Hermann Bahr
Die Hexe Drut
Hermann Bahr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Kapitel.

Der neue Bezirkshauptmann hielt in der Türe noch einmal, sah forschend auf den alten Amtsdiener zurück und sagte: »Ja, daß ich nicht vergess'! Sagen's einmal! Können Sie ein Radl putzen?«

Der Amtsdiener antwortete gekränkt: »Aber Herr Baron! Die Herren haben doch ein jeder ein Radl. Wär' net übel!«

»Also da kommen's dann zu mir, heute noch, Kreuzgasse vier –«

»Ich weiß«, bestätigte der Diener. »Ich weiß, Herr Baron.«

»Holen's das Radl, richten Sie's ordentlich her und stellen Sie's hier ein. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Baron«, sagte der Diener.

Der Bezirkshauptmann trat auf ihn zu, tippte mit dem Finger auf seinen Kragen und blies ihm den Staub weg. Und er sagte: »Und dann noch etwas! Hören Sie zu! Wie haben Sie gesagt, daß Ihr Name ist?«

Der Amtsdiener meldete: »Pfandl, Herr Baron! Johann Pfandl.«

Der Bezirkshauptmann sagte: »Also, mein lieber Pfandl, merken Sie sich, daß ich hier kein Herr Baron bin, sondern der Herr Bezirkshauptmann. Im Amt gibt's keinen Baron und keinen Grafen, das könnten's schon wissen. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Bezirkshauptmann!« sagte der Diener. »Ich habe nur gemeint, weil –«

»Meinen's nix, verehrter Herr Pfandl«, sagte der Baron. »Das müssen Sie sich bei mir abgewöhnen. Meinen's nix, sondern tun's, was man Ihnen sagt. Dann werden wir ganz gute Freunde sein, lieber Pfandl. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Bezirkshauptmann«, sagte Pfandl.

»Und jetzt geben's mir noch ein Feuer,« fuhr Baron Furnian fort, »und dann sagen's den Herrn, daß ich morgen in der Früh um sieben komm'.«

»Um sieben?« fragte Pfandl bestürzt.

Der Baron zündete seine Zigarette an und, Ringel blasend, wiederholte er: »Um sieben, Morgenstund' hat Gold im Mund, lass' ich den Herrn sagen. Servus!«

Die Frau Pfandl fragte ihren Mann aufgeregt: »No, wie is er?«

Der Herr Pfandl sagte, gefaßt: »Wie's halt im Anfang alle sind. Da glaubt ja ein jeder, jetzt muß alles anders werden. Abwarten. Wird's auch noch billiger geben. Mir is gar net bang.«

Die Frau Pfandl sah durchs Fenster. Als der Baron auf die Straße trat, schlug sie die Hände zusammen. »Jessas! So ein schöner Mensch! Nein, so ein schöner Mensch!«

»Kurze Hosen und Wadelstrümpf', ein grünes Hütl und eine scheckige Westen,« sagte Herr Pfandl, »da seid's halt gleich verloren. Weiberleut, Weiberleut! Schad't aber gar nix, wenn für die Fremden einmal ein biss'l was g'schieht. Der kann eine Attraktion für den ganzen Ort werden. Der hat's dazu. Der wird's aufmischen. Und wir können's brauchen.«

»So ein schöner Mensch«, wiederholte Frau Pfandl, dem neuen Bezirkshauptmann nachsehend, der langsam die Straße hinaufschritt, dann aber, wo der Weg sich verengend zur Brücke biegt, an der Ecke hielt und, die Beine gespreizt, die Hände in die Hüften gestemmt, rauchend stand. »So ein schöner Mensch! Um den wird's gut zugeh'n, Jessas! Und wär doch wirklich schad', wenn's ihn einfangen möchten.«

Der Herr Pfandl lachte. »Da wär' manche, die möcht'. Armer Kerl! Schaut mir aber nicht aus, als ob er aus der Hand fressen tät. Um sieben in der Früh, ujäh! No, unseren zwei Hascherln gönn ich's. Und in acht Tagen is ja doch alles wieder, wie's war. Das kennt man schon.«

Die Frau Pfandl, immer noch zum Fenster hinaushängend, sagte: »Der kann doch noch keine dreißig sein! Ein G'sichtl wie ein Student.«

»Zweiunddreißig«, sagte Herr Pfandl.

»Net möglich«, rief Frau Pfandl.

»Zweiunddreißig«, wiederholte Herr Pfandl. »Ich weiß's von den Hascherln. Die sind schön bös. Der Graf Sulz schimpft den ganzen Tag: Ein ganz gewöhnlicher kleiner Baron, bloß weil er die rechte Hand vom Minister ist, Hanba! Und dann haben's gesagt, man sieht eben, daß wir schon mitten in der Revolution sind. Und an allem ist der verflixte Döltsch schuld. Aber der Kleine hat gelacht und hat gesagt, daß es nichts macht, weil in Österreich noch nie ein Baum in den Himmel g'wachsen ist, das gibt's nicht! Jetzt mußt aber auch nur wissen: Zwanzig Vordermänner hat er übersprungen, dank schön. No, wird sich halt erst zeigen, ob er so weiter springt. Warten wir's ab. Da verstaucht sich einer leicht.«

»Ein so ein schöner Mensch«, jammerte die Frau Pfandl, das Fenster schließend, da der Baron jetzt um die Ecke ging, zur einsamen Promenade hin.

Es war Mai. Der Ort lag noch ganz still. Die Villen zu, die Wege leer, der Wald stumm. Nur die alte Exzellenz Klauer ging spazieren, ganz allein. Aber der Postverwalter Wiesinger, der hiesige Schöngeist, sagte fein: Der Klauer ist jene Schwalbe, die noch keinen Sommer macht. Manchmal drangen ein paar Touristen ein, stiegen in der Post ab, langweilten sich und entflohen. So blieb's, bis es heiß wurde, die Schulen geschlossen waren, die Städte verödeten. Wenn dann im August der Kaiser kam, wurde hier drei Wochen Residenz gespielt. Und im September war alles wieder aus. Dann tauchten behutsam die Hiesigen wieder aus ihren Verstecken auf, in welche sie sich vor dem Lärm und Taumel und Schwulst der Fremden ängstlich, mißtrauisch und neidisch verkrochen hatten. Und wenn es dann einer wagte, wieder getrost über die Gasse zu gehen, öffneten sich nun wieder alle Fenster: man hatte seinen Schritt gehört und sah nach, wer es wäre.

Der neue Bezirkshauptmann ging über den Platz, zur Promenade hin, den Fluß entlang. Wie verwunschen lag der Ort. Der Fluß rauschte, die Wiesen rochen, der Wind war hell und herb. Und Furnian ging, und es war ihm seltsam, so zu gehen, gemächlich vor sich hin. Und er sagte sich: Aber wenn du willst, kannst auch umkehren, oder setz' dich dort auf die Bank, wenn du willst, um ein bissel auszuruhen, oder du gehst jetzt gleich den ganzen Ort ab, du bist ja jetzt sein Herr, es gehört ja rundherum alles dir, moralisch wenigstens, und du kannst jedenfalls endlich einmal machen, was du willst, es hat dir hier kein Mensch was zu sagen, Herr Bezirkshauptmann! Und er ging und freute sich, wie beflissen man, als er vorbeikam, aus den Ländern schoß, der Apotheker Jautz und der Herr Riederer, Kaufmann und Bürgermeister, und der reiche Fleischer Fladinger, mit eiligen Buckerln alle: Die Ehre, Herr Bezirkshauptmann, habe die Ehre! Und er ging und freute sich, wenn über ihm ein neugieriges junges Gesicht ans Fenster fuhr, mit den Augen nach ihm schnappend, um gleich wieder, erschrocken, daß er es sah, lachend zu verschwinden. Der Fluß rauschte, die Wege glänzten, tanzend war der Wind, und die jungen Wiesen rochen so gut und die geschäftigen Menschen grüßten so tief und das Lachen hinter den Fenstern klang so froh. Er ging und freute sich.

