzweifelt; »keine Macht der Erde kann mir also einen Tag Leben dazugeben?«
»Ich habe unrecht gehabt«, versetzte der Mathematiker mit zerknirschter Miene, »wir hätten diese absonderliche Haut der Einwirkung eines Walzwerks aussetzen müssen. Wo hatte ich meine Augen, als ich Ihnen eine hydraulische Presse vorschlug!«
»Ich selber hatte es gefordert«, erwiderte Raphael.
Der Gelehrte atmete auf wie ein Schuldiger, der von zwölf Geschworenen freigesprochen wird. Das seltsame Problem, das dieses Stück Leder ihm aufgab, beschäftigte ihn dennoch, er dachte eine Weile nach und sagte schließlich:
»Man muß diesen unbekannten Stoff mit Reagenzien behandeln. Wir wollen Japhet aufsuchen, vielleicht hat die Chemie mehr Glück als die Mechanik.«
Valentin trieb sein Pferd schnell an, damit sie den berühmten Chemiker Japhet noch in seinem Laboratorium anträfen.
»Nun, alter Freund«, sagte Planchette, als er Japhet begrüßte, der in einem Lehnstuhl saß und einen Niederschlag betrachtete, »wie geht's der Chemie?«
»Sie schläft ein; nichts Neues. Die Akademie hat allerdings die Existenz des Salizin anerkannt, aber Salizin, Asparagin, Vauquelin, Digitalin, das sind alles keine Entdeckungen.«
»Es scheint«, sagte Raphael, »daß Sie, da sich Substanzen nicht erfinden lassen, darauf angewiesen sind, Namen zu erfinden.«
»Das ist bei Gott wahr, junger Mann!«
»Hier«, sagte Professor Planchette zu dem Chemiker, »versuche doch mal, diese Substanz zu zerlegen; wenn du irgendein neues Element daraus gewinnst, nenne ich es von vornherein Diabolin, denn als wir sie eben komprimieren wollten, haben wir eine hydraulische Presse zuschanden gemacht.«
»Schau, schau!« rief der Chemiker vergnügt, »das gibt vielleicht ein neues Element.«
»Monsieur«, sagte Raphael, »es ist weiter nichts als ein Stück Eselshaut.«
»Monsieur«, wollte der Chemiker ernst erwidern, aber der Marquis gab ihm das Chagrinleder mit der Bemerkung: »Ich mache keinen Spaß.«
Baron Japhet prüfte das Leder zunächst mit den Papillen seiner Zunge, die darin geübt war, Salze, Säuren, Alkalien und Gase herauszuschmecken, und meinte nach einigen Versuchen: »Geschmack hat es keinen. Nun wollen wir ihm einmal ein bißchen Flußsäure zu trinken geben.«
Das Leder wurde mit diesem Stoff behandelt, das tierische Gewebe sofort zersetzt, wies aber keinerlei Veränderungen auf.
»Das ist kein Chagrin!« rief der Chemiker. »Nun wollen wir dieses geheimnisvolle Unbekannte wie ein Mineral behandeln und ihm ordentlich einheizen. Tun wir es also in einen Schmelztiegel, in dem ich gerade rote Pottasche habe.«
Japhet ging hinaus und kam bald zurück.
»Bitte Monsieur«, sagte er zu Raphael, »lassen Sie mich ein Stückchen von dieser kuriosen Substanz abnehmen, sie ist so seltsam, daß . . .«
»Ein Stückchen?« rief Raphael; »nicht ein Haarbreit geht davon ab. Übrigens«, fügte er dann mit einem Ausdruck hinzu, der zugleich düster und spöttisch war, »versuchen Sie es!«
Der Gelehrte zerbrach bei dem Versuch, etwas von dem Leder abzuschneiden, ein Rasiermesser; er versuchte es mit Hilfe einer starken elektrischen Ladung zu zerteilen; dann unterwarf er es der Wirkung der Voltaischen Säule; kurz, alle Blitze seiner Wissenschaft wurden an dem schrecklichen Talisman zunichte. Es war sieben Uhr abends. Planchette, Japhet und Raphael merkten nicht, wie die Zeit entschwand; sie warteten auf das Ergebnis eines letzten Versuches. Jedoch das Chagrinleder ging aus einem furchtbaren Angriff mit einer gehörigen Dosis Chlorstickstoff siegreich hervor.
»Ich bin verloren!« rief Raphael. »Gott will es. Ich muß sterben.« Er ließ die beiden Gelehrten bestürzt zurück.
»Wir wollen uns hüten, dieses Abenteuer der Akademie zu erzählen, unsere Kollegen würden sich über uns lustig machen«, sagte Planchette zu dem Chemiker nach einer langen Pause, in der sie einander angesehen hatten, ohne daß sie auszusprechen wagten, was sie dachten.
Die beiden Gelehrten kamen sich wie Christen vor, die aus ihren Gräbern auferstanden sind und keinen Gott im Himmel gefunden haben. Die Wissenschaft? Ohnmächtig! Die Säuren? Klares Wasser! Die rote Pottasche? Blamiert! Die Voltaische Säule und der elektrische Funke? Zwei Gaukelmännchen!
»Eine hydraulische Presse zerbrochen wie ein Stück Brot!« rief Planchette.
Es trat wieder Schweigen ein, dann murmelte der Baron Japhet: »Ich glaube an den Teufel!«
»Und ich an Gott!« antwortete Planchette.
Sie blieben beide ihrer Rolle treu. Für einen Mechaniker ist das Universum eine Maschine, die einen Arbeiter verlangt; für die Chemie, dieses Werk eines Dämons, der alles zersetzt, ist die Welt ein Gas, das sich verändern kann.
»Wir können die Tatsache nicht leugnen«, versetzte der Chemiker.
»Bah! trösten wir uns mit dem verschwommenen Grundsatz, den die Doktrinäre in die Welt gesetzt haben: Dumm wie eine Tatsache.«
»Dein Grundsatz«, versetzte der Chemiker, »scheint mir aber erst recht dumm zu sein.«
Sie brachen in Lachen aus und speisten zu Abend wie Männer, die in einem Wunder nur noch ein Phänomen der Wissenschaft erblickten.