Hermann Bahr
Die Hexe Drut
Hermann Bahr

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Dreizehntes Kapitel.

»Sie haben Pech, lieber Freund!« sagte der junge Baron Chrometzky zu Klemens. »Grad heut muß uns das passieren. Scheußlich!«

Sie standen im Vorzimmer des Ministers. Morgens war der Ofen geplatzt, der brenzliche Staub schwamm noch überall, langsam sanken die schwarzen körnigen Flocken, alles lag verrußt, es roch nach Brand und Rauch. Der Teppich war umgerollt, Tisch und Sessel zum Fenster gerückt, Hafner an der Arbeit, die zersprungenen Kacheln zu verschmieren.

Livius Baron Chrometzky staubte die Schriften auf seinen Tisch ab, und blasend, wischend, hustend in dem schwarzen Regen, sagte er: »Der Minister wird auch heut auf sich warten lassen, er ist nach Schönbrunn. Wenn ich weiß, wo Sie zu finden sind, lasse ich Sie holen. Vor Ihnen kommt ja auch noch zuerst der Domherr Zingerl dran.«

»Der Domherr ist hier?« fragte Klemens. Er hatte Mühe, seinen Schrecken nicht hören zu lassen.

In dem Ton, den Klemens hatte, wenn er der fesche Kle war, sagte Livius: »Ja, ja, lieber Freund! Es scheint ein förmliches Verhör zu werden. Na, den Kopf wird's ja nicht gleich kosten.«

Er rief den Diener, die Asche zu kehren.

Klemens fragte, zögernd: »Hat der Minister was gesagt?«

»Nein, keineswegs«, sagte Livius. »Er war die ganzen Tage jetzt gar nicht sehr gesprächig. Na, Sie kennen das ja.«

Ja. Klemens kannte das. Und Klemens kannte auch den Ton des lieben Kollegen. Diesen Ton, der, ganz unmerklich, auf einmal von einem wegrückt. Er ertrug es nicht länger in dem brandigen Dunst.

»Da kann ich ja einstweilen meine Besorgungen machen«, sagte er. »Ich komm' dann wieder. Und schaut's, daß bis dahin die Luft rein ist, Servus!«

Er rannte fort, wie fliehend. Da war seine liebe Herrengasse, mit den stillen alten Häusern. Und er hatte plötzlich das Gefühl, geschützt und behütet zu sein. Das Trappeln der Hufe, das Schnalzen der Kutscher, der ruhige Zug der gemächlich Schreitenden, der Wiener Wind, mit flatternden Stößen über die Dächer springend, und dies alles in der lieben alten Gasse wie durch einen unsichtbaren Nebel abgedämpft, so gleitend, unwirklich und als ging es nur im Traum vorbei. Das tat ihm wohl. So ließ er sich durch die Gasse ziehen. Er hätte sich gern erst noch gewaschen; der Dampf des Wagens klebte noch an ihm. Aber es war so gut, gedankenlos durch die stille Gasse zu gleiten, mit schwebenden Erinnerungen. Auch hoffte er, dem Wagen des Ministers zu begegnen; und der Minister wird ihm mit der Hand winken und wird lachen, dann weiß er gleich, daß alles wieder gut ist, und ängstigt sich nicht mehr vor den neugierigen Blicken dieses albernen Livius, der nun auch schon wichtig tun möchte! Und dann stand er so gern vor den Fenstern der Antiquare, die alten Bücher betrachtend, Band für Band. Das tat seinem müden Kopf jetzt sehr gut.

Er war die ganze Nacht gefahren. Als er abends zur Bahn ging, schlug der Wind plötzlich um, wärmend und wässernd kam's von Süden, in die Berge schallend, über die Bäume stürzend, wie mit Flammen blasend; und wie aus einem heißen Sprudel quoll ein rauchender Regen herab. Klemens hatte heiß in seinem schweren Mantel; und rings um ihn war in den fiebernden Ästen das Knistern des erwachenden Frühlings; Schwärme von jungen Krähen flogen über ihm, wie schreiende schwarze Wolken. Schwitzend kam er in der Station an, mit der Unruhe des rufenden Frühlings im Herzen. Der Wagen war überheizt, er stellte die Leitung ab und riß das Fenster auf, da stieß der dampfende Regen herein. Er konnte nicht sitzen, er konnte nicht liegen, er konnte nichts denken. In Attnang hatte er eine Stunde auf den Schnellzug zu warten. Im Saal war Rauch und ein Geruch von Schweiß und nassen Stiefeln. Er hielt es nicht aus. Er ging draußen hin und her. Wie Nägel schlug der hämmernde Regen seine schweren Tropfen in das ächzende Dach ein. Und überall war, durch die weite Nacht rings, ein Rütteln und ein Rufen in den Bäumen, wie durch die schwarze Nacht fliegender Hohn; und darüber in der Ferne dann ein dumpfes Rollen, als bräche der finstere Himmel auf. Endlich kam der Salzburger Zug, wie ein böses, feuerschnaubendes Tier. Wieder riß Klemens die Fenster auf, schwindelnd in dem überheizten Wagen. Es war der letzte, holpernd und werfend und stoßend. Klemens hätte gern geschlafen, er war so müd. Er mußte doch das Fenster wieder schließen. Der flatternde Wind fiel mit solchen Stößen den Regen an, daß er ihn zu heben und es oft plötzlich aufwärts zu regnen schien. Der Boden dampfte von der Heizung. Klemens sank in einen dicken dösigen dumpfen Schlaf ein, fuhr wieder auf, gerüttelt und geschleudert, verlor sich wieder, wie gelähmt. Er wußte, daß er schlief, aber dabei war sein Denken wach und quälte seinen heißen Kopf. Plötzlich kam ihm dies alles so kläglich sinnlos vor, diese ganze Fahrt nach Wien. Wozu? Was will er dem Minister sagen? Wozu denn, wenn Döltsch es ihm verziehen hat? Und wozu denn, wenn Döltsch sich ärgert? Was will er ihm denn sagen? Er ihm! Er weiß doch, daß er vor diesen steinernen Augen verstummen wird. Aber nein, aber nein, warum denn? Er ist doch jetzt nicht mehr der dumme Kle von einst. Nein, er kennt sich jetzt aus, die Maske des Gewaltigen schreckt ihn nicht mehr. Er wird jetzt ganz anders vor ihm stehen. Wie oft hat er ihr das vorgemacht, wie oft haben sie das im Spaß aufgeführt, Drut den Minister spielend, mit ihren blinzelnden Augen seinen verschlossenen Blick einübend, er selbst aber vor ihr auf und ab, wie der Marquis Posa, sagte sie immer! Und Döltsch wird dann in ihm sich selbst erblicken, einen zweiten Döltsch, einen neuen Döltsch, einen jungen Döltsch, der das alles auch kann und nun keine Lust mehr hat, noch länger unter Bauern zu feiern! Da wird sich ja zeigen, ob seine grauen Augen auch dann noch unbeweglich bleiben! Wie oft hat er ihr das vorgespielt, damals, noch in der Lucken oben! Jetzt kann er's brauchen. Aber nein, das sind Dummheiten! Das war ganz lustig im Spaß mit Drut, die doch aber davon nichts verstand und überhaupt von seiner Welt ja höchst kindisch abenteuerliche Vorstellungen hatte. Lustig, freilich; doch gar nicht ungefährlich für ihn, der sich hüten mußte, darüber nicht die Wirklichkeit allmählich ganz zu verlieren. Er hatte sich im Spaß mit ihr vielleicht schon weiter gehen lassen, als wohl eigentlich klug war. Er hatte sie ja sehr gern und er hätte sie sich gar nicht anders gewünscht. Gott, was hatten sie oft zusammen gelacht, damals, noch in der Lucken oben! Es war aber wirklich gut, daß nach und nach jetzt der erste Taumel närrischer Verliebtheit von ihm wich. Schön war's schon gewesen, aber es wurde nun Zeit, wieder aufzuwachen. Schön war's freilich gewesen, damals noch in der Lucken oben! Schad! Er hatte sie ja noch immer sehr gern, aber es war nicht mehr dasselbe, nun fing das Leben wieder an, von dem sie doch, mit ihren närrischen lieben Einfällen, gar nichts verstand! Sie konnte ja nichts dafür, das scheint schon einmal so zu sein, daß keine Frau dasselbe Talent zur Geliebten und zur Gattin hat, man muß wählen. Und er hätte sie ja nicht heiraten müssen. Oder wenigstens nicht so schnell. Wenigstens nicht, ohne sie sich zuvor erst allmählich zur Gattin zu erziehen. Es war seine Schuld, wenn sie noch immer die Geliebte blieb. Es ist auch nicht so einfach, aus einem Abenteuer plötzlich in den Ernst des Lebens einzubiegen. Hätte er damals einen Freund gehabt, einen wirklichen, aufrichtigen, warnenden Freund, wer weiß? Und jedenfalls hätten sie doch noch warten können. So schön wie damals wird's doch nie wieder! Und vielleicht wär's überhaupt klüger, der Mensch hätte den Mut, ein schönes Abenteuer plötzlich auszulöschen, als es so langsam abbrennen zu lassen. Aber er hatte sie ja noch immer sehr gern und er muß nur ein bißchen Geduld mit ihr haben, sie wird schon hinüberfinden, von der Geliebten zur Gattin, aus dem Abenteuer ins Leben, und hat er ihr erst die romantischen Launen abgewöhnt, so gibt sie vielleicht noch eine ganz verständige kleine Frau, er muß sie sich nur erziehen, er muß sich nur ein bißchen Mühe mit ihr geben, dann wird's schon gehen, es muß ja sein, da sie nun doch einmal verheiratet sind!

