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Eine feste Burg ist unser Protestantismus: das ist von nun an das nationale Motto, an dem die Geister scheitern. Eine pseudologische Bußdoktrin grassiert. Eine Selbstverfinsterung, die für tiefe Verworfenheit hält, was den Wohlstand der Sinne fördert, pervertiert die Instinkte, verdirbt den freien Blick, die spontane Erkenntnis von Gut und Böse, die Einsicht ins Equilibre der angebotenen sittlichen Kräfte Das ist ein Geschenkt des Augustinerordens, in dessen Geist außer Luther auch Johannes Tauler, Luthers Lehrer in theologicis, wirkte. »Wir sind«, sagte Tauler, »wegen unserer Sünde von Natur Kinder des Zornes und des ewigen Todes und der ewigen Verdammnis. St. Augustinus spricht: ›Der Mensch ist von einer faulen Materie, stinkend und verdorben, ein Klotz und ein faules Holz und Erdreich und das Ende ist der ewige Tod.‹« (Wilhelm Preger, »Geschichte der Deutschen Mystik im Mittelalter«, Leipzig 1893, III. Teil, S. 177.). Die Nation hat längst das Lachen verlernt. Grabesoden und Nekrologien, Bußtagsmusik, Choräle, Kantaten bekämpfen den leidigen Teufel der »Sünde« und Sinnlichkeit, und die betrübten Lebensläufe der deutschen Musikanten, die Matthisons »Ehrenpforte« uns überliefert hat, zeugen von den Kümmerlichkeiten und Nachwehen des Dreißigjährigen Krieges. »Man will wissen«, sagt Lichtenberg, »daß im ganzen Lande seit fünfhundert Jahren niemand vor Freuden gestorben wäre.« Georg Christoph Lichtenberg, »Vermischte Schriften«, Göttingen 1844, Bd. I., S. 252.
Der Pietismus regiert, der Kanzelredner, die Salbaderei. Der Pietismus leitet die protestantische Orthodoxie hinüber in protestantische Aufklärung. Philipp Jacob Spener, der Großvater des Pietismus, hat aus Erbaulichkeitsgründen eine Abneigung gegen das streng wissenschaftliche Denken. August Hermann Francke ist im Unterschied von Spener ein »Herren- und Tatenmensch«, rücksichtslos als Agitator, unverträglich als Kollege, unversöhnlich als Feind, herrschsüchtig als Organisator. Ein pietistischer Übermensch, so schildert ihn sein Chronist. Es ist die Zeit der Bibelkränzchen und Senfkornorden, des philadelphischen Konventikelwesens. Die Bibel gilt als vollendetes System der Weissagung und im Jahre 1836 soll die Welt untergehen. Was kann auch Besseres geschehen? Niemand lacht diese Leute aus; kein Scarron schreibt ihren Roman, kein Voltaire rettet für Deutschland ein Echo des Lachens französischer Höfe. In der Wissenschaft wird mit Rabbinerverstand um die theologische Intelligenz gestritten Die ersten ernsthaften Elemente einer Bibelkritik rühren, wie billig, von einem Juden, von Baruch Spinoza her..
Die kommerziellen Klassen hatten die Aufklärung in die großen Hafen- und Handelsstädte Europas gebracht und mit ihr die Toleranz. Man tolerierte die reisenden Juden und tolerierte die Refugiés aus den Glaubenskämpfen, weil sie Geld und Beziehungen brachten. Bayle wie Montaigne und Descartes waren toleriert, weil sie Rationalisten waren und Rationalisten waren sie, weil sie zweifelten. Das ist die Philosophie des frühen Frankreich. Descartes insonderheit machte der Scholastik den Kampf und entwickelte das ganze Wissen aus dem Bewußtsein. Sein »cogito ergo sum« wurde der egoistische Leitsatz des philosophischen Individualismus, der in Deutschland schließlich zum Gelehrtenabsolutismus führte und wenn auch ein so heller und vernünftiger Kopf wie Lichtenberg dem entgegenhielt: » es denkt, es blitzt« Lichtenberg, »Vermischte Schriften«, Bd. I, S. 99: » Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.«, so vermochte das doch nicht zu verhindern, daß der Individualismus, gestützt auf Luthers obstinate Widersetzlichkeit die Ideen nur aus dem »Ich« auch dann noch holte, als die Französische Revolution längst mit Riesenlettern an den europäischen Himmel das Wort »Brüderlichkeit« geschrieben hatte. (Siehe Fichte, das große Ich von Osmannstedt, wie Schiller ihn nannte.)
Kam der Zweifel aus Frankreich, so kam die neue Moral aus England. Borgese bemerkt sehr richtig, man könne des Pangermanisten Paul Rohrbach »Deutsche Idee in der Welt« ruhig umändern in »die englische Idee in Deutschland« G. A. Borgese, »Italia e Germania«, Milano 1915. und Nicolai hat in seinem vielberühmten Buche »Die Biologie des Krieges« neuerdings darauf hingewiesen, in wievielen Hauptpunkten Kant und die Deutschen von der englischen Moral beeinflußt wurden, in wievielen andern sie sich ihr leider entzogen F. G. Nicolai, »Die Biologie des Krieges«, Betrachtungen eines deutschen Naturforschers, Zürich 1917, S. 343 ff.. Man könnte aber noch weitergehen. Nicht nur direkt war Kant von Locke und Hume geführt; auf dem Wege über Rousseau, der die Idee seines Gesellschaftsvertrages England verdankt, berührten ihn auch die Ideen Sidneys. Und nächst Kant sind die beiden größten deutschen Philosophen jener Zeit in die englische Schule gegangen: Franz von Baader, die flammende Pyramide der deutschen Philosophie, und Georg Christoph Lichtenberg, ihr einziger Humorist. Beide verlebten wichtigste Jahre ihrer intellektuellen Entwicklung in England Den entscheidenden Einfluß Humes auf Feuerbachs Ethik (Humanismus) und durch ihn auf Marx hat Th. G. Masaryk nachgewiesen (»Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus«, Wien 1899, S. 35 ff.).. Die aber zuerst eine neue Wirklichkeit aufzubauen versuchten nach dem moralischen Chaos, in dem Ludwig XIV. die Welt hinterließ, waren Franzosen: Rousseau und Voltaire.
In Deutschland wurde noch um die theologische Metaphysik gestritten zu einem Zeitpunkt, da englische Philosophen schon alle Moral aus den Leistungen und Taten ableiteten, die die Gesellschaft fördern Das ist der Sinn der in Deutschland von Kriegsleuten wie Sombart noch heute verlästerten englischen »Nützlichkeitsphilosophie«. ; als in Frankreich Rousseau die gütigen Instinkte zu erlösen und Voltaire den religiösen Fanatismus zu bezwingen versuchte. Nicolai zeigte an einem fiktiven Gespräch zwischen dem englischen Botschafter Goschen und dem deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg, wie 1914 sich englische »Nützlichkeitsphilosophie« und wie sich der »kategorische Imperativ« bewährten »Die Biologie des Krieges«, S. 350 f.: Der deutsche Generalstab brach die belgische Neutralität, das englische Volk aber fühlte sich zum Schutz eines Vertrages verpflichtet, der Belgiens Neutralität garantierte. Die Barockkonstruktionen weltfremder deutscher Universitätsprofessoren hielten nicht stand. Sie hatten das Volk nicht erreicht, das von Pfaffen und Fürsten zerschmettert war. Das moralische Gesetz in der Brust, das sich dem Sternenhimmel verwandt fühlte, vergaß seine nächste Umgebung, und die »moralische Weltordnung«, auf die der deutsche Professor so stolz ist, existierte nur für ihn.
Kants Leistung ist groß und unsterblich. Er hat nicht Gott geköpft, wie Heine voreilig meinte Heinrich Heine, »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«, Leipzig o. J., wohl aber den Pietismus. Er verwies die Mystifikation aus dem Reich der Vernunft, und wenn einer seiner frühesten Biographen Ludwig Ernst Borowsky, kgl. preußischer Feldprediger und Kirchenrat. Die erste Skizze seiner Biographie stammt aus dem Jahre 1792. auch meint, Kant habe die jungen Theologen gelehrt, der »falschen, windigen, viel prahlenden und nichts fruchtenden Aufklärung« auszuweichen Immanuel Kant, »Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen«. Deutsche Bibliothek, Berlin, S. 41. (indem er jene Trennung zwischen Jenseits und Diesseits in der Metaphysik vornahm), so blieb das doch ein Irrtum. Gleichwohl war Kant auch nicht der Scharfrichter, den Heine hinter ihm vermutete. Seine Strenge traf mehr die Methode als ihren Gegenstand. Er verflüchtigte Gott zur Idee, und Atheisten wie Hegel, Schopenhauer und Nietzsche konnten sich ebensogut auf ihn berufen, wie die Theologie, die Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« erst entthronte, in der »Kritik der praktischen Vernunft« aber nach ihrer Degradierung und Scheidung von den Wissenschaften wieder einsetzte.
Die Auffassung Borowskys, der zu den ältesten akademischen Schülern Kants gehörte, beweist immerhin die Vieldeutigkeit sogar unserer anerkanntesten Philosophie. Man würde die deutsche Philosophie in ihren Vorzügen und Schwächen ganz falsch bewerten, wollte man nicht beachten, aus welchen politischen Zuständen sie geboren ist. Wenn Fichte noch 1799 schreiben konnte Mitgeteilt von Heine, »Zur Geschichte der Religion und Philosophie«, S. 110. : »Vom Departement der Wissenschaften zu Dresden ist bekannt gemacht worden, daß keiner, der sich auf die neue Philosophie lege, befördert werde, oder, wenn er es schon ist, weiterrücken solle. In der Freischule zu Leipzig ist sogar die Rosenmüllersche Aufklärung bedenklich gefunden; Luthers Katechismus ist neuerlich dort wieder eingeführt, und die Lehrer sind von neuem auf die symbolischen Bücher konfirmiert worden. Das wird weitergehen und sich verbreiten«, – wie mag es dann erst unter den preußischen Soldatenkönigen mit der Lehrfreiheit bestellt gewesen sein? In Preußen, von dem Winckelmann 1763 schrieb: »Es schauert mich die Haut vom Wirbel bis zur Zehe, wenn ich an den preußischen Despotismus und den Schinder der Völker denke, welcher das von Natur selbst vermaledeite und mit lyrischem Sand bedeckte Land zum Abscheu der Menschen machen und mit ewigem Fluch beladen wird?« Brief an Usteri vom 15. Januar 1763, mitgeteilt von Franz Mehring in »Die Lessinglegende. Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur«, Stuttgart 1913. In Preußen, wo Christian Wolff bei Strafe des Stranges die Universität Halle verlassen mußte, weil er in Friedrich Wilhelms Deserteurskandale eingegriffen haben sollte! Die Übereinstimmung mit Luthers Kleinem Katechismus war erstes Gebot, gemäß jenen Artikeln der Augsburgischen Konfession, nach denen der Landesfürst die höchste geistliche Würde bekleidete, und der Professor hatte als Werkzeug und Diener des Fürsten das Amt, dessen Autorität zu erhärten und seine glorreiche Allmacht zu fördern. Man ermesse danach, was die Menschheit von den protestantischen Universitäten Deutschlands seit 1530 zu erwarten hatte. Nur die allergründlichste Reform des ganzen Bildungswesens in Deutschland wird den zweideutigen Pharisäismus aufheben können, der jahrhundertelang ex officio gezüchtet wurde Trennung von Kirche und Staat ist die zunächst unerläßlichste Forderung. Sodann eine Bearbeitung des Neuen Testaments mit philosophischer, moralischer und ästhetischer Exegese als Basis einer Reform der Theologie und des Erziehungswesens. Ausgangspunkt des gesamten Unterrichts ist die evangelische Tradition, Gegenstand die christliche Republik. Sammlung und Neuausgabe der Schriften aller christlichen Heroen nach einem großzügigen Plan für den Volks- und Lehrgebrauch!. Jede Freiheitsregung mußte als Kontrebande auf Schleichwegen der Dialektik befördert werden, und die Vorsicht gebot, zu Methoden zu greifen, die jederzeit eine Hintertür offen ließen; vorausgesetzt, daß der Professor wirklich den ernstlichen Willen hatte, der Wahrheit zuliebe seinen Treuspruch zu brechen und nicht vorzog, die Neuerungen der Zeit mit dem Dogma des Absolutismus in sophistische Übereinstimmung zu bringen.
Was bedeutet es also, wenn schon Borowsky sagt, daß Kants »Moral besonders nicht im Widerspruch mit der christlichen Sittenlehre stehe«? Von den Beziehungen des kategorischen Imperativs und des Kantschen Persönlichkeitsbegriffs zur Soldatendressur Friedrich Wilhelms I. soll noch die Rede sein. Aber auch die berühmte Kantsche Sozialmaxime: »Handle so, daß die Maxime deines Wollens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« – verleugnet sie den lutheranischen Staatsbegriff? Enthält sie nicht eine kategorische Warnung an alle Untertanen? Ist sie nicht eine Maxime der Zwangserziehung? Was hat die preußische Gesetzgebung mit der Bergpredigt gemein? Birgt sich hinter der Kantschen Moralmaxime nicht ebenso Friedrich Wilhelms Knutenregiment wie Friedrichs Pflichtideal im kategorischen Imperativ? Noch heute steht unsere ganze Gesetzgebung im Widerspruch mit der ursprünglichen christlichen Sittenlehre. Damals aber? Was verstand man in Preußen unter christlicher Sittenlehre, wenn nicht den strengsten Staatslutheranismus? Jener Immanuel Kant aber, der so wenig Bonhommie zeigte, daß er sich eine andere Wohnung suchte, als seines Nachbars allzu laut krähender Hahn sich nicht beschwichtigen ließ Immanuel Kant, »Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen«, S. 57.; jener Kant, der so unnachsichtlich zur Polizei ging, um auf Abstellung des Singens im Gefängnis zu dringen, weil es ihn bei der Arbeit an seinen Moralgesetzen störte Ebd. Derselbe Biograph berichtet, daß dem Philosophen von Straßenjungen häufig Steine über den Gartenzaun geworfen wurden., – er wollte seine Maximen nicht nur zum allgemeinen Gesetz, sondern sogar zum allgemeinen Naturgesetz erhoben wissen »Der allgemeine Imperativ könnte auch so lauten: Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.«! So zeigen sich auch persönlich bei ihm Züge von Despotismus, und das Ausdenken allgemein verbindlicher Sätze, wenn es von einem hagestolzen und vereinsamten Manne kommt, kann wohl gar zu nichts anderem führen Übrigens schreibt schon Borowsky: »Von Herzen wünschte ich, daß Kant die positive, namentlich die christliche Religion nicht bloß als Staatsbedürfnis oder als eine zu duldende Anstalt um der Schwachen willen angesehen, sondern das Feststehende, Bessernde und Beglückende des Christentums ganz gekannt hätte.« (a. a. O., S. 91.) .
Es ist nicht erforderlich, hier auf die gefährliche Separation einzugehen, die Kant zwischen Intellekt und Moral, zwischen geistiger Persönlichkeit und sozialem Wirken statuierte, indem er das Einheitsgewissen zersprengte und jene beiden von einander untrennbaren Gewissenskräfte, Verstand und Gefühl gesondert abzuleiten versuchte. Kein Geringerer als der Kardinal Mercier hat in einer langjährigen Aktion, und neuerdings in einem hervorragenden Buche, das die hohe religiöse Lehre des Thomas von Aquin zu neuen Triumphen führt, den Kantianismus als das nachgewiesen, was er ist, als eine Doktrin, die die Grundlagen der moralischen Ordnung kompromittierte Cardinal Mercier, »Le Christianisme dans la vie moderne«, Paris 1918, S. 92: »Nous constaterons qu'il y a ainsi compromis les assises de l'ordre moral et qu'aujourd'hui les héritiers de son esprit n'ont plus même foi à la valeur objective de la science«.. Im Geiste unseres großen Franz von Baader bestätigte er die innerste Antichristlichkeit der kantischen Philosophie. »Satan trennt, Christus vereint«, sagt Baader. So aber trennte der ganze von Moral und Sozietät absehende Kult der Experimentalwissenschaft, deren vergötterte Methode die Verstandesanalyse und deren Folge die Zersetzung ist. In Deutschland wütete die »objektive Wissenschaft« zumeist. Man hatte am meisten Ursache, Moral und Sozietät ungepflügt auf sich beruhen zu lassen. Hier war die abstrakte Wissensdoktrin zu Hause und das Land der höchst entwickelten Erkenntnistheorie und Technik schlug den Rekord der Immoralität, als die Zeiten reif geworden waren. Nirgends so schlimm als in Deutschland zeigte sich der Verlust des Einklangs zwischen Intellekt und sozialem Empfinden, zwischen menschlicher und theoretischer Kritik. Der Intellektuelle aus Metier, der fachgelehrte Teufel, dies Nonplusultra einer deutschen »Kultur«, die sich berüchtigt machte, ohne die Wurzel ihrer Abscheulichkeit auch nur zu ahnen – von Kants »Kritik der reinen Vernunft« sind sie entsprungen.
Unter Kant wird der gereizte Verstand zur Geheimpolizei gegen Gott, das Genie und alles naive Geschehen. Die Philosophie wollte Dinge wissen und besitzen, die ihr ewig versagt bleiben werden. »Die Philosophie ist nur eine Methode«, sagt Barbey d'Aurevilly Barbey d'Aurevilly, »Les prophètes du passé«, Paris 1889, S. 7: »Quelles que soient les prétentions de la philosophie, et la force relative des systèmes qu'elle a produits par la tête de ses plus illustres penseurs, elle n'est au fond, quand on y regarde, qu'un grand essai de méthode, nécessament repris par l'intelligence humaine pour arriver à la vérité.« . Der Katheder ward zum Berg Sinai, wo Gott sich unterhielt mit dem Herrn Professor. Kanonische Buchweisheit verbreitete das Vorurteil, daß nur der Gelehrte, nicht aber auch der Bauer philosophieren könne. Man stelle Kant neben einen russischen Muschik ins freie Licht und sehe zu, wer recht behält; welcher von beiden dem Sittengesetz und dem Sternenhimmel nähersteht.
Der Rationalismus hatte, als Kant auftrat, bereits eine Tradition. Locke, Hume, Spinoza hatten tiefgründige Untersuchungen über die Vervollkommnung des Verstandes angestellt, ohne daß es geglückt war, eine Moral auf Verstandesprinzipien zu gründen. Die Titel von Kants Hauptwerken verführten dazu, den Verstand mit der Vernunft zu verwechseln, oder, wie Baader sagte, den Logos mit der Logik. Die Verstandeskultur, nicht die Vernunft feierte in Kants Schriften ihren Triumph. Verstandestaten waren es, wenn Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« das »Ding an sich« in gepflegtem Kanzleistil abzog von der sichtbaren Welt; wenn er für alle Zeiten den Unterschied zwischen innerer und äußerer Macht nachdrücklichst betonte und damit aller neudeutschen Barbarei das Urteil sprach. Eine Verstandestat war jene sozusagen philologisch saubere Sittlichkeit, die rigoroses Ideal und Tyrannei eines Volkes von Magistern wurde. Und gleichwohl: selbst dieser knöcherne Rationalist, der von der Astronomie und den Sternen so vorsichtig herkam, daß er die Wirklichkeit eine »Welt der Erscheinungen« nannte und sie in sträflicher Ferne für illusorisch erklärte – blieb nicht auch er ein Mystiker? Sind die zwölf Kategorien, mit denen er sich umgab, so sehr verschieden von den zwölf Aposteln Jesu und des Niklas Storch? Und die drei apriorischen Vernunftsfunktionen, künden sie nicht wider Willen die scholastische Trinität Vater, Sohn und Heiliger Geist?
Kants Protestantismus verleugnet sich nicht. Bei Abfassung der »Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft« lag bezeugtermaßen ein Katechismus auf seinem Schreibtisch, und auf den lutheranischen Katechismus machte er die Probe Borowsky. »Vielleicht findet mancher die sichere Anekdote merkwürdig, daß Kant, ehe er die ›Religion innerhalb usw.‹ zum Abdruck gehen ließ, einen unserer ältesten Katechismen ›Grundlegung der christlichen Lehre‹ (ohngefähr aus den Jahren 1732, 1733) ganz genau durchlas.« (S. 79.). Bei Erscheinen dieses Buches aber geriet der Verfasser in Widerspruch mit dem preußischen Kabinett. Das erste Stück des Buches, die Abhandlung »Vom radikalen Bösen« (1792), die man auf die ultrarevolutionären französischen Hébertisten beziehen konnte, erlangte noch das Imprimatur, mit dem bedenklichen Zusatze: »weil doch nur tiefdenkende Gelehrte die Kantschen Schriften lesen« Paul Deussen, »Die neuere Philosophie von Descartes bis Schopenhauer«, Leipzig 1917.. Dem zweiten Stück aber, »Vom Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen«, wurde von zwei Zensoren zugleich das Imprimatur verweigert. Durch Kabinettsordre vom Oktober 1794 erhielt der Verfasser einen Verweis wegen »Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums«, und den theologischen und philosophischen Dozenten der Königsberger Universität wurde untersagt, über Kants Werke Vorlesungen zu halten.
Die intelligible Freiheit war in Widerspruch geraten mit der Zeit, der wir alle untertan sind. Zwischen Idee und Erfahrung zeigte sich eine Kluft. Wie stellte sich Kant dazu? Er gab Friedrich Wilhelm II. das schriftliche Versprechen, »sich aller öffentlichen Vorträge, die christliche Religion betreffend, in Vorlesungen und Schriften als Sr. Majestät getreuester Untertan, zu enthalten«. In seinem Nachlaß fand man einen Zettel des Inhalts: »Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen in einem Fall wie dem gegenwärtigen ist Untertanspflicht.« Das war als Überbrückung der Idee mit der Erfahrungswelt zweifellos praktische Vernunft. Die intelligible Freiheit blieb intakt. Praktische Vernunft dieser Art aber wurde in Preußen vom König doziert.
Man hat Kant einen »Alleszermalmer« genannt (Moses Mendelssohn). Man nannte auch Beethoven so (Richard Wagner). Man nennt heute Hindenburg so. Aber man sollte einsehen, daß nicht im Zermalmen sich Stärke verrät, sondern im Lösen und Freimachen, im Gleichgewicht. Eine Kraft, der ihre Umgebung nicht das Gleichgewicht zu bieten vermag, ist eine verderbliche Kraft; ihre Intentionen mögen edel und human sein. Die Überernährung mit Erkenntnistheorie seit Kant verstrickte die ganze Nation in abstrakte Spekulationen von äußerster Schädlichkeit für die gesunde Verdauung der Köpfe. Man höre eine deutsche Vorlesung über Logik, blättere in den erkenntnistheoretischen Klitterungen unserer unaussterblichen patentierten Philosophiebeamten oder versuche zu lesen ein Buch wie des Aktienevangelisten Rathenau »Mechanik des Geistes« (»Ethik der Seele«, »Ästhetik der Seele«, »Pragmatik der Seele«), um einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstrengungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süßreicher Weitschweifigkeit.
Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation, sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit, statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und anonymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn er sagt: »Es scheint, als hätten im Abendland immer nur wenige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und als hätte in Indien die Seele selbst gedacht;... als wären ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig, anarchisch oder tyrannisch, ›Hintergedanken‹, ein Umweg, parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten.« Rudolf Kassner, »Der indische Idealismus«, Eine Studie, Dresden-Hellerau, S. 21.
Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klassische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als die der Nachbarvölker »Deutsches Volkstum«, Jena 1914, S. 64.. Derselbe Treitschke weiß aber sehr wohl, daß noch in den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges »der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde hauste«; er weiß, daß im Dreißigjährigen Krieg das Reich »freiwillig aus dem Kreis der großen Mächte schied«; daß dieser Krieg »zwei Drittel der Nation« hinwegraffte, und daß »das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und Armut ein gedrücktes Leben führte«, »nichts mehr von der alten Großheit des deutschen Charakters, nichts mehr von dem freimütig heiteren Heldentum der Väter« zeigte Ebd., S. 61.. Er spricht von den »heldenhaften Klängen lutherischer Lieder«, von einer »verarmten, mit fremden Flittern aufgeputzten Sprache« und von der »rettungslosen Fäulnis des heiligen Reichs«. Wie ist es möglich, in einem solchen Lande innerhalb hundertfünfzig Jahren die vielseitigste, kühnste und menschlich freieste Literatur zu schaffen? Man kennt die Terminologie, mit der Treitschke das Wunder erklärt: Die Glaubensfreiheit und der preußische Staat haben es vollbracht. Die eine, indem sie dem nach Treitschkes Worten »verwilderten Geschlecht« den Glauben an sich selbst zurückgab (!). Der andere, indem er die Deutschen »zwang, wieder an das Wunder des Heldentums zu glauben«.