Da hörten schon die Häuser auf. Solche Wiesen, in ihrer ersten jungen Kraft, sah er noch nie! Mit frechen gelben Ranunkeln, feierlichen Glockenblumen und den dichten, nickenden, schwirrenden, surrenden, hohen Gräsern. Und ein leises Klingen ging mit ihm, vom Walde kam ein Rauschen her, und Flur und Feld und dieses ganze Land, in der Sonne glänzend, schien ihn zu grüßen. Er blieb stehen und sah auf den lieben kleinen Markt zurück. Er hatte das Gefühl, es wird ganz hübsch sein. Und in ein paar Wochen kommen ja die Fremden. Geputzte Wienerinnen, lustige Gouvernanten, Amerikanerinnen mit wehenden Schleiern. Wer weiß? Und dann kommt der Hof. Wer weiß? Er muß lachen. Der Döltsch hatte ihm noch beim Abschied gesagt: »Die Hauptsache ist aber, gehen Sie nie ohne Regenschirm aus! Es regnet dort immer unversehens, und wenn Sie ein biss'l Glück haben, steht plötzlich der Fürst von Bulgarien vor Ihnen, hilflos naß, und Sie bieten ihm den Schirm an und es wird bekannt, daß Sie ein umsichtiger Beamter sind. Mit den Orden geht's aber wie mit den Millionen: nur der erste ist schwer. Also schauen Sie, daß Sie einen Regenschirm und Glück haben. Dann kann's Ihnen nicht fehlen.« Ja, er versteht, was der Minister meint. Und er wird es sich wahrlich nicht fehlen lassen. Das hat er ja gelernt. Schöne Frauen und der Hof, es kommt jetzt nur auf ihn an: ob er es versteht, Glück zu haben. Aber das Glück ist ein Weib, man muß es nur nehmen. Das will freilich auch gelernt sein. Er wird sich eben jetzt ein bißchen üben, im Nehmen. Schon, um sich die Zeit zu vertreiben. Denn, sagt er sich übermütig, wir sind ja unter uns, Herr Bezirkshauptmann, gestehen Sie, daß Sie von Geschäften keinen Dunst haben, was auch gar nicht Ihre Absicht ist, sondern Sie wollen Karriere machen, und dazu, hat Ihnen der Minister ausdrücklich gesagt, wird es noch am besten sein, wenn Sie sich bemühen, die Selbstverwaltung möglichst wenig zu stören! Nun, das kann man ja. Freilich, im Winter wird's etwas trist werden. Die zwei jungen Herren, die ihm zugeteilt sind, der böhmische Graf Sulz und der freche Derzer, kleiner Bierbaron mit großem Rennstall – nein, danke; den hochmütigen Schlag kennt er: das macht Dienst als Amateur, wie's nach Monte Carlo oder auf die Löwenjagd fährt, um dabei gewesen zu sein, der Dienst gehört ja zu den noblen Passionen. Nein, danke. Und der Herr Bürgermeister und der Herr Apotheker und der Herr Notar und der Herr Postverwalter und der Herr Salinendirektor und gar ihre Damen, mit solchen Hüten, wie sie vielleicht in zwanzig Jahren wieder einmal modern sein werden, weil die Mode doch ein Rad ist – na, sehr aufregend kann er sich das auch nicht denken. Aber schließlich, er wird rodeln, er wird Ski laufen, und wenn dann die stillen langen Abende sind, nimmt er ein Buch und legt sich hin und liest, draußen schneit's und im Ofen knackt's. Das hat er doch noch nie gehabt. Und wenn's ihn freut, liest er die ganze Nacht, und wenn's ihn nicht mehr freut, hört er auf, und er tut überhaupt nur, was ihn freut. Er kann ja jetzt tun, was er will. Zum erstenmal. Er ist ja jetzt frei. Er ist sein eigener Herr. Zum erstenmal. Er kann's eigentlich noch gar nicht glauben. So seltsam ist es ihm. Fast ein bißchen unheimlich sogar. Er sagt es sich immer wieder vor. Sein eigener Herr und frei; und kann sich sein Leben einrichten, wie er will. Zum erstenmal. Auf der ganzen Fahrt, nach diesen öden Tagen beim Vater, hat er es sich vorgesagt. Und jetzt ist es wirklich wahr. Und er bleibt wieder stehen, sieht sich um, ob es niemand hört, und dann spricht er es aus, mit lauter Stimme: Frei bist und bist jetzt dein eigener Herr, und jetzt fängt das Leben an! Und er weiß, daß ihn niemand sieht, zwischen den nickenden Wiesen am rauschenden Wald, und so nimmt er sein grünes Hütl ab, wirft's, fängt's auf, schwingt's und juchzt und hört's aus dem schallenden Berge wieder. Und erschrickt und sieht das Hütl in seiner Hand und schämt sich eigentlich. Und muß lachen: Aber Herr Bezirkshauptmann! Er kennt sich gar nicht mehr. Wenn ihn jetzt der Döltsch gesehen hätte! So war er nie. Er war ja noch nie wirklich froh. Ausgelassen, spöttisch, frech, ja. Doch nie so bei sich im Herzen froh. Nie mit diesem Wunsch wie jetzt: So sollt's bleiben, wenn's möglich ist! Nein. Das hat er sich sonst noch nie gewünscht. Bisher hat er sich immer nur gewünscht: Wenn bloß das erst vorüber wär! Bisher hat er nur immer gehofft: Später, vielleicht später einmal! Bisher war ja sein einziger Trost: Der Tag geht auch vorbei! Und dann schlafen und ein paar Stunden vergessen, aber bis in den Schlaf hinein noch von Angst verfolgt, Angst vor dem Erwachen, wo's wieder anfängt. Schon als Kind, noch daheim, wenn nebenan die Mutter in Krämpfen schrie, während er vom anderen Zimmer unablässig den ruhelosen Schritt des Vaters vernahm: Wenn ich nur erst draußen wäre! Und dann endlich draußen, in Kalksburg, bei heuchlerischen Lehrern und hoffärtigen Schülern, diese ganzen bangen acht Jahre, wieder: Wenn nur erst die Matura vorüber ist! Und dann wieder, als verschämt armer Student, häßlichen Hofratstöchtern hofierend: Später, später! Und noch im Präsidialbureau des Ministers, in Neid und Eifersucht von Kriechern und Strebern – warum? War er denn mehr als ein Kammerdiener ohne Livree? Ach, irgendwo draußen sein, draußen und sein eigener Herr und frei! Und eigentlich hatte er's ja gar nicht mehr geglaubt. Es war ihm schon der Mut entsunken. Jetzt aber steht er wirklich da, hat sein grünes Hütl in der Hand und schreit den Berg an, und der Berg muß antworten und die hohe Wiese wogt und der tiefe Wald rauscht, und alles ist vorbei, und er ist mit zweiunddreißig Jahren Bezirkshauptmann und mit vierzig wird er Hofrat und mit fünfzig Exzellenz sein, er, der arme kleine Klemens Baron Furnian, mit dem Unglück seines Vaters! Bloß, dies alles schließlich bloß, weil er einmal den Hofrat Wax getroffen und der Hofrat Wax sich erinnert hat, daß ja die Tochter des Generals Huyn, bevor sie seinen Vater, den späteren Obersten Furnian, heiratete, eine Freundin der Baronin Döltsch, der Mutter des Ministers, und es also jetzt nur noch die Frage war, ob es dem Minister gerade passen würde, daß sich auch seine Mutter daran erinnerte. Und es hatte dem Minister gepaßt, und so hatte die Baronin sich erinnert, und in die stille Hand dieser gütigen alten Frau war seitdem sein junges Leben gelegt. Und seitdem weiß er, daß ihm jetzt nichts mehr geschehen kann: Döltsch hält seine Leute. Schon aus Hochmut, aus Trotz, weil er nie zugeben würde, daß er sich auch einmal irren kann. Und er hat mit jedem seinen Plan, und wenn auch einer einmal eine Zeit in der Ecke steht, die Reihe kommt schon wieder an ihn, nur nicht ungeduldig werden, es ist wie in einem Schachspiel, an jeden kommt der Zug. Nur nicht ungeduldig werden, schön die Selbstverwaltung möglichst wenig stören und auf den Wiesen, in den Wäldern einstweilen spazieren, das Spiel des Ministers steht nicht still. Und Klemens muß lachen, sein letztes Gespräch mit dem Döltsch fällt ihm ein. Da hat ihm der dieses Schach erklärt. Und dann noch, beim Abschied, mit seiner Aufrichtigkeit, die die gereizten Journalisten so zynisch finden: »Also vergessen's nicht, Sie sind ein Rößl. Aber sein's deswegen kein Roß! Das ist nämlich nicht dasselbe, und dann geht's auf einmal nicht zusammen, geben's acht!«

Klemens war nun am Walde. Er wendete sich, um noch einmal zurück über das glänzende Tal zu sehen. Die lieben stillen Häuser! Und alle fromm an die kleine weiße Kirche gerückt! So was Liebes hatte das, so was brav und altväterisch und töricht Liebes! Wie ein gutes Haustier, das weiß, daß es dem Menschen gehört, lag die ganze Gegend da. Als ob diese Wiesen nur blühten, mit dem einzigen Gedanken, den weidenden Kühen zu schmecken, und diese Kühe nur weideten, mit dem einzigen Wunsch, treu sich mühende Menschen zu nähren, und diese Menschen sich nur nährten, um wieder anderen zu dienen, so daß schließlich alles, Feld und Flur, Gras und Kuh, Haus und Volk, alles einem einzigen geheimnisvoll verwobenen Plan gehorsam wäre, in welchem zuletzt irgendwo, die Fäden ziehend, der Minister Döltsch sitzt und irgendwie seine Rößln springen läßt. Warum? Wozu? Offenbar ist's eben der Welt auferlegt, daß die eine Hälfte dient, sie weiß nicht warum, und die andere Hälfte herrscht, sie weiß nicht wozu; und am besten wird wohl auch sein, sie fragen nicht erst. Wie diese liebe, stille Gegend nicht erst fragt, sondern sich freut, untertänig zu sein. Er war ganz gerührt, Das kam manchmal so stark über ihn. Oft, wenn er in Wien durch eine der einsamen alten Gassen ging, mit solchen engen grauen Häusern; und aus dem Tor weht's dumpf, kahl ist die Wand und durch geschwärzte Gitter hängen rote Fuchsien herab. Oder auch, wenn er geschwind im Michaeler Bierhaus sein Nachtmahl nahm und so ein Gottscheer mit seinem gehorsamen guten mühevollen Gesicht an den Tisch trat. Dann hatte er dies oft zum Weinen stark, eine solche dumme, zärtliche, wehmütige Rührung über Österreich. Der Döltsch lachte ihn aus, als er es ihm einmal gestand. »Habn's schon einmal einen Kapellmeister über die Musik gerührt gesehen, die er dirigiert? Aber das ist echt, da sind wir alle gleich. Und dann wundert man sich, wenn alles aus dem Takt kommt.«