Er lag in der nassen Hitze des aufstoßenden Wagens und wälzte sich und schlief mit wachen Gedanken und wehrte sich und sagte sich im Schlaf: Das denkst du ja gar nicht, denn du schläfst, es träumt dir bloß, aber es ist ein merkwürdiger Traum, denn er weiß, daß er ein Traum ist, und du kannst ja gleich aufwachen, wenn du willst, du willst nur nicht, das kannst du nicht, aufwachen kannst du, so bald du es willst, aber du kannst es jetzt nicht wollen, ja versuch's nur, nein, es geht nicht, du möchtest es wollen und willst es doch nicht, sonst könntest du's ja, versuch's doch nur, aber es geht nicht, es ist stärker, siehst du!

So lag er, in Schweiß, und immer stärker wurde der Schlaf über ihn und er fühlte sich immer tiefer sinken, immer tiefer in den Abgrund des schwarzen Schlafes hinab; und dann setzte sich plötzlich ein ungeheurer Schauder auf ihn, seinen Hals würgend, ein dumpfer Schrecken an seiner Haut, in seinen Adern, ein gräßliches Drohen mit einem namenlosen, sinnlosen, grundlosen Spuk, als brennte der Zug und der Regen bräche mit schwemmenden Wassern über ihn, und so fuhr er in einem feurigen Meer, ertrinkend und verkohlend, und immer sagte er sich vor, aus der schwarzen Schlucht des Schlafes herauf: Es ist ja nicht wahr, du träumst es ja bloß, und du weißt doch, daß du bloß träumst, und wenn man weiß, daß man bloß träumt, träumt man ja schon eigentlich gar nicht mehr, nein, du liegst im Wagen, es ist der letzte Wagen, darum stößt es so, das macht dir solche Blasen im schläfrigen Hirn, aber du brauchst ja nur aufzustehen und sie zergehen, du brauchst dich nur zu schütteln und sie sind weg, und da wirst du lachen, du brauchst nur die Hand zu heben, so heb doch die Hand, so steh doch auf, was hebst du sie denn nicht, was stehst du denn nicht auf, da du doch weißt, daß es dann aus ist, was fürchtest du dich denn? Aber er konnte nicht, es hielt ihn fest. Er war wie zerkocht, als ihn der Schaffner in Wien aus dem Schlaf rief.

Und jetzt ging er in seiner lieben Herrengasse. Der warme Wiener Wind blies ihn an. Er wurde den brandigen Geruch des rauchenden Ofens nicht los. Er hätte sich gern gewaschen. Aber er traut sich aus der Herrengasse nicht weg, er wollte den Wagen des Ministers erwarten. Er ging, in die Fenster der Antiquare sehend, bis an das Café Central, dann durch die Landhausgasse, zum Minoritenplatz hin. Hier stand er. So still war's hier, friedlich und feierlich, abgeschieden und weltentrückt. Hier schlug die Zeit nicht, wie in einem fernen Kloster war's. Darum ist auch hier das Unterrichtsministerium, mit Recht! dachte er; plötzlich war er wieder ganz vergnügt, in der lieben Stille da. Langsam ging er über den Platz und sah den Spatzen zu, sie ließen sich durch ihn nicht stören. Langsam ging er durch die Bankgasse zurück. Sein liebes stilles Wien! Er wurde so ruhig; nein, er hatte gar keine Furcht mehr. Alles andere schien jetzt plötzlich weit von ihm weg. Und er wunderte sich, als ihm einfiel, daß er verheiratet war. Das wird merkwürdig sein, wenn er zum erstenmal mit Drut durch die Herrengasse gehen wird. Er kann sich's eigentlich gar nicht denken. Und langsam ging er nun auf der anderen Seite hinab, durch die Strauchgasse, vor dem kleinen Laden mit Ansichtskarten verweilend, die Bilder der Rahl und des Kainz und der Mildenburg betrachtend. Dann bog er, über den Heidenschuß, in die Naglergasse ein. In einem Fenster lag eine dicke Person, ein rotes Tuch um den fetten Hals. Er sah hinauf, sich erinnernd. Sie erkannte ihn, trat ein wenig vom Fenster zurück und winkte ihm, mit deutlichen Gebärden. Ihm wurde in der Kehle heiß, er rannte fort, plötzlich in Angst, den Minister zu versäumen. Nein, Döltsch war noch nicht zurück. Und wieder strich er durch die stillen Gassen. Da war die Wallergasse, so gern ging er da: vom Kohlmarkt her hört man die Stadt klingen, hier aber regt sich nichts, der eigene Schritt hallt seltsam. So ist diese Stadt mit lieben kleinen Verstecken rings besetzt, überall kann man austreten, um aufzuatmen und wieder ein bißchen allein mit sich zu sein. So war sein Östreich: überall hat's einen kleinen engen Winkel irgendwo, dem Ängstlichen bereit, dem es das Leben zu arg treibt. Sein geliebtes Östreich! Land der Stillen und der Leisen! Heimat weich und wund gewordener Menschen! Und wieder kam ihn die heiße Rührung an, die schon den Knaben immer wieder ins Träumen verlockt, diese zärtlich beklommene, wehmütige, törichte Rührung über Östreich. Bis ihm plötzlich einfiel: Gescheiter wäre nachzudenken, was du denn eigentlich dem Döltsch sagen wirst! Aber er konnte jetzt nicht denken. So lieb war es, im warmen Wind durch die Gassen zu gleiten und sich mit ihrer Stille einzuwiegen. Er wäre gern den ganzen Tag nur immer so fortgegangen, immer vor sich hin, im Gefühl der verwunschenen alten Gassen. Plötzlich aber, aufgeschreckt, lief er wieder, nach dem Minister zu fragen. Dann hungerte ihn. Er setzte sich ins Michaeler Bierhaus. Ein Hausierer kam, seine Waren anbietend, mit einem gehorsamen demütigen ängstlichen Gesicht. Und alle die Menschen um ihn saßen in ihren Sorgen.

Als er zum fünftenmal in das Vorzimmer des Ministers trat, sagte Livius: »Er ist eben gekommen. Jetzt ist der Domherr drin, mit einem komischen alten Mandl. Wollen Sie einstweilen ein Zigarettl? Es gibt nichts Besseres zur Beruhigung, wenn einem die Nerven wackeln. Vor meinem letzten Rigorosum hab ich einmal an einem Tag sechsundsiebzig Zigarettin geraucht. Ein Rekord, lieber Freund!«

Klemens trat an das Fenster. Der Ton des Kollegen war ihm unerträglich. Es roch noch immer nach Brand und Rauch. Er konnte sich vor Müdigkeit kaum mehr halten. Er stand und sah in die Gasse hinab, auf die gemächlich gleitenden Menschen. Oft war er einst hier so gestanden, nachts wartend, bis der Minister nebenan fertig war, und ins Dunkel hinein gierig horchend.

Plötzlich schrak er auf. Das war Nießners Stimme. Was tat der da?

Nießner ging auf ihn zu, gab ihm die Hand und sagte lachend: »Wir zwei beide treffen uns auch überall! Wie geht's denn immer, geht's Ihnen gut? Aber da braucht man ja nicht zu fragen, Sie sind immer obenauf!« Und zu Livius: »Wird's lang dauern? Ich warte lieber draußen. Sonst heißt's noch, ich habe mit dem Inkulpaten konspiriert! Lassens mich rufen, wenn's so weit ist! Ich stierl einstweilen ein bißl bei den anderen herum, da hört man immer allerhand Neuigkeiten.« Lachend ging er.