Zugunsten meiner Nation muß ich annehmen, daß Treitschke deren Verwilderung übertrieben hat, um das Werk seiner preußischen Majestäten, Friedrichs II. besonders, in desto helleres Licht zu setzen. Es könnte jemand auf den Gedanken kommen, gründlicher noch, als es bereits geschehen ist, die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges in unserer klassischen Literatur nachzuweisen, und der von Treitschke behauptete Vorrang möchte einen allzu empfindlichen Stoß erleiden Vgl. G. A. Borgeses Kritik des deutschen Humanismus und Machiavellismus, in »L'Italie contre l'Allemagne«, Lausanne 1917, die Kapitel besonders, in denen er von den »Räubern«, von »Götz von Berlichingen«, »Faust« und Fichtes »Reden an die deutsche Nation« spricht.. Die krüde Monstrosität der »Räuber«, das Faustrecht und die Betonung der Kraftworte im »Götz«, die wilde Jagd nach Lebensgenuß im »Faust« und der übertriebene Erziehungskult bei Fichte sind nur allzu deutliche Nachklänge einer sowohl moralischen wie geistigen Katastrophe, und wenn jene Epoche auch Großes geleistet hat, um die Schäden zu reparieren, so leistete sie Unsterbliches doch nur in der Virtuosität, über den eigentlichen Jammer und Sachverhalt hinwegzutäuschen durch klassizistische Dekoration, vorzeitige und unvolkstümliche Harmonisierung, durch Optimismus und Flucht an die Höfe. Hier genüge die Feststellung: eine der Hauptursachen der maßlosen Überschätzung, die die Deutschen ihren Herder, Schiller, Fichte, Hegel angedeihen ließen, war der nationale Stolz, eben aus dem Nichts heraus zu Anfängen gekommen zu sein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts engbrüstige Grundlage der Bildung wurden, die aber im begonnenen 20. Jahrhundert, als dem Jahrhundert der Beseitigung überspannter Nationalismen und einer neuen politischen Moral, für den Neuaufbau nicht mehr genügen.
Einer der frühesten Scholastiker, Hrabanus Maurus, sagt in seinem Werk »De nihilo et tenebris«, das Nichtsein sei etwas so Erbärmliches, Ödes und Häßliches, daß nicht genug Tränen über einen so traurigen Zustand vergossen werden könnten. So mögen unsere Urgroßväter empfunden haben, als sie nach dem Unglück des Dreißigjährigen Krieges mühselig die Elemente zusammensuchten, die eine Regeneration ermöglichten. So mögen sie gedacht haben, als sie, beim Aufbau eines neuen Deutschland, Preußens despotisch-machiavellistische Hilfe nicht verschmähten. Wir heute aber, nachdem die Nation so schief und auf unmoralischer Basis errichtet war: Sind wir denn, wenn wir nicht mit den andern sind? Und gibt es wohl etwas Erbärmlicheres, Öderes und Häßlicheres als einen irreligiösen und immoralischen Nationalismus? Luther hat solchen Nationalismus geschaffen; die egozentrische Philosophie, der »Idealismus« Fichtes, hat ihn sanktioniert und befestigt »Die versuchte gänzliche Erhebung über allen Glauben an fremdes Ansehen«, gesteht Fichte, »wurde den Deutschen, von denen sie vermittels der Kirchenverbesserung erst ausgegangen war, zu neuer Anregung.« (»Deutsches Volkstum«, S. 19.); der deutsche Generalstab aber suchte ihn 1914 als seiner Weisheit letzten Schluß zur Weltherrschaft zu bringen. Die Vaterländelei, über die Goethe sich lustig machte, verwüstet heute in Deutschlands Namen Europa und droht bereits mit dem nächsten Krieg; denn: »Dieser Krieg, wie er auch ausgehen mag, wird keiner einzigen Macht ihre letzten Wünsche stillen, ja nicht einmal einer einzigen ihre Opfer voll ersetzen. Wohl aber werden zu den alten Haßgefühlen neue, durch Schuldfragen geschärfte, erwachsen. Der Nationalismus erwacht nicht nur neu auf politischem, sondern vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet.« Walther Rathenau, »Von kommenden Dingen«, Berlin 1917, S. 282.
Wäre dieser Satz richtig, so müßte man an der Zukunft der Menschheit verzweifeln. Die Symbolik der Schuldfrage und die Prüfung auf letzte Eigenschaften werden jedoch hoffentlich Kriegsursachen ein für allemal aus der Welt schaffen, und keine der geringsten Kriegsursachen war ein staatlich und pseudoreligiös betriebener Nationalismus, der im Zeichen der ursprünglichen christlichen Idee und eines freien Europa zu verwerfen ist. Individuen und Nationen mögen das äußerste Recht auf Selbstbestimmung genießen, doch nur in der Gemeinschaft, weil sie nur so das Höchste leisten können, das mit ihnen geboren ist. Keineswegs haben sie das Recht, andere Individuen und Nationen zu vergewaltigen oder zu betrügen und damit die Entfaltung der Gesamtheit zu mißachten, die allein das Höchste möglich macht und dessen Maßstab ist.
Ich wünschte, deutsche Rektoren, Schulräte und Konsistorien zu Lesern zu haben, wenn ich behaupte: der Glaube an die Überlegenheit unserer Klassiker ist ein protestantisches Vorurteil. Wenn ich protestantisch sage, meine ich irreligiös und habe im vorhergehenden Kapitel auseinandergesetzt, weshalb ich das meine Ich gehe noch weiter und behaupte: aller betonte, überzeugte, prinzipielle Individualismus ist irreligiös und in seiner Konsequenz nihilistisch, zum Nichts, zur Vernichtung treibend. Der Versuch der Luther, Kant und Nietzsche, auf den Individualismus eine Moral, eine Religion zu gründen, mußte zur Absurdität und zu Unheil führen. Moral und Religion sind gerade die Disziplinen von der Beschränkung und Aufhebung des Individuums gegenüber und in der Gesamtheit. Höchste Tugend des Individuums ist der Enthusiasmus. Das Problem der Intelligenz liegt in der mit Trauer und Schmerz empfundenen Einsicht des Individuums in die mysteriöse Tatsache seiner Abgrenzung von der Gesamtheit..
Die Herkunft der idealistischen Philosophie aus dem Protestantismus wird man nicht bestreiten. »Die wirksamste Literatur der neuen Geschichte«, gesteht Treitschke, »ist protestantisch von Grund aus« »Deutsches Volkstum«, S. 64. , und Heinrich Heine bestätigt in seiner gegen Metternich und Frau von Staël gerichteten »Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« ausdrücklich, daß »aus dem Protestantismus die deutsche Philosophie hervorging« Heinrich Heine, a. a. O., S. 16.. Klopstock und Lessing, Wieland und Herder, Goethe und Schiller, Kant und Fichte, alle, die den deutschen Namen exaltierten, nahmen ihren Ursprung aus den Bildungsanstalten, die das Luthertum geschaffen und mit seiner Gesinnung erfüllt hatte. Ja, Gustav Freytag behauptet, in Deutschland sei seit der Reformation selten ein bedeutender Mann aufgetreten, der unter seine Vorfahren nicht einen Geistlichen zählte. Lessing und Schelling, Fechner und Wundt, Mommsen und Lamprecht, Harnack und Nietzsche: Pastorensöhne. Achtzehntausend evangelische Pfarrhäuser gibt es noch heute in Deutschland. Sie haben ein halbes oder ganzes Armeekorps gestellt, ohne daß man sich geschämt hat, es anzurechnen »Die Bedeutung des evangelischen Pfarrhauses für das deutsche Geistesleben«, Sondernummer »Protestantismus« der »Süddeutschen Monatshefte«, München, Okt. 1917. .
Gewiß gab es wackere und tüchtige Männer unter den protestantischen und evangelischen Pastores! Wären sie nur evangelisch geblieben! Gewiß förderte das deutsche Pfarrhaus den Aufschwung der Wissenschaften und Künste. Grundlage dieses Pfarrhauses aber war das Sechskindersystem und die Bequemlichkeit auf halber Treppe; der selige Zustand mit Sportel und Rente; die mit Kohl und Karnickel begnadete Diesseitigkeit, an der der Ideensturm scheiterte. Luthers Auslegung der vierten Bitte – zum täglichen Brot rechnete er nicht nur Essen und Trinken, sondern auch Haus und Hof, Äcker, Vieh, Geld und Gut, fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und getreue Oberherren, gut Regiment usw. Ebd., »Luther und der Staat«. – ist die Apologie der deutschen Gesäßigkeit und diese Bassesse einer Bitte an Gott, dieses plumpe und materielle Ansinnen wurde Maß der Nation und Basis der Geister.
»Eine landwirtschaftliche Existenz kapitalisiert ihren Jahresumsatz zu einer religiös-politischen Anschauung«, spottet Rathenau, und gewiß mit Recht. Doch wenn er damit sagen will, daß Interessen den Glauben schaffen, so ist dies gleichwohl nicht schlimmer, als wenn der Glaube Interessen schafft. Denn nur Marx, der ebenfalls Theologengeschlechtern entstammte und Hegelianer obendrein war, konnte das Wort prägen von der »Idee, die sich immer blamierte, soweit sie von den Interessen unterschieden war«. Die Idee blamiert sich aber nicht, sondern die irreligiöse Philosophie und die Hegelei blamieren sich, was ein anderes Wort des schon zitierten Herrn Rathenau bestätigt: »Pflichtgetreu und bekümmert machte immer erneut die deutsche Philosophie sich ans Werk, die zerrinnenden Fäden zu sammeln, ewige Richtungen, Gesetze, Imperative zu ersinnen. Vergeblich! Jede kritische Frage hatte sie sich gestellt, an Begriffen und Welt, an Gott und Dasein zweifeln gelernt, und dennoch war sie aus reiner Vernunft an der einfachsten Vorfrage blind vorübergeschritten: ob nämlich der denkende, messende, vergleichende Intellekt, die Kunst des Einmaleins und des Warum die einzige, dem ewigen Geiste verliehene Kraft sei und bleibe, um Menschengöttliches zu durchdringen. Sie blieb Intellektualphilosophie.« Walther Rathenau, a. a. O., S. 209.
Die Pseudologia phantastica, die man auf den Namen Kritizismus getauft hat, wurde von der lutheranischen Orthodoxie so unerbittlich gegängelt, daß sie im wichtigsten Stadium der intellektuellen Entwicklung Europas, vor Ausbruch der Französischen Revolution, jeden Sinn für wahrhaft produktive Kritik und ideelles Eingreifen in die Ereignisse verloren hatte. »Herr Pastor«, rief Lessing gereizt, »wenn Sie es dahin bringen, daß unsere lutherischen Pastores unsere Päpste werden – daß diese uns vorschreiben können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen – daß diese unserem Forschen Schranken setzen dürfen: so bin ich der Erste, der die Päpstchen wieder mit dem Papste vertauscht.« »Der deutsche Glaube«, Religiöse Bekenntnisse aus Vergangenheit und Gegenwart. Jena 1914, S. 24.
Das ist es: man hatte den Papst mit den Päpstchen vertauscht, man hatte den großen Blick, die alleinige Tradition und Universalität des Mittelalters verloren. Man war: protestantisch geworden, das heißt national und beschränkt. Den Kritizisten fiel es nicht ein, Luther zu analysieren, statt mit den Pastores zu raufen; sich an die Sachen zu halten, statt an die Begriffe. Die milde Weisheit der Scholastik blieb verschollen. Die guten Werke und eine hohe philosophische Tradition waren von demselben Luther verworfen, dessen schmähliche Autorität vom wieder auflebenden Kreuzzüglergeiste alles heute zu fürchten hat. In unfruchtbarem Streit zwischen Glauben und Wissen, zwischen Katholik und Protestant verzehrten sich die Geister, und selbst Goethe, dem eine »neudeutsche religiös-patriotische Kunst« und der »ganz wahnsinnige, protestantisch-katholische, poetisch-christliche Obskurantismus« zuwider waren Brief an den Gothaer Bibliothekar Friedrich Jakobs, in dem er von »frischen Nebeln einer vorsätzlichen Barbarei« spricht.; Goethe, der doch selbst von Protesten getragen, sich zu Cellini und der italienischen Renaissance bekannte – selbst er brachte den Optimismus nicht auf, zu glauben, daß hier in absehbarer Zeit etwas könne geändert werden Frau von Stein berichtet. »Noch letzt antwortete er jemandem, der die Aussicht ins Ilmthal lobte: ›Das ist keine Aussicht‹, und sah dick-mürrisch dazu aus.« Es war nach seiner Rückkehr aus Italien.. Frankreich und Belgien blieb es vorbehalten, in den sakramentalen Werken der Barbey d'Aurevilly, Erneste Hello, Léon Bloy und Kardinal Mercier die Renaissance der Scholastik zu vollziehen und dem protestantischen Zeitalter das Grab zu schaufelnd d'Aurevillys Eifer gegen Luther: »Eh bien«, schrieb er in »Prophètes du Passé«, »si, au lieu de brûler les écrits de Luther, dont les cendres retombèrent sur l'Europe comme une semence, on avait brûlé Luther lui-même, le monde etait sauvé, au moins pour un siècle. Luther brûlé! on va crier. Mail il y a plus que l'économie du sang des hommes: cest le respect de la conscience et de l'intelligence du genre humain. Luther faussait l'une et l'autre.« .
Ein Herr Hoffmann (Berlin-Friedenau, im Februar 1915) spricht von einem »heroisch-tragischen Sinn des deutschen Humanitätsideals«. Ich habe das Büchlein, zu dem er die Vorrede schrieb, bereits erwähnt. Es heißt »Der deutsche Mensch. Bekenntnisse und Forderungen unserer Klassiker« und ist für die Feldpost bestimmt »Die Feldpostbücherei«, bemerkt dazu der Verlag, »trat während des ersten Kriegshalbjahres an die Stelle der Kulturzeitschrift des Verlags, ›Die Tat‹, die aber vom März 1915 an wieder erscheint. Beide versuchen in gleichem Sinne zu wirken: nämlich sie bereiten in Nachfolge von Fichte und Lagarde auf volkstümlicher und religiöser Grundlage einen neuen deutschen Idealismus vor.«. »Die sittliche Freiheit«, spricht Herr Hoffmann, »bedeutet eine Beherrschung des vorgefundenen und vorhandenen, des sinnlichen Seins.«
Nun weiß man zwar, was Pfarrerssöhne unter Beherrschung des sinnlichen Seins verstehen, und es bedürfte keiner weiteren »idealistischen« Philosophie. Doch der heroisch-tragische Sinn des deutschen Humanitätsideals, mit dem man versucht, unseren Soldaten die Köpfe zu benebeln, hat seine politischen Hintergedanken. Diese offenbaren sich etwas deutlicher in einem zweiten Bändchen derselben Bücherei, »Der deutsche Glaube. Religiöse Bekenntnisse aus Vergangenheit und Gegenwart«, das ich ebenfalls zitierte, sowie in einem dritten und vierten, »Deutsches Volkstum« und »Deutsche Politik«, von denen das letztere ausschließlich Herrn von Treitschke gewidmet ist. So verlohnt es sich schon, auf den heroisch-tragischen Sinn näher einzugehen.
Die Sammlung macht dem Verlag Diederichs nicht allzuviel Ehre. Denn abgesehen davon, daß es einer Fälschung gleichkommt, Äußerungen von Kant und Herder über die Franzosen und Engländer von 1780 heute der Feldpost zu übergeben, so geht es nicht an, den deutschen »Idealismus« zum Deckmantel einer hinreichend kompromittierten Politik zu machen, ohne diesen Idealismus und das religiöse Ideal der Nation mit zu kompromittieren. Auch läßt sich aus der rhetorischen Zweideutigkeit unserer »klassischen« Philosophie ebensowohl die Verneinung wie die Bejahung von dem predigen, was diese Bücherei bezweckt, und so hätte sich ein so namhafter Verlag wie Diederichs, in dem sich gestern noch die vorzüglichsten pädagogischen Tendenzen Deutschlands spiegelten, die Teilnahme am physikalischen Gelegenheitsheroismus versagen sollen.
Der Sinn des deutschen Humanitätsideals ist weder heroisch noch tragisch. Voraussetzung solcher Eigenschaften sind Verhältnisse der inneren oder äußeren Politik, die den Widerstreit des reinen Individuums nicht lächerlich erscheinen lassen. Der ganze Aspekt der damaligen deutschen Geschichte aber: Tausendherrenländchenwesen in Beschluß und Ausführung, Krähwinkelei in Gesellschaft und Phantasie, Zerrissenheit in jeglichem Betracht – wie sollten Tragik und Heroismus daraus entstehen? Heroisch und tragisch war die Situation einiger weniger Köpfe, die von ihrem Humanitätsideal desto weniger sprachen, je klarer sie sahen, je tiefer sie litten, je mehr ihre schadenfrohe und klägliche Zeit sie damit in die Enge trieb. Lessing wäre zu nennen und Lichtenberg, Friedrich August Wolf und Johann Wolfgang von Goethe.
Mit Mühe behauptete sich Aufklärung gegen Theologentyrannei. Und als die Aufklärung siegte: Kants Kritizismus verdarb die Literatur; Schiller und Kleist wurden seine Opfer Man weiß, wie Kleist unter Kant gelitten hat; Kant zerbrach ihm den Instinkt und war Kleistens eigentliche Krankheit. Man weiß auch, zu welchen Intellektkonstruktionen sich Schiller von Kant verleiten ließ, und wie Goethe gegen Kant anging.. Der Gegensatz zwischen Instinkt und Konstruktion, zwischen Zweck und Gefühl, das Mißtrauen gegen jede geniale Äußerung lähmten den Enthusiasmus, maßregelten die Empfindung. Die rückständigen Liebesbegriffe des Pfarrhauses und die gegrillte Schulfuchserei einer beaufsichtigenden Gelehrtenrepublik machten aus einem »brav Kerl, dem was Rechts aus den Augen leuchtet« Siehe Christian Reutters »Schelmuffsky«, eine Persiflage der damaligen Studentenverwilderung., einen Traktätchenverfasser, der Gift und Galle spie, wenn man ihn reizte, in Filzpantoffeln seine Hämorrhoiden pflegte und artig ersonnene Weltordnungen mit kitzlicher Knifflichkeit appretierte.
Ist es Heroismus, wenn Schiller aus einem Entwurf, den er privatim der »Schamhaftigkeit der Dichter« zu widmen gedachte, für eine hochgelahrte und pastorale Öffentlichkeit eine Abhandlung machte, der er den stelzenden Titel »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« gab? Ist der Sinn des Humanitätsideals tragisch, weil Goethe und Schiller sich verabredeten, Trauerspiele zu schreiben? Goethe lehnte nur deshalb ab, Lustspiele zu machen, »weil wir«, wie er sagte, »kein gesellschaftliches Leben haben« »Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen«, S. 517. Brief Schillers an Körner vom Mai 1795.. Das Barockpathos, das Schiller seinen Helden und Versen verlieh Schon Karoline Böhmer spottete (1796) über die »hochfahrenden Poesien, die gereimten Metaphysiken und Moralen« in Schillers Musenalmanach., war weniger mutig als die frondierende Natürlichkeit, die Goethe hinter dem Geheimratstitel behauptete Schiller an Körner, 1. Nov. 1790: »Seine Philosophie mag ich auch nicht ganz: sie holt zu viel aus der Sinnenwelt. überhaupt ist seine Vorstellungsart zu sinnlich und betastet mir zu viel.« Und Körner an Schiller, 11. Nov. 1790: »Auch mir ist Goethe zu sinnlich in der Philosophie; aber ich glaube, daß es für Dich und mich gut ist, uns an ihm zu reiben, damit er uns warnt, wenn wir uns im Intellektuellen zu weit verlieren,«.
Charakter haben zu müssen im Sinne der theologisch-gelehrten Zeitkonvenienz war das Verhängnis der Geister, wie heute Verhängnis ist, Charakter haben zu müssen im Sinne der Staatspropaganda und des perfekten Durchhaltesystems. Das Unglück Werthers und der Romantiker – worin bestand es, wenn nicht in der geistigen Refraktion, in der Unfähigkeit, den gewünschten »Charakter« liefern zu können vor Reizbarkeit, Schwäche und Überschwang? Herder schreibt 1795 an die Gräfin Baudissin über »Wilhelm Meisters Lehrjahre«: »Ich kann weder in der Kunst noch im Leben vertragen, daß dem, was man Talent nennt, wirkliche, insonderheit moralische Existenz aufgeopfert werde. Die Mariannen und Philinen, diese ganze Wirtschaft, ist mir verhaßt.« »Goethe in vertraulichen Briefen«, S. 513. Klopstock 1776 an Goethe direkt, als dieser lustige Gesellschaft lustig genießt, »daß er sich an dem Herzoge, seinem Freunde, seiner Gemahlin, seiner Mutter, dem ganzen Lande und der ganzen Gelehrtenrepublik versündige, weil kein Fürst künftig einen Dichter zu seiner Gesellschaft wählen werde« Ebd., S. 199.. Und sogar Schiller an Körner (12. August 1787): »Goethes Geist... eine stolze philosophische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung, mit einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne; kurz eine gewisse künstliche Einfalt der Vernunft. Die Idee kann ganz gesund und gut sein, aber man kann auch viel übertreiben.« Ebd., S. 357. Goethe »haßt mit Eifer Mystik, Geschraubtheit, Verworrenheit«, alle Verzwecklichung, alle Bombastik. Vergebens macht Körner darauf aufmerksam, daß Goethes Hauptcharaktere »nicht durch konventionellen Heroismus, sondern durch Menschlichkeit interessieren« (1788) Ebd., Brief an Schiller, S. 371.. Der ganze Adel und halb Deutschland ist in Aufregung, weil Goethe »die Würde« verletzt.
Und das ist es: es gibt eine Würdepartei. Ihre Exponenten sind Lessing und Kant. Sie werden in Bewegung gesetzt in dringenden Fällen, etwa wenn Goethe sich herausnimmt, in bissigen Xenien zu äußern, das Kreuz sei ihm fatal wie »Wanzen, Knoblauch und Tobak«. Ihre auswärtigen Korrespondenten sind Lavater und Pestalozzi. Ihre Habitués Klopstock, Herder, Fichte und Schelling Den tollen Spektakel, den die »Xenien« hervorriefen, muß man in Zeitdokumenten nachlesen, um sich ein Bild davon zu machen. Der Berliner Buchhändler Nicolai sagte in einer Gegenschrift: vielleicht wäre Goethe eine kleine Züchtigung durch Lessing, wie dieser sie vorgehabt habe, sehr heilsam gewesen. Von Kant, dem man eine Streitschrift gegen die Xenien hatte zustellen lassen, kam die Antwort, »daß er mit dem unwürdigen Benehmen von Schiller und Goethe höchst unzufrieden, vorzüglich aber gegen den Ersteren erzürnt wäre und daß er Ihre Art, sich gegen den bösartigen Angriff des Letzteren zu verteidigen, ganz vorzüglich fände«. (Goethe in vertraulichen Briefen, S. 596.) Lavater schrieb an den Grafen Friedrich Stollberg: »Stille, kräftig, demütig, mutig wollen wir, Lieber, mit lichtheller Weisheit und Würde dem garstigen Sanskülottismus, ohn' uns durch ihn beflecken zu lassen, entgegen arbeiten! Goethe ist nun auch – ich hätte bald gesagt: Profoss der Sanskülotten-Rotte geworden.- (S. 597).
Eine intellektuelle Partei sozusagen. Man hat sich recht und schlecht geeinigt auf das Humanitätsideal. Herder, den Goethe als »Generalsuperintendenten und Oberhofprediger« nach Weimar berufen hat, findet: »Die Religiosität ist die höchste Humanität des Menschen und man verwundere sich nicht, daß ich sie hierher rechne.« »Der deutsche Mensch«, S. 97. Aber um sich wohl zu wundern, muß man wissen, was man unter Religiosität und Humanität damals verstand. In Deutschland bedeuten die Worte nicht dasselbe wie anderswo. Die Religiosität des sächsischen Oberhofpredigers Herder war naturgemäß der Staatslutheranismus, die Humanität eine Art Verschwisterung von Toleranz und Aufklärung, die man als eine schöngeistige Pose in ernsthaften Fällen ohne gar große Bedenken auch fallen lassen konnte. Man vernehme Fichte hierüber: »Diese Zeitphilosophie war... gar flach, kränklich und armselig geworden, darbietend als ihr höchstes Gut eine gewisse Humanität, Liberalität und Popularität... Seit der Französischen Revolution sind die Lehren vom Menschenrechte und von der Freiheit und ursprünglichen Gleichheit aller... auch von einigen der Unseren in der Hitze des Streites mit einem zu großen Akzente (!) behandelt worden.« Ebd., S. 30. Nur die abstrakte Diktion der deutschen Begriffsphilosophie verhinderte, daß man im Ausland die Rhetorik der klassischen Humanität nicht früher durchschaute. Das Humanitätsideal war sehr theoretisch, und gerade aus Fichtes Worten ersieht man, welche Schwenkung die hohen Begriffe von Freiheit, Menschheit und Recht machten, als die Revolution sie aus der Theorie in die Praxis zu übersetzen begann Dasselbe war 1914 der Fall. Siehe Thomas Mann, Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel, Frank Wedekind. Von den »Philosophen« ganz zu schweigen..
Beherrschung des vorgefundenen und vorhandenen sinnlichen Seins! Man vergleiche damit, wie die französischen Moralisten von Montaigne und Vauvenargues bis Larochefoucauld und Chamfort die vorhandenen Sinne und Interessen durchdrangen und sublimierten! In Frankreich wird Humanität das Wissen um Leib und Seele; in Deutschland zeigt sich gelahrter Zirkel Importhumanismus. In Deutschland »das Leben als Tat«, in Frankreich »die Tat als das Leben«. Der »süße mystische Opiumtraum unverstandener (!) Ideen und Gefühle«, von dem Herder an Hamann schreibt »Goethe in vertraulichen Briefen«, S. 281., kapituliert gar rasch, wenn Herrscher, Interesse und Lage gebieten.
