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Erinnerung.

Gestern, wir lagen im Kahn, der Wind schwieg, die Sonne stach, alles war brütend still, da stand es plötzlich in mir wieder auf. Diese ganze Zeit von damals, vor fast vierzig Jahren; ich war noch ein ganz kleiner Bub. Entschwunden, versunken, so lange. Jetzt aber brach es plötzlich wieder aus. Und ich sehe das alles vor mir, höre Verklungenes, meine förmlich den Dunst der entweihten Zeit noch zu riechen. Bin wieder der kleine Bub, und Verstorbene reden mich an. Seltsam ist das. Wir vergessen nichts; es verlautet nur nicht mehr, es legt sich still in uns hin, wir spüren es nicht mehr, aber es bleibt, nichts wird verloren, es ist immer noch da, rief in uns verankert; und dann, ein Ruck, ein Stoß, und siehe, da steigt es unverblichen wieder empor.

Als wir nämlich gestern im Kahn lagen, wurde das Ufer plötzlich laut. Sonst bleibt alles da den ganzen Tag oft still. Das Schilf steht, Libellen fliegen, einmal schreit eine Ente. Oben dunkelt der Wald. Weiß grellt die Straße. Jetzt stöhnt es, ein Automobil staubt durch, aber schon ist es fort, der weiße Dampf zerrinnt. Und wieder die tiefe Stille rings; man erschrickt, wenn sich ein Fisch wirft. Und überall die glühende Sonne, weithin der glatte See, drüben das atemlos stehende Schilf am eingeschlafenen Wald, und dort der weiße Streif der strahlenden Straße. Aber plötzlich blitzt es hier auf. Als würde vom Walde ein Messer geworfen. Diesen blinkenden Blitz erblicken wir zuerst. Und dann rennen Menschen, Stimmen schelten. Wir rudern hin. Jetzt können wir es sehen: ein Gendarm, das Bajonett blitzt; er führt einen kleinen Menschen, der einen Korb trägt; und hinter ihnen Bauern und Weiber und Kinder, alle mit, ein ganzer Zug, und wer ihm begegnet, schießt sich an und sie reden aufgeregt und haben alle etwas Stolzes, Siegern gleich, wie sie so den ergebenen kleinen Menschen, über dem das Bajonett blitzt, vor sich hin treiben. Wir erfahren: einer Frau sind elf Hühner gestohlen worden, sie hat es angezeigt, nun wurde der kleine Mensch im Walde gefunden, er hat den verdächtigen Korb; er sagt freilich, daß er Beeren pflücken wollte, aber er kann sich nicht ausweisen, und im Korbe sind, Federn, so muß er mit und der ganze Zug folgt, und alle sind froh, einen Menschen gefangen vor sich her zu treiben.

Wir stoßen vom Ufer. In den glatten See zurück, unter die strahlende Sonne. Aber der See lacht mir nicht mehr, die Sonne scheint mir plötzlich fahl. Ich sehe nur immer noch den demütigen kleinen Menschen, der eingetrieben wird, und wie sich schon die Kinder freuen. Es ärgert meinen Verstand, daß ich so bin. Er rechnet mir vor, daß es sein muß. Ich weiß, daß er recht hat. Es wird immer ein Gesetz geben und immer Menschen, die es brechen, und für diese Strafe. Und werden, wenn einer gestraft wird, immer die anderen so vergnügt sein? Wird es den Menschen immer so freuen, einen Menschen zu fangen? Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich mir manchmal in Schönbrunn vor dem Tiger plötzlich heftig wünsche, die Stäbe zu zerbrechen, daß er los würde. In solchen Momenten empfinde ich, als sei der Mensch bestimmt, dafür zu sorgen, daß keinem Geschöpfe der Erde Gewalt angetan werden darf; und alles andere kommt mir unmenschlich vor. Ich weiß mit dem Verstande, daß dies dumm ist. Aber es quält mich, anders zu fühlen, als ich denke. So lange wir es uns nicht erringen, daß wir dasselbe fühlen, dasselbe denken, dasselbe tun und dasselbe sind, werden wir, bald den Verstand, bald das Gefühl, immer also uns, ein Stück von uns, verleugnend, ratlos in der Irre sein.