Döltsch saß mit dem Domherrn und dem alten Pfarrer von der Lucken, Er lehnte sich zurück, die Hand vor den Augen. Auf dem Boden lagen Akten, Bücher, ein großes Tellurium, Modelle von Erfindungen, ein Globus, Landkarten und Mappen herum. Auf dem großen Tisch war nur Schreibzeug und eine Photographie der Mutter Döltsch. Der alte Pfarrer saß, das graue Kinn auf die Hand gestützt, die den Griff des Stockes hielt, ganz wie er sonst immer auf der Bank in der Sonne vor seiner Pfarre saß. Er sah den Minister nicht an, sondern stier vor sich durch das weite Zimmer in die Wand hinein, den zahnlosen faltigen Mund in der alten Gewohnheit des Betens bewegend. Der Domherr sagte, mit seinem langsamen, andächtigen, in den Endsilben gern ein wenig anschwellenden Ton: »Also bringen Sie nur selbst Ihre Beschwerde dem Herrn Minister vor, fürchten Sie sich nicht!« Der alte Pfarrer regte sich noch immer nicht, in die Wand sehend, den welken Hals gesenkt, sein lautloses Gebet kauend. Der Domherr wiederholte, sanft: »Fürchten Sie sich nicht! Es geschieht Ihnen nichts. Bringen Sie nur Ihre Beschwerde dem Herrn Minister vor! Nun?« Endlich sagte der Pfarrer: »Mir ist versprochen worden, daß ich Ruh haben werd.« Dann hob er das alte Lid langsam von seinem linken Auge und wiederholte, zum Domherrn schielend: »Wie's mich in die Straf geben haben, is mir versprochen worden, daß ich Ruh haben werd. Meine Ruh will ich haben. Es is mir versprochen worden.« Der Domherr sagte, nickend: »Ja, ja, gewiß! Die soll Ihnen niemand nehmen. Aber bringen Sie nur jetzt Ihre Beschwerde dem Herrn Minister vor!« Der alte Pfarrer hob den dürren Kopf ein wenig, blinzelnd, lauschend, grinsend. Der Domherr fragte: »Also! Haben Sie den Herrn Bezirkshauptmann mit der Frau Baronin trauen wollen?« Der Pfarrer dachte nach und sagte: »Nein. Wir brauchen keine neuen Leut bei uns.« Der Domherr fragte: »Sie haben sich geweigert, den Herrn Bezirkshauptmann mit der Frau Baronin zu trauen?« »Geweigert«, wiederholte der Pfarrer. Der Domherr sagte, mit seiner sanften samtenen Stimme: »Dann haben Sie sie schließlich aber doch getraut?« Der Pfarrer nickte. Der Domherr fragte: »Warum?« Der Pfarrer sah hilflos auf den großen feierlichen Mund des Domherrn hin. Der Domherr wiederholte: »Sie haben sich geweigert sie zu trauen?« Der Pfarrer nickte. Der Domherr fuhr fort: »Weil nämlich die Papiere nicht in Ordnung waren, nicht wahr?« Der Pfarrer nickte. Der Domherr fragte: »Warum haben Sie sie dann, trotzdem die Papiere nicht in Ordnung waren, schließlich aber doch getraut?« Der Pfarrer sagte langsam, auf den Mund des Domherrn sehend: »Weil, weil –« Der Domherr half ihm: »Fürchten Sie sich nicht! Es geschieht Ihnen nichts. Weil der Herr Bezirkshauptmann Sie – nun?« Der Pfarrer nickte, sich erinnernd, und sagte: »Weil er mich bedroht hat.« Der Domherr fragte: »Bedroht hat er Sie? Wie denn?« Der Pfarrer wiederholte: »Bedroht hat er mich.«

Döltsch stand auf und hob ein Buch vom Boden. Der Domherr sah ihn fragend an. Döltsch sagte: »Bitte nur weiter.«

Der Domherr fragte wieder: »Wie denn? Wie hat er Sie bedroht? Sie müssen dem Herrn Minister sagen, wie!« Der Pfarrer wiederholte: »Bedroht.« Sanft sagte der Domherr: »Ja. Aber mit welchen Worten? Auf die Worte kommt's an. Denken Sie nach! Lassen Sie sich Zeit! Können Sie sich an die Worte vielleicht noch erinnern? Was hat er gesagt?« Der Pfarrer erinnerte sich: »Er hat gesagt, daß er mich mit dem Schandarm holen laßt, und einsperren!« Und er schielte den Domherrn an, ob er jetzt zufrieden wäre.

Der Domherr faltete die Hände, bog sein römisches Gesicht herab und sagte feierlich: »Vergessen Sie nicht, daß es möglich ist, daß Sie vielleicht Ihre Aussage vor Gericht unter Eid werden wiederholen müssen, vergessen Sie das nicht!«

Der Pfarrer sagte weinerlich: »Mir is aber versprochen worden –«

Der Domherr sagte, heftig: »Das hilft Ihnen jetzt alles nichts! Wir müssen die Wahrheit wissen! Dann sollen Sie Ruhe haben! Jetzt aber stehen Sie vor dem Herrn Minister, dem Sie die Wahrheit schuldig sind! Die volle Wahrheit!«

Der alte Pfarrer sank ein, auf seinen Stock gestützt; die schweren runzligen Lider fielen zu, die Lippen sattelten.

Milder sagte der Domherr: »Können Sie beschwören, daß er das gesagt hat, mit diesen Worten?«

Der Pfarrer wiederholte: »Er hat gesagt, daß er mich mit dem Schandarmen holen laßt, und er laßt mich einsperren.«

Der Domherr fragte wieder: »Mit diesen Worten?«

Der Pfarrer fing zornig zu schnauben an: »So hat mir's die Agnes g'sagt.«

Der Domherr bemerkte dem Minister: »Seine Köchin.«

Der Pfarrer sprach sich in Wut. »Ich hab mit ihm nicht g'red't. Ich bin weg, wie er kommen is, und hab mich ins Bett g'legt; ich mag nicht. Aber die Agnes hat g'sagt, er laßt mir sagen, er laßt mich arretieren, mit dem Schandarm, hat's g'sagt, und es wäre eine Schand und es is g'scheiter, hat's g'sagt, ich mach erst keine Geschichten, denn da hilft doch nix, gegen den Herrn Bezirkshauptmann kommt man nicht auf, der is mehr als alle, da kann der Papst selber auch nix machen, das is jetzt einmal so, hat's g'sagt, da gibt's nix, und ob ich auf meine alte Tag noch einmal in die Straf will!« Er saß schnaufend und leckte sich die grauen Lippen ab.

Der Domherr sagte, in seinem leise singenden Ton: »Und aus Angst also, nicht wahr, eingeschüchtert durch diese Drohungen, nicht? Verwirrt und eingeschüchtert –?« Und er hielt dem alten Pfarrer seine Worte fragend hin.

Der Pfarrer sagte nach: »Eingeschüchtert durch die Drohungen des Herrn Bezirkshauptmanns, eingeschüchtert, und –« Er zog seine Furchen zusammen und quälte sich ab.

»Und?« fragte der Domherr, unnachgiebig.

Der alte Pfarrer sah hilflos den breiten starken Mund des Domherrn an; und sich plötzlich entsinnend, sagte er auf: »Und weil doch der Herr Bezirkshauptmann der Chef, Chef der politischen Landesbehörde ist, mein Vorgesetzter, dem ich Gehorsam schuldig bin, hat er g'sagt, hat sie g'sagt. Trotzdem mir doch ausdrücklich versprochen worden is –«

Der Domherr fiel ein: »Deshalb haben Sie sich, auf diese seine Drohungen hin, für verpflichtet gehalten, den Herrn Bezirkshauptmann zu trauen, obwohl die vorgeschriebenen Dokumente nicht vorgelegt wurden?«

Der Pfarrer wiederholte: »Obwohl die vorgeschriebenen Dokumente nicht vorgelegt wurden.«

»Wodurch Sie,« sagte der Domherr noch, »ein schweres Vergehen auf sich geladen haben –«

»Mir is aber ja versprochen worden –« raunzte der Pfarrer.

»Wodurch Sie,« wiederholte der Domherr, »ein schweres Vergehen auf sich geladen haben, allerdings unter dem Drucke der Ihnen vorgesetzten Behörde, was Ihre Schuld ja sicherlich mildert. Es ist von einem armen alten Mann, der da droben in seiner Bergeinsamkeit von dem Treiben der Menschen nichts weiß, ein bißchen viel verlangt, daß er einem allmächtigen Herrn Bezirkshauptmann trotzen soll, wie das aber eben doch Ihre Pflicht gewesen wäre. Nun, das wird ja gewiß alles nach Gebühr erwogen werden.« Und indem er sein breites, strenges, ruhiges Gesicht dem Minister zuwendete, fragte er: »Wünschen Exzellenz noch eine Frage an den Herrn Pfarrer zu richten?«

Döltsch bog den Kopf weg, verneinend. Der Domherr half dem Pfarrer auf und zog ihn fort. Er sagte: »Beruhigen Sie sich nur! Fürchten Sie sich nicht! Ihre Schuld ist die geringste.«

Der Domherr kam zurück und sagte lächelnd: »Ich habe den armen Kerl seiner braven Agnes übergeben. Es wird eine etwas schwierige Expedition sein, ihn heimzubringen. Und nicht wahr, Exzellenz, diesen alten Mann wirr zu machen, war kein so großes Kunststück der Verwaltung?« Er wartete.