Klemens nahm den Weg durch den Wald, um über den Berg ins andere Tal zu gehen und durch dieses, am kaiserlichen Park vorbei, heimzukehren. Er stieg langsam, immer wieder ruhend, lauschend. Seltsam war ihm die schreiende Stille des Waldes. Denn wirklich wie ein Schreien war's oft. Aber wenn er dann stehenblieb und horchte, schwieg der Wald. Kaum schritt er wieder und die Zweige neigten sich und der Abendwind ging, da schien's ein Rufen wie von tausend durch die Fichten fliegenden Stimmen. Eine Tiefe war, wie von einem, der zornig ist und flucht und die alte Hand hebt, um zu schlagen. Das schienen die anderen zu fürchten und duckten sich, da war es wieder still; auch der Wind schwieg, erschreckt. Aber ganz leise, ganz fein fing jetzt eine boshafte hämisch zu kichern an, und nun war es ein Rascheln und Huschen und Rauschen überall, das stieg und schwoll, lachend und höhnend und murrend, bis zuletzt der ganze Wald laut zu zanken begann. Und die Sonne sank, es dunkelte schon im Dickicht, sein Fuß glitt auf den nassen Wurzeln; und überall schien im schleichenden Dunkel lauerndes Leben versteckt, drohend oder spottend, und wenn ein hängender Ast sich im Winde bog, saß ein altes Gesicht mit bösen Augen darin, und ihm war, als streckten überall Haß und Hohn ihre greifenden Hände nach ihm aus. Er lachte sich aus. Wie kann man nur so kindisch sein! Der Wind war's, in die schweren Fichten fahrend, und Wurzeln, naß aus dem Dunkel glänzend, und das Knistern in der Streu! Doch half es ihm nichts, sich dies vorzusagen. Immer waren diese zornigen und höhnischen Reden des Waldes wieder da. Er fing zu laufen an, Angst trieb ihn. Immer schneller trieb es ihn, immer schneller lief er, keuchend, gleich einem Dieb, der flieht, atemlos und heiß. Und hielt erst, als er in die Lichtung kam und nun oben, aus dem Holze tretend, unter sich das friedlichste Tal mit weiß aus tiefen Gärten winkenden Häusern sah. Er schämte sich. Es war doch auch zu dumm! Er hatte wieder einmal ganz den Kopf verloren! Und nachdenklich schritt er langsam hinab, auf die Bank zu, an der der Waldsteig in einen breiten Feldweg fällt. Hier saß er dann, in das liebe Tal blickend, das drüben der ernste kaiserliche Park mit seinem großen Schatten schloß. Er saß und wagte nicht zurückzusehen, nach dem Wald. Er hatte noch immer diese Furcht in allen Sinnen. Und er war doch wirklich nicht feig! Er wußte, daß er nicht feig war! Er hatte Beweise. Damals schon, vor Jahren, noch in Kalksburg, als es nachts brannte; er aber allein im Wirrwarr verschlafen flüchtender Kinder tapfer und rettend. Und wieder, noch voriges Jahr, im Automobil mit dem Minister, beim Stoß in den sausenden Fiaker. Döltsch sagte noch: Wenigstens haben Sie Courage, das ist schon etwas! Das erste Lob, das er von ihm gehört. Nein, er war nicht feig. Er fürchtete keine Gefahr. Es war ihm eher eine Lust, sich mit ihr zu messen. Es mußte nur eine sein, die wirklich da war, die sich einem stellte, die man vor sich hatte, Aug in Aug, so daß man sie bei den Hörnern nehmen konnte. Wenn aber, wie jetzt dort im Wald, nichts Wirkliches, sondern Einbildungen ihm auflauerten, Wahn und Spuk, den sein eigenes Hirn spann, dann entwich ihm der Mut. Vor Räubern hätte er sich sicher nicht gefürchtet, aber er fürchtete sich vor dem wehenden Wind. Er fürchtete keine Gefahr, er fürchtete nur seine Furcht. Und die war schon immer da. Die trug er bei sich mit. Die war sein Schatten. Da half nichts. Wie oft, im Vorzimmer des Ministers, wenn er wartete, die langen Abende! Was gab es dort, in der stillen Herrengasse, sich zu fürchten? Und doch! Er durfte gar nicht daran denken. Nein, er wußte, daß er nicht feig war. Er wünschte sich Gefahren, er fühlte sich da ganz sicher. Aber er durfte nur nicht in Gedanken mit Unbekanntem allein sein. Dies war es: das Unbekannte. Das lag schwer und drohend auf seinem Leben, immer schon. Er erinnerte sich, wie furchtbar es schon dem Knaben war, in einen fremden Kaufladen einzutreten; lieber ging er stundenweit, um einen zu finden, wo er bekannt war. Und er mußte sich heute noch sehr überwinden, um einmal anderswo zu speisen. Es war ihm schrecklich, erst einen Tisch zu suchen und in das neue Gesicht eines ungewohnten Kellners zu sehen. Er brauchte das: bekannt zu sein. Weshalb es ihm ja auch so wohl getan hatte, unten, auf der Promenade, daß es gleich überall hieß: Die Ehre, Herr Bezirkshauptmann, habe die Ehre! So war er auch gewiß, sich morgen im Walde sicher nicht mehr zu fürchten. Und er mußte plötzlich lachen, denn jetzt fiel ihm ein, daß er eigentlich ja noch nie durch einen Wald gegangen war; heute war's zum erstenmal. Daher! Es traf ihn seltsam. Er dachte weit zurück. Nein, wirklich noch nie, noch nie war er durch einen Wald gegangen. Denn von Rodaun zur Mühle, aber das war ein Park, und sie gingen auch immer im Rudel. Aber allein durch einen Wald, einen wirklichen Wald, so einen Wald, der manchmal plötzlich aufschreit, plötzlich wieder sprachlos starrt, war er noch im Leben nie gegangen. Er wendete den Kopf ein wenig, langsam, als ob die Furcht noch immer ihre Hand auf ihm hätte, und sah zurück, den Wiesenhang hinauf, zum Walde. Aber war denn das sein Wald? Seltsam stand er. Eine starre schwarze Wand. Wie das Ende. Als hätte dort alles Leben und der Mensch kein Recht mehr. Tief in Geheimnis stand der Wald jetzt abgesperrt. Unter ihm aber die schrillen Ranunkeln, im nassen Gras, bei blauen Rapunzeln und purpurnen Lamien.