Dies alles abzuschütteln, den Zorn auszukühlen, bin ich ins Wasser gesprungen und liege jetzt, auf den Rücken gestreckt, Wellen tastend, mit geschlossenen Lidern, welche der glühende Strahl streift, daß ihnen bunt und funkelnd wird. Und so liegend, im Gefühl der Wellen, als wenn sie mir schmeichelnde Schlangen wären, schwebend, sinkend, schnellend, tauchend, lauschend, so wunderbar entschwert, geheimnisvoll erhellt, habe ich plötzlich jene Zeit erblickt, wie neben mir aus dem tiefen Wasser aufgetaucht. Und alles hat sie mir mitgebracht und hält es mir hin und läßt es in der Sonne glänzen. Alles von damals, vor fast vierzig Jahren.

Es war den Sommer, bevor ich in die Schule kam. Diesen brachten wir in Unterach am Attersee zu. Das war damals noch ein armes Dorf, und weit draußen wohnten wir bei einem Jäger, der ein alter Mann war, sehr groß, mit wilden grauen Brauen und einer so heftigen Stimme, daß wir Kinder, wenn er freundlich mit uns reden wollte, schreiend davonliefen. Immer ging er in der Früh, auf einen dicken Stock mit einem Horngriff gestützt, vor dem Hause auf und ab, nach dem See sehend, oft stundenlang, immer dieselbe Strecke vor dem Hause, kaum hundert Schritte weit, hin und her. Da durfte man ihn nicht stören, wir hätten uns auch nicht getraut, so rot vor Zorn war sein Gesicht. Und manchmal blieb er plötzlich stehen, hob den Stock, und wir hörten ihn zum See hin fluchen. Ich konnte ihm den halben Tag lang vom Fenster aus zusehen, gespannt, bis er wieder den Stock heben und den See auszanken würde. Denn das regte mich sehr auf, daß ein Mensch allein War und doch laut redete; ich hätte gern gewußt, mit wem. Dann aber mußten wir eines Tages ganz ruhig sein und wurden fortgeschickt, um bei Bekannten zu spielen; denn der alte Jäger, hieß es, sei krank. Unser Mädel sagte, er hat ein kleines »Schlagerl« gehabt. Und als wir ihn dann nach ein paar Tagen wiedersahen, war sein Gesicht schief geworden, der Mund hing links herab. Aber jetzt kam er uns bei weitem nicht mehr so bös vor, auch ging er jetzt nie mehr vor dem Hause auf und ab, sondern jetzt mußte ihn seine alte Köchin führen, und da wollte er immer zu uns in den Garten, wo wir eine kleine Schaukel hatten; und wenn wir uns hutschten, freute er sich sehr, die Köchin mußte seinen Stock halten, und er klatschte mit seinen knochigen zottigen Händen und schrie nur immer in einem fort, im Takt, wie wir hutschten: »Bafo, bafisimo, bafo, bafisimo!« und schrie noch immer mehr, um uns zu hetzen, daß wir immer stärker hutschten, bis in die Zweige der alten Linde. Und nur, wenn die Köchin sagte, es sei jetzt schon genug, weil sie Furcht um uns hatte, da wurde er entsetzlich bös und wollte sie mit dem Stocke schlagen. Das machte mir großen Spaß. Aber uns hatte er jetzt sehr gern und wollte uns immer Geschichten erzählen, aber er konnte nicht mehr. Er fand die Worte nicht, andere schoben sich ein, er mußte sagen, was er gar nicht wollte, und am Ende war es nur ein zorniges Knurren und Stöhnen und Pusten, bis er auf einmal alles wieder vergaß und wieder, vergnügt, während wir hutschten, klatschend im Takt sang: »Bafo, bafisimo, bafo, bafisimo!« Und wir hutschten, bis in die Wipfel der alten Linde.