Hier ist es am Platze, von der deutschen Universalität zu sprechen. Zu Zeiten der Würdepartei bestand auch die Universalität nur im Beherrschen des vorgefundenen und vorhandenen sinnlichen Seins. Die Wissensgebiete dehnten sich aus, schwollen an mit tausend Polypenarmen, aber nur deshalb, weil man rascher rezitierte, als man in Leben und Blut umsetzte. Universalität wurde Vielseitigkeit aus Mangel an Standpunkt und Überzeugung, an Einheit und Filiation. Vergebens suchten die Geister zur Kirche zurück. Das Völkergesetz und Völkergewissen, das universale Bekenntnis Europas zum Demuts- und Hilfsideal war von Luther zerstört, und kein Ersatz war vorhanden. Rührend erscheint die Bemühung der Jugend, hier überbrücken zu wollen. Da Religion und Moral widerstreiten, versucht man's poetisch im schönen Schein. »Die berechtigte deutsche Nachahmungssucht«, schreibt Friedrich Schlegel, »mag hie und da wirklich den Spott verdienen, mit dem man sie zu brandmarken pflegt. Im ganzen aber ist Vielseitigkeit ein echter Fortschritt der ästhetischen Bildung. Die sogenannte Charakterlosigkeit der Deutschen ist also dem manierierten Charakter anderer Nationen weit vorzuziehen.« »Der deutsche Mensch«, S. 46 f. In ähnlichem Sinne äußert sich Wilhelm von Humboldt. Ist aber diese Art Universalität nicht ein Täuschungsversuch, ein glänzendes Elend und Desperation? Auch der sozialistische Kosmopolitismus der Deutschen, die marxistische Internationale muß so betrachtet werden. Sie ist eine Ausgeburt nationaler Desperation. Wenn Ledebour im deutschen Reichstag (24. Okt. 1918) – mit erhobener Stimme – bekennt: »Durch meine Zugehörigkeit zur internationalen Sozialdemokratie höre ich nicht auf, ein Deutscher zu sein«, bekennt er sich gerade dann zu seinem Deutschtum, wenn es gelten würde, sich nicht dazu zu bekennen. Das Bekenntnis erfolgte gegen die Erfüllung berechtigter polnischer Ansprüche auf Westpreußen. Gerade die Führer der Nation beweisen es. Goethe sowohl wie Kant und Nietzsche litten daran, keine klare Gewissensform ihrer Tugenden finden zu können; selbst die Genies blieben déracinés, und sie haben durch Monstrosität, Dialektik und Vielgliedrigkeit nicht ersetzt, was ihnen an straffer Einwirkung auf die Nation und die christliche Basis verlorenging.
Der Mangel an Überblick über das Angehäufte, dem Lehrer und Schüler verfielen, und die Gier nach stets neuer Materie führten zu Indigestion in Gedanke und Literatur, und noch heute will niemand einsehen, daß die Sublimierung weniger Urphänomene weiterbringt als das faustische Taumeln von Wunsch zu Genuß. Macht, Dämonie wurden des Deutschen Ersatz für die Größe, sein nihilistisches Credo, recht eigentlich Quell aller Übel. Er muß zwischen Himmel und Hölle über den Blocksberg geritten sein, ehe er einsieht, daß es vernünftiger ist, Dämme zu bauen als sich in Liebe und Krieg, Metaphysik und Kommerz vollbärtig auszuleben. »Faust« aber ist eine Persiflage; die Persiflage auf den Universalitätsprofessor. Er hat viel studiert, er ist Doktor von vier Fakultäten. Er kennt alles aus Büchern, vom Hörensagen. Der Teufel flüstert ihm Cochonnerien ins Ohr. Er macht einem Mädel ein Kind, führt griechische Tragödien auf und kommt in den Himmel, nicht ohne vorher den Teufel betrogen zu haben. Das alles mit Tiefsinn und Gottvertrauen.
Ist die deutsche Humanität am Ende identisch mit der »moralischen Weltordnung«? Und die moralische Weltordnung mit der lutheranischen Orthodoxie? Seltsam! Die Deutschen glauben an solche Weltordnung nur, wenn sie von ihnen kommt. Wenn Präsident Wilson sie vorschlägt, lehnen sie ab. Gibt es das aber, eine moralische Weltordnung, und ist nicht gerade Voraussetzung jeder heroischen Moral eine immoralische Weltordnung? »Es ist gar nicht zweifelhaft«, sagt Fichte, »sondern das Gewisseste, was es gibt, ja der Grund aller anderen Gewißheit, das einzige absolut gültige Objektive, daß es eine moralische Weltordnung gibt.« »Deutscher Glaube«, S. 26. Und Schelling erklärt uns, warum und wieso: »Die ganze Welt ist mein moralisches Eigentum« und: »Mannigfache Erfahrungen in der moralischen Welt lehren mich, daß ich in einem Reich moralischer Wesen bin.« »Der deutsche Mensch«, S. 17, 19. Das ist ja vortrefflich. Was bleibt da zu wünschen übrig? Eine Welt moralischer Biedermänner, die nicht den geringsten Zweifel haben, daß ihre Konspiration mit dem Absolutismus eine moralische Weltordnung ergibt, und die nur eine Sorge quält: auf welche schickliche Weise man das »radikal Böse«, das natürlich von den Andern, den rebellischen Untertanen kommt, in die moralische Weltordnung einordnen könne Nicht nur Fichte, sondern auch Kant, Humboldt und Hegel, ja sogar Schopenhauer setzten die allgemeine Bösartigkeit voraus, wenn sie von den Aufgaben des Staates sprachen.. Kann man sich einen trostloseren Hochmut denken, ein fahrlässigeres und inhumaneres Verzichtleisten auf jede Moralkritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein germanisch-professoraler Leitzordner »Universum« mit metaphysischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist alle Moral (die von oben kommt) fertig. »Freiheit ist des Zwanges Zweck.« Klappe auf, Klappe zu, dialektischer Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres, Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten.
Fichte wurde der Großahne Chamberlains als einer der Eifrigsten, die sich um Exaltierung des »deutschen Gedankens« bemühten. Ach, daß er die Freiheit verwechselte mit der erlaubten, der »intelligiblen« Freiheit auf Widerruf und auf Kündigung! »Alle, die entweder selbst schöpferisch und hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens entschieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluß ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche.« »Deutsches Volkstum«, S. 30. Eine schlichte Formel geistiger Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799) Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder sehr aktuell geworden sind: »Es ist nichts gewisser als das Gewisseste: daß, wenn nicht die Franzosen die ungeheuerste Übermacht erringen und in Deutschland, wenigstens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird.« Heinrich Heine, »Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«, S. 110 f. Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische Lehrer für die Erziehung dieser Jugend heranzubilden. Eine echt fichtige Freiheitsformel: von schlechtem Gedächtnis diktiert und unverwüstlichem Optimismus. Ein Glück, daß der preußische Staat ihn nicht verstand. Die Folge wäre gewesen: eine Art pietistischer Jesuitenschule unter landesherrlichem Protektorat. Nein, Fichte war kein überwältigender Geist Das hat schon Heine konstatiert: »Der Fichte'sche Idealismus gehört zu den kolossalsten Irrtümern, die jemals der menschliche Geist ausgeheckt. Er ist gottloser und verdammlicher als der plumpste Materialismus.« Und Schopenhauer: »Um mich über den intellektuellen Charakter der Deutschen und die auf ihn zu gründenden Erwartungen zu orientieren, habe ich mir einige feste Punkte gemacht, auf die ich vorkommenden Falls allemal zurücksehe: 1. daß Fichte, dieser überbietende Hanswurst Kants, selbst 40 Jahre nach seinem Auftreten noch immer neben Kant genannt wird, als wäre er eben auch so einer. Ηρακλης και πιθηκος!« – Was sagen dazu die Herren des Verlags Eugen Diederichs, die noch 1914 »in Nachfolge von Fichte und Lagarde auf volkstümlicher und religiöser Grundlage einen neuen deutschen Idealismus« vorbereiten? – Hier übrigens auch einige Sätze von Herrn Lagarde:, aber ein Prophet. »Endlich«, sagte er, »und wo ist denn das Ende? – endlich muß doch alles einlaufen in den sicheren Hafen der ewigen Ruhe und Seligkeit; endlich einmal muß doch heraustreten das göttliche Reich und seine Gewalt und seine Kraft und seine Herrlichkeit.« »Deutscher Glaube«, S. 35. Es ist herausgetreten.
Am 14. Juli 1789 brach in Frankreich die Revolution aus. Assez de la métaphysique! Frankreich wollte wissen, wie es um den Menschen bestellt sei. Die Philosophie Europas kam an den Tag. Die französische Nation wollte wissen, was man wollen darf, sollte auch Blut, sehr viel Blut dabei fließen. Atheismus und Unvernunft offenbarten sich, alles Entsetzen und alles Entzücken.
Nous voulons la bastille! Die mittelalterlichen Mauern barsten und fielen krachend zusammen. Besitzergreifung des Rechts im Namen der Menschheit. »Wollt ihr grün, die Farbe der Hoffnung, oder rot, die Farbe des Cincinnatusorden?«, rief Camille Desmoulins, die Pistole in der Hand, von einem Tisch auf der Straße. »Grün, grün«, klatschte begeistert die Menge. Der Redner springt vom Tisch, steckt ein Baumblatt an seinen Hut; alle Kastanienbäume im Palais werden entlaubt und im Zuge, tanzend und hüteschwenkend, begibt sich die Menge zum Bildhauer Curtius.
Wer was zu sagen hatte, kam auf die Straße. Wer nicht auf die Straße kam, war ein Tropf. Sub specie temporis werden die Philosophien behandelt. Ewige Dinge geschehen, weil keiner mehr an die Ewigkeit denkt. »Was das Wort Majestät betrifft«, sagte Guadet, »so darf man es ferner nur noch verwenden, wenn man von Gott und vom Volke spricht.«
Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: die himmlischen Worte überstürzten einander. Enthusiasmus und Freude erheben auf Riesenschultern Paris zur Hauptstadt der Welt. Papst, Henker und Thron versinken im Dunkel. Denn siehe: euch wurde der Mitmensch geboren. »La vertu est un enthousiasme«: Nichts mehr von leidendem Glauben, nichts mehr von Dogmen. Das Dogma ist tot; tot der pedantische Gott, der überm Sinai Dogmen erdacht hat. Mensch sein heißt tanzen und jubeln können: alle Geisteskräfte zugleich entströmen dem Körper.
Die Carmagnole heult und die Marseillaise grollt. Brennende Köpfe, schäumende Lippen. »Das Vaterland ist in Gefahr«, sagt Brisson, »nicht weil es an Truppen fehlt, nein, weil man seine Kräfte gelähmt hat. Und wer hat sie gelähmt? Ein einziger Mann, gerade der, den die Verfassung zu ihrem Haupte und den treulose Ratgeber zu ihrem Feinde gemacht haben. Man sagt euch, fürchtet die Könige von Ungarn und Preußen, und ich sage, die Hauptmacht dieser Könige ist am Hofe, und da müssen wir sie zuerst besiegen. Man sagt euch, schlagt auf die widerspenstigen Priester im ganzen Königreiche, und ich sage, schlagt auf den Hof der Tuilerien, und ihr schlagt jene Priester mit einem einzigen Schlage. Man sagt euch, verfolgt alle Ränkeschmiede, alle Meuterer, alle Verschwörer; ich sage, diese verschwinden alle, wenn ihr auf das Kabinett der Tuilerien schlagt; denn dies Kabinett ist der Mittelpunkt, wo alle Fäden zusammenlaufen, wo alle Anschläge angezettelt werden, von wo jeder erste Anstoß kommt. Die Nation ist der Spielball dieses Kabinetts. Das ist das Geheimnis unserer Lage. Das ist die Quelle des Übels. Das ist die Stelle, wo abgeholfen werden muß.« Mignet, »Geschichte der französischen Revolution 1789–1814«, Leipzig o. J., S. 174 f.
Aha, sagte das Volk, das Kabinett, das königliche Kabinett; und wir dachten, die Zentrumspartei! Aha, sagte das Volk, die Dunkelmänner, die die Befehle ausgeben, die Minister und Junker! Heraus damit, ans Licht mit ihnen! Man setze dem König die rote Mütze auf, man schleppe ihn vor den Konvent! Er soll Rechenschaft geben. Seine Ratgeber – wer sind sie? Nicht dem Zivilkabinett, nur uns selber gehorchen wir. Neue Verfassung, neue Justiz! Wir wollen Vergeltung, man hat uns betrogen! Kein Volk, auch das gutmütigste nicht, läßt sich zum Narren halten!
Sie sind betrunken von Wut, wie wir Deutsche es wären, wenn wir dahinterkämen, daß wir betrogen und Narren sind. Sich selbst erlösen will die stolze französische Seele, denn die Zeiten sind heillos, kein Heiland hilft. »Sagen wir Europa«, ruft Isnard von der Rednertribüne, »daß alle Kämpfe, die die Völker auf Befehl von Despoten ausfechten, den Streichen gleichkommen, die sich zwei Freunde, durch einen treulosen Anstifter aufgereizt, in der Dunkelheit versetzen. Wenn die Tageshelle anbricht, werfen sie die Waffen weg, umarmen sich und züchtigen den, der sie betrog; ebenso werden die Völker sich im Angesicht der entthronten Tyrannen, der getrösteten Erde und des erfreuten Himmels umarmen, wenn im Augenblick, wo die feindlichen Heere mit den unsern kämpfen, das Licht der Philosophie ihre Augen trifft.« Ebd., S. 153.
Ja, die Französische Revolution war praktische Philosophie. Zwei mächtige Schriftsteller hatten sie vorbereitet: Voltaire und Rousseau. Voltaire, das höchste Beispiel des écrivain: Die Einleitung durch den Eklat war das Geheimnis seines Erfolges. Das Publikum und die Parteien nahmen Stellung in wilden Debatten, eh' noch das Werk da war. Der Entwurf schon war Auseinandersetzung mit allen Einwänden, Drohungen, Hoffnungen; Angst und Entzücken des Publikums. Nur in Frankreich ist so etwas möglich. Intrigen, Wetten, Duelle gingen der Publikation voraus. Das Erscheinen des Buches: nur noch Bestätigung, Urteil und Richtspruch. Rousseau: der Gesetzgeber der neuen Moral. Goethe lebte nach seinen Maximen; die Literatur halb Europas von seinem Ruhm. Der »Contrat social« wurde die Bergpredigt verjüngter Völker. Korsen und Polen erbaten sich Verfassungen von ihm. Die Revolution aber machte die Probe aufs Exempel; die Revolution, dieser Brennpunkt aller Geistesgegenwart eines Volkes. Wo ist Charakter? Wo jeder sagt, was er denkt, und der Augenblick über das Wort entscheidet.
Einen ungeheuren Verbrauch von Philosophien zeigt der französische Volksaufstand. Kritik des Systems und aller Systeme, lautet die Losung. Die Ideologien, von denen Napoleon sprach, als er nach Deutschland kam, und die »gotischen Vorurteile«, von denen er sprach, als er im Marcolini-Palais scheiternd vor Metternich stand, diese Vorurteile und Ideologien hat die Französische Revolution zerstört. Von nun an interessierte nicht mehr die Prätention, sondern das Herz, das dahinter schlug. Scheingrößen verschwanden.
Die Verfassung von 1793 setzte die Herrschaft der Menge fest. Die Masse ist Quell der Gewalt und auch Quell ihrer Ausübung. »Je mehr der Staatskörper schwitzt«, ruft Collot-Herbois, »desto gesünder wird er.« Der Staatskörper schwitzte aber Blut, nicht Limonade. Männer wie Danton: ihre Partei ging ihnen über Rücksicht, Gesetz, über Menschlichkeit. Um der Sache des Menschen willen. Die Gedanken wurden locker, die Köpfe saßen nicht fest mehr zwischen den Schultern. Von Saint-Just höhnte Desmoulins, daß er seinen Kopf »wie das heilige Sakrament mit Ehrfurcht auf seinen Schultern trage«. Man hat die Guillotinagen der Revolution verflucht, aber man hat darüber die Feste des Genies und der Tugend vergessen und jenes berauschte Wort Robespierres: »Volk, überlassen wir uns heute dem Entzücken einer reinen Freude! Morgen bekämpfen wir aufs neue die Laster und die Tyrannen.«
»Eine Revolution ist die Wirkung der verschiedenen Systeme, die das Jahrhundert, in dem sie entstanden ist, in Bewegung gesetzt haben«, sagt Mignet Ebd., S. 287.. Nun, das Jahrhundert war das der Aufklärung und der Humanität, und die Guillotine war die Probe aufs Exempel. Was würde in Deutschland wohl übrigbleiben, wenn erst die Phrasen verschwanden? Die Revolution war elementarer Ausbruch des Widerwillens gegen Rechthaberei und Bevormundung, gegen Doktrin und Scholastik Es ist bemerkenswert, daß keiner der großen Parteidoktrinäre der Revolution diese überlebt hat. . Ihr blasphemisches Schlachten war eine Form von Sichausleben lange vor Nietzsche.
Doch schon auch Wendepunkt. Eine universale Tat war geschehen; jetzt konnte von vorne begonnen werden. Frankreich hatte mit Ernst gesprochen. England, Italien, Rußland nahmen das Wort auf. Die Vernunft war vergöttert und eingesetzt, dem Menschenherzen war Raum geschaffen. Es war doch einmal. Nun konnte die Heiligung wieder beginnen. Europa sah Freiheit, restlose Freiheit, das Letzte nach außen gekehrt, das Himmlische und das Verruchte. An alle Nationen der Welt ging die Aufforderung, für die Demokratie zu werben. Ein apostolisches Tuch reiner und unreiner Tiere: so stürmte die Trikolore.
Was haben die Deutschen getan, diesen beträchtlichen Dingen gerecht zu werden? Die Bibel- und Professorenkränzchen? Der Superintendent und der Geheimrat, der Professor und der Assessor? Wollen sie immer noch etwas Besonderes sein, immer sich noch vor der Welt verschließen?
Alle scheint das Ereignis überrascht zu haben. Die Philosophen pflegten nach England zu reisen, die Künstler nach Italien. Niemand nach Paris. Der einzige Humboldt nahm teil an einigen Sitzungen der Nationalversammlung à titre d'espion, muß man gestehen, denn er ging dann in preußische Dienste und saß auch im Wiener Kongreß.
Die Chefs der intellektuellen Partei kannten die große Revolution nur von Hörensagen. Voltaire hatte die Geister beschäftigt, Rousseau die Gemüter. Aber wenn Friedrich II. die Enzyklopädisten zu sich berief, – wer traf sonst noch mit ihnen zusammen? 1785 begannen Preußens Geheimverhandlungen für das Zustandekommen des »Fürstenbunds« (Programm: Sicherheit und Ehre der Kronen).
Auch Karl August von Weimar fand sich hineingezogen, und da er den Ehrgeiz zeigte, in der großen Politik eine Rolle zu spielen, sah Goethe seine künstlerischen Hoffnungen vereitelt. Im zimtbraunen Bratenrock, chapeau bas, Degen an der Seite, komplimentierend wie der steifste Hofjunker, erscheint Johann Wolfgang 1789 in Mainz. »An Begeisterung für ein hohes Ideal glaube ich in Goethe nicht mehr«, schreibt Huber an Körner. Und als derselbe Goethe 1792 zur verbündeten Armee nach Frankreich geht – er ließ gerade sein Wohnhaus herrschaftlich umbauen – wird er geschildert: »Proportioniert dick, breitschultrig. Gesicht voll, mit ziemlich hängenden Backen.« »Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen«, David Veit an Rahel Levin, S. 477 f.
Kant schrieb eine Abhandlung über das »Radikal Böse« (1792), offenbar gegen die Hébertisten, und veröffentlichte, erst als die Revolution Europa bedrohte, 1796 seinen Entwurf »Zum ewigen Frieden«. 1790 hatte er den Krieg noch eine »erhabene« Erscheinung genannt In der »Kritik der Urteilskraft« (§ 23). – 1795 eroberte dann Pichegru Holland und setzte eine Batavische Republik ein. Preußen, durch Entziehung der englischen Hilfsgelder und durch die feindselige Haltung Rußlands und Englands in die Enge getrieben, trat vom Koalitionskriege zurück und mußte im Frieden von Basel seine linksrheinischen Besitzungen Frankreich überlassen.. Nach Kants vorsichtiger Terminologie soll damit eine »über Menschenmacht« erhabene Erscheinung gemeint sein, aber was will man? Selbst ein so witziger Kopf wie Herr Scheler hat das Wort mißverstanden Vgl. Nicolai, »Die Biologie des Krieges«, Der Mißbrauch Kants, S. 439 ff. Es wird die deutschen Republikaner schmerzen, daß meine Darstellung der von Nicolai widerspricht, aber ich glaube, sie ist die richtigere. Unsere Klassiker beweisen nicht viel. Sie sind zweideutig. Wir müssen eine neue Tradition schaffen..
In seinem Friedensentwurf bezeichnete Kant als Voraussetzung des »ewigen Friedens« die republikanische Verfassung, und an anderer Stelle seiner Schriften sprach er sogar, wie die »Frankfurter Zeitung« nach hundertdreißig Jahren glückstrahlend entdeckt hat, vom parlamentarischen System. Man könnte demnach nicht sagen, Kant sei den Ereignissen taub gegenübergestanden, wenn Fichte nicht darüber belehrte, was man zu damaliger Zeit in der Gelehrtenrepublik unter Republik verstand »Im Mittelalter nannte eine Stadt sich frei und Republik, nachdem sie von dem Reiche, das in der Entfernung nie schützte, aber dennoch zuweilen lästig wurde, sich losgerissen hatte. Der ganze Erfolg dieser Befreiungen lief in der Regel darauf hinaus, daß man, anstatt ein Glied der großen Anarchie zu bleiben, sich seine Anarchie eigens für sich selbst einrichtete, und die Streiche, die man haben sollte, sich von nun an mit eigenen Händen erteilte.« (Fichte, »Macchiavell«, Kritische Ausgabe von H. Schulz, Leipzig 1918, S. 7 f.) Was Fichte hier beschreibt, ist das damalige Verhältnis Preußens zum »Reich«. Und was Kant vorschwebte, war wohl als Konzession an die drohenden Franzosen eine Auflösung des Heiligen Römischen Reiches in Adelsrepubliken, niemals aber eine preußische oder gar deutsche Republik im heutigen Sinne. . A priori – das ist's, a priori – bestritt Kant die Möglichkeit einer Landung Bonapartes in Ägypten; selbst dann noch, als die Zeitungen sie längst schon als glücklich beendet meldeten E. A. Ch. Wasiansky, »Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren«, »Kants Leben in Darstellungen von Zeitgenossen«, Deutsche Bibliothek, Berlin, S. 224.. Von den Franzosen im ganzen aber schrieb er: »Die Kehrseite der Münze ist die nicht genugsam durch überlegte Grundsätze gezügelte Lebhaftigkeit, und bei hellsehender Vernunft ein Leichtsinn, gewisse Formen, bloß weil sie alt oder auch nur übermäßig gepriesen worden, wenn man sich gleich dabei wohl befunden hat, nicht lange bestehen zu lassen, und ein ansteckender Freiheitsgeist...« »Der deutsche Mensch«, S. 38.
Auch Fichte bemühte sich um die junge französische Republik; indem er den Sicherheitsstandpunkt geltend machte. »Der Hauptgrundsatz jeder Staatslehre, die sich selbst versteht, ist enthalten in folgenden Worten Machiavells: jedweder, der eine Republik (oder überhaupt einen Staat) errichtet und demselben Gesetze gibt, muß voraussetzen, daß alle Menschen bösartig sind, und daß ohne alle Ausnahme sie alsbald ihre innere Bösartigkeit auslassen werden, sobald sie dazu eine sichere Gelegenheit finden.« Ebd., S. 26. (Die Professoren also auch?) Was die Freiheit betrifft, so findet sie Fichte am besten garantiert »im Gesetz« und »nur von den Deutschen, die seit Jahrtausenden für diesen großen Zweck da sind und ihm langsam entgegenreifen; ein anderes Element für diese Entwicklung ist in der Menschheit nicht da« Ebd., S. 51..
Wilhelm von Humboldt, gebürtig zu Potsdam, eilte auf die Kunde von der Französischen Revolution nach Paris. In seiner Schrift »Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates« verarbeitete er in preußischem Sinne den Rousseauschen Satz, daß das demokratische Massenrecht den einzelnen Menschen auch »zwingen könne, frei zu sein« Als Beispiel dafür, wie dieser Rousseausche Satz in Deutschland Schule machte und wie er hier interpretiert wurde, vergleiche man übrigens einen Ausspruch Schellings, der den Satz von der »Freiheit, die des Zwanges Zweck« ist, für Kants Erfindung hielt: »Der Herrscher, der den freiwilligen Tugenden (sic!) keinen Raum, der Gesellschaft keine Entwicklung gestattet, dem, in Kants Weise zu reden, die Freiheit nicht des Zwanges Zweck ist, ein solcher ist ein Despot.« Für den Einfluß Rousseaus auf Kant spricht hinreichend die Tatsache, daß »außer J. J. Rousseaus Kupferstiche, der in seinem Wohnzimmer war, sich nichts von dieser Art in seinem ganzen Hause befand« (nach Borowsky). ; indem er nämlich, wie Herr Moeller van den Bruck mitteilt, »die sittliche Freiheit« heranzog, die er als Kantianer mitbrachte, und von der Rousseau gesagt hatte, daß sie nicht zu den Aufgaben seiner Arbeit gehöre Moeller van den Bruck, »Wilhelm von Humboldt und die preußische Freiheit«, Feuilleton im roten »Tag«, Berlin, Winter 1918. Moeller von den Bruck ist der Verfasser eines bei Bruns in Minden erschienenen Prachtwerkes »Die Deutschen. Unsere Menschengeschichte«. Das Werk »zerfällt« in acht Bände. 1/2 »Verirrte und führende Deutsche«, 3/4 »Verschwärmte und entscheidende Deutsche«, 5/6 »Gestaltende Deutsche. Goethe«, 7/8 »Scheiternde und lachende Deutsche«. Herr Moeller van den Bruck wird voraussichtlich demnächst einen Nachtrag 9/10 »Fade und bissige Deutsche« bringen, worin er von dieser Notiz Kenntnis gibt..