Aber schließlich, dachte Klemens, sich auf der Bank ausstreckend und den Abend einatmend, schließlich bin ich jetzt mein eigener Herr, und wenn's mir nicht paßt, muß ich gar nicht in den Wald, und überhaupt geschieht jetzt nur noch, was mir paßt! Er war vergnügt und nahm sich auch noch vor, vergnügt zu sein. Bezirkshauptmann mit zweiunddreißig Jahren! Er sah den Kollegen den Neid an den Nasen des böhmischen Grafen und des kleinen Bierbarons an! Ja, Glück muß man haben! Er lachte wehmütig. Sein Glück! Wenn sie gewußt hätten! Wenn er sich erinnerte! Das Andenken seines Großonkels, ja, das war noch das einzige. Das klang und galt. Aber dieser allmächtige Hofrat war lange tot, und sein armer Vater hatte wahrlich für ihren Namen nichts getan. Es war freilich nicht seine Schuld, er konnte ja nichts dafür. Aber schließlich hatte Döltsch recht: »Pech haben ist die ärgste Talentlosigkeit, die einzige, die man bei uns nicht verzeiht!« Der Vater tat ihm ja leid. Er zwang sich, gerecht gegen den Vater zu sein. Er sagte sich immer wieder: Der Vater kann ja nichts dafür. Aber es antwortete in ihm: Und du, was kannst denn du dafür, welche Schuld hast denn du, die dein ganzes Leben abbüßen muß? Ihm graute, wenn er an seine Kindheit dachte. Immer und überall diese tragische Lächerlichkeit, die seitdem ihrem Namen eingebrannt war! Immer und überall dieses boshaft mitleidige Lächeln, wenn er sich vorstellte! »Wohl ein Sohn des Obersten Furnian?« Und ein neugieriger Blick, und ein verlegenes Schweigen, als hätte man schon zuviel gesagt, etwas Unpassendes, einen unanständigen Witz, und wieder dieses grausam mitleidige Lächeln; und dann war man so gütig, von etwas anderem zu sprechen, und ließ es ihn fühlen, wie gütig das war! Und in der Schule, als sie zum bosnischen Krieg kamen, diese hämische Nachsicht des Lehrers, den Marsch der Brigade Schluderer auf Stolac ganz wegzulassen, während alle Buben mit ausgestreckten Augen auf ihn stießen. Und noch bei seiner Promotion sub auspiciis, als sein Name verlesen wurde und durch den Saal wieder das höhnisch heitere Lächeln glitt. Immer und überall! Und er hatte manchmal eine solche brennende Lust, einmal loszuspringen und aufzuschreien: »Ja, der Sohn des Obersten Furnian! Desselben Obersten Furnian, der vor Stolac, ein alter Mann, des Kriegs nicht mehr gewohnt, durch Entbehrungen geschwächt, jenen Anfall von Cholera bekam! Desselben, von dem Sie die tausend Karikaturen kennen, ja, des berühmten Obersten mit dem Bauchweh! Und? Und? Wem paßt das nicht? Wem ist da was nicht recht? Der mag es nur sagen!« Tausendmal nahm er sich das und immer wieder, immer wieder vor. Ja, wenn sie nicht daheim dem Kind schon alle Kraft zerbrochen hätten! Wenn er nicht schon mit diesem schlechten Gewissen erzogen worden wäre, zur ewigen Demut und Ergebenheit! Wenn nicht das Kind schon jeden Tag wieder und wieder gehört hätte, welches Unglück auf dem Hause lag, das es gutzumachen da sei! Er war nur froh, daß niemand wußte, was er litt. Er hatte bald sich verstellen gelernt. Überall hieß er, schon in der Schule, jetzt bei den Kollegen der »freche Kle«. Das war noch sein Trost. Und es merkte niemand, daß er doch nur aus Angst so frech war, wie mancher singt oder pfeift und Lärm schlägt, um seine Furcht nicht zu hören. Einer hatte das gemerkt. Als er zum erstenmal vor dem Minister stand und zum erstenmal in diese großen grauen Augen sah und zum erstenmal in der Gewalt dieser klaren kalten Stimme war, sagte Döltsch: »Es ist ganz gut, daß Sie so frech sind. Sie haben's nötig.« Dann war ein langes Schweigen, der Minister schien ihn zu vergessen, in Akten lesend. Eine unendliche Minute lang. Bis er, mit dem harten Lächeln in seinem kahlen Gesicht eines Schauspielers oder Pfaffen aufblickend, sagte: »Aber der Pizarro hat sich auch eine merkwürdige Gesellschaft mitgenommen.« Da wußte der junge Mensch, daß er diesem nichts verbergen konnte. Der sah durch ihn bis auf den Grund und erkannte sein Herz. Und dem jungen Menschen wurde zum erstenmal leicht, und er wagte zum erstenmal zu hoffen. Und er wußte, daß er fortan diesem stillen Mann mit den versteinten Augen zugehörte, für alle Zeit. Denn er wußte, daß er jetzt gerettet war, auch vor sich selbst. Und er dachte seitdem oft, daß es wohl dies gerade war, was den Minister reizte, es mit ihm zu wagen. Zunächst vielleicht bloß die Lust, wieder einmal ein Vorurteil herauszufordern und wieder einmal zu zeigen, daß er der Stärkere war. Dann aber dies Gefühl, daß hier ein Mensch durch ihn erst zu leben begann. Denn so war es wirklich: er fühlte sich von Döltsch erst wie durch einen Zauber auferweckt. Es ging ja den anderen ebenso, der ganzen »Schutztruppe«, den »kaiserlich königlichen Prätorianern« des Ministers, wie sie der alte Klauer in seinem verkniffenen Grimm hieß. Und sie hatten ja wirklich was von übermütigen Soldaten in einer eroberten Stadt. Draußen nämlich, vor den Leuten. Bis zum Vorzimmer des Ministers. Aber vor seinen undurchsichtigen Augen wurden alle klein. Augen waren es, die nichts durchließen; sie sahen heraus, man sah nicht hinein. Er deckte sich mit diesen Augen zu. Diese Augen waren wie Scharten, aus welchen er schoß; nichts drang ein. Alle fürchteten diese Augen, die, still, unbewegt, ohne Furcht, ohne Zorn, ohne Lust, wesenlos, gegen die Menschen standen. Und vor diesen Augen mußte man warten. Er hatte die Gewohnheit, einen anzusehen und nichts zu sagen. Endlich begann er, und in seiner kalten Stimme schwammen die schnellenden Worte wie Forellen. Und alle standen da wie vor ihrem Richter. Obwohl er gar nicht feierlich war, nichts auf Formen gab und Spaß verstand. Nur wenn einer einmal, aus Verlegenheit und Verwirrung mehr als mit Fleiß, ihm zu nahe kam, sah er auf und schwieg. Dieses Schweigen fürchteten sie. Der andere wartete, er schwieg. Beklommen begann endlich der andere wieder, er schwieg. Er schwieg und sah ihn an. Dieses Schweigen, kaum eine Minute lang, aber dem anderen, der wartend vor seinen grauen Augen saß, eine Ewigkeit, dieses gleichsam durch den Saal hallende Schweigen, von solchen Verachtungen voll, dieses Schweigen, in welchem die Zeit stillzustehen und einzufrieren schien, war unerträglich. Und dann fragte Döltsch plötzlich: Haben Sie noch etwas? Oder er schien auch plötzlich ganz verwundert, einen noch vorzufinden, und sagte sehr höflich: Danke schön! Und man war entlassen. Man war, wie sie's nannten, »weggestellt« oder »abgelegt«. Sie hatten nämlich alle das Gefühl, daß die Menschen ihm bloß Steine waren, die er aus dem Baukasten nahm, um eine Zeit mit ihnen zu spielen, bis er sie ungeduldig wieder zusammenwarf. Und das Schlimme war: man wußte nie, was er von einem hielt. Es kam vor, daß er mitten im Gespräch aufstand, um einen Akt zu holen, die Schnur zu lösen und zu sagen: »Da schauen Sie sich einmal an, was Sie in den letzten drei Jahren geleistet haben! Nicht ein einziges brauchbares Stück ist dabei. Nehmen Sie's mit!« Und band es wieder zusammen und warf es einem hin. Was übrigens nicht ausschloß, daß man sich am nächsten Tag auf einen beneideten Posten berufen fand. Nur war das noch gar kein Beweis seiner Achtung. Einen ließ er neulich rufen, um ihm seine Ernennung anzukündigen. »Den Lederer, der wirklich ein ungewöhnlich fleißiger und fähiger Beamter ist, sekkieren sie mir nämlich dort zu viel. Jetzt sollen die Herrschaften einmal sehen, was sie mit einem so unfähigen und unbegabten Beamten anfangen werden, wie Sie sind.« Er hatte ja die Theorie, daß es unbrauchbare Menschen überhaupt nicht gebe; man muß nur wissen, wohin einer gehört. Und es reizte ihn, manchmal verblüffende Beweise dafür zu finden. Doch war ihm auch darin wieder nicht ganz zu trauen, weil er noch eine andere Theorie hatte, nämlich, daß es eine Dummheit sei, wenn man immer nach seiner Theorie handeln will. Weil sie nun also nie sicher waren, an welche er sich gerade hielt, und während er sie heute mit den höchsten Anforderungen maß, es ihm morgen einfallen konnte, den ganzen Staat mit Dummköpfen zu besetzen, was schließlich nur seiner Meinung, daß man sich in Österreich immer fragen muß, was das Vernünftigste wäre, dann aber das Gegenteil tun, und seiner Lust, jedes Experiment zu machen, entsprochen hätte, so kam jeder jeden Tag mit neuer Furcht und neuer Hoffnung ins Amt. Der grollende Klauer sagte ja von ihm überhaupt: Das ist keine Regierung mehr, das ist eine Lotterie! Und wirklich schlug jedem täglich das Herz, ob er nicht über Nacht das große Los gezogen hätte. Sie waren in der ewigen Aufregung von Spielern, immer zwischen Himmel und Hölle hängend. Gar nun Klemens, dem es immer schon eigen war, aus höchsten Hoffnungen in tiefste Verzweiflungen zu stürzen. Was vielleicht auch von seiner Kindheit kam. Denn während es des Vaters Art war, alle Schuld und alles Mißgeschick, woran sie litten, auf den Sohn zu legen, daß er es wie ein Kreuz tragen und durch Ergebung, Demut und Gehorsam abbüßen sollte, lud die Mutter, voll Leidenschaft, unversöhnlich mit dem Schicksal, nach Vergeltung lechzend, ihm allen Zorn und allen Haß auf, mit welchen sie vom Leben und von den Menschen angefüllt war. So vom Vater zum Opfer, von der Mutter zum Rächer bestimmt, schlug er aus Anfällen einer grenzenlosen Verwegenheit, in welchen er sich kindisch vermaß, nach jedem Abenteuer, selbst nach dem Verbrechen zu greifen, in Krämpfe jener wütenden Angst um, in welchen er völlig jede Beherrschung verlor. Wirklich war ihm oft, als würden in ihm der zornige Geist seiner rächenden Mutter und der mutlose des geschlagenen Vaters um ihn ringen. Bald war er von ihr, bald von ihm besessen, sie wechselten in ihm. Es ging gleichsam plötzlich die Türe auf, er kam herein, sie verließ ihn, fast mit der einfleischenden Kraft einer Halluzination: wie wenn wirklich, wirklich, während er eben noch vergnügt in guten Gedanken saß, hinter seinen Stuhl plötzlich leibhaftig der Vater träte, mit seinem großen herabhängenden Gesicht und dem schwimmenden Blick der wässerigen Augen, ganz wie er so oft an den Tisch des Knaben getreten war, seine Aufgaben nachzusehen. Besonders abends geschah ihm das zuweilen, in jenen langen Stunden, wenn ihn der Minister warten ließ und dann die Zeit vergaß. Um sieben hatte der Minister gesagt: Ich werde Sie heute wohl kaum mehr brauchen, übrigens warten Sie halt noch einen Moment, ich gehe ja auch sofort. Und seitdem wartete Klemens. Er wußte ja schon, was es hieß, wenn der Minister sagte: Sofort. Auf zwei Stunden wenigstens konnte man rechnen. Und da saß er nun und wartete. Er hatte nichts zu tun. Er hätte ja lesen, für sich arbeiten, Briefe schreiben können. Er nahm sich das auch immer vor, es ging aber nicht. Er las eine Seite, auf der zweiten wußte er schon den Sinn nicht mehr. Vier- und fünfmal fing er einen Brief an und warf ihn wieder weg. Es ließ ihn nicht sitzen, er ging auf und ab, aber das Zimmer war schmal, die Wände drückten ihn, er wurde müd. Er trat ans Fenster und sah den Leuten zu, die vom Konzert aus dem Bösendorfer kamen. Eine Karosse fuhr, mit einer alten Fürstin oder Gräfin, der bärtige Portier schwenkte den großen Stock und zog tief den Hut, wie's vor hundert Jahren Sitte war, den Stock zu schwenken und den Hut zu ziehen. Die schweren Rosse schnaubten, demütig harrten die Leute, die alte dicke Dame im Wagen, fröstelnd, eingehüllt, mit einem zuckenden leeren Lächeln um den wulstigen rotgeschminkten Mund, nickte vor sich hin. Wie vor hundert Jahren. Und erst wenn der feierliche Wagen aus dem Hof langsam durch das Tor gerollt und langsam in die Gasse gelangt war, gab der bärtige Portier ein Zeichen mit dem großen Stock, und die Polizisten öffneten, und die staunenden Passanten durften sich wieder bewegen. Und immer mußte Klemens denken: Wie vor hundert Jahren. Er fand einen solchen Zauber darin, er hätte gleich weinen mögen, so rührend war es ihm. Er hatte überhaupt eine Leidenschaft für die Herrengasse. Döltsch sagte gern: der Österreicher kommt auf die Welt, um in Pension zu gehn. Dies fiel ihm in solchen Gassen immer ein, in der Herrengasse, auf dem Graben, auf der Freiung; man sah es ihnen an und wer hier ging, nahm unwillkürlich den Schritt bedächtiger, und unwillkürlich wurden die Hände auf den Rücken gelegt. Wunderliche Stadt der tiefen Ruhe mit ihren ruhelosen Menschen! Da schrak er zusammen, er glaubte den Spott des Ministers zu hören, der ihm immer sagte: Furnian, rotten Sie den Feuilletonisten aus, der in Ihnen steckt, oder gehn's zum Klauer, ich habe keine Verwendung! Aber jetzt waren die zwei Stunden doch längst vorbei. Klemens kannte das. Der Minister vergaß; er wollte fort, sah nur noch ins Abendblatt, fand einen Namen, der ihm fremd war, schlug nach, geriet ins Lesen, kam immer weiter, von Ländern zu Völkern, von Menschen zu Dingen, ins Suchen verstrickt, und so konnte man ihn, der auf seinem Tisch pedantisch keine Unordnung litt, nach Stunden zwischen Landkarten, Hilfsbüchern und alten Schriften auf der Erde finden, ganz verwundert, wenn die Türe ging. Und ganz verwundert fragte er dann: Haben Sie's so eilig? Und Klemens redete sich aus: Ich habe gedacht, Exzellenz hätten geklingelt. Und er wußte schon, daß es dann hieß: Sie denken zuviel, lieber Furnian, das ist gar nicht Ihr Beruf! Und ein Nicken und das harte Lächeln an den dünnen Lippen und dann das eiskalte Schweigen. Und Klemens schlich fort. Und wartete wieder im schmalen Zimmer. Und wieder auf und ab. Und wieder zum Fenster; in der Herrengasse ging kein Mensch mehr. Und dann saß er halb im Schlaf, die Augen schmerzten ihn. Und trat wieder zum Fenster und rieb sich an den Scheiben. Und unten war eine Gestalt im Mantel, huschend. Junge Menschen gab's, die liefen durch die Nacht nach Abenteuern. Und er sehnte sich, und oft, wenn er dann so saß, die Hände vor sich auf dem Tisch gekreuzt, den müden Kopf in den Händen, kam ein solcher Zorn über ihn, gegen den da nebenan, und eine solche Gier nach der Nacht da draußen, und ein solcher Trotz, aufzuspringen und hineinzugehen und dem da zu sagen, daß er ein junger Mensch war, der auch sein Recht hatte und den es auch in die Winternacht lockte und der dies alles nun nicht mehr ertrug! Und da war es dann, daß oft plötzlich sein alter Vater vor ihm zu stehen und ihn mit seinen armen leeren Augen anzublicken schien. Und er verging vor Angst, und da stand dann dieser namenlose, sinnlose, grundlose Spuk in seinem faselnden Hirn auf, von brennenden Häusern, durchgehenden Pferden, entgleisenden Zügen, Blitzschlägen, Fensterstürzen, Wolkenbrüchen, höhnisch um ihn kreisend, eine wüste Hölle, wie solchen Schundromanen entqualmt, die schon über den Knaben eine lächerliche Macht hatten, welcher sich auch der Jüngling noch nicht immer erwehren konnte. Er saß dann und sagte sich immer vor: Es ist ja nicht wahr, es ist ja zu dumm, du träumst es ja bloß, aber nein, es ist ja nicht einmal ein Traum, du träumst es nicht einmal, du bist doch wach, du bist in deinem Zimmer wach und nebenan ist der Minister, der auf der Erde liegt und in einer alten Chronik liest und die Zeit vergißt, und du weißt, daß du wach bist und daß dir nichts geschehen kann und daß das alles nicht wahr ist und daß es nur Blasen aus deinen schläfrigen Gedanken sind und daß du ja nur aufzustehen und es abzuschütteln brauchst und der Schaum zergeht, und sie sind weg und du wirst lachen, du weißt es doch, du brauchst bloß aufzustehen, so steh doch auf, was stehst du denn nicht auf?, du weißt es doch, was stehst du denn nicht auf, was fürchtest du dich denn? So sagte er sich vor und hätte gern den müden Kopf aus seiner Hand gezogen. Und ließ ihn doch und stand nicht auf, er konnte nicht. Es war zu stark; und war ja doch auch wieder eine Lust, die er nicht lassen konnte, sich so zu fürchten, insgeheim dabei gewiß, daß nichts zu fürchten war. Er wußte, daß er dies auch aus seiner Kindheit hatte, von der Mutter her, die seit jenem Tag, der ihren Stolz zerbrach, oft wochenlang nicht mehr aus ihrem Zimmer wich, laut mit sich redend, auflachend und wieder leise weinend auf dem alten Diwan, aber nebenan saß das bange Kind allein und zitterte vor Angst, wenn sie schrie, während es in der anderen Stube den ruhelosen Schritt des Vaters vernahm, immer auf und ab, immer bis zum Fenster, wo er sich knarrend drehte, und wieder zur Türe zurück, immer dieselben langsamen harten stechenden zehn Schritte, gleichmäßig hin, und dort, am Fenster, das leise Knarren, und dann wieder dieselben mühsamen schweren bohrenden zehn Schritte gleichmäßig zurück.

