Raoul Auernheimer
Metternich
Raoul Auernheimer

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»O Welt!«

Während der Wiener Kongreß sich entwickelte, verwickelte und wieder auflöste, hatte das Schicksal Marie Louisens, ein kleines Frauenschicksal nur noch, längst schon den Punkt erreicht, wohin Metternichs kundige Hand es mit diabolischer Gelassenheit lenkte. Die Zeitläufte ließen im Herzen des Vielbeschäftigten eine neue Liebschaft nicht aufkommen, und auch was die Sagan ihm antat, war nicht eben neu. Also begnügte er sich notgedrungen, in Ermanglung eines neuen Romankapitels, damit, den von ihm angefangenen Roman der entthronten jungen Kaiserin um einen spannenden Abschnitt zu vermehren. Ein trauriges Geschäft im Grunde, diese Zwischenarbeit, und eines Staatsmannes von seinem Rang nicht ganz würdig. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Napoleon mußte beseitigt werden; und dazu mußte er vor allem aufhören, der Schwiegersohn des Kaisers von Österreich zu sein.

In Rambouillet hatte Marie Louise drei Tage auf »Papa« warten müssen. Dann war sie von ihm väterlich umarmt und ihr bedeutet worden, sobald wie möglich nach Österreich sich zurückzubegeben. Sie sollte sich vor allem einmal ein bißchen erholen und sonach den Zeitpunkt eines Besuches bei ihrem 149 Mann selbst bestimmen. Niemand scheint etwas dagegen zu haben, daß sie ihn besucht, weder Kaiser Franz, noch Metternich, wie auch aus einem von ihm verfaßten Handschreiben des Kaisers an Napoleon offenkundig hervorgeht.

Also reist sie jetzt, den geschichtlichen Entwicklungen den Rücken kehrend, über die Schweiz, Tirol, Salzburg nach Wien zurück, ihr Söhnchen auf den Knien. Unterwegs, in den österreichischen Erblanden, war sie überall bejubelt worden; wo immer ihre Kutsche hielt, warf man ihr Blumen in den Wagen. Wie auch nicht? Eine Kaiserstochter, das Kind des geliebten Monarchen – wie Metternichs Unbeliebtheit ist Kaiser Franz' Beliebtheit nicht immer ganz erklärlich –; eine hübsche junge Frau und Mutter; selbst kaum dreiundzwanzigjährig, und neben ihr steckt ein herziger Dreikäsehoch, der auf den Namen eines Königs von Rom hört, das Köpfchen zum Fenster heraus, wann immer sie sich dem Volke zeigt: wie hätte es nicht entzückt sein sollen, das brave, treue österreichische Volk? Es kümmerte sich keinen Deut darum, daß diese Frau die Gattin des Erbfeindes war; es sah nur eine entthronte Kaiserin und eine ihrer natürlichen Stütze beraubte kindliche Mutter. Und jubelte. Und warf Blumen.

In Wien dann, in Schönbrunn, als die körperliche Erholung der Schwergeprüften immer noch zu wünschen übrig ließ, verordnete der Leibarzt Seiner Majestät eine Schweizer Badereise. Aix-les-Bains schien ihm der richtige Platz: milde Luft, milde Bäder. Außerdem nicht allzu weit von Parma und somit auch von Elba, wo Napoleon, so groß im Kleinen wie im Großen, sein Miniaturkaiserreich bereits sachkundig aufbaut. Marie Louise, sofort einverstanden, bereitete sich munter auf diese Badereise vor. Nur ihren Knaben mitzunehmen, wurde ihr, wahrscheinlich auf Metternichs Betreiben, nicht erlaubt. Das verdroß sie ein wenig, doch nur im Anfang. Sie war mehr Frau als Mutter. 150

Wenn eine Kaiserin reist und wäre es selbst eine entthronte, so braucht sie einen Reisemarschall. Fürst Esterhazy wurde ihr als solcher zugeteilt, und dagegen war nichts zu sagen. Der Fürst war ein Kavalier durchaus, ein alter, würdiger, höchst ritterlicher Magyar. Aber plötzlich, während sie schon unterwegs ist, wird diese Bestallung rückgängig gemacht, und ein anderer rückt unversehens an seine Stelle. Die Hand Metternichs wird sichtbar. Denn dieser andere ist ein vom Fürsten Schwarzenberg in Paris empfohlener Graf Neipperg, ein Mann, der keinen allzu guten Ruf hat. Bei Frauen freilich hat er den besten.

Neipperg ist zweiundvierzig Jahre alt, General und steht als Divisionär zu Parma in österreichischen Diensten. Zuletzt war er Gesandter in Neapel, wo er der Sache der Alliierten entscheidende Dienste erweisen durfte.