Die deutschen Bearbeitungen Rousseaus sind interessant. Sie lassen die philosophische Mystifikation auf der Tat ertappen. Rousseau setzte an den Anfang seines »Contrat social« den wohlbedachten revolutionären Satz: »Der Mensch ist frei geboren und ist doch überall in Banden.« Schiller machte daraus nach Kants intelligiblem Muster: »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei und würd' er in Ketten geboren.« »Und diese Freiheit« (in Ketten geboren!), sagt nun Moeller van den Bruck, »war es, die Humboldt gegen den Staat sicher zu stellen suchte.« Später erst, auf dem Wiener Kongreß, »wo ihm nicht Hardenberg, nicht Metternich, nicht Talleyrand an Bildung, geschweige denn an Bedeutung gewachsen waren«; als Preußen »gezwungen war, das Schwergewicht von den Forderungen des Individuums und der Freiheit ganz auf die des Staates und des Zwanges zu verlegen«, bekannte Humboldt vor der Wirklichkeit, daß »Sicherheit des Ganzen wichtiger ist als Freiheit des einzelnen«. Auf den Vorschlag Talleyrands, man möge den Kongreß im Namen des öffentlichen Rechts eröffnen, antwortete Humboldt: »Was soll hier das öffentliche Recht?« Ch. Seignobos, »1815–1915. Vom Wiener Kongreß bis zum Krieg von 1914«, Lausanne 1915, S. 5. Da hat man die ganze Entwicklung: von Königsberg über Jena nach Wien.
Der einzige Lichtenberg scheint Frankreich besser verstanden zu haben. In seinen »Politischen Bemerkungen« finden sich Sätze, die noch heute gelten und seine volle Aufmerksamkeit und Sympathie für die Revolution, aber auch seine Besorgnis nicht verhehlen. »Die Lüftung der Nation kommt mir zur Aufklärung derselben unumgänglich nötig vor. Ich sehe darin nichts so sehr Arges, daß man in Frankreich der christlichen Religion entsagt hat. Wie, wenn das Volk nun ohne allen äußeren Zwang in ihren Schoß zurückkehrt? Vielleicht war es nötig, sie einmal ganz aufzuheben, um sie gereinigt wieder einzuführen.« Georg Christoph Lichtenberg, »Vermischte Schriften«, Bd. I, Politische Betrachtungen, S. 225, 243. Oder: »Das Traurigste, was die Französische Revolution für uns bewirkt hat, ist unstreitig das, daß man jede vernünftige und von Gott und rechtswegen zu verlangende Forderung als einen Keim von Empörung ansehen wird.« Ebd., S. 240. und 1796: »Wir wollen nun sehen, was aus der französischen Republik wird, wenn die Gesetze ausgeschlafen haben.« Ebd., S. 253 (Nachtrag zu den Polit. Betrachtungen). Das ist der ganze liebe kluge Lichtenberg, der klüger war als alle die Häupter der Würdepartei zusammengenommen.
Denn was geschah? Nach der Maxime »Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst« wurden die freiheitlichen Ideen der Revolution von den deutschen Regierungen unter Zuhilfenahme ihrer Hof-, Staats- und Plaisirhumanisten ins Unverbindliche abreagiert Es ist ein hartes Wort, das auch Schiller trifft. Er, wenn einer, wäre als Ehrenbürger der Revolution gehalten gewesen, die neuen Ideale postulativ in Prosaschriften zur Geltung zu bringen, statt sie in versifizierter Racine-Nachfolge ästhetisch und dekorativ zu entwerten. Aus der feudal-philanthropischen Humanitätsschwärmerei wäre ein reales Wissen um die Tatsache der Inhumanität und Unfreiheit geworden, aus dem Allerweltshumanismus ein heilsames Eingeständnis der »Grenzen der Nation«.. Die Regierungen ließen die »intelligible Freiheit«, um die sie sich nur so lange nicht kümmerten, als die Herren Philosophen und Gelehrten keine praktische Konsequenz daraus zogen, summa cum laude als nationale Spezialität dozieren, und die sogenannten Freiheitskriege (preußisch protegierte Franktireuraufstände) erlaubten der düpierten Nation, ihren Haß gegen den Fortschritt und ihren Ärger über versäumte Gelegenheiten sogar auf den Namen Heroismus zu taufen. Eine Konspiration gegen den Fortschritt war es, was Deutschland mit Preußen liierte.
Man kann die Erniedrigung, die das preußische Pflichtideal postuliert, und die Depravation, zu der es notwendig führen muß, nicht verstehen, wenn man seine Entwicklung nicht kennt. Dem preußischen Pflichtideal liegt noch heute eine Art stillschweigenden Vertragsverhältnisses zugrunde zwischen dem Fürsten und seinem Untertanen. Der Untertan verpflichtet sich, zu »dienen«, der Fürst erzieht ihn und »schützt« ihn dafür. Überall, wo es Patriarchen und Fürsten gibt, hat es einen ähnlichen Vertrag gegeben. In Preußen aber kam dazu folgendes: Das Elend des Dreißigjährigen Krieges hatte vom Abschaum aller Völker Söldnerhorden hinterlassen, die herrenlos und marode, raubend und wohl auch mordend, das Land durchstreiften. Notgedrungen vielleicht, vielleicht aus Frömmigkeit – Armenwesen und Polizei gehen in protestantischen Staaten ja Hand in Hand – schuf Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, den miles perpetuus, das stehende Heer. Die Horde fand jetzt ein Unterkommen. Pflicht aber wurde »verdammte Pflicht und Schuldigkeit«, aus billiger Anerkennung der kurfürstlichen Güte.
Der miles perpetuus ist ein tief verworfenes Geschöpf; er kann seinem Herrgott danken, daß der Kurfürst ihn nicht aufknüpft, sondern ihn zu lebenslänglichem »Dienst« begnadigt. Der Kurfürst freilich ist kein gar gelinder Herr. Aufs strengste geht er gegen Insubordination, Raufen und Balgen seiner Offiziere vor: Duellanten und Sekundanten bestraft er mit dem Tode. Durch hinreichenden und »regelmäßig ausgezahlten« Sold indessen fesselt er Mannschaft und Offiziere an sich. Auch durch die Macht seiner »christlichen« Persönlichkeit.
Der preußische Militarismus in seinen Grundlagen ist eine Institution »praktischen Christentums«. Das ist hinreichend ersichtlich. Die von Gott eingesetzte Obrigkeit begnadigt den Sünder. Es ist ein religiöser Militarismus. Bei einer Exaltierung des Bußbegriffes ließe sich daraus ein preußischer Militärkatholizismus abstrahieren. Soweit sind wir noch nicht gekommen, weil es an produktiven Köpfen fehlt. Aber wenn Herr Scheler sich einmal damit beschäftigen wollte, ließe sich denken, daß man Katholizismus in diesem Punkte sogar mit Preußentum vereinigen kann. Dann würde es Freiwillige geben aus Dandyismus.
Die »verdammte« Pflicht und Schuldigkeit besagt, daß es hier eine Hölle gab ohne Entrinnen. Das Exerzieren des miles perpetuus und die Exerzitien der Jesuiten treffen sich in punkto menschlicher Erbärmlichkeit, Nullität und Zerknirschung. Kaserne, Kloster und Zuchthaus wetteifern in Pauperismus, schlechter Kost und Verachtung des menschlichen Stolzes. Die militärischen »Generales Observations« jenes Soldatennarren Friedrich Wilhelm I. und die »Geistlichen Bußübungen« des Ignatius Loyola berühren einander im Paragraphen. Artikel I: »Es muß zuvörderst wohl darauff gesehen werden, daß, so offt ein Kerl im Gewehr, und absonderlich auf dem Ecerzir-Platze ist, sich bonair gebe, nemlich den Kopf, Leib und Füße recht und ungezwungen halte, und den Bauch einziehe.« Artikel VII: »Das erste im Exerciren muß seyn, einen Kerl zu dressieren, und ihm das air von einem Soldaten beyzubringen, daß der Bauer heraus kommt.« Oder Art. II für die Offiziere: »Weilen ein Kerl, welcher nicht Gott fürchtet, auch schwerlich seinem Herrn treu dienen, und seinen Vorgesetzten rechten Gehorsam leisten wird; Also sollen die Officiers den Soldaten wohl einschärfen, eines Christlichen und ehrbahren Wandels sich zu befleißigen; Weshalb die Officiers, wenn sie von eines Soldaten gottlosem Leben in Erfahrung kommen, selbigen vermahnen, und wenn er sich nicht bessert, den Kerl zum Priester schicken müssen.«
So im »Reglement, Vor die Königl. Preußische Infanterie«, Potsdam, den 1. Martii 1726 Siehe Tim Klein, »Der deutsche Soldat«, Zeugnisse von seinem wahren Wesen, München 1916. Das Buch ist »Dem Andenken unserer Gefallenen gewidmet« und beginnt mit Lessing- und Goethe-Zitaten. . Das Reglement ist beeinflußt vom Kriegsreglement des Spaniers Della Sala ed Abarca (1681), das auf Befehl des Königs ins Deutsche übersetzt wurde und mit geringen Änderungen auch an Friedrich den Großen überging. Von letzterem aber stammt jenes Wort, das die Herkunft des preußischen Soldaten noch deutlich erkennen läßt: »Kann ein Fürst, der seine Truppen in blaues Tuch kleidet, und ihnen Hüte mit weißen Schnüren gibt, der sie sich kehren läßt rechtsum und linksum, sie ehrenhalber einen Feldzug tun lassen, ohne den Ehrentitel eines Anführers von Taugenichtsen zu verdienen, die nur aus Not gedungene Henker werden, um das ehrbare Handwerk von Straßenräubern zu treiben?« Friedrich II., Brief an Voltaire, 27. Nov. 1773.
Man sieht: die preußische Armee regt zum Philosophieren an, und es ist kein Scherz, wenn ich sage, der preußische Militarismus beruht auf »Religionsphilosophie«. Er ist spanisch nach seiner Herkunft, Zuchtrute und Geißel, und wird nur überwunden werden von einer geistigen Disziplin, die sich an jesuitischen Vorbildern schulte Wann werden preußische Offiziere zu Loyolas werden? . Die preußische Armee in ihrem Ursprung ist ein Verbrecherinstitut, dem die Gnade des Fürsten zuteil geworden ist, und noch die Fuchtel heutiger Offiziere und Unteroffiziere, Kasematten- und Kasernendrill, der die absolute Inferiorität des ihnen ausgelieferten »Menschenmaterials« statuiert, zeigt Parallelen mit dem Gefängniswesen, die Gegenstand theologischer Dissertationen sein könnten.
Die Rache ist Ausgangspunkt einer brandenburgischen Hausphilosophie, der auch Kants Rigorismus sich nicht zu entziehen vermochte und der keine strengere Natur ihr spekulatives Interesse versagt. Die Subordination des Individuums, wie das preußische System sie verlangt, begann sogar die römische Kirche zu interessieren und die verwöhntesten Geister fallen uns ab, wenn wir der Satansschule uns nicht gewachsen zeigen. Was ist es anders als Mathematik, wenn Friedrich Wilhelm I. vor dem dröhnenden Gleichschritt der »langen Kerle«, vor den unerhört genauen Bewegungen der Körper und Linien Wirbelkrämpfe bekommt? »Enfin, ein Regiment ist die Braut, darumb man tanzet.« Brief Friedrich Wilhelms I. an Leopold von Anhalt-Dessau, den »alten Dessauer«, seinen Haupt-Exerzier- und Heermeister. Der Kantonist war zu lebenslänglichem Dienst verpflichtet. Unerbittlich regierte der Stock Zu den begnadigten Verbrechern kamen neugeworbene und sogar mit Gewalt zusammengetriebene Söldner aus der Hefe des Auslandes. Mehring (»Die Lessinglegende«) teilt Aktenstücke mit, aus denen hervorgeht, daß die Werber Friedrich Wilhelms I. in den an Preußen angrenzenden Ländern vogelfrei waren und erschlagen werden durften, wo man ihrer habhaft werden konnte. Das preußische Heer war eine Art Fremdenlegion im schlimmsten Sinne, den die Schauerballade mit diesem Worte verbindet. »So fand ich eine leere, wüste Stätte und versuchte, einen Bau darauf zu errichten«, schreibt Friedrich II. (»Zur Einführung in die Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg.«). Ist es ein Zufall, daß Kant schrieb, »wir stehen unter einer Disziplin der Vernunft. Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnisse zum moralischen Gesetze geben müssen?« »Kritik der praktischen Vernunft.« Kant fährt fort: »Wir sind zwar gesetzgebende Glieder eines durch Freiheit möglichen, durch praktische Vernunft uns zur Achtung vorgestellten Reichs der Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt desselben, und die Verkennung unserer niederen Stufe, als Geschöpfe, und Weigerung des Eigendünkels gegen das Ansehen des heiligen Gesetzes, ist schon eine Abtrünnigkeit von demselben dem Geiste nach, wenngleich der Buchstabe erfüllt wurde.« War nicht auch er fasziniert? Hat er das Regiment Friedrich Wilhelms nicht gut beschrieben, als sein gelehriger Schüler? »Pflicht, du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst...!« Und liegen nicht hier, im devotesten Byzantinismus, auch die Gründe beschlossen, die Katholiken, Polen und Spanier heute zu Kant und zu Preußen führen?
Kant sucht die Wurzel einer »edlen Abkunft« dieser »Pflicht«. Er fühlte als Preuße und Mensch sich verpflichtet, der teuflischen Wirklichkeit eine göttliche Wurzel zu suchen. Und er fand diese Wurzel, die »Würde«, in der freiwilligen Zustimmung zu Gebot und Befehl: in der Antizipation des Befehls, und er nannte sie »kategorischer Imperativ« im Namen der »Persönlichkeit«. Ist ein Satz wie der folgende zu verstehen ohne diese Prämissen? Kant schreibt: »Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im größten Unglücke des Lebens (dem Militärdienst), das er vermeiden konnte, wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können, noch das Bewußtsein aufrecht, daß er die Menschheit in seiner Person doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe: daß er sich nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe?« Ebd. Hält man Kant noch immer für den weltabgewandten Stubengelehrten? War er nicht vielmehr halb Opfer, halb Helfer? War das Substrat seiner abstrakt-anonymen Sätze nicht Friedrich Wilhelms Knutensystem? Glaubt man, ohne Grund sei er für die Chamberlain und Konsorten »die Braut, darumb man tanzet«? Er hat dem preußischen Untertanen, wenn auch mit Skrupel und Vorsicht, das gute Gewissen gegeben, sich knuten und knebeln zu lassen. Er war der zweite Deutsche nach Luther, der das Gewissen verriet; so sublim und abstrakt und so dunkel, daß es gewitzigter Sinne bedarf, hier noch die Urschrift zu lesen. Kant hob die preußische Knutung zur Metaphysik Es wäre leicht, den Nachweis zu erbringen, daß er als preußischer Staatsphilosoph gar nicht anders denken konnte. Die Augsburgische Konfession macht ihn zum religiösen Instrument seines Fürsten. Der Summepiscopus bestätigt seine Professur und er verpflichtet sich bei Amtsantritt, als treuer Untertan nur den Interessen und der Würde seines Landesherrn zu dienen..
Verbunden mit dem Erniedrigungsideal, das zum Zynismus führen mußte und auch führte, war die brandenburgische Tradition des »Sich-formidabel-Machens«. Der Große Kurfürst schreibt: »Unsere Voreltern seind der ganzen Welt formidable gewesen und, wenn sie sich nur gerühret, hat alles gezittert.« 1675 in einer Flugschrift »Teutschlands wahrhaftes Interesse bei jetzigen Konjunkturen« (Voigtländer, Quellenbücher, Bd. 50). Der Satz wird Haustradition. Friedrich Wilhelm I. legt seinem Nachfolger ans Herz: »Mein successor muß sich bearbeiten, daß aus all seinen Provinzen und in spezie Preußen die vom Adel und Grafen in die Armee amploiren und die Kinder in die Cadets gesetzt werden; ist formidabel für seinen Dienst und Armee, und ruhiger in seinem Lande. Die Seligkeit ist für Gott; alles andere aber muß mein sein.« Tim Klein, a. a. O., S. 26. Und Friedrich der Große in seinem »Militärischen Testament« von 1768: »Der Krieg ist gut, wenn man ihn unternimmt, um das Ansehen des Staates aufrechtzuerhalten. Keine Kunst ist schöner, keine nützlicher als die Kriegskunst.« Ebd., S. 72.
Aber noch eine andere Tradition bildet sich: die des preußischen Generalstabs. Unter dem Großen Kurfürsten raufte und balgte man sich noch. »So sollen vor allen Dingen Uns als dem Haupte, die Hohen und anderen Officirer, Reuter und Knechte, auch insgeheim alle und jede, so in unsern Diensten, und sich bey der Armee aufhalten, getrew, hold, gehorsam und gewärtig sein.« Churfürstliches Brandenburgisches Kriegs-Recht oder Articuls-Brieff. De Anno 1656. (Mylius, Corpus Const. March. III.) Unter Friedrich Wilhelm I. verlangt das Offiziersreglement, daß in den Regimentslisten geführt werden soll: »ob der Officier ein Säuffer ist, ob er guten Verstand und einen offenen Kopff hat, oder ob er dumm ist.« Tim Klein, a. a. O., S. 33. Friedrich II. entfernt dann die bürgerlichen Offiziere, und in den adligen Offizierskorps entsteht ein Junkersinn, der, nach Treitschke, »dem Volke noch unleidlicher wurde als die ungeschlachte Roheit früherer Zeiten«. Der »Point d'honneur« wurde eingeführt. Von einem General erfordert man, »daß er dissimulé sein und zugleich naturel scheinen soll, gelinde und strenge, beständig mißtrauisch und jederzeit tranquille, der aus humanité seiner Soldaten schonet, zuweilen aber mit deren Blut verschwenderisch ist« Friedrichs des Großen General-Prinzipa vom Kriege, appliciret auf die Tactique und auf die Disciplin, derer Preußischen Trouppen. 1753..
Nach dem Zusammenbruch der Armee bei Jena und Auerstädt werden Scharnhorst, Gneisenau, Grolmann und Boyen ihre Reorganisatoren. Es beginnt die »idealistische« Tradition des Generalstabs. »Es steht dieser Bund der Viere«, sagt der Konzipient der Dokumente, die ich hier anführe, »in der Tat so erhaben da, daß die Geschichte seit den Reformatoren des 16. Jahrhunderts nichts dem Ähnliches aufzuweisen hat« Tim Klein, a. a. O., S. 98. ; und das ist gewiß auch die Überzeugung der Lehrer in den Kadettenschulen. Nimmt man aber für Grolmann und Boyen die Namen der Blücher und Clausewitz, die heute noch leben und in aller Munde sind, so wird von den vier Haupthelden des damaligen preußischen Heeres berichtet, daß sie in ärmlichen Verhältnissen, ohne regelmäßigen Unterricht aufgewachsen sind. Das mag für »idealistische« Offiziere nicht ausschlaggebend sein, aber charakteristisch ist es.
Gleich Scharnhorst. »Sein Vater war hannoverischer Dragonerwachtmeister gewesen. Er wuchs arm und ohne Unterricht auf.« Ebd. Seine idée fixe war die Nationalmiliz, um die er die Französische Revolution beneidete. Seine Reformen hatten stets den »Krieg um die Freiheit« vor Augen. Die ganze Masse des Volkes bewaffnet, das war sein Traum. Wie konnte man sich dann formidabel machen! Er haßte die Franzosen. Weshalb wohl? Von Scharnhorst kam der Satz: »Hat die Vorsehung irgendeine neuere Einrichtung dem Menschen unmittelbar eingegeben, so ist es die Disziplin der stehenden Armee.« M. Jähns, »Heeresverfassungen und Völkerleben«, Scharnhorst über das stehende Heer. Da Scharnhorst aber gleichzeitig für die allgemeine Wehrpflicht agitierte, ergibt sich als sein Ideal: der altpreußische miles perpetuus, der Sträfling, in nationaler Anwendung.
Gneisenau genoß »den geistig dürftigen abergläubischen Unterricht von Jesuiten und Franziskanern« Tim Klein, a. a. O., S. 118.. In der Französischen Revolution sah er entzückt »die Entfesselung bisher gebundener Volkskräfte«. Er war überzeugt, daß die allgemeine Wehrpflicht und die Teilnahme des Volkes am politischen Leben sich »als selbstverständlich ergänzen würden«, und trat, selbst gegen die Ansicht des Freiherrn vom Stein, für die Abschaffung der Prügelstrafe ein, was er poetisch »Freiheit des Rückens« nannte Er trat dafür ein, weil er fürchtete, daß am altpreußischen Stock- und Spießrutenlauf die allgemeine Wehrpflicht scheitern könne. Es war eine Konzession an den romantischen Bürger, keineswegs Freiheitsgeist. (Vgl. Delbrück, »Das Leben des Feldmarschalls Grafen N. v. Gneisenau«.) . »Religion, Gebet, Liebe zum Regenten«, schrieb er in einer Denkschrift an den König, »sind nichts anderes als Poesie. Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet.« August 1811. Vgl. Tim Klein, S. 131
Auch den Gebhard Leberecht von Blücher begleitet die stereotype Formel: »Der Knabe wuchs ohne jeden Unterricht auf.« Ebd., S. 136. Lockeres Leben mit Jagd, Wein, Weib, Spiel und Raufhändeln, so lautet sein Leumundszeugnis. An Gneisenau schreibt er: »Grüßen Sie meinen Freund Scharnhorst und sagen ihm, daß ich es ihm an's Herz lege, vor eine National-Armee zu sorgen.« (1807) An Scharnhorst: »Ich kan alleweile nich still sitzen und nich die zene zusammen Beissen wen ess Sich um dass Vatterlandt und die freyheit Handelln duht. lasst das lausse und sch... Zeugh von denen Diplohmahtiker zu Allen teuffeln faren; warum soll nich alles Auffsitzen und loss auff die frantzosen wie das Heyllige donnerwetther... dahrum so sag ich, marrsch und auff und mitt den Degen den feindt in die ribben.« Johannes Scherr, »Blücher, seine Zeit und sein Leben«, Leipzig 1862/63, 3 Bände, 4. Auflage 1887.
Clausewitz hatte, wie Gneisenau, Scharnhorst und Blücher, eine mangelhafte Schulbildung Tim Klein, S. 145.. Seine »Bekenntnisse«, geschrieben 1812, veröffentlicht 1867, bestätigen die Tatsache, daß sein Großvater Theologieprofessor gewesen. Im übrigen sind sie ebenso langweilig wie anspruchsvoll. Nicht mit ihnen ist Clausewitz weltberüchtigt geworden. Er wurde es mit seinem Werk »Vom Kriege«, zu dem Generalfeldmarschall Graf Schlieffen, Chef des Generalstabs der Armee, eine Einleitung geschrieben hat. Ich kann es mir nicht versagen, wenigstens einen Satz dieser Einleitung zu zitieren. Er lautet: »Der dauernde Wert des Werkes liegt neben seinem hohen ethischen und psychologischen Gehalt in der nachdrücklichen Betonung des Vernichtungsgedankens.« Ebd., S. 153.
Ethischer Wert und Vernichtungsgedanke? Clausewitz hat viel meditiert über jenen Augenblick, in dem das Gewissen des Soldaten mit seinem blutigen Handwerk in Widerspruch gerät. Er ist der Jesuit unter den Pastorensöhnen, die den Krieg heilig sprachen und ihren entsetzlichen Zynismus mit Argumenten noch zu decken suchten. Er kommt in einem Kauderwelsch, das Kantische Aspirationen hat, zu dem Resultat, daß die Entschlossenheit, das Gegengewicht gegen den Skrupel, »nichts anderes ist als das Gefühl der Menschenwürde; dieser edelste Stolz, dieses innerste Seelenbedürfnis: überall als ein mit Einsicht und Verstand begabtes Wesen zu wirken. Wir würden darum sagen: ein starkes Gemüt ist ein solches, welches auch bei den heftigsten Regungen nicht aus dem Gleichgewicht kommt.« Ebd., S. 160.
Die Welt weiß heute, daß das Drängen des Generalstabschefs Moltke bei jener denkwürdigen Versammlung in Potsdam es war, das zur Auslösung des Weltkrieges führte. Noch Bismarck hatte die Kraft, dem Generalstab, vertreten durch jenen ersten Moltke, ein Paroli zu bieten Vgl. Maximilian Harden, »Hirn und Schwert«, in der »Zukunft«, 19. Januar 1918.. Heute gibt es keine Bismarcks mehr. 1914 erlag die Diplomatie der Militärgewalt. Der Generalstab, der den Krieg begonnen hat, sucht ihn seit vier Jahren vergebens auch zu gewinnen; weil er infolge seiner Kriegsschuld gehalten ist, lorbeerbekränzt zurückzukommen. Er braucht dazu Soldaten, immer mehr Soldaten, also annektiert er Gebiet. Das ist das Geheimnis preußischer Politik.
