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Der nächtliche Überfall machte in der Stadt und in dem vor ihren Mauern aufgeschlagenen Zeltlager großes Aufsehen. Er bot auch Anlaß zu manchen Vermutungen und allerlei Gerede. Denn der durch einen Messerstich in die linke Brust verletzte Knabe war nicht imstande gewesen, schon in den ersten Stunden erschöpfenden Aufschluß über sein Abenteuer zu geben, da Ohnmacht und Blutverlust ihn am längeren Reden verhinderten. Der Arzt hatte zwar nach genauer Untersuchung festgestellt, daß die Verwundung, obgleich schwer, doch nicht lebensgefährlich war. Der Mordstahl hatte nämlich kein edles Organ getroffen, sondern war an einer Rippe abgeglitten und hatte nur eine tiefe, heftig blutende Fleischwunde verursacht. Walter war daher verhältnismäßig gut weggekommen. Er hatte, wie das Sprichwort sagt, noch Glück gehabt in seinem Unglück.
111 Aber immerhin verstrich eine geraume Weile, bis er in zusammenhängender Rede erzählen konnte, was ihm widerfahren war und weshalb er glaubte, daß der Bettler von El Ibel die Hand mit im Spiele gehabt hätte. Nachdem der Knabe diese Erklärungen gegeben hatte, unterlag es für den Grafen und seine Begleitung ebensowenig mehr einem Zweifel, daß der Bettler und ein mit ihm verbündeter Europäer es auf einen Raub, vielleicht sogar auf einen Raubmord abgesehen gehabt hatten, wie für den Baron von Bülach und die arabischen Kameltreiber. Als man jedoch nach der vom Knaben gemachten Beschreibung der zwei Verbrecher auf letztere fahndete, waren sie aus der Stadt El Aghuat und aus der Oase verschwunden. Sie hatten hinlänglich Zeit gehabt, die Wüste zu gewinnen und sich darin, abseits von der Karawanenstraße, irgendwo zu verstecken. Dort waren sie sicher. Wer hätte sie suchen sollen in der ungeheueren Öde, in der kein Fuß Spuren hinterläßt?
Daß die Spitzbuben entwischt waren, ärgerte den Kommandanten der Chasseurs d'Afrique, der gerne ein Exempel statuiert hätte, nicht wenig. Aber auch die Einwohner von El Aghuat hätten lieber gesehen, daß sie 112 gefangen worden wären. Denn wenn es bei den Arabern im allgemeinen, aber besonders bei den kriegerischen Beduinen und Tuaregs auch nicht als Schande gilt, mitten in der Wüste eine Karawane mit bewaffneter Hand anzufallen und zu berauben, so werden doch Diebstahl, Raub und Totschlag, in der Oase begangen, als sehr schwere Verbrechen betrachtet und demgemäß geahndet. Die Oase ist ein Asyl. Jeder, der ihren Boden betritt, genießt unbedingtes Gastrecht. Sogar die Blutrache schweigt, solange die Feinde den Schutz der Oase für sich haben. Es ist daher leicht begreiflich, daß die heimtückische Bluttat des Sizilianers ganz El Aghuat in Aufregung brachte, und obgleich die Araber durchaus keine Freunde der Franzosen sind, hätten sie dem Baron von Bülach und seinen Reitern in diesem Falle mehr Glück bei der Verfolgung der zwei Verbrecher gewünscht. Aber diese waren, wie bereits gesagt, in der Wüste nicht mehr aufzufinden. Da das spätere Schicksal der Strolche gleichfalls unbekannt blieb, scheiden sie auch aus dieser Geschichte aus. – –
Die Verletzung Walters stellte zwar nicht sein Leben in Frage, war aber immerhin nicht unbedenklich, weil das Wundfieber schon bald mit großer Heftigkeit einsetzte. Da war 113 es denn ein Glück für den Knaben, daß er sich in der sachkundigen Behandlung des deutschen Arztes und in der sorgfältigen Pflege der Gräfin befand. Denn das Herz der edlen Frau hing an Walter mit inniger Zärtlichkeit, mit wahrhaft mütterlicher Liebe. Für sie war es daher selbstverständlich, daß sie den Knaben, in welchem sie ihren toten Sohn wieder aufgelebt sah, auch persönlich pflegte. Und da sowohl der Arzt wie ihr Gemahl die Sorge der Gräfin um den Verwundeten als ein neues erfreuliches Symptom betrachteten, daß ihre frühere krankhafte Teilnahmlosigkeit gewichen sei, so ließ man sie gerne gewähren. Walter befand sich also in den besten Händen.