Da er der Kaiserin, der er vor vier Jahren in Paris flüchtig vorgestellt worden war, bei Carrouge unmittelbar vor Aix entgegenreitet, trägt er die pelzverbrämte ungarische Husarenuniform und das Maria-Theresien-Kreuz auf dem Waffenrock, die höchste österreichische Militärauszeichnung. Eine schwarze Binde deckt das eine Auge, das er im Franzosenkrieg von 1813 durch einen Säbelhieb verloren hat. Was ihm, obwohl ihm die Verwundung Ehre macht, ein irgendwie verdächtiges, unheimliches Aussehen verleiht. Der einäugige Kavalier, so geschmeidig er im Sattel sitzt, ist Marie Louise beim ersten Anblick unsympathisch.

Nun, auch Napoleon war ihr von Haus aus höchst unsympathisch, als junges Mädchen hat sie ihn geradezu gehaßt und, wie man behauptet, mit der Armbrust in ihrem Kinderzimmer nach seinem Bild geschossen, später wurde sie seine Frau. Es spricht nicht gegen sie. Gäbe es eine Statistik der Liebesanfänge, so würde sich herausstellen, daß, von der weiblichen Seite her gesehen, mehr Liebschaften mit Abneigung beginnen, 151 als aus Zuneigung erblühen. Liebe auf den ersten Blick, wenn es sie überhaupt gibt, setzt eine fertige Persönlichkeit voraus, und die war Marie Louise bis an ihr Lebensende nicht. Sie war ein Durchschnittsweibchen, nicht besser und nicht schlechter als Millionen andere.

Nun übernimmt also der junge Reisegeneral – kein junger Mann mehr, aber ein junger General – die Führung des kleinen Zuges und es geht im Trab nach Aix-les-Bains, wo die vom Wiener Sanitätsrat verordnete milde Kur beginnen soll. Die junge Frau war etwas schwach auf der Brust, die Wiener Krankheit leider, und die kurierte man damals mit Molke und lauen Bädern. Marie Louise löffelt täglich ihren Molkenbrei und badet pünktlich zu den vorgeschriebenen Stunden in dem angeblich wundertätigen Wasser. Dann, am Abend, tanzt sie auch ein bißchen, wobei sich der unsympathische Graf Neipperg immerhin als ein gewandter und elastischer Tänzer entpuppt. Oder man musiziert ein wenig, damit die Zeit vergeht, und es ergibt sich, daß Neipperg eine prachtvolle Stimme hat und sie wohl zu gebrauchen versteht. Sein eines Auge aus der Höhle rollend, singt der Husarengeneral so dramatisch, daß die Wände schüttern. Marie Louise fühlt sich von Tag zu Tag wohler in Aix-les-Bains, ihre Gesundheit erstarkt sichtlich. Die herrliche Umgebung lockt, und es reizt sie, Ausflüge zu machen, zunächst kleine, dann auch schon etwas größere, zu Pferde und zu Fuß, in die Berge hinauf, wozu sie lang keine Gelegenheit mehr hatte. Graf Neipperg begleitet sie überall hin, wie es seine Pflicht, nein, bereits sein Recht ist. Er erweist sich als geschulter Reiter auch auf Gebirgspfaden und als ausdauernder Bergsteiger. Bis zur Schneegrenze kennt er Weg und Steg, überall weiß er Rat und Bescheid. Sogar in Sennhütten, wo er mit der jungen Frau allein ist, weiß er sich, wenn man dem Reisechronisten Meneval glauben darf, entsprechend zu 152 benehmen.

Aber wie war das nur? Wollte sie denn nicht eigentlich zu Napoleon nach Elba hinüberfahren, sowie ihr nur ein bißchen besser wäre? Jetzt ist ihr schon bedeutend besser, ja geradezu wohl zumute, und sie fährt noch immer nicht. Es scheint ihr in Aix-les-Bains je länger je mehr zu gefallen; »elle s'amuse«, berichten die Vertrauten nach Wien. Sie tanzt auf den öffentlichen Subskriptionsbällen, was gar nicht kaiserlich ist, und macht sich geradezu populär. Sie zieht die für alle Fälle mitgebrachten neuen Kleider an, sie blüht auf, sie lacht und trällert den ganzen lieben Tag. Wo sind jetzt die vom Wiener Sanitätsrat verordneten sanften Kuren? Molke löffelnd, als ob es Fruchteis wäre, Fruchteis, als wäre es die vorgeschriebene Molke, genießt sie unbekümmert ihr Leben. Ja wahrhaftig, das tut die junge Kaiserin, als ob sie nie abgesetzt und ihr Mann nicht eben erst nach Elba verstoßen worden wäre. Aber das eben macht böses Blut bei der französischen Bevölkerung, die für Taktlosigkeiten einer Frau in der Lage Marie Louisens wenig übrig hat. Die französische Regierung läßt durch den Mund Talleyrands der österreichischen den Wunsch ausdrücken, Marie Louise möge ihren erfolgreichen Badeaufenthalt baldmöglichst beenden. Kaiser Franz sendet einen von Metternich verfaßten Brief nach Aix-les-Bains, worin sofortige Heimkehr nach Wien dem vergnügten und vergnügungssüchtigen Töchterchen befohlen wird. Gleichzeitig wird auch ihre Suite abberufen, bis auf Neipperg.