Da Döltsch schweigend blieb, begann er wieder: »Exzellenz haben ja nun den armen alten Herrn gesehen und können selbst urteilen. Man hat gewünscht, daß Ihnen dieser Fall lebendig vorgeführt werde, als ein besonders krasses Beispiel der Art, wie von Ihren Herren mit unserem Klerus umgesprungen wird, als ob er schon einfach ihr Bedienter wäre. Ein Beispiel unter tausenden, aber allerdings ein so drastisches, daß es wohl auch manchen, die sonst nicht unsere Freunde sind, wofern sie sich nur doch noch einen Rest von Gerechtigkeit bewahrt haben, die Augen öffnen muß. Agitatorisch ist es ja unbezahlbar. Man hat nur aber Mitleid mit dem armen alten Herrn, der ja, wenn der Fall einmal öffentlich aufgerollt wird, nicht geschont werden kann. Ihrem Herrn Bezirkshauptmann geht's dann an den Kragen, dem Pfarrer aber auch. Und die Frage ist nun, ob der Wunsch, eine so schöne Gelegenheit gegen Sie, gegen Ihre glaubens- und kirchenfeindliche Tendenz auszunützen, stärker sein soll oder das rein menschliche Mitleid mit Ihrem Opfer.«

»Ich bin neugierig, wie man sich entscheiden wird,« sagte Döltsch, mit seiner undurchdringlichen Stimme. »Und jedenfalls danke ich Ihnen sehr für Ihre Mühe! Haben wir sonst noch was?«

»Da ich schon gerade hier bin, durch diesen unliebsamen Vorfall veranlaßt,« sagte der Domherr langsam, »darf ich Ihre Geduld vielleicht noch einen Augenblick mißbrauchen. Sie haben ja dann hoffentlich wieder lange Zeit Ruhe vor mir, Exzellenz.«

Döltsch nickte, in seinen Papieren kritzelnd. Der Domherr fuhr fort: »Und auch hier ist es ja wieder eine Botschaft, die ich auszurichten habe. Ich selbst bin immer nur ein Bote, was ich Exzellenz nicht zu vergessen bitte. Ganz nebenbei bemerkt. Wie ich persönlich ja doch auch in jenem Falle meines Neffen Furnian vielleicht als Onkel ganz andere Wünsche haben mag. Aber das versteht sich ja wohl von selbst. Nun weiß ich nicht, ob Ihnen bekannt ist, Exzellenz, daß wir uns in einem höchst langwierigen und unerquicklichen Streit mit der Steuerbehörde befinden, wegen unserer Fabriken im Pongau.«

»Streit,« sagte Döltsch, »kann man das doch eigentlich nicht nennen. Ihr wollt's die durch das Gesetz vorgeschriebenen Steuern nicht zahlen.«

Der Domherr sagte: »Man verlangt immer von uns, daß wir mit der Zeit gehen und uns der Entwicklung anpassen sollen. Ich dächte doch, daß –«

»Ja«, fiel Döltsch ein. »Ihr baut Fabriken, ihr machts allerhand gute Sachen, Salben und Konserven und Schnäpse, der Rupertiner schmeckt ja wirklich famos, alle Achtung! Sehr schön. Nur geht gefälligst dann auch darin mit der Entwicklung, daß ihr brav euere Steuern zahlt, wie andere Fabriken auch! Aber da seid ihr auf einmal ganz empört! Man kann nicht für katholische Schnäpse einen anderen Tarif machen als für jüdische, sonst gibt's in acht Tagen keine Juden mehr; und die sind doch so wichtig für euch! Übrigens ist es gar nicht mein Ressort.«

Der Domherr sagte: »Man hätte nur gern Ihren Rat, Exzellenz.«

»Man hat ja das Gesetz«, antwortete Döltsch.

»Gott, das Gesetz!« sagte der Domherr.

»Ja, das Gesetz!« wiederholte Döltsch. »Darum eben geht's! Ihr könnt euch nicht daran gewöhnen, daß das Gesetz auch für euch gelten soll, und wer es euch zumutet, ist ein Glaubensfeind und ein Kirchenfeind. Was soll ich da tun?«

»Das Gesetz!« sagte der Domherr, in seinem milden und gütigen Ton. »Das Gesetz ist eine schöne Sache. Aber das Gesetz ist nicht allein auf der Welt. Es gibt vielleicht auch noch andere Dinge, Exzellenz. Und alles menschliche Leben besteht am Ende nur im richtigen Ausgleich, die Juristen machen sich's doch ein bißchen gar zu leicht. Es gibt auch Forderungen der Billigkeit, der Klugheit, der Zweckmäßigkeit und wer sie nicht hören will, wird schließlich vor lauter Gesetzlichkeit ungerecht, möchte ich meinen. Gleich mit unserem armen alten Pfarrer da geht's uns doch auch so. Er hat das Gesetz verletzt. Ist es denn aber billig, das Gesetz auf ihn anzuwenden? Ist uns die Ruhe des armen alten Herrn nicht vielleicht mehr wert als das Gesetz? So fragen wir uns. Wie Sie sich ja wahrscheinlich auch fragen werden, Exzellenz, ob Ihnen nicht vielleicht ebenso die Zukunft eines begabten und bisher ja tadellosen Beamten, ganz abgesehen von der schlechten Beleuchtung, in die Ihre ganze Verwaltung dadurch gerückt würde, am Ende mehr gilt als das papierne Gesetz. So läuft im Leben schließlich doch alles immer auf ein Abwägen hinaus und ob wir unseren Pfarrer, Sie Ihren Bezirkshauptmann opfern müssen, wird zuletzt auch wohl nur davon abhängen, ob Ihnen nicht vielleicht Ihr Bezirkshauptmann wichtiger ist als uns unser Pfarrer. Denn die beiden Fälle sind voneinander ja wohl nicht zu trennen.«

Döltsch lehnte sich zurück, schlug die großen grauen Steinaugen auf und sagte langsam, mit dem Bleistift spielend: »Sie meinen den Fall Furnian und den Euerer Steuerhinterziehung?«

Der Domherr kehrte sein großes, feierliches, glänzendes Gesicht der leeren Maske des Ministers zu. So sahen sie sich an. Dann sagte der Domherr: »Ich meine den Fall Ihres Bezirkshauptmanns und den unseres Pfarrers. Natürlich.« Und in den faltigen Ecken an seinem breiten starken Mund war ein leises Lächeln, als er fortfuhr: »Aber das wissen Sie ja ganz gut, Exzellenz. Denn Sie werden mich doch nicht einer Erpressung beschuldigen wollen.« Er stand auf, schob die langen Ärmel seines Rockes ein wenig zurück und sagte, heiter: »Dazu kennen wir uns doch zu genau.«

Sie reichten sich die Hände. Döltsch sagte: »Ja, wir verstehen uns ganz genau.«

»Das ist immer angenehm«, sagte der Domherr. »Ich muß nur um Entschuldigung bitten, Exzellenz so lange belästigt zu haben.«

Döltsch sagte: »Ich danke Ihnen jedenfalls noch sehr, es war mir ungemein interessant. Und was Ihre Fabriken betrifft, so lassen Sie mir noch ein paar Tage Zeit. Es ist ja nicht mein Ressort, aber ich will doch den Akt einmal sehen.«

»Ich möchte nicht drängen«, sagte der Domherr. »Immerhin müßte man aber doch bald einmal wissen, woran man ist, um schlüssig zu werden, ob's nicht klüger sein wird, mit den Fabriken ins Ausland zu gehen.«

»Das wäre mir sehr leid«, sagte Döltsch.

»Uns auch«, sagte der Domherr. »Das können Sie mir wirklich glauben, Exzellenz.« Sie gaben sich noch einmal die Hände. Der Domherr ging.