Seit Clausewitz wird auch die deutsche Moral vom Generalstab gemacht. Wird die Nation das noch lange mitansehen? Sind wir so tief gesunken, daß wir kein Gefühl mehr haben für dialektische Ungeheuer; daß es nicht Offiziere mehr gibt, deren Ehre hier schaudert? Der Staat ist ein praktisches, also inferiores Institut. Der Generalstab aber ist eine unerbetene, nihilistische Philosophie.
Wird niemand mehr schamrot, wenn ich sage, daß diese Sätze im Ausland gelesen werden? Die Souveränität des Staates über den Menschen und Bürger ist soweit gediehen, daß heute ein Stand, dessen Vorname Rüpel gewesen, der Nation Gesittung dozieren darf Vgl. Wilhelm Dittmann, »Drei Reden über Belagerungszustand, Schutzhaft und Zensur«, gehalten im Reichstag am 18. Januar, 24. Mai und 28. Oktober 1916 (»Der Freie Verlag«, Bern 1918). Als die literarische Zeitschrift »Das Forum« in München vom bayrischen Kriegsministerium verboten wurde, lautete die Begründung: »Propagierung eines vaterlandslosen Ästheten- oder Bürgertums« und Verbreitung »unzutreffender und irreführender Anschauungen und Urteile einzelner meist ausländischer Pazifisten und Utopisten«. (Dittmann, S. 20.)? Ist es dahin gekommen, daß Beamte, die ihre Pflicht tun, weil ihre untergeordneten Fähigkeiten darin ihre Rechtfertigung finden, sich anmaßen, Religion und Philosophie zu traktieren? Ist es dahin gekommen, daß Priester, Künstler und Philosoph zittern müssen vor jedem Lümmel von Subalternoffizier oder Schreiberbeamten, der sich als eines ebenso formidablen wie majestätischen Systems geruhsame Stütze empfindet? Und ein Volk, in dem das tagtäglich geschieht und zum Codex geworden ist, nennt sich ein Volk der Dichter und Denker!
Die innere Verwahrlosung des Reiches unter den habsburgischen Kaisern erklärt das Aufkommen Preußens und die Sympathieallianz, die zwischen den preußischen Despoten und dem deutschen Volke zustande kam. Daß zwei so entgegengesetzte Dinge wie die romantische Schlafmützenherrlichkeit des vornapoleonischen Deutschland und das agile Stockregiment preußischer Militärautokraten sich dennoch am Ende vereinigen konnten, mag eine Ahnung davon geben, wie unerträglich die Verschlampung der Rechts- und Sicherheitsverhältnisse, wie unbequem das Durcheinander erstorbener Institutionen im Heiligen Römischen Reiche schließlich geworden war. Jemand bemerkte sehr richtig, nicht darauf komme es an, daß die Sonne über einem Reiche nicht untergehe, sondern, was sie auf ihrem Laufe zu sehen bekomme. Im habsburgischen Weltreich bekam sie zu sehen: Türkenkriege und Rassen-Massaker im Osten, Inquisition und Geusenverfolgung im Westen, Konfessionskriege bis zur völligen Erschöpfung mit Raub, Mord und Brandstiftung in der Mitte.
Den apostolischen Majestäten auf dem Habsburger Throne fehlte das neue Motiv und die zentralisierende Kraft. Weltflucht und Kreuzzügler-Epigonentum, totes katholisches Dogma und Jesuitenbarock waren den gierigen Anforderungen eines zusammengeheirateten Weltreiches und einer neuen Zeit nicht mehr gewachsen. 1648 mußte die Unabhängigkeit der Niederlande, 1763 die Großmacht Preußens mitten im Reiche anerkannt werden. Auch die ungarischen Magnaten, die man so wenig zu bändigen wußte, wie die Geusen und Preußen, wurden aufdringlicher und kecker, bis es ihnen im 19. Jahrhundert infolge des Bündnisses mit Bismarck gelang, die halbe Politik der Donaumonarchie in ihre Hände zu bekommen.
Der Aufschwung der positiv immer aufs nächste gerichteten preußischen Fürsten ging parallel mit dem Zerfall der habsburgischen Hausmacht, und in demselben Grade, in dem diese an moralischem Einfluß verlor, wandten die deutschen Sympathien sich Preußen zu, das an Verschlagenheit, Brutalität und Sophistik dem Österreichertum zwar nichts nachgab, es an Erfolg aber übertraf.
Ein Bismarckwort lautet: »Preußen ist völlig isoliert. Der einzige Alliierte, wenn es ihn richtig zu behandeln weiß, ist das deutsche Volk.« Schon der Große Kurfürst machte diese Erfahrung, 1675, als er im pfälzischen Erbfolgekrieg gegen Ludwig XIV. die Partei des Kaisers nahm und von diesem im Stich gelassen, sich plötzlich Frankreich und Schweden zugleich gegenüber sah. Damals richtete er jenen Aufruf an Deutschland »Teutschlands wahrhaftes Interesse bei jetzigen Konjunkturen«. , in dem er sich auf die »formidable Tradition unserer Altvordern« berief, einen Zusammenschluß der deutschen Stämme forderte und damit eigentlich einen Akt der Rebellion gegen den Kaiser beging. »Nostris ex ossibus ultor«, verwünschte er Österreich, als Ludwig XIV. ihn zum Separatfrieden von St. Germain en Laye zwang. Und ähnlich deutete Friedrich Wilhelm I., als Karl VI. ihm, wider die Abmachungen der pragmatischen Sanktion, die Erbfolge in Berg unterschlug, auf seinen Sohn Friedrich: »Da steht einer, der mich rächen wird!«
Friedrich II. ist jener preußische König, dem es zum ersten Male gelang, sich im Kampfe gegen das katholische Österreich die Sympathien Deutschlands zu erringen; des protestantischen nördlichen Deutschland, wohlverstanden. Und man würde fehlgehen, wenn man die preußische Politik von 1648 an nicht in dem Sinne verstünde, in dem sie einzig verstanden werden darf: als Ausdruck des höfischen Machiavellismus und einer lutheranischen Pseudomoral. Der Fürstenbund, den Friedrich 1785 gründete, ist der Vorläufer jenes zweiten deutschen Fürstenbundes, den Bismarck 1871 gründlicher und umfassender, aber ganz im Sinne der alten preußischen Einigungsidee des Großen Kurfürsten und des großen Fritzen, errichtete. Ausschlaggebend waren das eine- wie das anderemal nicht die Interessen und das Wohl der Völker, sondern »die Ehre und die Sicherheit« der Kronen.
In Friedrich II. fanden die Hohenzollern den promptesten ihrer Tradition; auch den witzigsten, wenn man als Witz gelten läßt, was aus der Lust am Düpieren und aus sarkastischer Frivolität entsprang. Vor allem den promptesten; von außergewöhnlicher Schlagkraft war er, von einer verblüffenden Selbständigkeit.
Seine Schlachten sind keine Meisterwerke der Kriegskunst. Napoleon hat sich moquiert darüber Siehe Général Gourgaud, »Memoires pour servir a l'histoire de France, sous Napoléon écrites à Sainte Hélène«, Paris 1823, deutsch unter dem Titel »Napoleons Gedanken und Erinnerungen« bei R. Lutz, Stuttgart.. Er schlug, wie es traf, ohne viel Federlesens. Und er fand seinen Meister und erhielt Schläge, ebenfalls ohne viel Federlesens. Seine Philosophie bestand in einem agacanten Zynismus, der heftig bereit war, Talente und menschliche Einsicht, selbst wenn sie zur Tiefe von Überzeugungen drangen, ohne viel Skrupel »dem Ruhme« zu opfern »Das Militär muß in Preußen die erste Stelle einnehmen« (Politisches Testament von 1752).. Ja, fast scheint seine ganze Melancholie und sein einsames Flötenblasen von dem Erlebnisse herzurühren, daß der Genius, der ihn »wider Willen« begeisterte, mit dem preußischen Prügelmeister in unauflösbaren Widerspruch geriet.
Was ihn auszeichnete, war seine Zähigkeit, eine Elastizität, die mit unfehlbarer Pünktlichkeit da war, gewärtig war, eingriff und ausbog. Nicht der »Philosoph« von Sanssouci, nicht der Stratege, noch der Poet, der Vernunft in gereimten Kolonnen bezaubert marschieren ließ: – der Draufgänger und Tausendsassa war es, der die Deutschen zwang, »wieder an das Wunder des Heldentums zu glauben«. Endlich einer, der etwas tat, gleichviel mit welchem Erfolg; der seinen Kopf bei den Augen hatte. Endlich einer, der aufzuräumen gewillt war mit Schlendrian, Phrase, Bombast und Faszikel. Endlich ein Tiger, wenn er auch peitschte und Zähne zeigte. Ein Temperament, nach Pedanten und Tölpeln, Adepten und Träumern.
Noch Lessing spricht von Preußen zuweilen wie von einem halbwilden Volke, doch stellt er verwundert fest, denen sei »der Heldenmut so angeboren wie den Spartanern«. Die Schlacht bei Roßbach gewannen die schon vorher »fritzisch Gesinnten« wie Goethe. Und wenn es nach Treitschke den Helden des deutschen Gedankens auch lange Zeit noch schwerfiel, »den einzig lebenskräftigen Staat unseres Volkes zu verstehen« Deutsches Volkstum«, S. 68. , so trat doch in Friedrich die »uralte Waffenherrlichkeit der deutschen Nation« wieder zutage, und der »Idealismus« tat das Seine, den Gegensatz allgemach auszugleichen. Den Abfall der protestantisch feudalen Niederlande vom Reich hatten Goethe und Schiller mit Versen und Prosa freudig gefeiert. Die Rebellion Preußens im Norden, Friedrichs II. Vasallenaufstand Es war ein Vasallenaufstand. entsprach ihrem Liberalismus nicht ganz, doch galt es, sich abzufinden Goethes und Schillers politisches Ideal nach »Egmont«, »Fiesko« und »Don Carlos« ist deutlich genug die protestantische Adelsrevolte, getragen von humanistischer Schwärmerei. Sie lebten politisch in der Zeit vor Ludwig XIV. und glaubten an Reformen von oben. Die Freiheit, die sie meinten, ist die vom Fürsten garantierte Religions- und Denkfreiheit, die Freiheit der Sitte, im Gegensatz zur Etikette, die freiwillige Zustimmung zum »Gesetz«. Sie verkannten die Lehre, die gerade Friedrich II. erteilte (Politisches Testament von 1768): »Prägt es euch wohl ein, daß es keinen großen Fürsten gibt, der nicht den Gedanken mit sich herumtrüge, seine Herrschaft zu erweitern.« Die rebellischen Söhne bei Schiller zerbrechen an einem tyrannischen Patriarchat, an der »moralischen Weltordnung«. Die Väter sind bei ihm tragisch, nicht die Söhne. Das ist uns fremd geworden..
Was waren die Gründe, die unsere Urgroßväter jenseits des Maines, wenn auch mit Sträuben und Zagen, zu preußischen Royalisten machten? Das Heilige Römische Reich lag in Agonie und bestand eigentlich schon seit Luther nicht mehr. Die Gelehrtenrepublik bot gewisse Unabhängigkeitsgarantien, wenn auch sehr provisorischer Art. Man spintisierte nach Lust und Belieben; jeder für sich, Gott für uns alle. Keine Aufwiegelei, keine Sentiments für die »Canaille«, alles in Ruhe und Frieden! Von der Sympathie bis zur Einführung preußischer Korporalstöcke im Reich ist ein gutes Stück Weg. Dann würde auch Österreich wohl noch zu reden haben.
Eines aber verband Dichter, Denker und preußische Herrscher, und das konnte schon da als bedenklich scheinen: die protestantische Ideologie. Als Friedrich entdeckte: »Ich bin gewissermaßen der Papst der Lutheraner und das kirchliche Oberhaupt der Reformierten« Politisches Testament von 1752., da stand im Grunde auch der Durchführung seiner deutschen Aspirationen nichts mehr im Wege. Kants Philosophie gewann Schiller, Wilhelm von Humboldt und Kleist, die protestantische Staatsidee Fichte und Hegel. Der siebenjährige Krieg hatte Goethe gewonnen. Raubkrieg hin, Raubkrieg her: die Nation von Klassizismus und Lutheranismus zugleich verdorben, gewann einen dankbaren Stoff zur Poetisierung. »Da griff ich ungestüm die goldne Harfe, darein zu stürmen Friedrichs Lob.« So der schwäbische Dichter Schubart (1739–1791), der sich ehedem »freventlicher Antastung fast aller gekrönter Häupter auf dem Erdboden« gerühmt hatte. Seine Gedichte erschienen bei Reclam. Hatte Friedrich nicht Gedankenfreiheit gegeben? Das verband Schiller (siehe Marquis Posa). Hatte er nicht den »großen praktischen Verstand«, den Goethe an den Engländern lobte? Und wenn Friedrich auch französisch schrieb und sich mit Voltaire und den Enzyklopädisten besser verstand als mit Weimar und Jena: wo sonst als bei Preußen und seinem Heer war Rettung vor dem radikal Bösen der schrecklichen Ungeheuer-Revolte von Paris?
Der Jammer und die Misere, worin die habsburgische Theokratie, aufgebaut auf einem toten Gotte, Deutschland konservierte, lassen den Entschluß begreiflich erscheinen, den unsere Altvordern faßten. Sie konnten nicht ahnen, was folgen würde. Heute aber, da wir die Ungeheuer in unserer Mitte haben, da Preußen sinnlos und eine Landplage geworden ist, – was hindert uns noch, der Soldateska den Abschied, der Republik aber ihren Advent zu bereiten?
Als Herrscher war Friedrich nicht ohne Bedenken. Der Einfluß der Henriade ging tiefer, als er sich eingestand. »Die Gier nach immer mehr«, schrieb er im »Antimacchiavell«, »ist nur das Merkmal ganz niedrig gearteter Seelen.« Und: »Ein Verlangen, sich vom Raub des Nächsten zu vergrößern, wird im Herzen jedes anständigen Menschen, der Wert auf die Achtung der Welt legt, nicht so leicht Eingang finden.« Und: »Ein Missetäter braucht nur erlauchter Herkunft zu sein, um auf den Beifall der meisten Menschen zählen zu können.« »Antimacchiavell«, 1739/40.
Man hält in Deutschland noch heute für Philosophie die Ansicht, daß das »wirkliche« Leben solch knäbische Idealismen spielend beseitigt. Und doch ist gerade diese Überzeugung eine moralische Fahnenflucht, liegt gerade in dieser Ansicht das unheroische Faktum unserer Denkart. Der König wußte das wohl. Sein Zynismus zeigte sich darin, daß er die wahren Aufgaben des Herrschers begriff und verriet und noch Philosophie daraus machte.
Sobald sich eine Gelegenheit bot, fiel er über Schlesien her. Wobei wiederum zu bemerken wäre (siehe Masaryk), daß eine Revolte nur dann kein Verrat ist, wenn sie, von menschlichem Mitleid getragen, auf Notdurft und Rechten basiert und von kollektivem Gewissen getragen, nach mehrfach vergeblicher Anmeldung ihrer Rechte zum Aufstand gezwungen ist.
1741 bekennt der König Brief an August Wilhelm, Prinzen von Preußen, 8. April 1741.: »Der Ruhm der preußischen Waffen und die Ehre des Hauses bestimmen mein Handeln und werden mich bis in den Tod leiten.« Was kümmert uns aber der Ehrgeiz eines Fürsten und die Machtlust der preußischen Waffen? Uns ist die Wohlfahrt des Volkes vertraut. Und wenn er behauptet: »Der preußische König muß den Krieg unbedingt zu seinem Hauptstudium machen und den Eifer derjenigen anfeuern, die den edlen und gefährlichen Waffenruf ergriffen haben« Politisches Testament von 1752. – was schiert uns die preußische Hauspolitik? Ist es Größe, den Krieg, ein satanisches Handwerk, zu pflegen? Aus dem Lamm ein reißender Wolf, über Nacht. Unter Deutschen ist das nicht überraschend. Thomas Mann, der im Frühjahr 1914 noch begeisterte Worte für ein demütig Weihnachtsstück Paul Claudels, »Die Verkündigung«, fand, ist ebenfalls aus einem Lamm ein Wolf geworden, und da er demnach eine Friedrich-Natur ist, mag sein Buch über den preußischen König »Friedrich und die große Koalition«, Berlin 1915. mancherlei Aufschlüsse bieten.
Ein Kuriosum ereignet sich: Preußen verteidigt die »Freiheit Europas«! Friedrich behauptet, »die Sache des Protestantismus und der deutschen Freiheit vor den Unterdrückungsgelüsten des Wiener Hofes zu schirmen« In einem Manifest gegen Österreich, Juli 1756.! In wiederholten Denkschriften an den englischen Hof wirft er sogar die Frage auf: »Ob Deutschland und der Protestantismus weiter bestehen werden? Ob das Menschengeschlecht den Gedanken der Freiheit behalten wird?« »Vierte Denkschrift über die gegenwärtige Lage Europas« (Mitte November 1756). Es ist die Antizipation des famosen »Kulturkampfes«, den Bismarck später führt. Er hat jetzt entdeckt, daß er »gewissermaßen Papst der Lutheraner und geistiges Oberhaupt der Reformierten« ist, und schickt französische Jesuiten nach Schlesien, um die österreichischen Jesuiten zu bekämpfen »Um Altar gegen Altar zu setzen, habe ich gebildete französische Jesuiten kommen lassen, die den schlesischen Adel erziehen.« (Politisches Testament 1752.). Eine früheste Probe »praktischen Christentums«! Und da er nicht nur Apologet, sondern auch Philosoph ist, bemüht er den Herzog von Choiseul, den Grafen von Struensee und Sokrates zu einem »Totengespräch«, um sich aphoristisch einer Weisheit zu begeben, die ebenfalls preußischer Tradition Ehre macht: »Staatsstreiche sind keine Verbrechen, und alles, was Ruhm bringt, ist groß.« »Totengespräch zwischen dem Herzog von Choiseul, Graf Struensee und Sokrates«, Februar 1772.
Im Jahre 1780 aber erscheint bei I. G. Decker in Berlin ein Pamphlet »De la litérature allemande«, das nur Mehring meines Wissens genügend würdigte In der »Lessinglegende«., und das doch verderblichste Folgen hatte. Friedrichs offensichtliche Absicht war, ehe er zur Gründung des Fürstenbundes schritt, der vorlauten Literatur der Stürmer und Dränger gewaltig über den Mund zu fahren. Goethes »Götz«, »Stella« und »Werther« lagen vor. Schillers »Räuber«, Lessings »Miss Sarah Sampson« waren erschienen und wirkten für ein selbstbewußtes Bürgertum. Das konnte gefährlich werden. Dem mußte begegnet werden.
Friedrichs Pamphlet hatte Prinzipien und einen Geschmack. Es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die jungen teutschen Originalgenies gemessen an Bossuet, Fénelon, Pascal und Bayle! Von jetzt an war es geoffenbart, daß Preußen auch ideell an der Spitze marschierte. Es bedarf keiner Zitate. Das Pamphlet, energisch stilisiert und von großen Gesichtspunkten aus al fresco diktiert, bannte die spärlichen Koryphäen der Heimatkunst und unterwarf sie sich wie die Schlange den Vogel. Die Frau Rat war außer sich, und Wolfgang dachte an eine Erwiderung. Aber der Hof von Gotha winkte ab, und der Druck unterblieb. Herder faßte den Entschluß, sein früher erschienenes Fragment »über die neuere deutsche Literatur« gründlich zu revidieren und tat es auch. Wieland schrieb im »Teutschen Merkur«: »Seit vielen Jahren waren wir gewiß, daß der erhabene Verfasser niemals an unserer Literatur einigen Anteil genommen habe. Wir sehen, daß er sich in vorigen Zeiten mit ihr beschäftigt und die besten Gesinnungen für sie hegt, auch noch das Beste für sie zu hoffen und zu wünschen geneigt ist.« Klopstock, der sich am heftigsten mitgenommen fühlte, machte seinem Grimm in einer ganzen Reihe bombastischer Oden Luft Zitate aus: Friedrich der Große »Über die deutsche Literatur«, Einleitung. Reclam-Verlag, Leipzig..
Der König hatte bewiesen, daß er nicht nur in den Bataillen zu fechten verstand, sondern auch dero deutschen Intelligenz Meister war. Der König gab klärlich kund und zu wissen, die Zeiten seien vorbei, da man barbarisch in Preußen die Evangelisten erschlug Im Jahre 997 wurde der Bischof Adalbert von Prag, im Jahre 1008 der Mönch Bruno von Querfurt, die das Evangelium predigten, von den heidnischen Preußen erschlagen. 1255 mußte König Ottokar von Böhmen mit einem Kreuzheer nach Preußen kommen. Er gründete Königsberg. Um 1400, zur Zeit der Dietrichs und Quitzows, herrschten wildestes Faustrecht und Räubertum in der Mark. Kein Land wurde im Dreißigjährigen Krieg so verwüstet wie die Mark Brandenburg. Von Berlin sagte noch Goethe, dort hause »ein verwegener Menschenschlag«..
Man hätte seinen Anregungen folgen sollen. Sie waren geeignet, mancherlei Abhilfe und Freiheit zu schaffen. Unter königlichem Protektorat eine französische Übersetzungsgesellschaft, wie Nowikow und Katharina sie in Rußland hatten Vgl. Ludwig Kulczicky, »Geschichte der russischen Revolution«, Gotha 1910, Bd. I, S. 43 ff., wonach Nowikow 440 verschiedene Werke herausgab, die sich vorwiegend mit moralischen Fragen in der Art der Freimaurer beschäftigten., tat der Nation dringlicher not als ein Weimarer Amateurtheater. Man hätte dem Könige vorschlagen sollen, all jene französischen Klassiker zu übersetzen, die er empfahl. Es wäre ein unvergängliches Werk geworden. Man tat es nicht. Man hätte die Französische Revolution besser verstanden bei ihrem Ausbruch und, wer weiß, sich vielleicht Napoleon und die Freiheitskriege erspart, nebst der Abhängigkeit von Preußen, die diese Freiheitskriege im Gefolge hatten. Man tat es nicht. Man vergötterte mehr als je den, der sich als »doppelten« Helden erwiesen hatte. Man gab ihm das Recht, zu glauben, was er vorausgesetzt hatte: auch die intellektuelle Partei ist inferior, ein miles perpetuus sozusagen.
Dann folgte der Fürstenbund. Er wurde der erste Schritt zur Errichtung des preußischen Reiches deutscher Nation. Die protestantische Intelligenz war gebändigt, bevor sie recht begriff, um was es sich handelte.
Aber Rousseau hat Frankreich revoltiert. Er hat Rußland revoltiert. Er wird eines Tags auch Deutschland revoltieren. Der Mensch ist keine Maschine: – Rückkehr zur Natur. Der Mensch ist kein Teufel: – Rückkehr zum Christentum. Der Mensch ist kein Höhlenbewohner: – Rückkehr zur Heimat. Das Paradies ging verloren. Alle sind schuldig und Ungeheuer des Alltags. Alle sind mit der Erbsünde der Gewohnheit beladen, Abtrünnige ihrer Kindheit. Alle gehorchen, weil jeder gehorcht. Doch die Seele ist nicht von Natur eine Preußin; der Mensch ist kein Brudermörder. Aufhebung aller heutigen Normen, Gesetze, Sitten, Bildungen, Einbildungen und Einrichtungen. Unio mystica mit Gott und der Menschheit.
In Frankreich genügte der Urteilsspruch über eine unmöglich gewordene Welt, und man schritt zur Tat. Die Guillotine wurde zum Messer, mit dem man die neue Menschheit aus dem Leib einer Kokotte schnitt.
In Deutschland führte Rousseaus Philosophie zu jener magischen Flucht von Idealisten, die man Romantik nennt. Das deutsche Ideal war einst kontemplativ, nicht angriffslustig, transzendental, nicht fridrizianisch, und wenn unsere Altvordern einst wirklich »der ganzen Welt formidabel« waren, so hatte die Kirche doch viel getan, sie auf den inneren Kreuzzug zu weisen, mit heller Phantastik, mit Leid- und Triumphmusik, den Tod auf den Fersen, den Teufel im Nacken, doch immer die Stirne vom Credo trunken: verbrüderte Schwärmer.
In Deutschland wurde der ungestüme Gedanke Rousseaus zu Sehnsucht und Melancholie, zu Geniekult und einer Musik »aus Heimweh, aus Herweh, aus Hinwegweh«, wie Theodor Däubler sagt »Lucidarium in arte musicae«, S. 92. Ebendort die schöne Stelle: »die Unheimlichkeit des Heimwärtshörens, des der Ruhe Zuströmens, bekam in Ambrosius und Gregorius kenntnisreiche Meister. Ein Mönch ließ das gesamte Friedensaufsuchen der Christenheit zusammenklingen in den Worten:. Die Romantiker flohen, weil sie gegen die Brutalität der Umgebung nicht aufkommen konnten, nicht aufkommen wollten. Der Alltag war ihnen zu eng, mißbraucht; die Kette nicht mehr zu durchbrechen Ein Aphorismus Chamforts († 1794), dessen Gedanken und Maximen auf Friedrich Schlegel entscheidenden Einfluß hatten, lautet: »Il paraît impossible que, dans l'etat actuel de la societe, il y ait un seul homme, qui puisse montrer le fond de son âme et les détails de son charactère, et surtout de ses faiblesses à son meilleur amis. Mais encore une fois, il faut porter le raffinement si loin, qu'il puisse pas même y être méprisé comme acteur dans un troupe d'excellents comédiens«. (Oeuvres, ed. par P. R. Auguis, 1824, IV, 379 ff.). Abdankung, Flucht und Verzicht: so dokumentierten sie sich in Schriften und Übersetzungen, deren Sinn ihnen Spiritualismus blieb, uns aber mit einem Geiste erfüllt, vor dem die Wirklichkeit weichen muß. Wir sind nicht Romantiker mehr; wir sind Futuristen.