Marie Louise läßt ihre Koffer packen. Aber es ist bezeichnend, daß sie schon einige Tage vorher, am 10. August, noch in Unkenntnis des Protestes Talleyrands, ihren Besuch in Elba abgesagt hat. Grund: sie müsse leider schleunigst nach Wien zurück. Aber sie kommt bestimmt demnächst. Viele Küsse. Es war ihr letzter Brief.

Ihre Begleitung ist bereits – Metternichs Hand noch einmal! – in alle Winde zerstreut. Der eine krank, der andere, 153 Monsieur Meneval, in Paris zurückgehalten. Sie bleibt mit Neipperg allein und treibt sich mit ihm, an Hochtouren immer mehr Gefallen findend, eine Zeitlang im Berner Oberland herum. Später, viel später heiratet sie ihn, der selbst mit einer durch ihn gefallenen Frau verheiratet war, die ihm fünf Kinder geschenkt hat. Inzwischen aber wird er zum Ehrenkavalier der Kaiserin und nach einiger Zeit zum Fürsten Montenuovo (Neipperg – Neuberg – Monte Nuovo) emporgeadelt. »Für geleistete Dienste.«

Die rührende Gestalt in dieser Hofintrige, die Metternich von seiner weniger sympathischen Seite als einen fast kupplerischen Staatsminister im Stil des achtzehnten Jahrhunderts zeigt, ist der betrogene Gatte, ist Napoleon. Von dem Augenblicke an, da er in Fontainebleau, am 8. April 1814, Gift schluckte, weil Marie Louise nicht gekommen war, hat er nicht aufgehört, um sie zu werben, auf sie zu warten. Er hat ihr auf der Fahrt nach Elba, ins Exil, ein Stelldichein in Brière gegeben, das sie verschmähte. Er hat ihr dann von Elba aus sogleich geschrieben und ohne Groll in der zärtlichsten Weise vorgeschlagen, nun doch zu ihm, wenigstens auf Besuch, zu kommen. Sie würde in Parma residieren, er auf Elba bleiben, aber man würde sich doch wenigstens hin und wieder einmal sehen können. Und so sicher rechnet er mit diesem ihrem Besuch, daß er, schon für die Sommerwochen, das Landhaus, das er sich oberhalb von Porto Ferraio einrichtet, entsprechend umbauen und die kühlsten Zimmer für die Kaiserin zuerst herrichten und bereithalten läßt. Auch ein Feuerwerk bestellt er für ihre Ankunft, damit sie gleich eine Unterhaltung hat. Unter einem nichtigen Vorwand reist sie nach Österreich zurück, und er schreibt ihr geduldig weiter dorthin, obwohl er keine Antwort mehr erhält. Wenn er dann, von Elba ausgebrochen, seinen unerhörten Siegeszug nach Paris antritt, eines der wunderbarsten Heldenmärchen der Weltgeschichte, richtet er, inmitten 154 hereinstürzender Ereignisse, in der Zeit zwischen dem 8. März und 4. April 1815 nachweisbar nicht weniger als sieben Briefe an sie. Noch von Lyon aus, bevor er Paris betritt, befiehlt, nein, bittet er sie: »Sois à Strasbourg du 15 au 20 Avril!« Der SOS-Ruf eines sterbenden Herzens, der wie alle seine Rufe unbeantwortet bleibt von der geliebten Frau, die bereits von »Papa« eine Rente von monatlich 1200 Francs bezieht und sie nicht aufs Spiel setzen will. Aber dieses große Herz stirbt nicht; dies Herz ist unsterblich.