Döltsch schlug seine Schriften auf. Er hatte da das erloschene, winkelige Gesicht des Pfarrers und die prangende Miene des Domherrn abgezeichnet. Er nahm den Stift und setzte dem Domherrn noch eine Allongeperücke auf, durch die der mächtige Kopf mit der herrischen Nase und den steifen Wangen erst zur vollen Wirkung kam! Zeichnend saß er und dachte nach. Sie kannten ihn gut. Das Geschäft war klar: den Schützling oder die Steuern! Und wie fein, so sicher darauf zu rechnen, er werde nun erst recht sagen: Nun gerade nicht, ich gebe meinen Schützling nicht preis! Er werde sie beschämen, edler und menschlicher als sie, die dafür ihr Geschäft machten! Wie fein, so sicher auf seinen Trotz zu rechnen! Sie kannten ihn gut! Er machte die Allongeperücke des Domherrn immer noch länger und gab ihm ein Szepter in die Hand. Wie fein! Und es war gar nicht ausgeschlossen, daß der Domherr, grad um seinen Neffen zu retten, diese Rettung an die Bedingung, die Steuern nachzulassen, geknüpft, um es ihm zu erschweren und eben dadurch seinen Trotz erst zu reizen; er traute dem Domherrn das zu. Sie rechneten genau, sie kannten ihn gut! Und ein Spaß wär's aber, zur Abwechslung einmal nicht trotzig zu sein und ihnen zu zeigen, daß er noch besser rechnet als sie! Gab er den Furnian preis, was konnten sie tun? Das schlechte Licht, das auf seine ganze Verwaltung fiel? Nein! Wenn er den sträflichen Beamten nicht hielt, wenn er ihn opferte, wenn er ihnen zuvorkam und selber der erste war, die Bestrafung und Entfernung des Schuldigen unerbittlich zu fordern? Der Spaß wäre gut, noch feiner zu sein als die Feinen! Und welche Gelegenheit, einmal vor aller Welt in voller Unparteilichkeit zu strahlen! Er war ein Narr, wenn er sich das entgehen ließ! Nur langsam, mein verehrter Domherr! Ave, Caesar, morituri te salutant! Und kosend strich er mit dem Stift über die Zeichnung und ließ die langen Locken wallen. Schade nur um den jungen Menschen. Der Furnian war schließlich nicht dümmer und nicht schlechter als die anderen auch. Und da fiel ihm ein, wie seltsam das war: noch vor ein paar Tagen erst hatte er mit seiner Mutter von Furnian gesprochen, als die Hetze gegen ihn begann, und hatte sie noch lachend beruhigt: Aber ich werde doch deinem Schoßkind nichts geschehen lassen, sei unbesorgt! Und er wunderte sich noch über den harten Ton, mit dem sie antwortete, ganz gereizt: Mach du bitte nur, was dir richtig scheint, ohne irgendeine Rücksicht auf mich zu nehmen, die ich, wie du weißt, überhaupt nicht wünsche, in diesem Falle aber schon ganz und gar nicht! Und als er sich ihre Verstimmung nicht erklären konnte, hatte sie nur noch gesagt, in ihrer stillen, unbeugsamen Art: Er muß sich sehr verändert haben, sein letzter Brief, schon vor ein paar Monaten, hat mir gar nicht gefallen, ich weiß eigentlich nicht, warum, aber auf mein Gefühl kann ich mich verlassen! Es war ihm noch so merkwürdig gewesen. Armer Kerl! Was fing der dann an? Nun, man kann auch Reitlehrer oder Chauffeur sein, in Kalksburg bilden sie ja die jungen Leute sehr gut aus. Und es wäre den anderen ganz heilsam, die konnten sich ein Beispiel nehmen, sie sündigten schon etwas viel auf seine Kraft! Freilich, das Prinzip, das Prinzip! Wen er einmal hielt, der sollte gefeit sein! Aber warum war der alberne Bursche nicht auch einfach nach Italien gegangen? Wer seinen Schutz will, muß auch gehorchen können! Und wozu hat man schließlich Prinzipien, wenn man sie nicht verleugnet? Da zog er plötzlich einen dicken Strich durch seine Zeichnung und sagte sich: Nein, nein, der arme Kerl, meinetwegen sollen sie uns um die Steuer betrügen und mich auslachen, wichtiger ist, daß sich meine Leute sicher fühlen! Und er läutete und ließ den Polizeikommissar eintreten.

Nießner stand wartend. Endlich sagte Döltsch: »Sie sollen Näheres in der Affäre Furnian wissen.«

»Ja, Exzellenz.«

»Mich interessiert vor allem, wie diese Dinge zur Kenntnis jenes Journalisten gekommen sind.«

Nießner hob sein breites Kinn aus dem hohen Kragen und antwortete: »Durch meine Schuld, Exzellenz. Ohne böse Absicht. Das entschuldigt mich aber nicht. Denn ich hätte wissen müssen, daß man Kollegen nichts anvertrauen darf, weil sie dafür sorgen, daß alles gleich an die richtige Adresse kommt.«

»Sie haben einen Tratsch gemacht?«

»Ich habe im Gasthaus getratscht, unter guten Kollegen, Und übrigens nur von Dingen, die schließlich doch ziemlich harmloser Natur sind und, wenn sich der Baron Furnian, zu dessen Freunden ich mich rechnen darf, rechtzeitig an mich gewendet hätte, in aller Stille beigelegt worden wären. Der Kapuziner, der jenes Blatt redigiert, hat aus seiner Heimat fort müssen, weil er dort ein zu lebhaftes Interesse für Schulknaben betätigt hat. Nichts leichter also als ihn, wenn er unbequem wird, wieder verschwinden zu lassen. Ich hätte ihm schon das Maul gestopft.«

»Was haben Sie nun also getratscht?« fragte Döltsch. »Was sind die ziemlich harmlosen Dinge?«

Nießner zog einen Zettel heraus. »Darf ich meine Notizen benützen? Das Curriculum der Frau Baronin ist etwas verwickelt. Die Baronin Furnian hat, bevor sie die Baronin Scharrn wurde, immer in ein bißchen abenteuerliche Serpentinen gelebt. Sie ist das uneheliche Kind einer Berliner Masseuse Petersen. Geboren in Nizza 1872. Vater ein Herr Trompetta, damals Croupier, Sohn einer kleinen Triester Schneiderin und eines unbekannten Kapitäns, der nachher gleich wieder abfuhr, später aber in den Erzählungen seines phantasievollen Sprößlings zu einem Adjutanten des Erzherzogs Max und bald zum nachmaligen Kaiser von Mexiko selbst avancierte. Beruf: wechselnd. Küchenjunge auf einem Lloydschiff, Korallenhändler auf dem Lido, eine Zeit Croupier, Hotelportier in Patras, Gehilfe bei einem Fechtmeister in Bologna, Fremdenführer in Neapel, wo er die Bekanntschaft eines alten Hamburger Fleischers macht, der ihn mitnimmt und als Wirt in Sankt Pauli installiert. Wegen Kuppelei und verbotenen Spiels abgestraft und ausgewiesen. Taucht dann auf einmal in Gesellschaft eines südfranzösischen Tänzers Morin wieder auf. Die beiden Männer und die Schwester des Tänzers bilden das Trio Caramba, das mit recht freiheitlichen Schaustellungen, sogenannten Pompejanischen Spielen, durch die Welt zieht: Spanien und Mexiko. Als die kleine Schwester Morin plötzlich stirbt und nun die Dritte im Bunde fehlt, erinnert sich Herr Trompetta, daß er ja Vater ist, sucht seine Tochter, findet sie schließlich in Berlin, nimmt die kaum Vierzehnjährige der Petersen einfach weg, und das Trio ist wieder komplett.« Er sah auf, weil er den Minister leise lachen hörte.

»Ihr seid alle gleich«, sagte Döltsch. »Der Verkehr mit der Presse verdirbt euch ganz. Ihr müßt aus allem eine Schmucknotiz machen, ihr könnt schon gar nicht mehr anders.«

»Pardon«, sagte Nießner, gehorsam.

»Aber weiter!« sagte Döltsch, kurz.

»Das neue Trio Caramba kommt nach Rom. Sie haben da den guten Einfall, nicht mehr öffentlich aufzutreten, sondern nur in Klubs, hauptsächlich in der Aristokratie. Man kann sich das ungefähr denken. Übrigens scheint der Alte die Tugend seiner Tochter sehr genau bewacht zu haben, wohl aus merkantilen Gründen. Sie lernen den Kardinal Tranquillino Bulotta kennen, einen unter den Spitznamen il Nonno bekannten und beliebten Mäzen schöner Frauen, der seit dem Konklave, in dem Leo der Dreizehnte gewählt wurde, vor Wut und Verbitterung und Haß ganz vertrottelt ist. In seine Villa zieht das Trio und sie sackeln ihn so aus und der Skandal wird so groß, daß sich schließlich die Polizei einmischen muß, gerade noch ein paar Tage, bevor der Trompetta zum römischen Grafen ernannt werden soll. Also wieder einmal eine Pleite. Aber wie sie schon immer Glück haben, meldet sich nun die Petersen wieder, die sich inzwischen im Hause der alten Baronin Scharrn eingenistet hat, als Krankenpflegerin des durch Alkohol und Kokain und allerhand Ausschweifungen vertierten, halb idiotischen jungen Barons, und die Gelegenheit wahrnehmen will, ihre Drut mit ihm zu verheiraten. Der Plan gelingt, das junge Paar geht auf Reisen, Vater Trompetta mit, der sich jetzt Commendatore nennt und ihren Marschall macht; und er sorgt schon dafür, daß das letzte Lebensflämmchen des Barons bald in wüsten Debauchen verlischt. Das ist die Vorgeschichte der Frau Baronin Furnian, sie ist amüsant und lehrreich genug, um einen zu reizen, daß man sie gelegentlich einmal unter guten Freunden erzählt. Und wenn ich mir noch eine Bemerkung erlauben darf, Exzellenz, was liegt denn eigentlich auch daran? Ob man eine derartige Dame gerade heiraten muß, mein Gott, das ist Geschmackssache, es gibt eben auch romantische Naturen. Aber daß es verboten wäre, davon ist mir nichts bekannt, es sollen schon ärgere Heiraten vorgekommen sein. Ganz sauber ist die Sache ja nicht, aber wer ist denn ganz sauber, nicht wahr?« Er sah den Minister wartend an, noch immer seinen Zettel in der Hand.