Furnian fuhr auf. Und sah erstaunt um sich. Und wunderte sich, die Bank zu sehen, auf der er saß, und dort den geschlossenen schwarzen Wald mit dem grünenden Hang und unten das von Bächen schillernde Tal, aus dem die Sonne schied. Und fand sich gar nicht gleich wieder und mußte sich langsam erst besinnen, bis er allmählich begriff, daß dies ja doch jetzt alles weg war. Dies war jetzt alles weg. Dies alles kam nicht mehr zurück. Nein, er wollte gar nicht mehr daran denken. Und er nahm sein grünes Hütl vor sich ab und sagte: Nein, Herr Bezirkshauptmann, das geht jetzt nicht mehr, Herr Bezirkshauptmann haben jetzt andere Sorgen, vergessen Herr Bezirkshauptmann nicht, daß das Wohl und Wehe der Ihnen von Seiner Majestät anvertrauten Bevölkerung in Ihren werten Händen liegt! Und er verbeugte sich feierlich und lachte. Er hatte noch so wenig gelacht in seinem Leben. Jetzt wird er's nachholen. Als Kind war er nie kindisch, er durfte ja nicht. Er durfte ja nichts, nie, die ganzen Jahre her. Jetzt wird er's nachholen. Jetzt fängt's ja doch überhaupt erst an. Alles fängt jetzt erst an. Und ihm war, als wenn er eine neue Haut hätte. Es fiel ihm ein, einmal gelesen zu haben, daß der Mensch sich alle fünfzehn Jahre körperlich völlig erneue. Da käme also jetzt Klemens Numero drei daran! Und er verbeugte sich wieder, grüßend: Sehr angenehm! Und übrigens: wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand, und so ist es nur konsequent, daß er ihm auch die Haut gibt. Die alte aber mag Gott befohlen sein! Und er neigte sich über die Bank mit einer Gebärde, als wenn er seinen abgestreiften Menschen Numero zwei damit hinlegen und zurücklassen würde.

Er schritt ins Tal nieder. Es war anders als das drüben hinter dem Wald, wo er geruht hatte, bevor er emporstieg. Hatte jenes ihn durch den stillen Ernst emsig waltender Tätigkeit gerührt, so war er nun vom Anblick reichsten Behagens entzückt. Dort überall Äcker und Fluren bis an den geschäftigen Ort, überall die Spur der sorgenden Menschenhand, überall Fleiß. Hier alles in Gärten, festlich spielend, überall Lust. Und er freute sich, daß das hier so schön ordentlich eingeteilt und abgeteilt war, links die Sorge und rechts das Vergnügen, da die Arbeit und dort der Reichtum, und jedes hat sein eigenes Kastl für sich und eins hört und sieht vom anderen nicht viel, was immer das gescheiteste ist. Er dachte vergnügt: Mein ganzer Staat hier steht offenbar auf einer sehr gesunden Basis. Er wunderte sich nur, nirgends die großen Salinen zu sehen; sie lagen versteckt. Was ihm auch wieder sehr gefiel. Er hatte ja gewiß nichts gegen den Stand der Arbeiter. Im Gegenteil, wer ist denn heute nicht Sozialist? Aber er sah lieber nichts von ihnen. Es war ihm unheimlich, wenn er zufällig einmal in einen Trupp geriet. Er fand, daß sie doch eigentlich etwas Barbarisches hatten. Dies mochte sich vielleicht bis zur Größe, bis in eine Art von Heldentum steigern lassen, er verkannte das nicht. Nur kam er nie von der Empfindung los, daß es doch so gar nicht in unser Österreich paßte. So war, wenn er's überlegte, sein Gefühl am besten ausgedrückt: er wollte gewiß nicht ungerecht gegen das Proletariat sein, fand es aber eigentlich unpassend für Österreich. Wie er im Grunde schon auch jede Fabrik eigentlich unpassend fand. Schon rein ästhetisch: ich kann mir nicht helfen, eine Fabrik steht unserer Landschaft nicht, unserer Landschaft der malerischen Burgen und barocken Schlößln, zu denen ein braves Bauernhaus und so ein liebes, ein bissel zopfiges, gelbes Herrenhaus gehört, und sonst nichts! Irgend was sehr Tiefes und sehr Starkes in ihm fühlte sich von den Arbeitern bedroht und wehrte sich. Sie störten ihm seine zärtlich gehegte Rührung über Österreich.

Nun bog der abfallende Weg in einer weiten Schlinge bis an die Mauer des kaiserlichen Parks aus. Da sah er, landeinwärts, kaum eine kleine Stunde weit, im letzten Winkel des Tals, unter einer Halde, von der dann steil der graue Fels aufsprang, ein Dutzend winziger weißer Häuschen liegen. Wirklich wie Lämmer waren sie, um den langen schmalen Turm gedrängt, der wie der Hirt mit seinem Stab stand; und neben ihm ein niedriges, breites, dunkles Dach, des Pfarrhofs wahrscheinlich, das war der Hund; und einige hatten sich bis an die Halde, bis unter den Fels verlaufen. Es klang das Abendläuten her. Klemens stand und schaute. Ihm war's wie ein vergilbtes altes Bild, wie ein vergessenes altes Lied. Er sagte sich zärtlich: Das gibt's noch! Und da leben Menschen, gehen mit der Sonne schlafen, stehen mit ihr auf, haben ein paar Hühner und eine Kuh und lassen den lieben Gott sorgen, im Winter ist's kalt, im Sommer wird's warm, sonst bleibt alles immer gleich, glückliche Menschen! Und es kam über ihn wie schon über den Knaben oft, wenn er abends saß und in stillen alten Geschichten las; da wünschte er sich immer: Wenn doch das Leben noch so wär! Jetzt fiel's ihm wieder ein. Dort im Winkel oben so ein kleines weißes Häusl haben und nichts mehr wissen und alte Geschichten lesen und nur manchmal ans Fenster gehen und denken: Da drunten ist der kaiserliche Park und drüben ist die weite Welt! Dann aber nahm er sich zusammen und dachte: Später, später! Erst durch die weite Welt! Wir haben ja jetzt das Billett, Herr Bezirkshauptmann! Und er wendete sich, im Abendläuten nach dem Ort zurückzugehen. Langsam schritt er, immer noch wieder einmal in das kleine weiße Dorf hinaufsehend. Er konnte sich gar nicht trennen. Einen solchen Zauber hatte das kleine weiße Dorf im Winkel. Er nahm sich vor, bald einmal hinzugehen. Und immer, wenn es einmal geschieht, daß er sich ärgern muß, wird er einfach in sein kleines weißes Dorf gehen, und gleich wird der Ärger aus sein. Einen lieberen Trutzwinkel konnte man sich nicht denken. Er stand wieder und sah noch einmal zurück. Ganz geheimnisvoll zog es ihn hinauf. Endlich riß er sich los. Es war Zeit, heimzukehren.

Die lange Mauer des kaiserlichen Parks entlang, an der Lehne des sanften Hügels, war ein Saum von Villen. Tiefe Gärten mit Kieswegen, Rasen, Beeten, Baumgruppen, Ziersträuchern, Springbrunnen und Lauben. Eine war seltsam, mehr einem griechischen Tempel gleich; rings eine Halle mit zierlichen jonischen Säulen, die Stufen in Marmor; und ein sterbender Achill, kletternde Klematis. Das war die Villa der Rahl. Und Klemens erinnerte sich, wie er oft im Parterre, lahm vom langen Stehen, schaudernd unter den Hieben ihrer wilden Kunst, in einer unsäglich beglückenden Qual, aufgestöhnt hatte, vor Lust und Leid zugleich. Und nun, wenn sie im Sommer kommt, ladet sie ihn vielleicht ein; er ist ja der Herr Bezirkshauptmann und sie ist eine Frau Gräfin, sie gehören doch zusammen, und er wird an ihrem Tisch sitzen und sie plauschen miteinander, ganz so, er der freche Kle, mit ihr, der geheimnisvoll entrückten Frau, ganz als wenn das so sein müßte; das Leben ist schon wunderbar. Er rief den Gärtner an. »Sie! Sagen's, wann kommt denn die Gräfin?« Der alte Gärtner zog das Käppchen und sagte still: »Ich weiß nicht.« Klemens wurde ungeduldig, »Es muß doch hier jemanden geben, der weiß, wann sie kommt. Fragen's halt!« Der Gärtner schüttelte den alten Kopf. »Nein. Man weiß es nie.« Klemens lachte. »Da ham's ein Zigarl, damit's ein bissl munterer werden.« Und warf es ihm über den Zaun zu. Der Alte sah ihn verwundert an und dankte still. Klemens grüßte noch, einen Finger an sein grünes Hütl legend, und ging. Es machte ihm Spaß, daß der gute Alte offenbar noch gar nicht wußte, wer er war. Und so, in seinem Inkognito vergnügt, schritt er lässig an den Villen weiter. Da war eine mit einem chinesischen Turm, dann kam eine, die einer ägyptischen Gruft glich; aber die nächste war ein Schweizerhaus. Warum wohnten die reichen Schneider wie Chinesen, Jobber wie Pharaonen und alte Fürstinnen wie auf der Alm? Döltsch hatte gesagt: Sie sehen wieder, wenn sich die Polizei nicht in alles mischt, geschieht gleich ein Unglück! Immer mußte er dies denken: Was würde Döltsch hier sagen, was würde Döltsch da tun? Es verfolgte ihn. Und er freute sich, schon in allem ein kleiner Döltsch zu sein, und übte sich darin. Sie taten's um die Wette, die ganze Leibgarde, wie der verschnupfte und verschleimte Klauer sie nannte. Er aber war doch immer noch allen vor. Und wer weiß, wenn es ihm erst gelang, sich in des Ministers Art ganz einzudenken, einzufühlen, einzuleben! Der hatte doch auch einst arm und unbekannt angefangen, von scheelen Augen umringt. Und wer weiß, in zwanzig Jahren!