Gewiß, die Kaiserin hätte sich kaiserlicher, hätte sich geschichtswürdiger benehmen können. Aber – wie Masson am Schlusse seines Buches über Marie Louise sehr schön sagt –: Geschichte ist, wenn man tot ist, und Marie Louise wollte leben. Und so lebte sie denn mit ihrem Ehrenkavalier in Parma, wo sie, sagt Masson, in Jahren nichts mehr an Napoleon erinnerte als vielleicht die Parmaveilchen, seine Lieblingsblume in den Tagen des Glanzes, die Blume des Empire.

Ein kleines Herz und ein großes. Das große hört nicht auf, für sie zu schlagen, und noch heute glauben wir seine Zuckungen zu spüren, wenn wir nachlesen, wie Napoleon sich auf Sankt Helena, durch einen Ozean von ihr getrennt, zu Marie Louise verhielt. Sechs Jahre lang verging kein Tag, an dem er sie nicht im Gespräch erwähnt hätte. Wiederholt noch unternimmt er den Versuch, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Denn seine unerschütterliche Liebe findet tausend Entschuldigungen für sie, die keiner einzigen wert war. Er hat sie nie verurteilt, ja nicht einmal beurteilt. Ihren Treubruch? Sehr einfach, er nahm ihn nicht zur Kenntnis. Vor die Wahl gestellt, zwischen Verachtung und Blindheit, wählte er sehend die Blindheit. Und als er starb, vermachte er ihr »seine Spitzen und sein Herz«. Je lègue à l'Imperatrice mes dentelles. Wieviel Zärtlichkeit birgt dieser einfache Satz. Was aber sein Herz betraf, so betrachtete er es nach wie vor als ihr persönliches Eigentum; er 155 ordnete letztwillig an, daß es in Weingeist zu bewahren und ihr zuzustellen sei, als letzter Beweis »que je l'ai tendrement aimé et que je n'ai cessé de l'aimer«.

Menschliche Größe! An Napoleon gemessen, hat Metternich nicht viel davon besessen. Aber er hat manchmal eine Ahnung gehabt von dem, was ihm dazu fehlte, wenn er in späteren Jahren von Napoleon sprach, was er mit zunehmendem Alter immer häufiger tat. Denn es war merkwürdig: seitdem er ihn besiegt hatte, konnte er nicht aufhören, von dem Besiegten zu reden. Er hatte dem Kaiser übel mitgespielt und blieb dennoch – oder eben darum? – zeitlebens sein Schuldner.

*

Vorläufig freilich war Napoleon immer noch nicht ganz besiegt, wie sich alsbald herausstellte. Während der Wiener Kongreß endlos weitertändelte, ein Menuett der Diplomaten, ein bebänderter Kuhhandel der Völker, ein Jahrmarkt der Liebe und ein Walzertraum der Politik, verbreitete sich eines Morgens in Wien die ungeheuerliche Nachricht, Napoleon sei von Elba ausgebrochen und bei Cannes ans Land gegangen. Metternich soll sie, von seinem Kammerdiener geweckt, um sieben Uhr früh erhalten haben und bereits um acht beim Kaiser gewesen sein. De la Garde behauptet sogar, daß die Bombe auf einem Ball geplatzt sei und einen Wiener Walzer mitten entzweigerissen habe. Man sah den König von Preußen zusammen mit dem Zaren sofort die Gesellschaft verlassen und Metternich am Arm des Herzogs von Wellington alsbald nachfolgen. Der Ball war aus.

Nun, so war es ungefähr, wenn auch nicht ganz so. Zieht man das makeup der Geschichte ab, so bleiben zwei Tatsachen bestehen. Die eine ist, daß man sich bereits in der zweiten Hälfte des Kongresses vollkommen klar war darüber, daß Elba 156 als Exil auf die Dauer unhaltbar sein würde, weil es zu nah der Küste und im besonderen zu nah den Besitzungen von Parma und Piacenza gelegen war, der künftigen Residenz der Kaiserin Marie Louise. Im vertrauten Zirkel der maßgebenden Staatsmänner war daher längst schon ein anderer Verbannungsort erwogen und der Name St. Helena genannt worden. Napoleon verschlechterte sein Los nicht durch jenen Theaterstreich der Landung in Cannes, den besonnene Historiker in seiner Conduite tadeln zu müssen glauben. Er kam seinem Schicksal nur damit zuvor und trat ihm als ein Held entgegen. Nach St. Helena wäre er wahrscheinlich auf jeden Fall gekommen.