Gleich am Tage nach seiner Ankunft in der Oase hatte der Graf die Kameltreiber bezahlt und entlassen. Dann mietete er von einem marokkanischen Juden, der in El Aghuat das Gewerbe eines Goldschmieds und Geldwechslers betrieb, dessen außerhalb der Stadt gelegene Villa, um abgesondert von der täglich kommenden und gehenden Gesellschaft des Zeltlagers für sich und die Seinigen doch eine Art von festem Wohnsitz zu bekommen.
Man muß sich aber unter jener Villa kein deutsches Landhaus, auch kein solches 114 vorstellen, wie es der Graf im Dorfe Mustafa bei Algier bewohnt hatte. Sie bestand vielmehr nur aus einem großen, hallenähnlichen, aus Holz aufgeführten Gebäude, das zwar Licht und Luft in fast überreichem Maße den Zutritt gestattete, seiner räumlichen Einteilung nach aber mehr an den Güterschuppen in einem Bahnhof erinnerte als an das Erholungsheim einer vornehmen Familie. Gleichwohl war der Graf froh, die Villa sofort beziehen zu können, da Walters Zustand eine ruhige, dem Lärm des Zeltlagers ferne Wohnung zur Notwendigkeit machte.
Das Gebäude stand auf einer von HalfaEspartegras, die halmähnlichen, sehr zähen Blätter der in Nordafrika in großer Menge wachsenden Macrochloa tenacissima. dicht überwucherten Wiese, die mit einer lebenden Hecke aus Kakteen, Opuntien und Dorngesträuchen umzäunt war. Auf der einen Seite des Grundstückes befand sich ein tiefer Bewässerungskanal. Die Villa war daher gegen Mensch und Tier hinlänglich geschützt und konnte ohne Einwilligung der Bewohner von keinem Fremden betreten werden. Da der Graf mit Hilfe des Barons Bülach sofort einige arabische, des Französischen mächtige Diener zur Besorgung von Gängen, der 115 Hausarbeiten und der Küche eingestellt hatte, war auch sein ganzer Haushalt bald wieder im geregelten Gang.
In einem luftigen, kühlen, vor dem grellen Sonnenlicht durch dunkle Vorhänge verwahrten Zimmer der Villa stand Walters Krankenbett, nur aus weichen Matratzen auf eisernem Gestell und aus wollenen Decken bereitet. In Anbetracht, daß man sich in der Sahara, weitab von den Grenzen europäischer Zivilisation, befand, durfte das einfache Bett beinahe als luxuriös bezeichnet werden. Aber der Knabe wußte weder, wo er sich befand, noch worauf er lag.
Als er aus dem Zelt in die Villa getragen wurde, hatte das hohe Wundfieber seine Sinne bereits derart verwirrt, daß der Eindruck der neuen Umgebung für ihn verloren ging. Mit überirdisch glänzenden Augen und stark gerötetem Gesicht ruhte er auf seinem Lager. Doch die leuchtenden Augen sahen nur phantastische Traumbilder, die ihm seine exaltierte Einbildungskraft vorspiegelte, und die Röte seiner Wangen war nicht die Farbe der Gesundheit, sondern der Widerschein der an seiner Kraft zehrenden Fieberglut. Der Doktor und die Gräfin standen am Bett des Kranken, und letztere horchte ängstlich auf 116 dessen beschleunigte, von einem leisen, pfeifenden Geräusch begleiteten Atemzüge. Aber der Arzt tröstete sie.