»Die romantische Poesie ist eine Universalpoesie«, verkündet Friedrich Schlegel, »sie will und soll Poesie und Prosa, Genialität und Kritik bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen; Bildungsstoff jeder Art durch Humor beseelen. Die romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz in der Philosophie und Geselligkeit, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben sind.« Friedrich Schlegel, »Fragmente«, Leipzig o. J., S. 53 f. »Transzendentale Bouffonnerie« nennt er »im Innern die Stimmung, welche alles übersieht und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigene Kunst, Tugend und Genialität« Ebd., S. 22.. Poesie ist ihm »allein unendlich, weil sie allein frei ist und das als erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide« Ebd., S. 55..
Das sind freie und große Formeln. Goethe hatte die »dämonische Natur« wieder entdeckt und den Abgrund des Strebens: Faust und den Blocksberg. Er hatte entdeckt den Naturbegriff des Genies: das Inkommensurable der Kunst All das sind im Grunde Rousseausche Formeln. Der Akzent liegt auf dem Worte »Natur«. Goethe war viel mehr Rousseauist als man weiß und wissen kann.. Im Attachement an die Natur der fünf Sinne fand er die physischen und sittlichen Urphänomene und deren Durchdringung; fand er das Licht und die Farbenlehre und jene unio mystica mit der Sonne, die sich in seinem Todeswort ausprägt: Mehr Licht.
Von hier kam die Romantik. Ein hieratisches Pandämonium von Liebe, Verehrung und Brüderbewußtsein. Zur Dombauhütte des dritten Reiches ward die Romantik. Von heiligem Geiste erfüllt schrieb Novalis den »Ofterdingen«, schrieb Beethoven den Satz: »Mir ist das geistige Reich die oberste aller geistlichen und weltlichen Monarchien« Brief an Kanka, während des Wiener Kongresses (Romain Rolland, »Beethoven«, Zürich 1918, S. 52). und an Cherubini das jubelnde Wort: »L'art unit tout le monde.« Anno 1823. Seine völkerverbindenden Rhythmen schwingen sich auf gegen Gott zum Streit für die Verwahrlosten, Armen. Gegen Gestirne und Schicksal tagt in ekstatischem Drängen die christliche Revolution. Gut ist der Mensch, trotz allem. Beethoven fordert das Paradies zurück für die Ärmsten, an denen gesündigt ist Auf dem Umweg über Tolstoi mußte dieser Geist in Deutschland wieder geboren werden. Im Redaktionszimmer Charles Péguys, des Herausgebers der »Cahiers de la Quinzaine«, deren eifriger Mitarbeiter Romain Rolland war, hing ein mächtiges Bild Tolstois. Von Tolstoi ist Leonhard Franks Novellenband »Der Mensch ist gut« (Zürich 1917) inspiriert und Ludwig Rubiners »Der Mensch in der Mitte« (Berlin 1918). Beethoven scheint man vergessen zu haben..
Novalis enthält eine ganze Renaissance des Christentums. 1799 erscheint im »Athenäum« der Brüder Schlegel sein Essay »Die Christenheit oder Europa«. Er weiß: »Luther behandelte das Christentum willkürlich, verkannte seinen Geist und führte einen anderen Buchstaben und eine andere Religion ein. Höchst merkwürdig ist diese Geschichte des modernen Unglaubens und gibt den Schlüssel zu allen ungeheuren Phänomenen der neueren Zeit. Wie, wenn auch hier wie in den Wissenschaften eine nähere und mannigfaltigere Konnexion und Berührung der europäischen Staaten..., eine neue Regung des bisher schlummernden Europa ins Spiel käme, wenn Europa wieder erwachen wollte?« Novalis »Die Christenheit oder Europa«, Inselverlag Leipzig, S. 39, 47, 57. Der Essay schließt: »Sollte es nicht in Europa bald eine Menge wahrhaft heiliger Gemüter wieder geben, sollten nicht alle wahrhafte Religionsverwandte voll Sehnsucht werden, den Himmel auf Erden zu erblicken? Die Christenheit muß wieder lebendig werden. Aus dem heiligen Schoße eines ehrwürdigen europäischen Konziliums wird die Christenheit aufstehn, und das Geschäft der Religionserweckung nach einem allumfassenden, göttlichen Plane betrieben werden. Keiner wird dann mehr protestieren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird echte Freiheit sein, und alle nötigen Reformen werden unter der Leistung derselben als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden.« Eine Ekstase sublimierter Leidensfreude ist seine Religion. Er liest »Wilhelm Meisters Lehrjahre« und findet verstimmt das Vorbild Voltaires. »Es ist ein Candide, gegen die Poesie gerichtet«, schreibt er, »ein nobilitierter Roman. Das Wunderbare darin wird ausdrücklich als Poesie und Schwärmerei behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buches.« Franz Blei, »Novalis«, Vermischte Schriften, Bd. VI, München 1912, S. 136. Er selbst fordert vom Kunstwerk, daß es das Wunderbare wie ein Gewöhnliches, Gemeines vorstelle; und das fordert er sogar vom Leben Hier sei eine Bemerkung über die Religion der Romantik erlaubt. Ich bin nicht der Meinung Franz Bleis, daß das Christentum der Romantiker eine Religion war, »die aus der Antike erwachsen, stärker als jede andere das Heidentum in ihrem Kulte bewahrt hatte«, wenn ich auch zustimme, daß es ein Wiedererwachen der Sinne »nach den theoretischen und praktischen Kunststücken der reinen Vernunft« war, was sensible Naturen des protestantischen Nordens zum Katholizismus trieb. Der »heidnische Katholizismus«, den Blei beschreibt, mit »Festen und Umzügen, bunten Gewändern und Bildwerken, Musik und Göttern und Göttinnen«; der »den Rausch heiligt und die Macht des Fleisches so über alles erkannt hat, daß er sein Dogma von der Abtötung als erstes nennt«, kurz der Renaissance-Katholizismus der Herren Blei, Scheler, Borchardt und Wiegler – man hat die kriegerischen Konsequenzen seiner Materialität gesehen –, dieser Dekorations-Katholizismus, der die alte strenge Tradition verlassen hat, mag den Brüdern Schlegel in ihren späteren Jahren entsprochen haben. Er war nicht das geistige Reich der Baader, Novalis und Beethoven. Von Sophie Kühn sagte Novalis: »Ich habe zu Sophie Religion, nicht Liebe«, und von Beethoven weiß man, daß er Mozart des Don Juan wegen verachtete. Die Profanation der Liebe war beiden Profanation des Genies. Was Beethoven und Novalis bewegt, ist keineswegs »heidnischer Katholizismus«, auch nicht die »Gottesverehrung durch die Gottbeleidigung in der Sünde«, die Blei als die Moralität (!) Barbey d'Aurevillys und Baudelaires bezeichnet (S. 116). Es ist vielmehr die leidende Spiritualität Christi, die Zauberbrücke zum Jenseits, die Auflösung aller Natur und des Menschen im leidenden Gotte, der jubeln möchte. Vgl. auch Beethoven, »Gespräche 1819–20«: »Sokrates und Jesus sind meine Vorbilder gewesen.«. Er sieht in der Natur dieselben Wunderkräfte kreisen wie im Menschengeist; sieht sein Leben und seine Geliebte wie Blume und Blatt auf demselben Stengel. Die Welt malt sich mystisch und grün in seinem Blute. Tier, Mensch und Strauch werden ein Reich. Und von Franziskus trennen ihn nur Trauer und italienische Sonne und Bläue. Resignation ist sein Leiden und Mitleiden mit Blumen, mit Gott und mit Sophie Kühn, einem sterbenden Mädchen. Er liebt sie, weil sie das jenseits berührt. Einen Satz aber schreibt er, der alle Romantik überwindet und tief in die Zukunft weist: »Sollen wir Gott lieben, so muß er hilfsbedürftig sein.« Franz Blei, »Novalis«, a. a. O., S. 109. Der Aphorismus beginnt »Die religiöse Aufgabe: Mitleid mit der Gottheit zu haben.«
Über Friedrich Hölderlin hat Gustav Landauer so eindringlich geschrieben, daß Hölderlin jetzt erst entdeckt worden ist Gustav Landauer, »Friedrich Hölderlin in seinen Gedichten«, Juni-Nummer der »Weißen Blätter«, 1916.. Er suchte die Einheit der Nation zugleich in der Demut und im dithyrambischen Geist der Gemeinde. Er litt unsäglich am Treiben der Zeit. Er wußte um eine frei schwingende Verfassung der Dinge wie keiner von allen, die nach ihm kamen. Seine Hymnen sind ein zärtlich abgewogenes Gesetzbuch liebender Leidenschaften. Aufruhr und Erwartung, mit denen die Französische Revolution ihn bestürmte, lassen ihn fragen: Sind wir zurückgeblieben, fehlen uns Talent, Tatkraft und Initiative oder sind gerade wir Säumigen zu besonderer Aufgabe bewahrt? Und seine Antwort lautet: »Oh ihr Guten! Auch wir sind tatenarm und gedankenvoll.« Ebd., S. 201. »Brauchen wir Helden«, schreibt Landauer, »die nicht zerstören und wettern, sondern bauen, ordnen und segnen, brauchen wir Helden der Liebe, so ist Hölderlin unserer Zukunft, unserer Gegenwart ein führender Geist« (S. 211). Doch im »Hyperion« klagt er an: »Die Tugenden der Deutschen sind ein glänzend Übel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst mit Sklavenmühe dem wüsten Herzen abgedrungen, und lassen trostlos jede reine Seele, die verwöhnt vom heiligen Zusammenklang in edleren Naturen, den Mißlaut nicht erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser Menschen. Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was sie nicht entheiligt, was nicht zum ärmlichen Befehl herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlich rein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren wie man so ein Handwerk treibt und können es nicht anders; denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck. Doch du wirst richten, heilige Natur! Denn wenn sie nur bescheiden wären, diese Menschen, zum Gesetze sich nicht machten für die Bessern unter ihnen! Wenn sie nur nicht lästerten, was sie nicht sind; und möchten sie doch lästern, wenn sie nur das Göttliche nicht höhnten!« »Hyperion oder der Eremit in Griechenland.« Erbsünde der Deutschen aber ist ihm wie Friedrich Schlegel »die gänzliche Trennung und Vereinzelung der menschlichen Kräfte« »Es ist ein hartes Wort«, heißt es im ›Hyperion‹, »und dennoch sag ich's, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen; Denker, aber keine Menschen; Priester, aber keine Menschen; Herren und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen. Ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande zerrinnt?« Hölderlin ist einer der ersten, der die geistige Einheit der Nation, wenn auch nur hymnisch, wiederherzustellen suchte. Die ganze Romantik ist eine Literatur und Musik gegen Luther und Kant, gegen die individualistische und aufgeklärte Charakterbildung und Philosophie. Eine Konspiration, wenn man will, eine Freimaurerei. Franz von Baader und Goethe tragen die religiöse Ureinheit des Mittelalters und seine Symbolik des Abgrunds herein in die Neuzeit. Schopenhauer bleibt mächtiger Hort des Sturzes der Intellektualphilosophie und verfluchenden Alexandrinertums. Beethoven entfesselt die enthusiastischen und dithyrambischen Kräfte der Nation. Wagner führte sie bis zu Dante, Ambrosius und Giotto zurück. Süßigkeit der Madonnen, Zentralverwaltung der Heiligtümer! Die Musik als der Inbegriff aller magischen und priesterlichen Doktrinen. Nietzsche als erster sucht den Geist dieser Musik ins Leben zu wenden, die Autoritäten und Pseudomoralen des Heiligen Römischen Reichs zu stürzen und alle Ungeheuer barbarischen Dunkels, barbarischer Härte, barbarischer Spaltung ins Helle zu jagen. Doch die Musik ist jetzt selbst schon blasphemisch und gottlos, im Widerspruch mit ihrer hochstrebenden Intention, pervertiert vom großen Philisterreich. Nietzsche entdeckt es zu spät. Und er selbst ist nur Ketzer, nur Protestant. So ist die Bedingung unseres Genesens: Zusammenbruch dieses Philisterreichs, zurück zur scholastischen Philosophie und liturgischen Mystik! Zurück in die Zeit vor der Reformation!.
Und noch eines Romantikers sei hier gedacht: Georg Büchners. Er gründet einen revolutionären »Verein für Menschenrechte«. Welcher Deutsche wird nicht lächeln? Aus der vita contemplativa stürzt er sich in die Politik »wie in einen Ausweg aus geistigen Nöten und Schmerzen«. Die Polizei verjagt ihn nach Straßburg. »Dantons Tod« entsteht, während die Polizei unten auf ihn wartet. Die Polizei zwingt ihn, seine rebellischen Neigungen in Literatur niederzulegen. Nicht die Dogmen von 1789 trägt er vor – was kümmert ihn Parteiskandal! –, sondern sein leidendes Menschenherz, einen von tiefster Trauer durchtränkten Fatalismus Vgl. »Der Fatalismus des Büchnerschen ›Danton‹ und seine Beziehungen zur Romantik«, »Wissen und Leben., Zürich, Frühjahr 1918.. »Die Schöpfung ist eine Wunde, wir sind Gottes Blutstropfen.« Und inbrünstig ruft er uns heutiger Jugend zu: »Die Welt ist das Chaos, das Nichts, – der zu gebärende Weltgott.« In Gießen ist es, wo er »in tiefe Schwermut verfallen sich schämt, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem Kirchendiener-Aristokratismus zu Gefallen« Ebd..
Eine Poesie der Heiligen und des Genies wollen diese deutschesten Geister erheben zur Weltreligion Die Heiligenlehre setzt sich von Baader und Novalis aus fort bei Schopenhauer und Wagner. Bei Nietzsche und Kassner noch findet sich das Ideal des »Heiligen der Erkenntnis«, das ebenfalls von der Romantik (in ihren indischen Studien) entdeckt ist.. In ihr sehen sie die Einheit aller Kreatur, ja aller organischen Schöpfung Dem »Bruder Wolf« des Franz von Assisi entspricht bei Novalis eine »Schwester Blume«. Heine vergleicht ihn mit dem arabischen Zauberer, der nach Willkür jeden Stein zu beleben weiß. »Novalis sah überall Wunder und liebliche Wunder: er belauschte das Gespräch der Pflanzen, er wußte das Geheimnis jeder jungen Rose, er identifizierte sich endlich mit der ganzen Natur, und als es Herbst wurde und die Blätter abfielen, da starb er« (»Die romantische Schule«). Vgl. auch Franz von Baader, der auf Novalis stark einwirkte: »Sieh die Blume, wie sie sich ihrem Bräutigam, der Sonne, entgegenwendet! Sie sauget Licht, pranget und blühet. Nacht, Finsternisse umgeben sie, sie welkt. Das geht täglich vor unsern Augen vor, nach physischen Gesetzen, wie man sagt. Und sollten im Innern der Dinge, in der Geisterwelt, diese Gesetze nicht wirken? Ist denn mein Geist so isoliert, abgetrennt, willkürlich, als wir wähnen? Nein, er wendet sich hinaus zum Quell und zu der Sonne aller Wesen, und Licht und Wahrheit und Güte und himmlische Wollust füllt ihn, alles nach denselben ewigen physikalischen Gesetzen! Ein wahrer Influxus, den unser Selbstgefühl beweist. Einzig wahre Philosophie und Physik allen Gebetes.«; in ihr, die die Zukunft vorwegnimmt, sehen sie Gott. Was sie bewegt, ist lebendiger Enthusiasmus fürs Gute. Gottes Gang in die Natur und Sehnsucht aller Kreatur zu Gott zurück, ist ihnen himmlische Vernunft.
Borgese warnt Franzosen und Italiener, in den deutschen Atheisten und Naturalisten des 19. Jahrhunderts Gesinnungsalliierte zu suchen. »Wer die christliche Moral als eine Zufluchtsstätte alter Vorurteile betrachtet, kämpft gesinnungsmäßig auf seiten der Deutschen.« G. A. Borgese, »L'Italie contre l'Allemagne«, S. 145. Ich kämpfe nicht »auf seiten der Deutschen«, ich stimme ihm bei, und das zwingt mich, Heinrich Heine anzugreifen.
Heine hatte das Pech, sich gründlich über den Protestantismus und über die deutsche Philosophie zu täuschen. Er hielt Luther für den »größten und deutschesten Mann« »Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«, S. 36.. Er beging die betrübliche Pläsanterie, von einem »Marquis von Brandenburg« zu sprechen, der »Denkfreiheit« gegeben habe; er hielt Kant und Fichte für Rebellen, was leider nicht zutraf, und nannte den preußischen Apologeten des Credo quia absurdum, Herrn Hegel, »den großen Hegel, den größten Philosophen, den Deutschland seit Leibniz erzeugt hat« Ebd., S. 118: »Es ist keine Frage, daß er Kant und Fichte weit überragt. Er ist scharf wie jener und kräftig wie dieser, und hat dabei noch einen konstituierenden Seelenfrieden (!), eine Gedankenharmonie (!), die wir bei Kant und Fichte nicht finden, da in diesen mehr der revolutionäre Geist (!) waltet. Hegel war ein Mann von Charakter.«. Dagegen pamphletierte er gegen die Romantik, die er für Obskurantismus hielt, weil sie von Preußen nach Wien und nach Rom floh und Metternichs Anteil fand, weil sie von der preußischen Denkfreiheit nicht viel hielt und von den übrigen protestantischen Freiheiten auch nicht viel. 1852 aber, nachdem die Schriften und Tagebücher Baaders neu erschienen waren, widerrief er, und er mag eingesehen haben, welches Unheil ihm seine Avancen verdankte In der Vorrede zur 2. Auflage, »Paris, im Wonnemond 1852« schreibt er: »Ich bekenne unumwunden, daß alles, was in diesem Buche namentlich auf die große Gottesfrage Bezug hat, ebenso falsch wie unbesonnen ist. Ebenso unbesonnen wie falsch ist die Behauptung, die ich der Schule nachsprach, daß der Deismus in der Theorie zugrunde gerichtet sei und sich nur noch in der Erscheinungswelt kümmerlich hinfriste. Nein, es ist nicht wahr, daß die Vernunftkritik, welche die Beweistümer für das Dasein Gottes, wie wir dieselben seit Anselm von Canterbury kennen, zernichtet hat, auch dem Dasein Gottes selbst ein Ende gemacht habe. Der Deismus lebt, lebt sein lebendigstes Leben, er ist nicht tot, und am allerwenigsten hat ihn die neueste deutsche Philosophie getötet. Diese spinnwebige Berliner Dialektik kann keinen Hund aus dem Ofenloch locken, sie kann keine Katze töten, wie viel weniger einen Gott.«. Sein Buch gegen die Romantik widerrief er indessen nicht. Die Schwächen dieser Bewegung hielt er nur allzu bereitwillig für ihr Wesen, und statt die Institutionen anzugreifen, die diese Schwächen verschuldeten, trat er mit geistreich verschlossenen Augen als skeptischer Nationalist und Gourmand auf die Seite derer, die Purpurmäntel und Braten verteilen »Freilich die geistigen Interessen«, betont er (»Geschichte der Religion und Philosophie«, S. 34), »müssen immer mit den materiellen Interessen eine Allianz schließen, um zu siegen.« Das sind allerdings keine Romantiker, das sind Positivisten aller Wege. Das sind die Herren Heine, Marx, Lassalle, Rathenau: Adoptivprotestanten aus materialistischer Wahlverwandtschaft. .
Seltsamer Fall! Ein französischer Irredentist aus Düsseldorf verleumdet die Blüte des Enthusiasmus und der Ekstase, die einzige christliche Literatur, die Deutschland besitzt! Denn was verbindet uns mit den Völkern, wenn nicht die christliche Spiritualität der Romantik? Franz von Baader, der Montblanc in dieser Richtung – schuf er nicht tiefe Verbindungen mit dem orthodoxen Geist Rußlands? Vgl. Wladimir Solowjew, »Ausgewählte Werke«, Bd. III, »Vorlesungen über das Gottmenschentum«, Jena 1914. Vgl. auch Th. G. Masaryk, »Rußland und Europa«, 1913, Bd. I, S. 250, wo der Nachweis geführt wird, daß nicht nur die großen russischen Orthodoxen (Samarin, Chomjakow und Kirejevskij) von Baader beeinflußt waren, sondern auch der Begründer der Heiligen Allianz, Alexander I. Da der erste Entwurf der Heiligen Allianz von Baader herrührt, kann man wohl sagen, daß er es war, der den atheistischen Positivisten Napoleon stürzte. Mit dem Italien des Franz von Assisi und der ganzen frühgotischen Tradition? Mit der inspiration douloureuse des Pascal und dem Thomismus des Kardinal Mercier? 1786 in den »Tagebüchern« (Gesammelte Schriften, Leipzig 1850 ff.; Bd. XI): »Gott weiß, wie sehr und oft ich es mit Pascal fühlte, daß wir mit allem Spekulieren und Demonstrieren immer ohne Gott in der Welt sind. Wahrlich dein metaphysischer Gott ist ein so feines, lauteres Spiritusflämmchen, das weder erleuchtet noch erwärmt, und bei dem jeder gute Entschluß erfriert.« 1796 erschien seine Abhandlung »Über Kants Deduktion der praktischen Vernunft und die absolute Blindheit der letzteren«. Es folgte ein Aufsatz »über den Affekt der Bewunderung und der Ehrfurcht« (1804). Es folgte 1823 eine Auseinandersetzung »über den Zwiespalt des religiösen Glaubens und Wissens als die geistige Wurzel des Verfalls der religiösen und politischen Sozietät«. Baaders magischer Einfluß auf die Romantiker war groß. Nicht nur Novalis, sondern auch F. Schlegel, Goethe und Schelling gingen in seine Schule. Der Rationalismus und die Hegelei drängten ihn jedoch in den Hintergrund. Hier sind großartige Schätze einer christlichen Philosophie von unwiderstehlicher Hellkraft zu heben. Hat er in seinen Tagebüchern nicht sanft und gewaltig die Irreligiosität der pantheistischen deutschen Philosophie aufgedeckt »Revision der Hegelschen Philosopheme bezüglich auf das Christentum« (1839). Er hielt die ganze moderne Philosophie von Descartes und Locke an für eine Geisteskrankheit, die gleichwohl nicht imstande gewesen sei, die gesunde Konstitution der menschlichen Denkkräfte für immer zu zerstören, und sah das Herannahen einer großen sittlichen Katastrophe. 1786 schrieb er: »Ärzte und alle Naturweise bekennen es einmütig, daß das Fleisch alles, so da lebet, verdorben ist. Die allgemein überhandnehmende Geistes- und Nervenschwäche, und Aufklärung in unserem gesitteten Menschenvolke ist ein leider untrügliches Symptom einer uns allgemein bevorstehenden Revolution. Leibhaft sind wir mit allem unserem sinn- und gottlosen Dichten, Tun und Zerstören das en miniature und als Zwerge der Schwäche und elender, siecher Ohnmacht, was jene Riesen vor der Sintflut, jene Fleisches-Türme und Heroen en gros waren. Jene Himmels-Stürmer sündigten durch gigantische Unternehmungen, und wir Himmels-Stürmerlein durch Nichtigkeit. Das Herz ist das Erste, was im kleinen Tröpfchen Lymphe, in und aus dem das Menschengebilde bereitet wird, sichtbar scheint; und wahrlich dessen Bildung ist es, worauf die ganze Tragikomödie abzweckt.« und den ewigen Hader zwischen katholisch und protestantisch zu tilgen versucht in einem großzügigen Reformvorschlag? Er hielt das Papsttum nicht für eine dem Katholizismus wesentliche Institution. Am Protestantismus schätzte er die Negation der hierarchischen Despotie, sah aber in seinem Gefolge die weltliche Beherrschung der Kirche, die Cäsaropapie. Beiden Kirchen gegenüber zog er die gräco-russische als mustergültige kirchliche Organisation vor. In einer 1818 erschienenen Abhandlung »Der morgenländische und abendländische Katholizismus mehr in seinem inneren wesentlichen als in seinem äußerlichen Verhältnisse dargestellt« heißt es: »Die Vornehmheit, mit welcher sowohl Romanisten als viele Protestanten im Abendlande auf die polizeiliche Abhängigkeit der gräco-russischen Kirche als ecclesia pressa herabblicken zu können vermeinen, steht ihnen übel an, indem sie wissen könnten, daß gerade eine solche Abhängigkeit nicht essentiell, sondern nur akzidentiell besteht, wovon aber das Gegenteil sowohl bei der römischen als protestantischen Kirche statthat, indem jene sich der weltlichen Souveraineté nicht anders zu entziehen weiß als durch unbedingte Untertänigkeit unter einen geistlichen Souverain, so wie die protestantische Kirche sich zwar der Untertänigkeit, unter einen geistlichen Zwingherrn entzogen hält, aber nur damit, daß sie den weltlichen Landesherrn als Oberhirten und Oberbischof anerkennt.« – In einem Briefe an Varnhagen von Ense (1824) nennt er den Protestantismus das »große Unterhaus der Kirche«, und in einem weiteren Briefe schreibt er: »Der Protestantismus soll seinen status quo herstellen. Die Evangelischen sollen – ein Evangelium haben. Kann aber der Protestantismus diesen status quo nicht herstellen, pereat!« (Kleine Schriften, Leipzig 1850, S. 380-82). Seine ekklesiastischen Hoffnungen waren untrüglich auf die Wiedervereinigung der morgen- und abendländischen Kirchen gerichtet. Bei der morgenländischen Kirche glaubte Baader einer der korporativen Natur der Kirche entsprechendere kollegiale Form des Kirchenregiments zu finden, ursprünglich reinere Formen in der Verwaltung der Sakramente, einen reineren Begriff von den Bedingungen, unter denen der unfrei gewordene Mensch von der Macht der Sünde und Schuld befreit werden könne. Die idealistische deutsche Philosophie war ihm nur ein Vorläufer der Auflösung des Protestantismus. Sprechen nicht Münzer und Jakob Böhme zugleich aus ihm, wenn er sagt: »Man muß zeigen, daß Könige Staatsgefangene und alle Reichen Pensionäre sind«? »Tagebücher aus den Jahren 1786 bis 1793«, Bd. XI der Gesammelten Schriften, Leipzig 1850, S. 253. Wenn er Kant und Hegel, den Häuptern der Erkenntnistheorie, beweist, daß sie die Logik mit dem Logos verwechselt haben? Wenn er zu Schelling spricht: »Du redest von einer Offenbarung Gottes durch Naturgesetze für jedes einzelne Wesen in dem großen All, und von einer menschlichen Offenbarung an Menschen magst du nichts hören? Für das Menschliche in Gott hast du keinen Sinn, so wenig als du einen solchen für das wahrhaft Göttliche im Menschen hast. Wissen willst du? Nun so wisse, daß dir deine Vernunft außer den sinnlichen Erfahrungen weiter nichts taugt, als dich in dem heillosen dialektischen Schattenspiele herumzujagen, und daß es also wohl sehr vernünftig, größte, reinste Vernunft ist, da zu glauben, wo du nie wissen kannst.« Ebd., S. 82.
