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Mitten im Wald, weit abseits von der bequemen Landstraße, die ihn durchschneidet, und nur auf holperigen Holzabfuhrwegen oder schmalen Fußpfaden zu erreichen, liegt das Dorf Roggenfeld. Es ist ein kleines Gemeinwesen, das zur Zeit dieser Geschichte aus etwa einem Dutzend Bauernhöfen und ebensovielen Taglöhnerhäusern bestand. Vielleicht bietet das Dorf auch heute noch keinen anderen Anblick als vor vierzig Jahren. Denn während die Zeit draußen in der weiten Welt hastet und auf Flügeln des Dampfes vorüberkeucht, scheint sie in jenem entlegenen Waldwinkel still zu stehen; es hat den Anschein, als wäre dort ihr Stundenzeiger eingerostet.
Roggenfeld verdankt seine Entstehung wahrscheinlich einem Jagdschloß, das die fürstlichen Herren des Landes vor vier Jahrhunderten im wildreichen Forst erbauen ließen. Zu diesem Schloß gesellte sich später ein 6 sogenanntes Kavalierhaus, in welchem die Jagdgäste des Fürsten wohnten und nächtigten, wenn letzterer bei großen Jagden oft wochenlang seinen Hofhalt im Schlosse aufschlug. Dann kam noch ein Försterhaus hinzu, und im Laufe der Jahre siedelten sich auch Bauern an, die eine Fläche Wald urbar machten und sie in fruchttragende Äcker und üppige Wiesen verwandelten. Der nahe Bach trieb die Räder einer klappernden Mühle, und so war mit der Zeit langsam und gleichsam unmerklich aus dem Boden des grünen Reviers ein Dörfchen herausgewachsen, dessen genügsame Bewohner nach ihrer Art glücklich und zufrieden lebten, und die sich aus der stillen Abgeschiedenheit des Waldes auch nicht hinaussehnten in das laute Getriebe der Städte.
Ja, still und ruhig war es wirklich im weltverlorenen Walddorf, und diese Stille war schon lange nicht mehr unterbrochen worden, nicht einmal durch den fröhlichen Lärm einer Jagd. Obwohl auch der dermalige Landesherr dem weidmännischen Vergnügen nicht abgeneigt war, hatte er doch seit vielen Jahren im Roggenfelder Forst keine Jagd mehr veranstaltet. Man sagte, er hätte einen gewissen Widerwillen gegen das dortige Schloß, weil darin einer seiner Freunde 7 gestorben war, an einer Schießwunde, die er aus Unvorsichtigkeit sich selbst beigebracht hatte.
Ob jenes traurige Ereignis oder etwas anderes daran schuld war, daß der Fürst das Schloß mied, ist für uns ohne Belang. Tatsache bleibt nur, daß seitdem weder im Forst noch in der Nähe mehr eine Hofjagd abgehalten wurde. Das Schloß, jetzt nur von einem alten Kastellan und seiner Ehefrau bewohnt und beaufsichtigt, schien, da seine Fenster meistens verhüllt waren und die Zimmer nur zu bestimmten Zeiten gelüftet wurden, zu schlafen und mit geschlossenen Augen von vergangenen Tagen zu träumen, wo das Jagdhorn in den Wäldern erklang und seine Säle von den Zechgelagen und munteren Scherzen froher Gäste widerhallten. Das massive weitläufige Gebäude mit dem altersgrauen verwitterten Wappen über dem Portal lag da wie ausgestorben und glich auffallend einem von den verzauberten Schlössern, von welchen die Märchenbücher erzählen.
Auch das große Kavalierhaus hätte den Eindruck der Verödung und Verlassenheit hervorgebracht, wenn nicht helle, mit Topfblumen verzierte Fenster im Erdgeschoße und ein wohlgepflegter Gemüsegarten hinter dem 8 Hause verraten hätten, daß in einigen Zimmern desselben Menschen wohnten, deren fleißigen Händen Garten und Fenster ihr freundliches Aussehen verdankten.
Als nämlich im Jahre 1852 der damalige Förster Alois Wetterwald mit Tod abgegangen war, und seine Witwe Magdalene beim Einzug des neuen Försters die Dienstwohnung verlassen mußte, hatte ihr der Fürst eine kleine Witwenpension ausgesetzt und zugleich einen Teil des leerstehenden Kavalierhauses eingeräumt unter der Bedingung, daß sie dafür der Frau des Kastellans helfend an die Hand zu gehen hätte, wenn das Jagdschloß früher oder später, für längere oder kürzere Zeit einmal wieder benützt werden sollte.
Frau Magdalene hatte das huldvolle Anerbieten des Fürsten mit um so dankbarerem Herzen angenommen, als mit der freien Wohnung auch unentgeltliche Beheizung verbunden war, und sie bei ihrer Vermögenslosigkeit anderswo nicht leicht ein besseres Unterkommen gefunden hätte. So war sie denn mit ihrem vierjährigen Sohne Walter aus dem Försterhaus, wo sie an der Seite ihres Mannes so glücklich gewesen, in das Kavalierhaus hinübergezogen.
Der Umzug hatte freilich nicht ohne viele 9 Tränen stattgefunden; streckten doch mannigfache Erinnerungen aus allen Ecken und Winkeln der bisherigen Heimat die Arme nach Frau Magdalene aus und versuchten ihr den Abschied recht schwer zu machen. Aber die Försterswitwe war ein starkmütiges Wesen; sie wappnete sich mit Gottvertrauen und überschritt gefaßt an der Hand ihres Knaben die Schwelle des neuen Heims.
Und nun lebte sie schon über zehn Jahre im Kavalierhause. Aus dem kleinen Walter war mittlerweile ein großer strammer Junge geworden mit klaren blauen Augen, aus denen Unschuld und Frohsinn lachten, und mit einem rosigen Angesicht, das von seiner guten körperlichen Gesundheit Zeugnis ablegte. Er hatte in dem eine halbe Stunde von Roggenfeld entfernten Marktflecken Herbertshofen die Schule besucht, war schon zur ersten heiligen Kommunion gegangen und stand nun im Alter, wo er sich für einen Lebensberuf zu entscheiden hatte. Dem jetzt vierzehnjährigen Knaben machte diese Entscheidung so wenig Kopfzerbrechen wie seiner Mutter. Bei beiden stand es fest, daß Walter Wetterwald Förster werden müsse, wie sein Vater ein solcher gewesen, und des letzteren Nachfolger im Dienst hatte auch schon zugesagt, den Jungen in die Lehre 10 zu nehmen, sobald er aus der Feiertagsschule und Christenlehre entlassen wäre. Dieser Zeitpunkt stand bereits in naher Aussicht.
Da trat ein Ereignis ein, welches die Pläne von Mutter und Sohn nicht nur durchkreuzte und deren Ausführung für einige Zeit verschob, sondern das Walters ganzem künftigen Leben eine andere Wendung zu geben versprach. 11