»Ich versichere wiederholt, gnädige Frau, daß keine direkte Gefahr vorliegt,« sagte er. »Walter hat nur eine ziemlich bedeutende Fleischwunde davongetragen; es ist kein edler Teil verletzt. Auch kann ein sonst gesunder Junge von seinem Alter und einer solch robusten Konstitution schon einen tüchtigen Chock aushalten. Seien Sie überzeugt, daß der Knabe, sobald wir des Fiebers Herr geworden sind, schnell und ohne Nachteil für sein künftiges Allgemeinbefinden wieder genesen wird.«
»Gott gebe es!« antwortete die Gräfin und erneuerte die nasse Kompresse, die des Kranken Stirne kühlen sollte. –
Und die Voraussage des Arztes erwies sich als richtig. Obwohl weder Eis- noch Schneeumschläge, die in der Oase nicht aufzutreiben waren, die Wirkung des Chinins unterstützten, vertrieb dieses schließlich doch das Fieber; die Wunde heilte ohne weitere Zwischenfälle und der Knabe ging seiner Wiederherstellung entgegen. Am Tage, an welchem er zum ersten Male das Bett verlassen und in einem Lehnstuhl Platz nehmen durfte, befand er sich 117 mit der Gräfin allein im Zimmer. Er war noch sehr schwach und das Gefühl seiner körperlichen Hinfälligkeit versetzte ihn in eine ungemein weiche und wehmütige Stimmung.
»Bin ich schon lange so krank und elend?« fragte er die Gräfin.
»Ja, mein Kind,« antwortete sie, »du lagst viele Tage im Fieber. Aber dem Himmel sei Dank! Jetzt bist du ja auf dem Wege der Besserung.«
»Mein Kopf ist verwirrt und meine Gedanken sind stumpf. Ich weiß nicht, wie wir an der Zeit sind. In diesem Lande ist alles so anders.«
»Morgen haben wir Weihnachten –«
»Weihnachten!« flüsterte Walter wie traumverloren.
Vor seinem geistigen Auge stand plötzlich der deutsche Wald in seinem Winterschmuck. Er sah die mit Schnee bedeckten Gipfel der Tannen, die Eiskristalle, die an den rauhen Baumstämmen funkelten; er stand vor dem gefrorenen Weiher, auf dessen glatter Fläche sich schlittschuhlaufende Dorfbuben tummelten. Er hörte die Äxte der Holzfäller klingen, welche die Riesen des Forstes niederschlugen, und der bekannte Schall erinnerte ihn an das Knistern der Scheite in den Kachelöfen; er 118 dachte an den Weihnachtsbaum mit seinen Lichtern, vergoldeten Nüssen und rotbackigen Äpfeln, und ach! an sein liebes, liebes Mütterlein, welches das schönste aller christlichen Feste jetzt ohne ihn feiern mußte! –
Tränen flossen über die eingefallenen Wangen des Knaben und seine Brust erschütterte ein leises Schluchzen.
»Mein Kind!« rief die Gräfin bestürzt; »was fehlt dir? Was ficht dich an?«
»Heim möchte ich, heim nach Roggenfeld,« sagte er mit vor sehnsüchtiger Erregung zitternder Stimme. »Zu meiner Mutter möchte ich, die mich so lieb hat, und die heuer gewiß keinen Christbaum schmückt, weil ich nicht dabei bin, um mich mit ihr zu freuen. O gnädige Frau Gräfin! Lassen Sie uns wieder heimreisen – fort aus diesem Lande, wo es keinen Schnee, keine Eisbahn gibt, und wo die Leute um Weihnachten noch barfuß gehen.«
»Gewiß, Walter,« antwortete die Gräfin, welche schnell erfaßte, was in der Seele des Kranken vorging, »trachte nur recht bald gesund zu werden! Wenn du wieder ganz bei Kräften bist, reisen wir nach Deutschland zurück.« – – 119