Da fiel ihm zwischen den Ziergärten ein ländlicher mit großen alten Obstbäumen auf, Äpfel in roten Knospen und von schon verblühenden Kirschen ein weißer Regen, in einem Beet aber lauter Stiefmütterchen mit ihren großen bunten Augen, um einen verglasten Trog herum, in welchem, sorgsam eingehegt, jeder mit einem Stäbchen, das den Namen aufgeschrieben trug, Töpfe mit Kakteen standen, kleinen, dicken, stacheligen, die eingerollten Igeln glichen, platten, verästelten, flockigen, die wie grüne Herzen aus dem Holze quollen, und am Boden kriechenden mit blauen Blättern, die Warzen und Krallen hatten. An einem Hause, das, niedrig und sehr breit, mit seinem großen runden Tor und dem Anhang von Ställen, Tennen und Schupfen mehr einem Gehöft, dem Anwesen irgendeines Landwirts, eines Müllers oder Sägers glich und sich in der modischen Pracht seiner Umgebung etwas wunderlich ausnahm. Im ersten Stock sah ein Mann in Hemdsärmeln zum Fenster heraus, seine Pfeife rauchend. Klemens dachte: Wie diese Bauern manchmal dem Reimers ähnlich sehen. Der Mann drehte sich um und rief etwas ins Zimmer. Ein sehr langes Mädchen erschien, mit einem blassen verschreckten Gesicht, einen gierigen Blick nach dem Wanderer auswerfend. Sie kam ihm bekannt vor. Er war schon vorüber, als er sich erst erinnerte. Er kehrte sich um und grüßte, da riß sie sich los und verschwand. Der Mann mit der Pfeife nickte kurz. Nicht sehr einladend, fand Klemens. Und eigentlich war's ja doch auch schon etwas spät für einen ersten Besuch. Obwohl, schließlich unter Verwandten! Aber er grüßte nur noch einmal, lässig mit der Hand zum Fenster winkend, und ging weiter. Das war also die Meierei! Die berühmte Meierei der alten Hofrätin Zingerl; sein Vater hatte noch neulich davon erzählt. Und dann war der Mann in den Hemdärmeln mit der Pfeife ja der Domherr Zingerl, ihr Sohn! Unwillkürlich sah Klemens noch einmal zurück. Aber gar kein Zweifel: es war der Domherr. Den hatte er sich auch anders vorgestellt. Wenn er sich des schmeichelhaften Mißtrauens erinnerte, mit welchem Döltsch immer von dem Domherrn sprach! Und wie hatte gar sein Vater ihm eingeschärft, es ja an Eifer für den Domherrn, an Bemühungen um seine Gunst nicht fehlen zu lassen, welcher der Vater die höchste Macht und jedes Wunder zuzumuten schien. Er hatte noch den Ton im Ohr, in welchem der Vater mit seiner vergrämten und ergrauten Stimme sagte: »Ich empfehle dir besonders, gleich nach deiner Ankunft nachzufragen, ob die Hofrätin Zingerl anwesend ist, der du meine ehrerbietigsten Empfehlungen melden magst und dich auf unsere, wenn auch ferne Verwandtschaft berufen kannst; sie ist uns immer sehr gütig gewesen. Es begibt sich vielleicht, daß du dort einmal ihren Sohn, den Domherrn, triffst, was dir, sofern du es nur verstehst, dein Glück auszunutzen, unter Umständen für dein Fortkommen entscheidende Vorteile bringen könnte. Der Doktor Cölestin Zingerl, Apostolischer Protonotarius, Päpstlicher Hausprälat, Ehrendomherr von Salzburg, Spiritual des Fürsterzbischöflichen Klerikalseminars, ein weitgereister, vielerfahrener, weltgewandter Mann, der es durch eine ungemeine Gelehrsamkeit und Frömmigkeit in jungen Jahren zu vielen Verdiensten und hohem Ansehen gebracht hat, ist im Besitze von ausgebreiteten und sehr hochreichenden Verbindungen und gilt als ein Mann, dessen Freundschaft allmächtig ist. Gelingt es dir, seine Achtung, sein Zutrauen, vielleicht seine Neigung zu erwerben und unter seinen Schutz zu kommen, so wäre, soweit menschliche Voraussicht reicht, deine Zukunft geborgen und deinem alten Vater, der dem verwegenen Glücksspiel deines Ministers nicht ohne Bangen zusieht, ein Stein vom Herzen genommen. Auf seine Nachsicht aber, was den Unfall unserer Familie, was mein Mißgeschick betrifft, kannst du rechnen, weil doch auch auf seinem Hause schwer die Hand des Herrn gelegen ist. Du weißt, sie haben an seiner jung verstorbenen Schwester wenig Freude erlebt. Das Kind der Sünde hat die Großmutter ja bei sich. Wie nun aber stets eigenes Leid empfänglicher für fremdes, eigene Schuld duldsamer gegen fremde macht, darf ich hoffen, daß man dich dort den Flecken auf unserem Namen nicht fühlen lassen wird. Mir wenigstens ist die Hofrätin die wenigen Male, wo es mir vergönnt war, mich ihr zu nähern, immer mit einer Gewogenheit, ja, worauf ich doch den Anspruch verloren habe, fast einer Art Respekt entgegengekommen, deren ich bis an mein Ende dankbar gedenken werde. Dies gibt mir den Mut, ein Gleiches für dich zu hoffen, wofern du dich nur nicht wieder von deiner Neigung zu Keckheit und Unüberlegtheit verleiten läßt und dir so alles durch Leichtsinn wieder verwirkst.«

Klemens schritt rascher, fast als ob er entlaufen wollte, aus der Macht dieser unerträglich eintönigen Stimme fort, die ihn noch immer verfolgte. Die drei Tage beim Vater, bevor er herkam, waren entsetzlich gewesen. Er hatte doch endlich dies alles schon vergessen gehabt. Weit in Dunst lag es hinter ihm. Er wußte nur noch: Dort unten in Görz, draußen, wo's zum Kastell geht, steht ein einsames Haus an schwarzen Zypressen, über den Isonzo hin in den Karst des Monte Santo starrend, und da geht der alte Vater ruhelos in seiner Stube hin und her, in derselben Stube wie damals, alles ist noch wie damals, auch das Zimmer, wo die Mutter immer auf dem Diwan lag, auch der alte Diwan noch, nur die Mutter haben sie schon längst hinausgetragen; und der Vater geht noch immer hin und her. Aber das war für ihn jetzt nur noch ein Gedanke. Wie er manchmal auch traurig an die tote Mutter dachte. Nicht anders dachte er an den Vater. Und er litt nicht mehr daran. Nun aber hatten diese drei Tage alles wieder aufgeweckt. Der Vater rief ihn; er wollte ihn durchaus noch einmal bei sich haben, nicht ohne den väterlichen Segen sollte er sein neues Amt antreten. Dieser väterliche Segen bestand darin, daß Klemens zum hundertstenmal das Unglück des Vaters nach so vielen Verdiensten, nach seiner Auszeichnung bei Solferino, nach seiner Verwundung bei Königgrätz und dann alle Details des bosnischen Kriegs, den ganzen Aufmarsch der achtzehnten Division, die, während Philippovich mit der sechsten vom Norden her in Bosnien eindrang, unter Jovanovic vom Osten her über die Höhen der Crnagora, auf Saumwegen den Hinterhalt der Insurgenten umgehend, nach Mostar kam, hier sein Regiment nach Stolac vorschickend, und seine Erkrankung, als sie dort sich nun plötzlich unvermutet zerniert finden, und die übermenschliche Kraft, mit der er trotzdem standhält und nichts versäumt und seine Pflicht tut und erst, als alles vorüber, der Feind abgeschlagen und der Weg für die nachrückenden Truppen frei ist, dann erst zusammenbricht, nun aber die alte Feindschaft des Kommandanten, der ihn seit Jahren eifersüchtig haßt und jetzt die Gelegenheit nimmt, jenen lügenhaften Witz gegen ihn zu prägen, den tödlichen Witz von dem Obersten mit dem Bauchweh, dies alles immer wieder und immer wieder, drei Tage lang, und wieder alle Familiengeschichten, vom stolzen Hofrat Furnian, der es so hoch gebracht, und von seinem Großvater, wie der auch schon an der Tücke falscher Freunde, freilich aber auch an seiner eigenen Unklugheit und jenem Vorwitz gestrauchelt, der nun im Enkel wiederzukehren scheine, und dann die alten Ermahnungen zu Gehorsam und Entsagung, die ewigen Warnungen vor Hochmut und Vermessenheit immer wieder und wieder, endlos wieder zu hören bekam. Immer in demselben öden und dürren Ton, der ihn bis in den Schlaf noch verfolgte. Und ihm wurde davon so bleiern schwer, er sank gleichsam ein, er hatte keinen Atem mehr. Nur daran nicht mehr denken! Jetzt war es doch vorbei! Und er schritt geschwind, froh der Meierei zu entkommen und schon, wo die Villen endeten, die friedlichen Zeilen mit den einfachen alten Häusern seines Orts zu sehen. Übrigens war das doch dumm, er mußte lachen. Die Meierei konnte vielleicht ganz amüsant sein. Der Domherr in Hemdärmeln mit der Pfeife und die schlaue Hofrätin, die verrufen war, in allen klerikalen Intrigen ihre alte Hand zu haben, es wurde vielleicht ganz lustig; und er würde sich schon hüten, er war gewarnt. Dazu das bleiche »Kind der Sünde«. Sonderbar geht es doch im Leben zu. Ob die Rahl wohl ahnte, daß da, keine hundert Schritte von ihrem Achill, ein Kind ihres Kollegen Larinser zu Hause war, von dem freilich der darin vergeßliche Vater kaum etwas mehr wußte? Es war doch wunderlich, wie dicht beisammen hier zwei Welten lagen. Und vielleicht kommt im Sommer einmal der alte Larinser zur Rahl und Klemens macht sich den Spaß und bringt ihn dann zur Hofrätin her, ahnungslos natürlich. Aber der log sich schon heraus, der grimme Hagen hatte keine Furcht, der war dafür bekannt. Jedenfalls wird Klemens in den nächsten Tagen hingehen. Sie sind ja verwandt. Freilich etwas sehr weit. Klemens mußte nachdenken: Die Schwester seines Großvaters und Schwester des mächtigen Hofrats hat einen Statthaltereirat von Knebel geheiratet und der hat eine Schwester Karoline gehabt und die hat den Syndikus Trost geheiratet und da waren drei Töchter, die Luise, die dann ins Kloster ging und in Wahnsinn starb, die schöne Sanna, die aus dem Fenster sprang, weil sie nicht das Geld hatten, ihr den geliebten Leutnant zu geben, und die jüngste, die, siebzehnjährig, den alten Schulrat und nachmaligen Hofrat Zingerl, den Freund und Schützling des Hofrats Furnian, zum Manne nahm und ihm einen Sohn, eben den Domherrn, für dessen natürlichen Vater übrigens irgendein junger Prinz galt, der damals dort als Rittmeister bei den Dragonern stand, und jene Tochter gebar, die dann, fast noch ein Kind, mit dem längst verheirateten Larinser, der in der Stadt als Jaromir gastierte, durchging, von ihm verlassen im Kindbett starb und die kleine Vikerl zurückließ, welche die Hofrätin, was eigentlich bei den Vorurteilen der kleinen Stadt ganz tapfer von ihr war, zu sich nahm und bei sich erzog. Und Klemens dachte wieder, was ihm so oft, wenn er mit Freunden saß und von ihren Familien erzählt wurde, durch den Kopf ging: wieviel an Wahnsinn und bitterem Leid und wilden Begebenheiten doch auf diesen ehrbaren stillen Familien lag. In der Schule sagt man sich: Mein Gott, das waren die Labdakiden, das muß für den Enkel ungemütlich sein! Und schüttelt das Grauen ab und atmet auf, daß diese Zeiten jetzt nicht mehr sind. Lag es jetzt nicht ebenso schwer auf den Enkeln? War nicht auch hier überall ein Toter im Hause, der nicht zur Ruhe kam? Blickten sie in eine hellere Vergangenheit zurück? Jedes Haus hatte sein Gespenst sozusagen, überall ging's um. Döltsch hatte einmal gesagt, als von Barttrachten gesprochen wurde: »Ich rasiere mich bloß, um mich abzuhärten.« Und als man ihn verwundert ansah, erklärte er es: »Mein Großvater, der Ingenieur, ein Schüler Ripels, der mit diesem und Ghega die Nordbahn baute, hat sich, als plötzlich im Jahre zweiundvierzig das Geld ausging, die Arbeit ins Stocken, alles in Verwirrung kam, jedem der Mut sank, der Haß der Böswilligen, der Hohn der Ungläubigen immer giftiger wurde und halt so eine schöne Wiener Hetze begann, in einem Anfall von Ekel an den Menschen, ohnmächtiger Wut und völliger Verstörung mit einem Rasiermesser die Halsschlagader durchgeschnitten. Mein Vater, den der Finanzminister Bruck aus der Verbannung zurück zu großen Plänen berief, fand diesen in seinem Blut; das Rasiermesser daneben, die Schlagader durch, derselbe Anblick, der einst den Knaben entsetzt hatte. Und dann hat mein Vater, dreizehn Jahre später, als der Krach sein Vermögen und alle Hoffnungen zerschlug, auf dieselbe Art ein Ende gemacht. Wer abergläubisch wäre, könnte an eine Art Faszination denken. Es ist aber sicher gescheiter, wenn man nicht abergläubisch ist und sich lieber für alle Fälle beizeiten ans Messer gewöhnt. Deshalb rasiere ich mich.« Sie wußten nie, wie solche Reden gemeint waren; seine Augen verhüllten den Sinn. Einer lachte, weil es vielleicht ein Witz war. Der Minister hatte eine eigene Art von Witzen, die einen eher ängstigten. Klemens sah seitdem jenes Messer überall. Es wurde seine fixe Idee, in den Familien nachzufragen, bis er es irgendwo versteckt fand. Dies war ihm dann ein Trost. Auch die anderen hatten also zu tragen, auch den anderen war aufgeladen. Und schließlich, da war Döltsch selbst, dem schien das Messer nichts anzuhaben. Es kam doch zuletzt nur auf den Menschen selbst an, nicht auf die Väter; und zuletzt blieb die Gegenwart doch stärker als alle Vergangenheit; und mit jedem Menschen fängt ein neues Leben an, und mit jedem neuen Jahr, und eigentlich mit jedem Tag, wenn man nur die Courage hat und nicht zurückschaut, was schon der armen Frau Lot so schlecht bekommen ist.