Noch merkwürdiger war mir aber ein armer Kretin, der Hansel hieß und von den Buben im Dorf immer verfolgt wurde. Er hatte sich als Kind vor einem plötzlich durch das Fenster ins Zimmer grinsenden Krampus so geschreckt, daß er den Verstand verlor. Das war schon lange her, Eltern hatte er keine mehr oder waren sie verzogen, niemand wußte recht, wie alt er eigentlich war, er war wie ein von einem Greise versetztes Kind anzusehen und zu nichts ließ er sich anstellen, sondern trieb und tappte und torkelte nur immer bettelnd herum und lachte blöd. Die Buben neckten ihn und stießen ihn und zupften ihn, er wollte sie fangen, griff mit seinen langen, schlottrigen Armen aus, verlor sich und schlug hin. Da lag er nun im Schmutz und lachte, die Buben tanzten um ihn herum und lachten. Da lachte er noch mehr. Ich tanzte nicht mit, sondern sah nur aus der Ferne gierig hin, wie auf ein unheimliches Tier. Wenn aber schlechtes Wetter war und Regen schlug und der See wild wurde, trauten sich die Buben nicht, denn dann lachte der Kretin nicht mehr, dann war er voll Zorn und fiel jeden an; einmal hatte er einen schönen, großen Hahn erwürgt, riß ihm die Federn aus und warf sie in den See. Und am liebsten saß er dann, wenn Regen und Sturm war, irgendwo auf einem Steg und sah hinaus und hörte dem Wasserbrüllen zu und schrie noch mehr als der schreiende See. Tagelang ging das manchmal so, wir mußten in der Stube sein, weil es regnete und regnete und regnete, und man sah nur durch den grauen Dunst weiße Wolken aus dem schwarzen See dampfen und hörte nur die großen Tropfen ans Fenster, in Äste, auf Bretter klatschen und den Wind, der ins Dach stieß, und den zornigen Kretin, der draußen schrie. Uns aber wurden im stillen artige Geschichten mit guten Lehren erzählt oder wir sollten ein Bilderbuch anschauen. Ich mochte nicht. Ich horchte nur. Ich horchte nach dem schnaubenden, rüttelnden, kläffenden Sturm, zum aufschäumend gezackten Wasser hin, auf den einsam kreischenden Kretin.