Zugegeben: die Schauer-, Ritter- und Pomp-Romantik und auch noch die Heroldsbläserei Wagnerscher Ouvertüren haben die deutsche Reichsgründung eröffnet. Und Friedrich Schlegel wurde, als er zu Jahren kam, Ritter des päpstlichen Christusordens. Aber neben den Obskuranten, die in Abhängigkeit gerieten, – gab es nicht reine begeisterte unabhängige Mystiker, die uns den Blick rein hielten für das, was wir wollen müssen: eine ecclesia militans, deren Hauptstadt Paris ist; deren Väter Pascal, Münzer und Tschaadajew heißen; deren Gott in der Zukunft wartet und erkämpft werden muß; deren Reich nicht von dieser Welt, sondern von einer neuen ist, die wir schaffen und nur in der Unendlichkeit erreichen werden?
Gewiß: Trägheit und Laster um ihrer selbst willen, Askese und Weltflucht, wie die Romantik in ihrer Entartung sie zeigt, sind nicht Heiligtümer; sie sind Verzweiflung; Nachwirkungen des furchtbar paulinischen Dogmas: Gott ist tot, Gott ist am Kreuze gestorben. Und auch das Motto einer heutigen Romantik: die Kirche hat einen guten Magen, sie kann selbst Aas und Verwesung vertragen, gilt nicht für die neue Kirche, die streitende Demokratie. Wir sind keine skeptischen Hamlets mehr, keine schlechten Pauliner. Wir sind eine Conspiratio in Christo »II y a parmi nous«, sagt George D. Herron, »un sentiment de la présence de Christ sans correspondant dans le passé«. (»Le Germanisme et la croisade américaine«, Genève 1918.). Wenn Heine sagt: »Die neufranzösischen Romantiker sind Dilettanten des Christentums, sie schwärmen für die Kirche, ohne ihrer Symbolik gehorsam anzuhängen; sie sind catholiques marrons«, so geben wir ihm recht. Wir sind keine Prokatholiken nach René Gillouins glücklicher Prägung in einem Aufsatz über das Prokatholikentum der Lemaître, Maurras und Barrès »Mercure de France«, Paris, November 1916.. Und wenn Heine von der Staël sagt: »Sie spricht von unserer Ehrlichkeit und unserer Tugend und unserer Geistesbildung – sie hat unsere Zuchthäuser, unsere Bordelle und unsere Kasernen nicht gesehen« »Gedanken und Einfälle«, Bd. XII der Vermischten Schriften. , so war es gewiß artig, ihr den Krieg zu machen, wenn er sich auch in der Waffe vergriff.
Wir glauben an Don Quixote und an das phantastischste aller Leben. Wir glauben daran, daß die Ketten fallen und daß es keine Galeeren mehr gibt. So sehr sind wir bereit, Opfer zu bringen, daß Kants Pflichtideal uns als moralischer Dilettantismus erscheint. Wir glauben nicht an die sichtbare Kirche, aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen will, ist ihr Glied. Wir glauben an eine heilige christliche Revolution und an die unio mystica der befreiten Welt. Wir glauben an die küssende Verbrüderung von Mensch, Tier und Pflanze; an den Boden, auf dem wir stehen und an die Sonne, die über ihm scheint. Wir glauben an einen unendlichen Jubel der Menschheit. Wie sagt Jan van Ruysbroek im »Buch der zwölf Beginen«:
»Verschmelzen mit der Liebe Angesichte
Und ganz von Liebe trunken sein Ist selige Weise.« |
Die Romantik durchbrach in Deutschland die Tradition von 1517. Das ist ihre Tat. Sie stellte die Verbindung wieder her mit der alten Spiritualität Europas. Sie versuchte eine Kritik des Protestantismus und wies über den Konfessionsstreit hinaus. Sie ist mächtig genug, Deutschland eine Renaissance des Christentums zu bringen, wenn man nur wollen wird. Der Heilige und das Genie dürfen nicht einsam und Zufall bleiben. Mögen sie vorstellig werden wie das Gewöhnliche und das Gemeine. Allerheiligen ist das christlichste Fest.
Die Gründung der Berliner Universität nach dem Plane Wilhelm von Humboldts (1810) war einer jener konterrevolutionären Maßnahmen, über die Metternich und Humboldt sich einig waren und die fünf Jahre später gegen die »aufgeregten Stände« ihren Triumph feierten auf dem Wiener Kongreß.
Man hat die Verdienste Humboldts um die Reaktion bislang unterschätzt. Herr Moeller van den Bruck unternahm es, sie ins gebührende Licht zu setzen. Humboldts »Idealstaat«, theoretisch ein Versuch, die »moralische Weltordnung« in Preußen anzusiedeln, erwies sich in der Praxis als ein Zwangs- und Sicherheitsinstitut, »in dem das Volk der Deutschen nach außen seine Sicherheit und nach innen seine Freiheiten bekommen hatte«, unter denen nach Herrn Moeller »die Sicherheit vor Gemeinplätzen und die Freiheit von Schlagwörtern am selbstverständlichsten, aber auch am dringlichsten zu sein pflegt« Moeller van den Bruck, »Wilhelm von Humboldt und die preußische Freiheit«. ; ein Staatsinstitut also, dessen Grundsatz in jener uns unlängst beschiedenen Ballinschen Formel »Mauhalten und Durchhalten« gipfelte.
Humboldts Idee einer Berliner Universität erscheint mir als reaktionäres Entwurf bedeutender. Man bedenke: der König von Preußen Rector magnificentissimus der Universität seiner Residenzstadt! Rector magnificentissimus war vor der Reformation der Papst, nach der Reformation aber der protestantische Landesfürst! Da der König von Preußen zugleich das Summepiskopat seiner Landeskirche innehatte und absoluter Soldatenkönig war, so ergab sich für die neue Residenzhochschule ein religiöses Militärprotektorat, das alle Anlagen zeigte, die päpstliche Despotie des Mittelalters in furchtbarer Weise abzulösen, wenn nur ein geschickter Interpret sich fand. Und dieser ließ denn auch nicht lange auf sich warten.
1818 kam Georg Wilhelm Friedrich Hegel nach Berlin, und ihm ist es zu danken, daß Preußen Basis eines neuen Strebens nach dem Universalstaat wurde, einem Universalstaate, worin die irdischen Interessen die himmlischen ablösten, Berlin einen zynischen Ersatz bot für Rom, und ein allmächtiger Beamtenklerus für die Geistlichkeit; worin unter dem Namen der Staatspragmatik eine neue Scholastik aufkam und der preußische König mit Hilfe seiner Geheimräte und Professoren die verworfene Sträflingswelt seiner Untertanen regierte als höchste geistliche und weltliche Macht.
Hegel war als Privatmann ein ziemlich lächerlicher Kleinbürger aus Schwaben. Auf dem Tübinger Stift war er »schulmäßig zum Theologen gebildet« Karl Rosenkranz, »Georg Friedrich Wilhelm Hegels Leben«, Berlin 1844, S. 48.. In Heidelberg, Nürnberg und Jena hatte er doziert als Professor und Rektor. Es war die Zeit, da poetische Exaltationen und Übertreibungen sogar den Philister ergriffen. »Als wir noch im Leibe vor einander wallten«, schrieb man sich in Briefen Brief Hufnagels an Hegel, 4. Mai 1803 (Rosenkranz, S. 224)., und wenn einer das namenlose Glück erlebte, Napoleon Bonaparte zu Gesicht zu bekommen, so nannte er ihn wie Goethe »die sichtbar gewordene Idee des Höchsten« oder wie Hegel »die Weltseele zu Pferd« Hier der Brief Hegels, der auch sonst interessant ist: »Jena, Montag, den 13. Oktober 1806, am Tage, da Jena von den Franzosen besetzt wurde und der Kaiser Napoleon in seinen Mauern eintraf: Den Kaiser, diese Weltseele, sah ich durch die Stadt zum Recognoszieren hinausreiten. Es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt concentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. Wie ich schon früher tat, wünschen nun Alle der Franzosen Armee Glück, was ihr bei dem ganz ungeheuren Unterschied ihrer Anführer und des gemeinen Soldaten von ihren Feinden (den Preußen!) auch gar nicht fehlen kann. So wird unsere Gegend von dem Schwall bald befreiet werden.« – Ein seltsamer Patriot, wird man sagen! Und doch behauptet sein Herausgeber, daß er das »Höchste« gab, was »deutscher Idealismus überhaupt geschaffen hat«. (Vgl. K. P. Hasse, Vorwort zu »Hegels Philosophie«. Deutsche Bibliothek, Berlin 1917.).
Schon in seiner Habilitationsschrift vom 27. August 1801 stellt Hegel den Satz auf »Principium scientiae moralis est reverentia fato habenda« Rosenkranz, S. 159. Die beiden ersten Sätze seiner Habilitationsschrift lauteten: I. »Contradictio est regula veri, non contradictio falsi«, II. »Syllogismus est principium idealismi«., und sein Biograph erzählt, daß es des großen Hegel Ehrgeiz war, »gleichsam der Machiavell Deutschlands zu werden« Ebd., S. 236.. Die Gesundheit eines Staates offenbare sich, sagte Hegel und noch im Jahre 1917 mußte Prof. Nicolai den Satz widerlegen, »nicht sowohl in der Ruhe des Friedens, als in der Bewegung des Krieges« S. 239.. Jeder Fürst sei der »geborene General seines Truppenkontingents«. Und – das ist ja ein kausaler Zusammenhang – den Protestantismus erhob er mit Begeisterung » als den Wiederhersteller der Gewissenhaftigkeit und Gewissensfreiheit der Einheit des Göttlichen und Menschlichen, wie sich dies besonders auch darin ausdrücke, daß der Fürst eines protestantischen Staates zugleich der oberste Bischof seiner Kirche sei« S. 411. Die Einheit des Göttlichen und Menschlichen – da hat man die ganze Blasphemie des Protestantismus. Die Einheit des Göttlichen und Menschlichen, repräsentiert vom preußischen Soldatenkönig, da hat man den doktrinären Satanismus, dessen die lutheranische Theologie sich schuldig machte.. Mit Nachdruck verwarf Hegel »den unseligen Irrtum, daß man einen Staat wähne gründlich konstituieren zu können, ohne den Glauben an Gott als das innerste Prinzip alles Denkens, Tuns und Lassens« aufzustellen, und ohne die geringste Skepsis identifiziert er Protestantismus und Christentum als die natürlichste Sache von der Welt, obgleich gerade seine Form von Protestantismus dem Seelenheile des Nächsten und der Bergpredigt widerspricht, und keineswegs der Menschheit, sondern in erster Linie dem übergeordneten Prinzip eines heidnischen Aufsichtsstaates und der erfolgreichsten Dynastie verantwortlich ist Von der privaten Moralität ist nirgends bei Hegel die Rede. Überall nur von den Tugenden der Stände, des Staates, der Gesamtheit. Sein Aberglaube ist der Begriff, das Kollektivum. Ein Reich von Begriffen soll die persönliche Immoral vergessen machen und den moralischen Quietismus entschuldigen. Seine Philosophie ist eine Flucht ins Abstraktum. Der Widerspruch, den er an den Anfang seiner Philosophie setzt, hebt die Moral auf, indem Gott und der Teufel gleiche Rechte genießen. Der Widerspruch, Hegels persönlichstes Problem (ausgedrückt durch These und Antithese), soll in der Synthese, im höheren Begriff vergessen und begraben werden. Da hat man auch den »ideologischen Überbau«, den Marx meinte, und als dessen Basis und Realität er den gröbsten Materialismus und Fatalismus erkannt und bezeichnet hat. Alle jene abstrusen dialektischen Prozesse, mit denen Hegel und Marx in der Geschichte zur Moralität zu gelangen glaubten, sind nur verzweifelte Versuche, über die ursprüngliche Immoral und ekelhafte materialistische Begehrlichkeit hinwegzutäuschen. Niemand hat tiefer als Erneste Hello (in seinem großmütigen Buche »Philosophie et Athéisme«, Neuausgabe Paris 1903) den moralischen Nihilismus der Hegelschen Philosophie aufgedeckt. »Par cette théorie de l'identité des contraires, où Hegel a-t-il été conduit? Si, en effet, l'affirmation et la négation sont identiques, toutes les doctrines deviennent égales et indifférentes. Hegel proclame l'égalité, l'identite de l'etre et du neant. Voilà l'erreur radicale, fondamentale, immense de ce siècle-ci; voilà la négation mère; voilà ce doute absolu, qui est l'absence même de philosophie, érigé en philosophie absolue.« Und er bezeichnete auch die Wurzel dieser Philosophie des Nichts: »le grand malheur, le pêché originel de la société moderne: le protestantisme« (L'Allemagne et le Christianisme, S. 247–260)..
In Hegels Berliner Antrittsrede finden sich bereits alle pomphaften Wendungen, die der spätere Hegelianismus über den Zusammenhang der Hegelschen Philosophie mit der »welthistorischen« Bestimmung des preußischen Staates geltend zu machen pflegte. Die Berliner Universität ist ihm die »Universität des Mittelpunktes«, die »auch der Mittelpunkt aller Geistesbildung und aller Wissenschaft« werden muß Rosenkranz, S. 328. . Die Deutschen preist er wie bereits in einer Heidelberger Rede »als das auserwählte Volk Gottes in der Philosophie« In seiner Heidelberger Rede hatte er ausdrücklich an das auserwählte Volk der Juden erinnert.. Seine erste Tat aber ist die Wiederverdunkelung der Kantischen Errungenschaften, indem er nämlich von Kants Trennung zwischen Obskurantismus und reiner Vernunft sagte: »Zuletzt hat die sogenannte kritische Philosophie dem Nichtwissen des Ewigen und Göttlichen ein gutes Gewissen gemacht, indem sie versichert, bewiesen zu haben, daß vom Ewigen und Göttlichen nichts gewußt werden könne. Diese vermeinte Kenntnis hat sich sogar den Namen Philosophie angemaßt.« Rosenkranz, S. 328, bemerkt indessen, daß Hegel der »Kantschen Philosophie, der ursprünglich preußischen, seine eigene Philosophie in den wesentlichsten Punkten verdankte«, und das trifft auch zu.Hegel seinerseits glaubte die absolute Kenntnis vom Ewigen und Göttlichen zu haben. Er versprach eine Philosophie, die »Gehalt« haben werde, und rief dazu die Jugend auf, die noch unbefangen sei »vom negativen Geiste der Eitelkeit, von dem Gehaltlosen eines bloß kritischen Bemühens«. Wie Hegel sich indessen diesen »Gehalt« in Wirklichkeit dachte, das ergab sich bei Gelegenheit seiner Festrede zur Feier der Augsburgischen Konfession im Jahre 1830.
Die Augsburgische Konfession ist das vornehmste symbolische Buch der Lutheraner, das Hauptdokument des preußisch-deutschen Byzantinismus. Nur mit ihrer völligen Diskreditierung kann Deutschland dem Christentum wiedergewonnen werden. Hegel nannte die Augustana, ohne auf den Kardinalpunkt näher einzugehen, die »Magna carta des Protestantismus« (des sola fides justificat wegen). Er schilderte – was schilderte er wohl? Die Verderbtheit der Kirche durch den papistischen Katholizismus, schilderte die Tyrannei, mit welcher die Kirche alle Selbständigkeit der Wissenschaft darniedergehalten habe. Er schilderte die Verunsittlichung des Lebens durch die Zerstörung der Familie mittels des Zölibats, durch die Zerstörung des werktätigen Fleißes mittels der Vergötterung der Armut und Faulheit und stupiden Werkheiligkeit, durch die Zerstörung der Gewissenhaftigkeit mittels eines stumpfen unmündigen Gehorsams, der in seiner Gedankenlosigkeit die Verantwortung für sein Tun den Priestern überläßt, endlich durch die Zerstörung des Staates infolge Nichtanerkennung der wahren fürstlichen Souveränität Rosenkranz, S. 411.. Kurz er schilderte all das, das wir heute als Folge der Augsburgischen Konfession und der protestantischen Kirchengründung dem Staatslutheranismus vorzuwerfen haben: die Verderbtheit der Kirche (durch Abhängigkeit von der Fürstengewalt), die Sklaverei der Wissenschaft (durch Abhängigkeit von der Fürstengewalt), die Verunsittlichung des Lebens (durch einen unbedenklichen Positivismus), die Zerstörung der Familie (durch Kriege und Deportationen), die Zerstörung des werktätigen Lebens (durch Monopole und Privilegien), die Vergötterung der Armut (durch defaitistische Propaganda im Ausland), die Zerstörung der Gewissenhaftigkeit (durch politische Entmündigung).
Der Senat machte bei Gelegenheit dieser Feier auf den Mangel einer Universitätskirche für Berlin aufmerksam (trotz Kant) und Hegel, der inzwischen Rektor geworden war, nahm sich der Sache »aus allen Kräften« an, indem er darauf drang, man möge wenigstens »vorerst einen Betsaal bewilligen«, wenn noch keine Kirche gebaut werden könne. Eine besondere Kirche gehöre »schon zum Anstand einer Universität«. Nachdem selbe (die Universität) »auf eine Anzahl von 1800 Studierenden angewachsen sei, bilde sie mit den Familien der über 100 sich belaufenden Dozenten eine nicht unansehnliche Gemeinde« Ebd., S. 412.. Hegel als Rektor und der Landesfürst als Rector magnificentissimus verhielten sich auf der theologischen Linie zueinander wie der Prediger zum Bischof.
Die Philosophie Hegels läuft hinaus auf eine Erweiterung des protestantischen Gedankens und des absolutistischen Bewußtseins, nicht aber der Wahrheit und Erkenntnis. Jener Satz Hegels aus seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie: »Was vernünftig ist, das ist wirklich und was wirklich ist, das ist vernünftig«, mag einmal eine Tat gewesen sein, als Anerkennung der Wirklichkeit gegenüber der doktrinären Verdächtigung und Verfluchung aller Realität im Heiligen Römischen Reich. Eine Erkenntnis aber enthielt er nie, und er konnte auch in all seiner summarischen Anerkennung des Verruchten wie des Verklärten nur innerhalb eines Systems aufrechterhalten werden, das sich im Balancement von Abstraktionen und Begriffen intellectualiter begnügte. Jener andere Hauptsatz Hegels aber, »der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt«, der einfache Gedanke der Vernunft, »daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei« Philosophie des Rechts, § 341/342.: ist nicht auch dieser Satz eine Unwahrheit, eine so handgreifliche moralische Kapitulation, daß nur ein in theologischen Dingen kritikloses Volk den hinterhältigen Glauben an die Absurdität übersehen konnte, der sich hier verbarg Erst Schopenhauer und Nietzsche haben Gegensysteme gegen Hegel aufgestellt, mit denen sie auf der absoluten Unvernunft der Geschichte einen neuen (heroischen) Idealismus zu errichten hofften. Die Ekrasierung Gottes aus dem Weltgetriebe, die Schopenhauer vornahm, ist eine Ekrasierung der optimistischen Hegelschen Voraussetzung einer universalen Vernunft. Die wahrhafte Theodicee war für Hegel »die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte« (Philosophie der Geschichte). »Nur die Einsicht«, schrieb er, »kann den Geist mit der (preußischen. H. B.) Weltgeschichte und der (preußischen. H. B.) Wirklichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist«. Fast wörtlich hatte sich Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« so geäußert.?
Die Hegelsche Rechts- und Geschichtsphilosophie zusammen hatten nur die Bestimmung, eine Art Beweisführung für des Autors im protestantischen Dogma befangene Überzeugung zu liefern, daß »die preußische Monarchie das Ideal eines politischen Organismus« sei Nicht nur die preußische Monarchie, sondern der preußische Absolutismus. »Die Regierung ruht in der Beamtenwelt (!) und die persönliche Entscheidung des Monarchen steht an der Spitze; denn eine letzte Entscheidung ist... schlechthin notwendig.« Oder: »Allerdings ist es für ein großes Glück zu halten, wenn einem Volk ein edler Monarch zugeteilt ist; doch auch das hat in einem großen Staat weniger auf sich, denn dieser hat die Stärke in seiner Vernunft.« Oder: »Es sollen die Wissenden regieren, οι αριστοι, nicht die Ignoranz und die Eitelkeit des Besserwissens« (Philosophie der Geschichte). Der preußische Militär- und der Hegelsche Intellekt-Absolutismus erklären sich gleicherweise aus den menschlich und moralisch verzweifelten Zuständen der vom 30jährigen Krieg und den Habsburgern her fortwirkenden Volksverwahrlosung.. Denn ebenso wie Bismarck später an den »großen Entwicklungsprozeß« glaubte, »in welchem Moses, die christliche Offenbarung und die Reformation als Etappen erscheinen«, so glaubte Hegel in seiner »Philosophie des Rechts« an den »germanischen Geist« als den »Geist der neuen Welt« und an einen »Trieb der Perfektibilität« Masaryk (»Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus«, Wien 1899) hat klar und bündig gezeigt, wohin der »Trieb der Perfektibilität« und der Glaube an die »historischen Naturgesetze« bei dem schlimmsten Schüler Hegels, bei Marx führte – zur moralischen Anarchie. Religion und Moral (die Ideologie) sind abgetan. Das Fatum herrscht. Die Entwicklung, die die Vernunft ist, wird alles selbsttätig entscheiden und die Moral lautet einfach: Wer die Macht hat, hat das Recht. Moral ist jetzt »Anerkennung der Tatsachen«, bei aller Freiheit, moralisch oder unmoralisch handeln zu können. Die Entfesselung des Verbrechertums ist die Folge. Wie argumentierte er doch? »Die dritte Periode der germanischen Welt geht von der Reformation bis auf unsere Zeiten. Das Prinzip des freien Geistes ist hier zum Panier der Welt gemacht und an diesem Prinzip entwickeln sich die allgemeinen Grundsätze der Vernunft.« Wobei aber zu sagen ist, daß das Freiheitspanier, das die Reformation errichtete, nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs und sein Herold nicht jener Luther war, der die Augsburgische Konfession guthieß, sondern jener Roger Williams, der von gewaltigem, tief religiösem Enthusiasmus getrieben, in die Einöde auszog, um ein Reich der Glaubensfreiheit zu gründen. (Vgl. J. Jellinek, »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte«, 1895, S. 42.) »Was die Gesinnung betrifft, so ist es schon gesagt worden, daß durch die protestantische Kirche die Versöhnung der Religion mit dem Rechte zustande gekommen ist.« Und als Folge: »Es gibt kein heiliges, kein religiöses Gewissen, das vom weltlichen Rechte getrennt oder ihm gar entgegengesetzt wäre.« »Philosophie der Geschichte.« Das aber hieß im Zusammenhang des Hegelschen Systems: es gibt kein heiliges, kein religiöses Gewissen außerhalb oder gar gegen den protestantischen Absolutismus. Und doch schrieb dieser fürchterliche Jesuit den Satz: »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit.«
Wie erklärt sich solche alleruntertänigste Devotion? Daß Preußen »das absolute Ideal« sei, dachte sich Hegel schon bei seiner Berufung. Eine Anstellung an der Berliner Universität war schon in Heidelberg sein höchster Traum. Was ihn nach Preußen zog, war es am Ende wohl Preußens »Gehalt«? Wie hätte diese Monarchie die Universität Berlin gründen und so reichlich dotieren können, wenn Preußen nicht alle andern Staaten übertraf »Das Ministerium unterstützte Hegel beständig auf außerordentliche Weise, bald durch ansehnliche Remunerationen, bald durch splendide Reisegelder, und ging auch aufs Freundlichste auf möglichste Realisierung anderer Wünsche desselben ein. Alles stellt ihn zufrieden und die kühnsten Hoffnungen für seine Wirksamkeit breiten sich mit behaglichem Lächeln aus. Wer weiß, was für Perspektiven sich seinem gewaltigen Geist noch vorspiegelten! Wer weiß, ob er nicht in die Regierung selbst einzutreten sich Aussicht machte.« So Rosenkranz, S. 318 f.? Wie hätte sie ihn, Hegel, den armen Schlucker, dem Goethe nach Jena Beigefügtes im Brief zukommen ließ, weil man von den sächsischen Kollegiengeldern nicht leben konnte Brief Goethes an Hegel vom 27. Juni 1806: »Sehen Sie Beikommendes, mein lieber Herr Doctor, wenigstens als einen Beweis an, daß ich nicht aufgehört habe, im Stillen für Sie zu wirken. Zwar wünschte ich mehr anzukündigen, allein in solchen Fällen ist manches für die Zukunft gewonnen, wenn nur einmal ein Anfang gemacht ist. Der ich recht wohl zu leben und Sie gesund und froh wieder zu sehen wünsche.« (Rosenkranz, S. 223), dorthin berufen? Aber dann stimmte es auch überein mit Hegels »Spekulation« und schulmäßiger Theologie. Und es kam nur darauf an, den »Idealstaat« Humboldts möglichst zu überbieten. Das war man der Berufung und dem Landesfürsten schuldig.