Als er in die Kreuzgasse bog, sah er den alten Klauer vor dem Hotel »Zum Erzherzog« Karl auf der historischen Bank, mit dem roten Doktor zusammen. Die alte Exzellenz winkte ihm schon von weitem, und er hörte ihr gackerndes Lachen. Er dachte: Schließlich weiß man ja bei uns nie, ob ein Toter nicht auf einmal wieder pumperlgesund ist; es kommt immer wieder eine Zeit der Ruinen! Und so ging er höflich hin, zog das Hütl und wollte sich vorstellen, als ihm Klauer schon mit seinem gacksenden Lachen den Wanst entgegenschob und, mit den fetten Fingern der enormen wülstigen Hand salutierend, stotternd durch das Lachen stieß: »Melde gehorsamst, Herr Bezirkshauptmann, melde ergebenst, gehorsamst und ergebenst –« Und er würgte, pustend, als ob er am Ende das Lachen wieder zurückschlucken würde. »Melde, daß ich nämlich die Bank – ich, ich –« Er brach ab, sah aus seinen winzigen, gleichsam in Fett erstickenden Augen Klemens zwinkernd an, trat ganz dicht an ihn heran, beugte den mächtigen Schädel auf ihn herab, hielt die hohle Hand vor den Mund und sprach durch dieses fleischige Rohr: »Ich wärme die Bank bloß, Herr Bezirkshauptmann. Ich wärme sie bloß für Exzellenz Döltsch. Damit Exzellenz Döltsch dann schön warm hat. Selbstverständlich! Denn das hat er gern. Nicht wahr, das hat er gern?« Er zog das Wort und dehnte den Vokal und blähte ihn auf, daß es schnarrte: Gähärrn! Und er zerlachte sich. »Aah, das hat er gern, sich so in einen schön aufgewärmten Sitz zu setzen, das hat er gährrn.« Seine winzigen Augen tauchten wieder aus den Wellen auf, und indem er die Nase zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, ließ er ein Blasen und verhaltenes Schnauben aus, ein seltsames Geräusch wie von versteckt die Luft ausklopfenden Irrwischen oder Trollen. Klemens trat auf den roten Doktor zu, näselnd: »Bezirkshauptmann Furnian.« Ohne von der Bank aufzustehen, nickte der kaum und murmelte: »Doktor Tewes.« Die Exzellenz fing wieder zu gicksen an: »Was? Die Herren kennen sich noch gar nicht? Aber, Herr Bezirkshauptmann!« Er zerlachte sich. Und sich wieder dicht zu Klemens herabbeugend, blies er wieder durch die vorgehaltene Hand: »Wissen's denn, was unser Doktor ist? Ja, das ist nicht so! Das ist nicht so!« Und er gluckste und schluchzte vor Lachen, schlug Klemens lachend auf die Schulter und streckte dann seine große zottige Hand aus und wies auf den Doktor und fragte: »Wissen Sie, wer das ist? Wissen Sie, wer? Das ist, das ist –« Er zerlachte sich und brachte es noch immer nicht heraus. Endlich, indem er sich gurgelnd und hustend vor Lachen an Klemens anhielt, sagte er: »Das ist die israelitische Bevölkerung von hier.« Da fiel ihm aber noch ein zweiter Witz ein und, wieder rasselnd und prasselnd von Lachen, sagte er: »Nämlich jetzt! In drei Wochen ist die Herrlichkeit aus. Nämlich neun Monate im Jahr ist er die israelitische Bevölkerung von hier, er ganz allein. Aber dann auf einmal, so um Ende Juni herum, da fängt er sich entsetzlich zu vermehren an! O je, o je!« Und er sank, vor Lachen stöhnend, in die Bank und trommelte mit seinen schweren dicken Fingern auf der Schulter des Doktors. Klemens erinnerte sich, daß Döltsch sagte: »Der Klauer muß seine Kur immer einen Monat früher anfangen, weil er mit dem Witz, den er am ersten Tage macht, sonst bis zum Herbst nicht fertig wird.« Und bei seinem Antritt hatte Döltsch gesagt, er wolle wohl die rückständigen Akten des Vorgängers, keinesfalls aber seine unerledigten Witze übernehmen. Alles andere hätte ihm Klauer noch eher verziehen.

Die Exzellenz fing wieder zu gackeln an. »Jetzt sein's aber nett, Herr Bezirkshauptmann, hä, hä, und verraten's uns ein Staatsgeheimnis.«

»Aber mit Vergnügen, Exzellenz«, sagte Furnian.

Klauer stieß seine kleinen schnappenden Augen hervor. »Nicht wahr? Das macht euch doch nichts! Über das seid's ihr doch hinaus! Ihr seid's doch jetzt über alles hinaus! Der Staat? Spaß! Das deutsche Volk? Spaß! Die Staatssprache? Spaß! Neue Schule! Alles neu! Also mir kann's recht sein. Solange ich meine Pension pünktlich krieg, ist mir alles recht. Ist mir alles recht.« Er versank, die listigen Augen verkrochen sich. Plötzlich aber, sich schüttelnd, wieder grinsend, fragte er: »No, hab ich nicht recht? Ich bitt Sie! Solang ich nur meine Pension krieg! Alles andere, alles andere! Ich bitt Sie!« Und er fing lachend durch die Nase zu blasen an. »Spaß! Spaß! Alles bloß Spaß! Ich bin halt auch schon, ich bin auch schon, schaun's, ich bin auch schon ganz von der neuen Schule! Sagen Sie's nur dem Döltsch, ich fang schon an, ich akklimatisier mich!« Und er zerlachte sich. Dann sagte er: »Aber hörn's zu, Herr Bezirkshauptmann!«

»Bitte, Exzellenz!« sagte Klemens, sich eine Zigarette drehend.

Klauer sah ihn blinzelnd an. »Also denken Sie sich! Der ganze Ort ist aufgeregt. Wird er oder wird er nicht? Kommt er oder kommt er nicht? Ham wir ihn oder ham wir ihn nicht? Das ist die große Frage. Was sie mich schon sekkiert haben! Aber ich, Kinder, ich weiß doch nix! Woher soll ich denn wissen? Wer bin denn ich? Was bin denn ich? Ausrangiert, abgestellt, kann froh sein, wenn ich nur das Leben hab und das bissel Pension! Aber nett wär's schon, nett wär's von Ihnen, wenn Sie's mir verraten möchten! Werden Sie oder werden Sie nicht? Kommen Sie oder kommen Sie nicht? Nämlich, nämlich –« Und er zog den Mund zusammen und schob die Lippen vor, dann schoß er es ab: »Ins Krätzl nämlich. Das ist die große Frage, Der Bürgermeister hat schlaflose Nächte.« Und es stieß ihn wieder sein krätschendes Lachen auf.

»Aber Exzellenz«, sagte Klemens, auf die Uhr sehend. »In einer halben Stunde bin ich dort. Man weiß doch, was sich schickt.«

Klauer streckte den Zeigefinger der linken Hand nach dem Doktor hin, seine Schulter tupfend, den der rechten gegen Klemens aus, und indem er so die Beiden mit einer Zange zu halten schien, rief er: »Hab' ich's nicht gesagt? Was hab' ich gesagt? Professor, was hab' ich gesagt? Professor, du bist mein Zeuge. Er geht, hab' ich gesagt. Ihr kennt's ihn alle nicht! Der kommt und setzt sich ins Krätzl.«

»Warum denn nicht?« fragte Klemens gelangweilt, schon etwas ungeduldig, ohne zu wissen, wie er sich losmachen sollte.