Unser Mädchen war recht zu bedauern. Wir sollten ihr folgen und das gelang ihr nicht. Auch hatte sie sicher anderes im Kopf, denn ich erinnere mich, daß sie sehr hübsch war. Sie schlief in einer kleinen Kammer neben unserem Zimmer. Wenn aber mein Vater, alle vierzehn Tage, aus der Stadt kam, schlief sie bei der Köchin des Jägers oben und mein Vater neben uns in der Kammer. Da begab es sich; nun, als er zum zweitenmal gekommen war, daß nachts in der Kammer eingebrochen wurde. Ein Räuber klopfte zuerst an das Fenster, zerbrach es dann, stieg ein, als er aber meinen noch ganz verschlafenen Vater fand, war er gleich wieder durch das Fenster fort, was mich sehr enttäuschte, denn ich hatte mir einen Räuber mutiger gedacht. Noch weniger begriff ich, warum den anderen Tag alle plötzlich gegen unser Mädchen erbittert waren. Mein Vater machte ein böses Gesicht auf sie, und meine Mutter gar, und sie war ganz traurig; auch mußte sie seitdem immer bei der Köchin oben schlafen. Ich fand das ungerecht: Was konnte sie dafür, daß es Räuber gibt? Ich erklärte das auch feierlich, erhielt aber nur zur Antwort, daß ich ein dummer Bub sei. Auch war uns seitdem verboten, mit ihr zur Mühle spazierenzugehen. Diese lag eine halbe Stunde weit, und wir gingen sehr gern hin, weil dort zwei lustige junge Knechte waren, sie sangen uns Lieder vor, oder wir wälzten uns im Heu herum, ich und mein kleiner Bruder und unser Mädchen und die zwei Knechte, und zwickten uns und pufften uns, und es war zu schön. Aber jetzt sollte das plötzlich verboten sein, weil ein Räuber gekommen war, der noch dazu gar nichts geraubt, sondern eigentlich bloß an das Fenster geklopft hatte. Das ging mir nicht ein. Ich fand, daß man lieber den Räuber fangen sollte, und sagte das auch dem Gemeindediener, der dafür angestellt war und einen langen, gebogenen Säbel trug. Der war ein winziger Knirps mit einem riesigen kahlen Schädel und hatte es immer sehr eilig und sehr wichtig, besonders wenn er in Uniform war. Die Buben fürchteten ihn sehr, uns aber tat er nichts und mit unserem Mädchen war er besonders freundlich. Seit wir jetzt nicht mehr zur Mühle gehen durften, traf es sich oft, daß er mit uns ging, und da trug er stets die Uniform, in welcher er viel kriegerischer aussah, als in seinem alten schwarzen Rock mit dem hohen Kragen. Er sagte immer, er sei das Auge des Gesetzes von Unterach, und ärgerte sich, weil ich ihn auslachte. Um mich günstiger zu stimmen, versprach er mir, sicher einmal einen Räuber zu fangen. Ich war neugierig. Und richtig, als wir einmal wieder ausgingen, kam er aufgeregt gerannt und winkte uns schon von weitem zu und lud uns ein, mitzukommen: Denn seit gestern treibt sich ein gefährlicher Mensch hier herum! Das Mädchen erschrak, sie wollte nicht mit, ich gab aber nicht nach, weil ich ja noch nie einen gefährlichen Menschen gesehen hatte, und wer weiß, wann sich das wieder bietet! Als sie nun hörte, daß es zur Mühle hin sei, wo wir suchen müßten, ließ sie sich erbitten. Wir gingen also, ich freute mich sehr, besonders erkundigte ich mich, woher er denn wisse, daß es ein gefährlicher Mensch sei. Er sagte aber: Das sieht man gleich, wenn man erst die Übung hat. Und während wir noch so sprachen und unser Mädchen sich fürchtete, hielt er uns plötzlich an, beugte sich spähend vor, und indem er auf einen Menschen zeigte, der, den Kopf in die verschränkten Arme gestützt, auf der Wiese lag und schlief, sagte er: Dort ist er schon! Wir blieben wartend zurück, er schritt auf den Räuber los und nun ging alles sehr schnell: kaum hatte er dem Schlafenden die Hand auf die Schulter gelegt, so war er von dem Auffahrenden auch schon an der Kehle gepackt und umgestürzt, und der lag auf ihm und schlug zu, das Mädchen schrie, mein kleiner Bruder fing zu heulen an, da fiel ihr die nähe Mühle ein, sie nahm uns, ich aber riß mich los und während es zetternd, sie schreiend, er plärrend zur Mühle ging, lag ich auf dem Räuber, der auf dem Auge des Gesetzes lag, und zerrte und bat und schrie, bis unsere guten Freunde, die zwei lustigen Müller, uns trennten, den Räuber knebelten und er gebunden war. Jener aber, nachdem er wieder zu Atem gekommen war und sich abgeputzt hatte, zog sein krummes Schwert und sagte: Marsch! Die Knechte mit, dann das zitternde Mädchen mit dem anderen Kind, ich aber mußte neben ihm gehen, der den gezogenen Säbel trug und fest meine Hand hielt; denn, sagte er, sehr hochdeutsch: Ohne dich, du kleiner Held, war ich verloren! Es schmeichelte mir sehr, ich hielt gleichen Schritt mit ihm, nur hätte ich gern den gefährlichen Menschen besser gesehen, der vor uns ging, den Kopf gesenkt. Aber bloß ein einziges Mal sah er sich um, sah mich an, wie ich so neben dem Mann mit dem Säbel groß ausschritt, und dann lachte er. Da wurde mir seltsam und es freute mich jetzt gar nicht mehr. Jener aber ließ mich nicht los; so zogen wir ins Dorf ein, Menschen, Menschen kamen aus allen Häusern und alle schlössen sich an, alle gingen mit, alle sahen höhnisch den Räuber an, und immer zeigte der Knirps mit dem Säbel auf mich und sagte, voll Stolz, während der Räuber, den Kopf gesenkt, vorwärts ging: Der Kleine da, der Kleine hat ihn gefangen! Und die zwei Knechte zeigten stolz auf mich, und unser Mädchen war ganz gerührt und war auch stolz auf mich und sogar mein kleiner Bruder riß die dummen Augen auf und alle waren stolz. Da konnte ich mir nicht mehr helfen, ich weiß nicht, was auf einmal in mir geschah, mir wurde so heiß und ich biß den Knirps in die Hand, er ließ mich los, ich warf mich hin, mitten im Dorf auf die Erde hin, und wälzte mich und schlug um mich und weinte, weinte! Kein Mensch wußte, was mir einfiel. Aber ich hatte das schreckliche Gefühl, daß mir da der Räuber noch lieber war.

Ich habe damals zum erstenmal erlebt, daß mir Gewalt, an einem Menschen verübt, er sei auch wer er sei, unerträglich ist.

Der Räuber wurde eingesperrt, weil er sich nicht ausweisen konnte, dann aber wieder losgelassen, weil man ihm nichts nachweisen konnte; er war wahrscheinlich gar kein Räuber.


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