Nach einiger Zeit sagte Döltsch, ohne von seinen Schriften aufzusehen: »Sie müssen Mühe gehabt haben, sich alle diese Nachrichten zu verschaffen.«

Nießner antwortete, die roten Borsten seines Schnurrbarts reibend: »Ich scheue keine Mühe«.

»Und,« sagte Döltsch, »Sie machen das, scheint's, bloß so zu Ihrem Vergnügen? Als Fleißaufgabe gewissermaßen, was?«

Nießner sagte: »Gott, Exzellenz, mancher sammelt Käfer und ein anderer Briefmarken. Der Mensch muß was zu tun haben, und ich bin leider amtlich nicht so viel beschäftigt, daß es meine Energie befriedigen könnte.«

»Die haben Sie wohl von Ihrem Vater?« sagte Döltsch. »Der war ja, höre ich, schon als junger Fiaker ein berühmter Spitzl. Er hat damals die Gräfin Severine Potocka geführt und so die ganze Verschwörung im Palais Lubomirski aufgedeckt. Man sieht, Talent vererbt sich. In allen Künsten.«

»Ja, niemand kann aus seiner Haut, Exzellenz. Und man will doch seine Fähigkeit nicht verkümmern lassen. Man übt sich halt, so gut es geht.« Er schwieg, wartend. Döltsch schrieb wieder.

Nach einiger Zeit sagte der Minister nebenhin: »Ja, ich sehe, daß Sie sehr tüchtig sind. Danke.«

Nießner blieb unbeweglich, indem er sagte, noch immer seinen Zettel in der Hand: »Ich möchte nicht, daß Exzellenz meine Tüchtigkeit auf Kosten meines Charakters überschätzen. Mein Vater war ein Spitzl, jeder nimmt sein Brot, wo er's findet. Ich bin keiner und wünsche nicht dafür zu gelten. Ich muß deshalb bitten, mir noch einige Mitteilungen zu erlauben, damit mich Exzellenz kennen.«

Döltsch lehnte sich zurück und sah sich den Kommissär an.

Nach einiger Zeit sagte Nießner: »Ich muß aber ausdrücklich zur Bedingung machen, daß meine Mitteilungen unter uns bleiben. Es weiß niemand davon, und es braucht's niemand zu wissen. Ich habe auch Exzellenz nichts davon sagen wollen. Es liegt mir aber daran, von Exzellenz nicht falsch beurteilt zu werden. Exzellenz werden dann ja sehen, ob ich unkollegial an meinem Freund Furnian gehandelt habe. Sich Nachrichten über seine Mitmenschen zu verschaffen, ist ein Privatvergnügen, das jedem freisteht. Wie man sie verwendet, und was man davon verwendet, darauf kommt's an. Darf ich in meinen Notizen fortfahren?«

Döltsch nickte.

»Ich betonte jedoch nochmals, Exzellenz, daß diese Mitteilungen bloß für Exzellenz allein bestimmt sind und es mir höchst peinlich wäre, wenn daraus meinem Freunde Furnian Unannehmlichkeiten irgendwelcher Art erwachsen könnten. Aber schließlich bin ich mir selbst der Nächste und möchte den Beweis erbringen, daß es keineswegs meine Absicht war, einen Kollegen zu schädigen. Sonst hätte ich's anders gemacht.«

»Also was haben Sie noch in Ihrer Sammlung?« fragte Döltsch.

»Die Geschichte der Frau Baronin Scharrn ist ja nämlich noch lange nicht aus. Nach dem Tode des Barons fing für seine Witwe und ihren Herrn Papa ein sehr vergnügtes Reiseleben an. Engadin, Biarritz, zum Grand Prix in Paris, Winter in Kairo, Ostern in Rom, wie eben distingierte Fremde leben. Unangenehm war nur, wenigstens für den Herrn Papa, daß plötzlich auch der Kollege Morin wieder auftaucht und seine Bewerbungen um Drut, für die er schon immer geschwärmt hat, mit südlicher Heftigkeit erneut. Der Vater, der keine Lust hat, die Erbschaft zu teilen, tobt und reist mit ihr ab, der Arlesier ihnen nach, dem Weibchen scheint er zu gefallen, sie geht mit ihm durch, sie werden in London getraut. Versöhnung mit dem Vater, die aber nicht lange hält, die beiden alten Kollegen raufen jeden Tag. Der Schluß ist, daß eines Tages in einer solchen Szene der Commendatore Trompetta von dem rasenden Morin erstochen wird. Morin ist vor vierzehn Monaten in Bordeaux zu neun Jahren verurteilt worden. Warum die Baronin sich nicht damals gleich von ihm scheiden ließ, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, daß Furnian davon etwas ahnt. Übrigens habe ich auch meine Zweifel, ob die damals in London geschlossene Ehe überhaupt gültig ist. Jedenfalls tut man am besten, man rührt an solche Geschichten gar nicht. Hätte ich gewußt, was ich finden werde, so hätte ich lieber erst nicht weiter gesucht. Und ich bitte Exzellenz nochmals, überzeugt zu sein, daß von mir niemand etwas darüber erfahren hat und niemand etwas darüber erfahren wird.«

»Das weiß ich schon,« sagte Döltsch langsam. »Das überlassen Sie mir.« Er sah ihn mit seinen grauen harten Augen an und sagte noch: »Übrigens sind Sie wirklich sehr tüchtig.«

Nießner stand auf und verbeugte sich. Döltsch sagte: »Einen Augenblick noch«. Er läutete. Livius kam. Der Minister sagte: »Den Bezirkshauptmann Furnian.« Während Livius ihn holen ging, stand Döltsch auf, ging ans Fenster und winkte dem Kommissär. Nießner trat zu ihm in die Nische, dort fragte Döltsch ihn leise, bei welchem Amt er jetzt in Verwendung wäre. Nießner gab Antwort. Furnian kam herein und sah den Minister in der Nische leise mit dem Nießner sprechen. Döltsch ließ sich von dem Kommissär noch allerhand über sein Leben berichten. Furnian konnte nichts verstehen. Er sah nur den Kommissär angelegentlich erzählen. Döltsch stand zuhörend, durch das hohe Fenster sehend, mit dem Rücken zu Furnian. Endlich hörte Furnian die bekannte kalte Stimme schlagen: »Es ist gut, Herr Kommissär. Ich brauche jetzt nichts mehr.«

Nießner verbeugte sich, grüßte Furnian förmlich und ging. Der Minister blieb am Fenster, in die Gasse sehend. Dieses Warten fürchtete Klemens so. Dieses eiskalte Warten in dem weiten, leeren, wie mit Schweigen ausgeschlagenen Saal. Dieses Warten, in dem dann die Zeit einzufrieren schien. Er konnte gar nichts mehr denken. Es fiel ihm ein: er hätte sich doch noch einmal überlegen sollen –! Aber er konnte gar nichts denken. Schon die ganze Zeit nicht mehr, seit er Nießner in das Zimmer des Ministers eintreten gesehen. Es fragte nur in ihm fort: Was soll denn der Nießner, warum denn der Nießner? Und dann war der Gedanke da: sich nur nicht erschrecken zu lassen! Und der Gedanke: es gälte jetzt, frech zu sein, der freche Kle! Aber gleich entglitt ihm und verwich ihm alles wieder, er konnte die Gedanken nicht halten, es rann aus. Er konnte gar nichts mehr denken, in dem lautlosen Warten stehend.