»Natürlich!« stimmte Klauer ein. »Warum denn nicht? Recht haben Sie! Fragen Sie den Doktor, was ich gesagt habe! Wenn der Minister in Volksversammlungen herumzieht und in Wirtshäusern predigt, ist es nur konsequent, daß der Bezirkshauptmann ins Krätzl gehört! Aber ihr habt's ja recht! Ich sag' doch nichts! Recht habt's ihr! Den Leuten schmeichelt's, euch kost'ts nichts, no und wenn man den Gestank verträgt, alle Achtung!« Er nahm die Nase wieder zwischen Daumen und Zeigefinger und zog an ihr, blasend. Und als er Klemens hochmütig lächeln sah, sagte er: »Ich weiß schon, was Sie sich denken! Lachen's nur! Weil ich der Letzte der Liberalen bin? So sagt ja der Döltsch immer, nicht? Glauben's, ich weiß das nicht? Aber glauben's nur nicht, daß ich deswegen bös bin! Man soll es mir nur einmal auf mein Grab schreiben.« Er hielt ein und hob den riesigen Schädel, die Augen waren verschwunden. Er wiederholte langsam: »Er war der Letzte der Liberalen. Schreibt's das nur auf mein Grab, ich habe nichts dagegen. Soll der Döltsch die Freude haben, wenn er's erlebt.« Sein dunstiges Gesicht verzog sich grinsend. Er sagte noch einmal, boshaft durch die Nase schnurrend: »Wenn er's erlebt.« Dann krochen die kleinen Augen wieder heraus, er nahm plötzlich einen anderen Ton, die Stimme wurde scharf, und er sagte belehrend: »Aber, junger Herr, merken Sie sich! Liberal sein, heißt die Rechte des Volkes und die Pflichten des Staates und den Zusammenhang von Volksnotwendigkeiten und Staatsnotwendigkeiten erkennen. Nicht aber heißt liberal sein, allem Pöbel nachlaufen und auf jeder Bierbank rutschen. Sogar die Demokraten, die mich nichts angehen, muß ich vor euch in Schutz nehmen. Auch da ist noch ein Unterschied, und man ist noch lange kein Demokrat, wenn man ein Demagog ist. Das vergeßt's ihr immer. Und wenn ihr euch nur schmierig macht's, glaubt's ihr schon volkstümlich zu sein. Es kommt aber schon wieder die Zeit, wo man merken wird, daß doch noch ein Unterschied ist. Aber bis morgen denkt's ihr ja nicht!«

»Vorderhand«, sagte Klemens mit einer Verbeugung, indem er noch einmal auf die Uhr sah, »müssen Exzellenz schon entschuldigen, wenn ich jetzt wirklich nur an heute abend denke. Ich habe versprochen, um acht in der Post zu sein.« Und er schlug die Fersen zusammen, sich noch einmal kurz verneigend. Aber Klauer ließ ihn nicht. Er stand umständlich auf, schob sich hin, und indem er seinen Schädel zu Klemens bog, bis an sein Gesicht herab, begann er wieder lachend zu schnauben: »Aber, aber, aber! Warum denn schon? Das Krätzl lauft Ihnen nicht weg, die sitzen auf der Post bis um Mitternacht zusammen! Da müssen Sie den Bezirksrichter erst kennen! Bevor der nicht seine zwölf Krügel hat! Und wir plauschen doch grad so gemütlich! Nicht? Nicht? Nicht?« Und den Vokal durch die Nase ziehend und dehnend, bog er sich grinsend noch näher vor, daß Klemens sein rauchiger Atem ins Gesicht schlug, und sah ihn lauernd an, mit seinen kriechenden Augen alles an ihm absuchend. »Oder? Oder am End'? Sind's am End' bös?« Und er fing wieder lachend zu gackern an. »Sind's bös? Wirklich? Sind's bös, weil ich –? Das schaut euch ähnlich! Aber gehn's! Man plauscht doch nur! Man macht sich halt innerlich ein bissel Bewegung, nicht? Wissen's, ich brauch' das, ich hab' das gern!« Und er wiederholte, mit blähender Stimme: »O, das hab' ich gärrn!« Plötzlich aber wurde sein Gesicht ernst, und leise, fast drohend, sagte er schnell: »Ich kann Ihnen auch in manchem behilflich sein. Sie werden schon sehen! Es gibt noch immer allerhand, wo man den alten Klauer vielleicht noch ganz gut brauchen kann. Glauben Sie nur nicht! No, ich sag nix. Aber man überschätzt mich. Früher hat man meinen Einfluß überschätzt, jetzt überschätzt man meine Einflußlosigkeit.« Er dämpfte das Lachen, das ihn anfiel, gleich wieder und fuhr in demselben einschleichenden Ton fort: »Und ich interessiere mich für Sie. Ich schätze Ihre Begabung. Wenn Sie klug sind, so sparen Sie sich auf! Verstehn Sie! Man spielt den Mond nicht gleich in den ersten paar Stichen aus. Verstehn Sie? Und Sie haben die besten Aussichten. Schon weil man das Ihrem Vater schuldig ist, an dem ein schweres Unrecht begangen wurde, ich habe das immer gesagt.« Und plötzlich wieder auflachend, ging er zur Bank zurück und setzte sich schnaufend. »Wir werden uns schon noch sehr gut verstehen lernen, da ist mir gar nicht bang. Vergessen's nur den Pagat nicht! Mond aufsparen und schau'n, daß S' den Pagat machen.« Er stieß den roten Doktor an. »Ja, du schaust! Du hast es leicht. Du bist ein Anarchist, dich geht das alles nichts an. Ja, ja, Herr Bezirkshauptmann, vor dem nehmen Sie sich in acht! Ein Anarchist, ich sag's Ihnen! Ich kann nichts dafür. Wie wir zusammen in die Schule gegangen sind, war noch nichts zu merken. Die Buddhisten haben ihn verdorben.« Und er lachte, dem Doktor auf den Rücken klapsend.

Tewes sagte langsam, mit einer leisen traurigen Stimme: »Nun, laß es nur! Der Herr Bezirkshauptmann wird ja schon wissen.«

Klemens war verlegen. Es verdroß ihn, daß Klauer ihn an seinen Vater erinnert hatte. Gar vor diesem roten Doktor, dessen wortlose Gleichgültigkeit ihn befangen machte. Er hätte ihm gern gezeigt, daß er den Anbiederungen der schwätzenden Exzellenz unzugänglich war. So sagte er, leichthin spöttisch: »Gott, wer ist schließlich heute nicht Anarchist?«

Klauer schrie lachend: »Ich sag's ja, ich sag's ja! Die neue Schule!«

Tewes entgegnete, still und ernst: »Schließlich sind es viele, aber ich würde Ihnen doch raten, es anfänglich lieber nicht zu sein.«

Furnian fragte: »Sie sind sich mit meinem Vorgänger nicht zum besten gestanden, Herr Professor?«

Tewes antwortete: »Doch wohl eigentlich eher er mit mir nicht, Herr Bezirkshauptmann.«

Furnian sagte: »Ich wünsche mir aufrichtig, daß das jetzt anders werden wird.«

Immer in demselben leisen glanzlosen Ton sagte Tewes: »Das können Sie sich wirklich wünschen.«

Furnian fand das unverschämt. Doch hatte ihm Döltsch eingeschärft, Unangenehmes zu überhören oder nicht zu verstehen. Er sah den alten Doktor lächelnd an und sagte: »Ich möchte bloß niemals eine andere Sorge haben. Vor platonischen Anarchisten ist mir nicht bang. Es wäre schad', wenn wir keine hätten; sie zieren die Gegend und wirken sehr dekorativ.«

»Fast, fast, fast,« würgte Klauer, vor lachendem Schnauben daran fast erstickend, »fast wie kurze Hosen und Wadlstrümpf! Nicht? Nicht? Ja, die neue Schule!«

Tewes sagte: »Jeder hat eben seine Auffassung. Wenn Sie mir nur auch meine lassen! Ich verlange ja nichts, als manchmal Sonntag den Arbeitern von den Salinen allerhand Naturerscheinungen vorzuführen, mit den Erklärungen, die die Wissenschaft dafür hat. Wenn man, wie Ihr Herr Vorgänger, mich darin stört, so kann ich allerdings recht unangenehm werden. Übrigens bin ich der friedlichste Mensch. Dies möchte ich Ihnen ein für alle Male gesagt haben. Hoffentlich geben Sie mir Ruhe. Dann werden Sie sich über mich nicht zu beklagen haben.«

»Na, wir brauchen ja«, sagte Klemens, »nicht gleich einen förmlichen Kontrakt zu machen. Das wird sich alles finden.« Und noch süffisanter, um sich selbst zu beweisen, daß er sich durch diesen jüdischen Sokrates nicht einschüchtern ließ, fuhr er fort: »Kommen's doch mit! Kommen's mit ins Krätzl! Man sitzt beisammen, ein Wort gibt das andere, man spricht sich aus, es ist die einfachste Art, sich kennenzulernen, und hat noch das Gute, sie verpflichtet am Ende zu nichts. Kommen's mit in die Post!«

Während Tewes durch eine bloße Gebärde verneinte, sagte die gackernde Exzellenz: »Vielleicht kommt's noch dahin, daß der Herr Bezirkshauptmann nächstens überhaupt in der Post amtiert.«

»Exzellenz,« sagte Klemens, »das wär' gar nicht so dumm.« Und indem er halb die Augen schloß und den Schnurrbart mit den Fingern strich, die Schultern ein wenig vorgebend, erließ er die Sentenz: »Die Hauptsache wird schließlich immer bleiben, den richtigen Kontakt mit der Bevölkerung zu gewinnen. Wie, das kann wohl wirklich ruhig dem Takt und bis zu einem gewissen Grad auch der Neigung des einzelnen überlassen bleiben. Der eine macht's so, der andere macht's so. Wenn's nur überhaupt gemacht wird. Die Pedanten haben wir abgeschafft, und der Amtsschimmel, Exzellenz, hat nur noch das Gnadenbrot.«

»Es ist,« blähte Klauer, »es ist ein Amtsautomobil daraus geworden.«

»Jedenfalls«, sagte Klemens, »geht's geschwinder.« Und lachend setzte er hinzu: »Aber Exzellenz wissen, Pünktlichkeit im Amt ist das erste Gebot! Weshalb ich hiermit die Ehre habe, Exzellenz meine Verehrung ergebenst zu Füßen zu legen.« Indem er dies mit einer spöttischen Lustigkeit sagte, verneigte er sich noch einmal, das Hütl ziehend, und entfernte sich rasch durch die Kreuzgasse, über den stillen Platz, nach dem alten Gasthof zur Post hin.

Die Exzellenz rief ihm nach: »Kommen's doch bald einmal wieder, Herr Bezirkshauptmann! Ich sitz' jeden Tag um diese Zeit hier. Ich halt ihm ja das Bankerl warm, ich halt's ihm warm. Das hat er doch gern! Das hat er gärn!«

Der Bezirkshauptmann winkte noch einmal mit der Hand zurück, in den stillen alten Platz einbiegend.


 << zurück weiter >>