Also griff Hegel zur »Weltseele« und ließ sie sich mittels These, Antithese und Synthese zum Selbstbewußtsein des preußischen Untertanen und Staates hinaufentwickeln. Das war für die Weltseele ein anstrengender Prozeß und für den Herrn Professor auch, und der Vorgang wurde etwas dunkel, aber desto verdienstlicher das Resultat für den Impresario. Und was Hegel ebenfalls schon vorher wußte: daß nämlich alles, was konterrevolutionär ist, auch vernünftig ist, also auch die allgemeine Wehrpflicht, mit der Friedrich Wilhelm III. nach den »Freiheitskriegen« sein Volk beglückte (1814), – auch das deduzierte er von der Idee, ohne sich seiner französischen Sympathien vom Jahre 1806 zu erinnern, und deduzierte von ihr das Erbkönigtum, die Majorate und das Zweikammersystem. Und so wurde der deutsche »Idealismus« zu jenem Geheimkabinett, auf dessen Dach die Flagge der Vernunft und Aufklärung wehte, während im Innern ein Mystagoge seiner Nation eine Chloroformmaske übers Gesicht warf, und das betäubte Objekt dem Sadismus der Herrscher auslieferte.
Die ganze Weltgeschichte setzte Hegel in Bewegung, um Preußen als Taube daraus hervorzuzaubern. Eine solch abergläubische Wichtigkeit hatte niemand vor ihm dieser Monarchie beigemessen. Die instinktive Ahnung der Absurdität seines Systems war die Ursache von Hegels europäischem Erfolg, die Charlatanerie und Dreistigkeit dieses Systems aber war es, was Schopenhauer rasen machte Es wäre ein Irrtum, anzunehmen, daß Goethe der Hegelschen »Philosophie« zustimmte. Er hatte eine gewisse Bonhommie für den trockenen Schwaben, der so wacker die preußische Konjunktur für seine Karriere zu nutzen verstand. Er ahnte wohl nicht die Folgen. 1821 schickte er Hegel einen Weinbecher mit dem ironischen Begleitwort:.
Zweierlei Rebellionen sind möglich. Eine Rebellion gegen die natürlichen Grundlagen der Gesellschaft und des Gewissens. Sie ist töricht und verbrecherisch. Und eine Rebellion für diese Grundlagen, aus universalem Gewissen. Sie fördert die Freiheit, die nichts anderes ist als der Höchstertrag allerlösender Leistung.
Unbegreiflich, wie man Hegel für einen Rebellen im Sinne der Freiheit halten konnte. Man erinnert sich Heines optimistischer Prophezeiung: »Unsere philosophische Revolution ist beendet. Hegel hat ihren großen Kreis beschlossen... Lächelt nicht über meinen Rat, über den Rat eines Träumers, der euch vor Kantianern, Fichteanern und Naturphilosophen warnt. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden...« Heine, »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«, S. 121–124. Unbegreiflich, wie man den Protestantismus als Prinzip der deutschen Philosophie und Entwicklung erkennen und trotzdem eine »Revolution«, ausgehend von den Professoren dieses Prinzips, erwarten konnte. Ich stimme der Meinung des französischen Historikers Théodore Duret zu, der in einer Enquête über die Möglichkeit einer Revolution in Deutschland die skeptischen Sätze schrieb: »L'idée de révolution, d'un changement profond à réaliser brusquement, n'a pu naître et se développer que dans un pays latin, idéaliste et catholique comme la France. Elle est restée sans prise réelle et le restera toujours, sur des pays germaniques, positifs et protestants, comme l'Allemagne et l'Angleterre.« »En Allemagne une Révolution est-elle possible?« Introduction et Notes de Marius-Ary Leblond (unter Mitarbeit von Barrès, Huret, Lichtenberger, Rolland, Schuré, Seignobos, Sembat, Wetterlé u. a.), Paris 1917.
Der lutheranische Protestantismus ganz besonders setzt das materielle Wohl über alles persönliche Opfer, den Egoismus über alle Ziele der Gesamtheit. Die Carbocherie und der Eigensinn, aus denen er entspringt, verhindern jede Solidarität in Gewissensfragen und schließen jene sublime Reizbarkeit in Fragen der moralischen und politischen Freiheit aus, die letzten Endes ihren Ursprung im Selbstbewußtsein kollektiv entwickelter Generationen hat. Vom Kollektivbewußtsein allein wird die Überhebung von Individuen oder Klassen als unerträgliche Vergewaltigung des sozialen Moralbegriffes empfunden und gerichtet werden können. Das Kollektivbewußtsein ist die Voraussetzung jeder produktiven Rebellion.
Die Deutschen rebellierten immer nur gegen das Gewissen, gegen die Grundlagen der Moral und der Gesellschaft, ob sie Luther, Kant, Hegel oder Marx hießen. Der Protestantismus von Individuen, Klassen oder Völkern kommt heute der Vergewaltigung der übrigen Gesellschaft von Individuen, Klassen oder Völkern gleich, aus denen er entsprang und sich isolierte. Nicht einmal eine soziale und politische, geschweige denn eine moralische Revolution, ist heute in Deutschland möglich ohne einen tiefen Umschwung im religiösen Ideal. Die Umwelt ist es, die rebelliert, die unterdrückte Tradition der vorreformatorischen christlichen Idee, und diesen mächtigen Faktoren wird das unterdrückende Individuum, heute das ganze protestantische Deutschland, auf die Dauer nicht gewachsen sein. Der deutsche Protestantismus war die Konterrevolution gegen die christlich-kommunistischen Bauernaufstände des Mittelalters.
Hegels Rebellion gegen Gott hatte durchaus keine synthetischen, wohl aber zerstörende, nihilistische Motive. Man konnte Preußen nicht gut von Gott ableiten. Das sah selbst Hegel ein; ebenso wie Kant, der an Gott wohl nur deshalb nicht mehr glaubte, weil er die preußische Wirklichkeit und Friedrich Wilhelm I. noch kannte und sich schämte. Also mußte man Gott von Preußen ableiten oder ihn ganz beiseite lassen und einen Ersatz für ihn suchen. Kant fand das »Ding an sich«, Hegel die »Weltseele«. Hegels Weltseele war ein immerhin respektables Objekt. Kein preußischer Regent konnte sich beklagen, mit ihr in intime Beziehungen gesetzt zu werden.
In der »Weltseele« war ein Gott-Ersatzmittel gefunden von erklecklicher Würde. Hegel setzte seine Weltseele bei Adam und Eva in eine Art Krankenfahrstuhl, gab ihr These und Antithese als zwei Hebel in die Hände und ließ sie in der Synthese sich fortbewegen. Er nannte das die »Fortbewegung der reinen Vernunft vom An-sich durch das Für-sich zum An-und-für-sich«. Den zurückgelegten Weg nannte er Prozeß oder Fortschritt. Nach Verlauf von einigen tausend Jahren kam die Weltseele in Berlin an und die Studenten jubelten ihr zu, als sie im Königlichen Palast abstieg. Dem Herrn Professor Hegel aber, als dem Erfinder dieser Maschine, brachten die Studenten einen Fackelzug.
Die Sache ist nicht so spaßig, wie sie klingt. Denn abgesehen davon, daß nun jedermann eine solche dialektische Maschine erfinden wollte – man nannte das ein System –, so hatte Hegels Weltseele den Berlinern und ihrem König von der Reise auch etwas mitgebracht. Das war das »Inventar« der Weltseele: eine Art Rangordnung und Tabelle der Staatswissenschaften, ein utilitarischer Stammbaum der Fakultäten und Disziplinen. Vergebens wies Baader darauf hin, daß der göttliche und der menschliche Denkprozeß, die Metaphysik und die Logik, nicht identifiziert werden dürften An vielen Stellen seiner Schriften (vgl. Werke, Bd. I, »Gesammelte Schriften zur philosophischen Erkenntniswissenschaft als spekulative Logik«, hrsg. von Franz Hoffmann, Leipzig 1851).; zeigte er auf die Servilisten, Pietisten und Rationalisten, die einen Gegensatz zwischen Wissen und Glauben aus dem Zweifel »per generationem aequivocam« entstehen ließen; vergebens schrieb er in einem Briefe vom 30. September 1830 an Hegel selbst: »Der Teufel ist überall los, und weil sie die Idee in ihrer himmlischen Gestalt verachteten, müssen sie nun vor ihrer höllischen Karikatur erzittern.« Rosenkranz, a. a. O., S. 408. Da der preußische Staat einmal der Gipfel der Weltgeschichte war und sich noch weiter darin entwickeln konnte gemäß jenem Trieb zur Perfektibilität, der später in der Sozialdemokratie zur Perfektibilität der Konservenbüchsen, Kinderwägen und Sodaflaschen wurde, so gab es in der Folge keine Wissenschaft mehr außer an ihm, durch ihn und für ihn. Gehalt der Staatswissenschaft aber wurde die antichristliche Platitüde.
Und was wurde aus der Gelehrtenrepublik? Sie wurde nach und nach abgelöst von jener unversorgten und instinktlahmen Beamtenhierarchie, die nach Auflösung des Heiligen Römischen Reichs mit ihrer ganzen seelischen Popen- und Bonzenträgheit von Österreich überging an Preußen. Erster und mächtigster Agitator hierfür war Hegel der Beamte; Demiurg und Operateur der Weltseele zu Berlin. Mit seinen »intrikaten Floskeln«, wie Schopenhauer schimpfte, lähmte Hegel die Temperamente, indem er sie in Weltprozesse verwickelte, erstickte er 1848 den Volksunwillen in Phrasen und Räsonnement. Mit der Theorie von der »selbsttätigen Entwicklung« aber beschwichtigte er sogar das neue Ereignis des 19. Jahrhunderts, das revolutionäre Proletariat. »Selbsttätige Entwicklung«, das war so bequem und verlangte keine Frondierung! Einer verläßt sich auf den andern. Alle erwarten's vom Ganzen, keiner von sich. Indem Hegel nichts vernünftiger erscheinen ließ als das ganz und gar Absurde, zog er die von Frankreich ermunterten »Jungdeutschen« in ein pragmatisches Verhältnis zu demselben Staate, der diese Jugend, wo er ihrer habhaft werden konnte, wie Kriminelle in seine »Erziehungsanstalt«, die Armee abschob. Das alles aber mit dem dünkelhaften Selbstbewußtsein eines weltseelenvergnügten Kathederheldentums, dessen Ja- und Amen-sagender Opportunismus für Pedelle leichter zu durchschauen war als für biderbe Hörer.
Und hier ergibt sich das Problem der deutschen Universität und Staatspragmatik, dessen wahrhaft regenerative Lösung den völligen Zusammenbruch des jetzigen Reichssystems, den demokratischen Völkerbund und einen beratenden Kongreß der intellektuellen Partei aller Länder voraussetzt.
Nur eine großzügig eingeleitete Restituierung der ursprünglichen evangelischen Tradition, eine durchgreifende Internationalisierung der Lehrstühle und der lebhafteste Austausch wissenschaftlicher Autoritäten aller Länder würde den Begriff der Universität überhaupt und das Wiederaufblühen der moralischen und wissenschaftlichen Bildungsanstalten Deutschlands im besonderen garantieren Schon Constantin Frantz schlug die Gründung einer Internationalen Akademie für das Studium speziell der historischen und politischen Wissenschaften vor, als der wichtigsten für die Begründung und Ausbildung eines internationalen Rechts (»European Peace Institution« , in: »The Chronicle«, 1874). Freilich sind wir Deutsche an der Errichtung solcher Akademien mehr als alle anderen Völker interessiert.. Die jahrhundertelange Abhängigkeit unserer Universitäten von absolutistischen barbarischen Höfen, Abhängigkeit zuletzt von einer Militärdespotie, der alle speichelleckend sich boten, hat in deutschen Köpfen zu einer Konfusion der religiösen und freiheitlichen Überzeugungen geführt, von der nur derjenige sich einen Begriff bilden kann, der Religion und Freiheit in der offiziellen und inoffiziellen Literatur vergebens gesucht hat. Die intellektuelle Erkrankung der Nation, die daraus resultierte, – nur durch einen gemeinsamen Aufwand heilsamer Kräfte aller übrigen Völker ist sie zu beheben. Die Berliner Universität insbesondere wurde zum Schröpfkopf unserer moralischen und kulturellen Kräfte, und wir gehen in Siechtum und Weltverpestung zugrunde, wenn wir die Hilfe nicht finden, diese Bastillen und Lügenbuden zu stürmen.
Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen, soweit sie nicht im Materialismus beschlossen lagen, waren nie sonderlich neu. »Die Deutschen mögen sagen, was sie wollen«, weiß schon Lichtenberg, »so kann nicht geleugnet werden, daß unsere Gelehrsamkeit mehr darin besteht, recht gut inne zu haben, was zu einer Wissenschaft gehört, und zumal deutlich angeben zu können, was dieser und jener darin getan hat, als selbst auf Erweiterung zu denken. Selbst unter unsern größten Schriftstellern gibt es welche, die eigentlich nur das, was man schon wußte, gut geordnet wieder drucken lassen.« G. Ch. Lichtenberg, »Schriften, Bd. I, Literarische Bemerkungen., S. 287. Unter Hegel wurden die Wissenschaften, die in früherer Zeit einmal dem Himmelreich dienten, »vernünftig«, die Weltgeschichte vernünftig, die Vernunft selber vernünftig, und man kann ruhig für vernünftig jeweilen preußisch-protestantisch setzen. Der germanisch-protestantische Vernunftstaat (oder die Destruktion der abendländischen Moral) wurde der Wissenschaften höchstes Prinzip, und was für eine jämmerliche Freiheit dabei übrig blieb, weiß jeder, der die Sophistik heutiger Berliner Philosophen und Philologen nicht für Tiefsinn hält, das Schicksal eines wahrhaft freien Gelehrten aber wie des Berliner Biologen G. F. Nicolai für ein Symptom.
Vernunft in die Geschichte tragen, dieses höchste Ziel jeden Denkens im großen Stil – kann es darin bestehen, daß man die Vernunft aus den Tatsachen ableitet und dadurch die Weltgeschichte und alles individuelle Streben zum Stillstand bringt? Hegel wußte: »Die Idee der Freiheit ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat«; wußte, »daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist« »Enzyklopädie«, § 482. . Was machte er daraus? Er fand, die Freiheit sei »zunächst nur ein Begriff, Prinzip des Geistes und Herzens«, der »sich zur Gegenständlichkeit zu entwickeln bestimmt« sei, »zur rechtlichen, sittlichen und religiösen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit«. Auf diesem Wege kam er zu seiner positiven Rechtsphilosophie und endete mit dem schönen Satze: »Die Strafgerechtigkeit der Regierung, ihre Rechte der Verwaltung usw. sind zugleich Pflichten derselben, zu strafen, zu verwalten usw., wie die Leistungen der Staatsangehörigen an Abgaben, Kriegsdiensten usw. Pflichten sind. Wesentlich gilt es, daß, wer keine Rechte hat, keine Pflichten hat, und umgekehrt.« Ebd., § 485/486. Hegels philosophische Methode bestand eben nur darin, die theologischen und staatlichen Grundbegriffe in ihrem beim bestehenden Regime beliebten Werte anzuerkennen und sie durch entsprechende Paraphrasierung systematisch miteinander in Beziehung zu setzen.
Jede wahrhaft selbstbewußte Stellungnahme zur bestehenden Welt ist aber notwendig eine Revolte und nur die Rebellion gegen das Bestehende, die Revolte der Vernunft gegen das Erreichte, das immer unzulänglich ist und sein muß, weil das Ideal nicht realisierbar ist, darf sich das Recht zumessen, Vernunft in die Geschichte zu tragen. Das aber heißt die Geschichte revidieren, denn eine Vernunft der Geschichte oder des Weltprozesses an sich gibt es nicht. Wir, die wir heute leben und zu sagen haben, wie wir leben wollen, existieren nur, indem wir uns zur Geltung bringen, indem wir Rebellen sind gegen die Unvernunft, die die Geschichte uns überliefert hat, und Befürworter jener wenigen Momente von Vernunft, die wir als uns verwandt empfinden. Es gibt keine Pragmatik, keine Idee und Entwicklung, die der Wille einer Persönlichkeit nicht durchbrechen kann, es gibt keine »Zwangsläufigkeiten«; Mensch sein, heißt der Natur überlegen sein, alles andere ist Aberglaube. Wir sind zwar überall in Banden, aber freigeboren nach Rousseaus Wort, und es ist nur Kleinmut, Ausflucht und erbärmliche Feigheit, Staatspfaffen, Magistern und Entwicklungstheologen mehr zu glauben als dem Genie. Die Geschichte »entwickelt« sich nicht »zu immer höheren Formen«, sie tut's nicht »von selbst«.
Der preußische Staat hat ein Blutbad angerichtet in der Welt und vorher die Grundlagen des Gewissens zu untergraben versucht. Die Menschheit stirbt und verwest, wenn wir ihr nicht zu Hilfe kommen. An diesem Werke der freien Vernunft soll auch der Geringste unter uns mitarbeiten, denn für sein Recht, für seine Liebe, für seine Vernunft kämpfen wir. Und wir kämpfen dafür, weil unsere eigene Vernunft Einbuße erleidet, so lange nicht der Geringste, Gedrückteste und Verlorenste der menschlichen Gesellschaft in Stand gesetzt ist, sein eigenes Wort zu sagen, das vielleicht die Erlösung für alle enthält. Es gibt keinen Menschen, der alles allein weiß, und es gäbe keinen Staat, der sich anmaßte, alles allein und am besten zu wissen, wenn die Gelehrten uns nicht verraten hätten und jeder von uns seine Meinung offen zur Geltung brächte. Die Trägheit ist die einzige Todsünde des Menschen, und alles Unglück und Elend, das uns verdirbt, kommt nur von ihr.
»Wenn Deutschland nicht der Ort ist«, sagt der Staatsmogul Rathenau, »wo alle Pragmatik als Willensübertragung transzendent ethischer Wertung und nur als diese betrachtet werden muß, so haben wir uns über die deutsche Sendung getäuscht.« »Von kommenden Dingen«, Berlin 1917, S. 169/170. Wer sind diese »Wir« und wer lacht da nicht? Was die »transzendent ethische Wertung« ist, von der Herr Rathenau spricht, habe ich gezeigt in den Abschnitten über Luther, Kant, Fichte, und hier über Hegel. Daß sie der Pragmatik Deutschlands, den »Zwangsläufigkeiten«, unter denen heute das Volk verblutet, ihre Bestätigung und ihren diabolischen Segen verliehen hat, ist erwiesen. Wozu noch Worte verlieren? Es liegt an uns allen, diese Pragmatik, diese Zwangsläufigkeiten zu durchbrechen und zu beweisen, daß Deutschland nicht der Ort ist, wo sich arrivierte Rathenaus über ihre Sendung nicht täuschen. Derselbe Herr bemüht sich an anderer Stelle, die »germanischen Herren des Abendlandes« von der Beihilfe zur heutigen Pragmatik freizusprechen »Zur Kritik der Zeit«, Berlin 1912. und führt als Beweis an, daß ein holsteinischer Kramladen »sachlicher, zweckfreier und ungeschäftlicher geleitet wird als eine amerikanische Kirche«. Aber gilt das auch für die A. E. G. und den preußischen Generalstab? Oder für jene anderen 50 Gesellschaften, deren spiritus rector gerade Herr Rathenau ist? Man lasse die transzendent ethische Wertung beiseite, wenn man für einen Räuberstaat Rohstoffe ordnet und man spreche nicht von der intelligiblen Freiheit, wenn man mit Aktien handelt.
Die deutschen Universitäten haben das Volk entmündigt, haben jede Wissenschaft, die nicht auf den Krieg, den Staat und den Patriotismus abzielte, die nicht die Köpfe verwirrte, sie isolierte und unfruchtbar machte, entstellt, unterdrückt, oder gegen das Wohl des Volkes benutzt. Die Erziehung der Jugend in der feudalen Tradition, in der Kaserne und auf der militarisierten Universität hat das Freiheitsgefühl vollends verkümmern und aussterben lassen. Es gibt keine Wissenschaft mehr, die der Freiheit dient, es gibt nur noch liberalistisch verbrämte Staatswissenschaft.
Was aber ist der Staat, von dem seine Lobredner sagen, daß sich in ihm der religiöse Fortschritt mit dem wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritt deckt; der Staat, für dessen Bedienung Herr Rathenau ein »Gemeinschaftsgefühl handfester Menschen« empfiehlt »Von kommenden Dingen«, Berlin 1917, S. 18., nachdem er von Platos, Lionardos und Goethes Eindringen in die »handfeste Welt der Dinge« gesprochen hat?
Der Staat ist ein praktisches, also minderwertiges Institut. Er ist bestenfalls eine Nützlichkeitseinrichtung und kann nur das sein, weil er stets den Interessen von Individuen, Fürsten, Klassen oder Parteien zugute kommt. Er ist gottlos und unchristlich, weil er nur materiell nützlich ist. Der Fortschritt, den der Staat protegiert, ist bestenfalls eine Art Aufkläricht, das zu beweisen bezweckt, es gebe keinen Gott, um desto gewisser die Freiheit knebeln zu können. Die Freiheit ohne Religion ist aber undenkbar.
Die Verstandesphilosophie hat den Staat als höchstes Prinzip aufgestellt. Das höchste Prinzip ist aber nicht der Staat, sondern jene Freiheit des Individuums und der Gesamtheit, der die Wissenschaft und der Staat zu dienen haben. Diese Freiheit allein verbürgt, daß Gott eines Tages zur Erde herniedersteigt, weil wir ihn zwingen dazu durch Reinheit und Güte.
Und das ist die Aufgabe einer Neuordnung, daß der Staat von uns überwältigt wird; daß er nichts anderes mehr als ein Ordner ist in unserer Hand; daß die Universitäten unsere Sache, die Sache des Volkes, der Freiheit und Gottes führen, nicht die eines Fürsten, des Staates und seiner Bedienten Charles Péguy (»De la situation faite au parti intellectuelle dans le monde moderne«, Cahiers de la Quinzaine VIII/5, 1906) pflichtet mir bei, wenn er nicht nur die Trennung von Staat und Kirche empfiehlt, sondern auch die Trennung von Staat und Metaphysik. »Le parti intellectuel moderne a infiniment le droit d'avoir une metaphysique, une philosophie, une religion, une superstition tout aussi grossière et aussi bête qu'il est nécessaire pour leur faire plaisir. J'entends sinon le droit civique, du moins le droit social, politique, enfin le droit légal. Mais ce qui est en cause et ce dont il s'agit, ce qui est le débat, c'est de savoir si l'Etat moderne a le droit et si c'est son métier, son devoir, sa fonction, son office d'adopter cette métaphysique, de se l'assimiler, de l'imposer au monde en mettant à son service tous les énormes moyens de la gouvernementale force. Il n'y a pas de métaphysique universellement démontrable, et ainsi politiquement et socialement valable. Quand donc l'Etat, fabricant d'allumettes et de contraventions, comprendra-t-il que ce n'est point son affaire que de se faire philosophe et métaphysicien. Nous avons le désétablissement des Eglises. Quand aurons-nous le désétablissement de la métaphysique? Faudra-t-il que ce Monde sans Dieu, par un retournement que sans doute vous n'escomptiez pas, devienne à son tour un nouveau catéchisme gouvernemental, enseigné par les gendarmes, avec la bienveillante collaboration de messieurs les gardiens de la paix?« Heute, wo die marxistische Staatsmetaphysik verzweifelte Anstrengungen macht, die Diktatur zu erlangen, sind diese Sätze eines früheren Freundes von Jean Jaurès nicht genug zu beherzigen.. Wo finden wir aber das Beispiel und die Taten, die uns zu solchem Berufe stärken, läutern und führen? »Die heilige Geschichte ist es allein«, sagt Franz von Baader, »die uns solche Fakta rein und unverfälscht aufbewahrt, und die darauf gebaute heilige Physik (nicht die Kriegschemie, H. B.) bleibt auch immer die schönste, humanste, unseren beschränkten Kräften angemessenste Theorie und Philosophie darüber.« Franz von Baader, »Tagebücher«, Gesammelte Schriften, Bd. XI, S. 113.