Der Minister kam langsam vom Fenster zurück, setzte sich und sagte, ohne ihn anzusehen: »Na, Sie führen sich gut auf!«

Er lachte, und es sprach aus ihm in seinem bereitstehenden Ton des feschen Kle: »Mein Gott, Ex'llenz, was soll man sonst? Zu tun hat man nichts, die Selbstverwaltung soll man auch nicht stören, und irgendwie will die jugendliche Tatkraft doch heraus, also was bleibt einem übrig, als ein paar saftige Dummheiten zu machen? Das soll schon manchem von uns passiert sein, Ex'llenz müßten sich mit der Zeit schon daran gewöhnt haben, nicht?«

Er wartete. Döltsch saß, die Hand über den Augen. Nach einiger Zeit begann Klemens wieder: »Und schließlich, Ex'llenz, hat jeder Staatsbürger das Recht, so gescheit oder so dumm zu heiraten, wie ein jeder will und kann. Und meine Frau braucht keinem einzigen Menschen auf der Welt zu passen als mir, und solang sie mir recht ist, muß sie allen recht sein, und wenn sie mir einmal nicht mehr recht ist, werd ich sie schon fortschicken, und zwar auch wieder, ohne erst lange zu fragen, ob ich soll oder darf oder muß, weil das alles ganz allein von mir abhängt, mir ist wenigstens nicht bekannt, daß der Staat seinen Beamten für ihre Frauen das Maß vorschreibt oder den Schnitt sozusagen, eine Frau ist keine Uniform, und von einer moralischen Adjustierungsvorschrift weiß ich nix, Ex'llenz! Also die paar guten Freunderln, die mich bei der Gelegenheit gern eintunken möchten, sollen sich nur wieder schön beruhigen, da müssen's schon noch ein bissel schlauer sein und die Sache das nächstemal etwas feiner einfädeln. Ich hab herzlich lachen müssen und ich hab mir gedacht: wenn's einmal so weit ist, daß ich gegen wen intrigieren will, ich möcht das doch mit etwas mehr Elan anfangen, das weiß ich, mit einem gewissen Schmiß, und ohne daß ich erst einen versoffenen Kapuziner dazu brauch, der mir hilft. Ich möcht der Schule Döltsch doch etwas mehr Ehre machen, ich hoffe, daß mich Ex'llenz so weit kennen. Intrigieren ist gar keine solche Kunst, aber g'lernt muß man's halt auch haben.«

Er wartete wieder. Und dann begann er wieder, immer lauter, immer schneller, atemlos und heiser: »Und ich möcht doch überhaupt nur einmal wissen, was die Herrschaften eigentlich von mir wollen? Ich leg keinem Menschen was in den Weg, von mir aus können's alle meinetwegen morgen Hofräte werden, ich bin keinem neidisch, das ist gar nicht meine Art, und ich hab's auch gar nicht nötig, neidisch zu sein, warum denn? Ich weiß, daß auch an mich die Reihe kommt, vielleicht früher, als mancher denkt. Eine Extrawurst für mich will ich nicht, und was mein Recht ist, werd ich mir schon nehmen, wenn man mir's nicht gibt, und wenn's nötig ist, werd ich mich schon wehren, ich hab ganz gesunde Zähn. Die Herrschaften halten mich nur für gutmütiger, wie ich bin. Ich laß mir manches gefallen, weil's mir nicht dafür steht. Wenn mir aber einmal die Geduld reißt, kann ich auch recht ungemütlich werden.«

Er wartete wieder. Aber er konnte die Last der Stille nicht ertragen. Immer schneller sprach er, um seinen nachhallenden Worten zu entkommen: »Übrigens, Ex'llenz, ist es noch gar nicht so ganz sicher, gegen wen damit eigentlich intrigiert werden soll. Ich meine, wen man eigentlich treffen will. Der grade Michl ist ein kleines klerikales Hetzblattl, in dem unsere Kapläne ihren Gift austoben. Nun steh ich mit der klerikalen Gesellschaft aber eigentlich ja ganz gut. Wir haben nie einen Anlaß gehabt, uns zu zerkriegen. Geht man trotzdem auf einmal so gegen mich los, so muß ich mich fragen, ob man nicht eigentlich viel höher zielt. Ich will nicht sagen, den Sack schlägt man und . . . und so weiter, weil mir das der Respekt und meine gute Erziehung verbietet, aber Ex'llenz werden ja verstehen!«

Er wartete. Seine Hände machten ihn verlegen. Unwillkürlich rieb er ihre Teller aneinander, deswegen war er immer in der Schule schon ausgelacht worden. Er bemerkte, daß ihm Döltsch auf die Hände sah. Unbeholfen ließ er sie hängen, wie zwei Gewichte hingen sie. Und immer hielt die Stille noch starr ihren schwarzen Rachen offen.

Klemens begann wieder: »Übrigens kann ich ja den Kapuziner auch klagen. Es strotzt ja natürlich in dem Artikel alles von den gemeinsten Verdrehungen und Übertreibungen. Der Kapuziner hat was läuten gehört, aber selbstverständlich liegen die Dinge alle doch ganz anders, das brauch ich wohl Ex'llenz nicht erst zu versichern. Es wäre mir ein leichtes, nachzuweisen, daß es fast durchaus nur ganz alberne, perfide Verdächtigungen sind, so haltlos und dabei so durchsichtig, daß dem Verleumder nicht einmal der gute Glaube zugebilligt werden kann, das ist mir gar kein Zweifel: wenn ich den Burschen klage, geht er höllisch ein, und ohne daß man erst nötig hätte, irgendwie nachzuhelfen, Ex'llenz, da hab ich gar keine Sorge. Die Frage ist nur, ob man sich überhaupt mit so einem Schmutzblatt einlassen soll, nötig ist es gewiß nicht, weil ja jeder anständige Mensch ohnehin weiß, was er von dem Kerl zu halten hat, und ein Vergnügen ist es ja gerade auch nicht, sich mit ihm hinzustellen, und klug, offen gestanden, klug ist es gewiß nicht, weil diese Art von Leuten ja dann am End wirklich noch glauben, sie sind die Richter im Land, und jeder muß erscheinen, den sie zitieren, und hat vor ihnen Rechenschaft abzulegen; so weit sind wir ja aber doch noch nicht! Aber, wie gesagt, was mich betrifft, mir wär's ja nur ein Spaß, ich klage sehr gern, aber mit dem allergrößten Vergnügen!« Und mit sinkender Stimme sagte er noch, achselzuckend: »Wenn Ex'llenz meinen!« Dann schwieg er, in die lautlos rinnende Stille horchend.

Bis er wieder begann: »Schließlich sind das alles Fragen der Nützlichkeit und praktischer oder taktischer Erwägungen, so wichtig ist ja die Sache weiter nicht, deswegen habe ich es ja auch für das gescheiteste gehalten, herzukommen, damit man sich ausspricht, nicht wahr, Ex'llenz?« Ich halte es aber doch für meine Pflicht, vor Übereilungen zu warnen. Mir persönlich, wie gesagt, wär's ja eigentlich das liebste, einfach zu klagen. Ich kenne die Bevölkerung, die Stimmung für mich ist ausgezeichnet, und ich würde mir das schon arrangieren, da kennen mich Ex'llenz ja, ich würde mir schon einen schönen Abgang machen, das heißt: Abgang, das ist ein dummes Wort, Abgang!« Er lachte gezwungen auf und immer lauter, immer schneller fuhr er fort: »Ich mein nämlich, was man so beim Theater einen Abgang nennt, Ex'llenz verstehen, mit Applaussalven und Bumbum! Die Böller müßten krachen, und weißgekleidete Jungfrauen, etcetera, etcetera, wenn der geliebte, hochverehrte Herr Bezirkshauptmann zurückkehrt wie der Lohengrin, mit Glanz freigesprochen, das heißt, ich kann ja gar nicht verurteilt oder freigesprochen werden, ich bin ja nicht angeklagt, so weit sind wir ja doch noch nicht, daß die Presse die Justiz übernimmt, was ja eigentlich der geheime Wunsch der angenehmen Herren zu sein scheint, aber das ist ja das Schlimme bei solchen Sachen, daß sich der Kläger dann schon unwillkürlich wie der Angeklagte vorkommt, und darum mein ich eben, Ex'llenz, daß man sich die Geschichte doch noch sehr überlegen muß, wegen der Konsequenzen, die sie haben kann! Denn das ist ja das Gefährliche dabei, daß, wenn man sich mit der Gesellschaft einmal eingelassen hat, dann ein jeder hergelaufene Lump kommen kann, und man muß sich mit ihm hinstellen, und schließlich gibt's in jedem Leben Dinge, die die Öffentlichkeit nichts angehen, wenn man sich auch noch so tadellos hält, nicht, Ex'llenz? Denn das ist ja die Gefahr, daß es dann heißen wird: Heute mir, morgen dir! Das bitte nicht zu übersehen, deshalb warne ich vor Übereilungen! Heute nimmt man sich einen kleinen Bezirkshauptmann vor, schön, aber wer weiß, mit dem Essen kommt der Appetit, wer weiß, an wen man sich morgen machen wird? Denn was riskiert denn so ein Kerl? Ein paar hundert Kronen oder im schlimmsten Fall einen Monat Arrest, wo er einmal seinen Rausch ausschlafen kann! Das ist ihm der Spaß und die Reklame doch wert! Wie gesagt, mir, mir kann's gleich sein, meine Sache liegt so klar, daß ich nichts zu fürchten habe, aber ich warne nur, denn morgen kann's einen treffen, dem's vielleicht nicht gleich ist, und bei dem die Sache vielleicht nicht so klar liegt, ich warne nur davor, diesen Leuten noch Lust und Mut zu machen, man kann nicht wissen, wieweit dann ihre Frechheit noch geht, schließlich wird niemand mehr sicher sein, und so was steckt an, Ex'llenz, und wenn der Mensch erst einmal gereizt ist, wird er ein Luder, man darf ihm das nicht so bequem machen, sonst Ex'llenz, ich garantier für keinen, nicht einmal für mich selbst, denn wer weiß, wenn das erst einmal Mode geworden ist und es ärgert mich irgend etwas, setz ich mich auch hin und schreib einen Artikel, mit Enthüllungen, Gott, enthüllen kann man immer was, überall, und ärgere Sachen, als daß ein verliebter junger Mensch einmal eine Dummheit gemacht hat, nicht?«

Langsam fragte die kalte Stimme des Ministers: »Warum schreien Sie denn aber eigentlich so?«

Klemens schrak zusammen. Wie eine Uhr schlug diese Stimme. Er stotterte: »Ich, ich? Ich –« Er stand auf, neigte sich vor und sagte, mit herabhängendem Gesicht: »Ex'llenz dürfen es mir nicht verübeln, daß ich etwas aufgeregt bin! Aber ich hab das Gefühl, es geht irgend etwas gegen mich vor. Und es wär mir entsetzlich, wenn Ex'llenz meinen könnten, daß ich je die tiefe Dankbarkeit und Verehrung vergessen hätte, die ich Ex'llenz schulde! Und was hab ich denn verbrochen? Ich mag unbesonnen gehandelt haben, und gewiß sind Dinge vorgekommen, die besser unterblieben wären. Ich sehe das ja jetzt selbst ein, und Ex'llenz können mir glauben, daß ich selbst schon manches bereue, was geschehen ist. Ich stehe ja doch auch zum erstenmal im Leben draußen, und ganz allein, wer hilft mir denn? Ex'llenz wissen doch, wie das mit meinem Vater ist. Und ich bin ja gewiß auf alle Weise bereit, es wieder gutzumachen, auf alle Weise, man muß mir doch aber nur sagen, wie. Glauben nur Ex'llenz nicht, daß ich es nicht einsehe!«

»Ihre Privatangelegenheiten interessieren mich nicht«, sagte Döltsch. »Aber Sie haben sich ohne die vorgeschriebenen Dokumente trauen lassen und noch den Pfarrer dazu verleitet. Das war unkorrekt.«

»Unkorrekt, ja!« sagte Klemens, erleichtert. »Was hab ich die letzten Monate nicht alles getan, was unkorrekt war! Wer nimmt denn das aber so genau? Ex'llenz hätten sich gewundert, wenn ich jedesmal gekommen wär, sooft etwas nicht ganz korrekt war! Früher, hier, mein ich. Das wissen wir doch, nicht?«

Klemens wartete. Döltsch schwieg. Klemens begann wieder: »Und schließlich muß man doch berücksichtigen, daß ich in dieser Zeit, unter uns gesagt, Ex'llenz, denn Ex'llenz werden doch so was menschlich verstehen können, daß ich einfach die ganze Zeit gar nicht mehr zurechnungsfähig war! Wenn sich eben ein junger Mensch zum erstenmal verliebt, es ist mir ja jetzt selbst unbegreiflich, aber was hab denn ich vom Leben gewußt, und gar von den Frauen! Ich bin einfach einer Kokette –« Er hielt ein, die Handteller aneinanderreihend, und sah sich hilflos um. »Ex'llenz müssen das doch verstehen! Es ist ja furchtbar beschämend für mich, aber jetzt wird es wohl das beste sein, was bleibt mir denn übrig, als jetzt alles genau zu sagen, wie es war? Einer Kokette bin ich einfach aufgesessen, die hat mich eingefangen.«

Er wartete. Da sah er das Bild der alten Baronin Döltsch. Er faßte sich wieder ein wenig und sagte, noch einmal hoffend: »Ex'llenz können sich doch denken, wie furchtbar schwer es mir wird, von diesen Dingen zu reden. Einem Mann gegenüber ist einem das gar peinlich. Ich will dann gleich anfragen, ob mich die Baronin empfangen kann. Das war ja vom Anfang an mein erster Gedanke, die Baronin wird mich verstehen, da kann ich auch viel freier reden, ihr will ich mich anvertrauen, die Baronin war doch immer so gütig zu mir, sie wird mir sicher auch jetzt, wenn sie nur erst von mir hört, wie das alles gekommen ist, wie ich auf einmal überall das Netz um mich gespürt habe, sie wird sicher, sie mit ihrem unendlichen Herzenstakt, ja wenn ich zur rechten Zeit den Rat einer solchen edlen Frau gehört hätte, aber es ist ja doch noch nicht zu spät, warum denn?«

»Meine Mutter ist seit ein paar Tagen nicht ganz wohl«, sagte Döltsch. »Sie wird sehr bedauern.«

Nun hörte Klemens wieder nur die große Stille.

Dann sagte sein Mund: »Ich bin doch zu allem bereit. Ich sehe es ja ein, Ex'llenz. Ich bin zu allem bereit. Wenn ich also nach Italien soll –! Es wird vielleicht wirklich das beste sein. Im ersten Moment ist man sich ja nicht immer gleich ganz klar, und Ex'llenz müssen auch bedenken, wie sehr ich an meiner Tätigkeit hänge! Aber Ex'llenz haben gewiß recht, es wird das beste sein, einstweilen können sich die Wasser der Verleumdung ein bißchen verlaufen, man vergißt ja bei uns ziemlich schnell, das ist noch das Glück, und einstweilen kann ich auch überlegen, wenn es Ex'llenz für notwendig finden, wenn Ex'llenz der Ansicht sind, daß meine Heirat mir hinderlich ist, das heißt, ich meine, daß sie mich hindert, den Ansprüchen, die Ex'llenz an mich stellen, oder den Absichten, die Ex'llenz mit mir haben, in vollem Umfange zu genügen – Gott, es war ein Jugendstreich, aber mit gutem Willen läßt sich alles reparieren, und dann läßt man sich's zur Lehre sein! Denn meinen guten Willen müssen Ex'llenz doch sehen, ich bin zu jedem Opfer bereit, abgesehen davon, daß das jetzt für mich gar kein Opfer mehr ist, seit ich jetzt selbst alles einsehe, ich war doch damals wie im Rausch, aber das ist vorbei, jetzt bin ich wieder wach, jetzt hab ich mich wieder, und mit einiger Beharrlichkeit wird das doch alles glatt zu lösen sein, man darf Weibergeschichten doch auch nicht tragisch nehmen! Vor allem bin ich schließlich Beamter, da haben alle anderen Rücksichten jetzt zu schweigen.« Er setzte sich plötzlich auf und fand seine Haltung wieder, nur die Hände folgten ihm nicht mehr. »Vor allem bin ich Beamter! Das ist immer meine Parole gewesen. Ich glaube, das wissen Ex'llenz. Nach der ganzen Tradition meiner Familie, nach meiner Erziehung und nicht zuletzt nach den starken Eindrücken, die ich hier unter der Führung von Ex'llenz empfangen habe! Da müssen alle anderen Erwägungen jetzt zurücktreten, und ich will ungesäumt über Wunsch von Ex'llenz die nötigen Schritte unternehmen, um die Scheidung einzuleiten. Vor allem anderen bin ich Beamter, das hab ich sozusagen im Blut.«

»Ja,« sagte Döltsch, »darum wird's Ihnen anfangs nicht leicht werden. Aber Lebensversicherung ist auch ein ganz schönes Geschäft.« Und bevor Klemens antworten konnte, fuhr er fort: »Ihre arme Frau wird morgen verhaftet, der Bigamie verdächtig.«

Klemens lallte: »Was soll man denn da tun?«

Döltsch sagte: »Früher hat man sich erschossen, jetzt geht man nach Amerika. Das ist ein großes freies Land, das Platz hat. Danke schön, ich brauche Sie jetzt nicht mehr.«


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