Richtig ist ferner, daß Metternich, kaum daß er die Nachricht von dem Entweichen des Imperators in Händen hielt, eine Abwehrfront zustande brachte und die Koalition wieder aufleben ließ. Napoleon wurde geächtet, was kaum möglich war, wäre Marie Louise mit ihm noch verheiratet gewesen, und der Krieg gegen ihn sofort erklärt. Die »Hundert Tage« rauschten wie auf Adlersflügeln vorüber. Und es ist in ihrem Rauschen etwas von der ewigen Weltmelodie allen Lebens und aller Menschengeschichte, die uns noch heute schaudern macht. So haben nur Shakespeare und Beethoven den Atem eines Heldenlieds durch die Bälge ihrer Orgel getrieben.

Die Folie des Heldenlieds ist die menschliche Niedertracht, die Erbärmlichkeit der kleinen Herzen und einer um nichts größeren sogenannten öffentlichen Meinung, deren haltlose Käuflichkeit bei solchen Gelegenheiten sichtbar wird. Nachdem Napoleon den Fuß auf französischen Boden gesetzt hatte mit dem lapidaren Wort: »Der Kongreß ist aufgelöst!«, trat er einen Siegeszug durch Frankreich an, wie ihn die Welt weder vorher noch nachher jemals erlebt hatte. Die Bataillone gingen zu ihm über, die Regimenter, die Divisionen der Bourbonen, und während er an der Spitze ritt, wuchs der Zug seiner Getreuen hinter 157 ihm zum Heerwurm an. Es war wirklich so, wie er in seinem Manifest gesagt hatte: Der kaiserliche Adler flog von Kirchturm zu Kirchturm, bis er sich auf Notre Dame niederließ. Und wie spiegelte sich dieser Siegeszug, dieser Vormarsch in die Unsterblichkeit, in den Tintenfässern eines zeitgenössischen, eines leider immer wieder zeitgenössischen Journalismus? »Das Ungeheuer ist aus Elba ausgebrochen!« meldeten die Bourbonenblätter; und zwei Tage später: »Der Tiger ist in Cannes ans Land gegangen!« Drei Tage später: »Der Unhold ist in Grenoble angelangt!« Hierauf: »Der Tyrann marschiert auf Lyon!« Hierauf: »Der Usurpator bedroht Orléans!« Sodann: »Napoleon in Orléans angelangt!« Und schließlich: »Der Kaiser in Paris!«

In drei Wochen war die gesamte Bourbonenpresse wieder napoleonisch. Heute wäre sie's in vierundzwanzig Stunden. Die Verkehrsmittel haben sich verhundertfacht und es gibt keine Entfernungen mehr. Auch nicht der Gesinnungslosigkeit, wie wir aus nur allzu nahen Erfahrungen wissen.

*

Zwischen jener Landung und Waterloo, wo das Schicksal Europas für ein weiteres Jahrhundert besiegelt wurde, weil infolge einer irre gegangenen Meldung das Corps Grouchy um zwei Stunden zu spät auf dem Schlachtfelde eintraf: in dieser atemlosen Spanne Weltgeschichte hatte Metternich wohl kaum Zeit, sich darüber klar zu werden, was er auf dem Wiener Kongreß erreicht, was verfehlt hatte. Die zünftige Geschichtsschreibung, »von der Parteien Gunst und Haß verwirrt«, wie es nicht nur Journalisten, sondern auch Historiker sind, ist sich noch heute nicht schlüssig darüber, obwohl das eine ziemlich feststeht, daß er Österreich damals wieder großgemacht hat, größer, als es jemals war. Aber, fügten die norddeutschen 158 Historiker sofort einschränkend hinzu: auf Kosten Deutschlands. Und sie werfen Metternich vor, daß er bei der großen Aufräumarbeit des Kongresses vergessen habe, im deutschen Hause Ordnung zu machen. Kaiser Franz lehnte die deutsche Kaiserkrone, als sie ihm noch vor Paris im Winter 1814 zum zweiten Male angeboten wurde, zum zweiten Male ab und ersetzte in dem Entwurf eines Handschreibens an den Generalissimus Fürsten Schwarzenberg das Wort »Vaterland« durch »Meine Völker«, »Mein Staat«, in beiden Fällen durch den großen Anfangsbuchstaben des besitzanzeigenden Fürwortes den Familienbesitz betonend. Für Metternich war eben, das ist nachgewiesen, Nationalismus gleich Jakobinertum, was man ihm ein volles Jahrhundert lang in nationalen Kreisen bitter übelnahm, bis sich, in jüngster Vergangenheit, noch bitterer herausgestellt hat, daß Nationalismus tatsächlich Jakobinertum ist.

Dieser Punkt ist der interessanteste in jeder Metternich-Biographie und ist zugleich derjenige, in dem Geist und Ungeist sich am sichtbarsten zeigt, wie sich zumal an Werken dartun läßt, die seit dem Aufflammen des Nationalsozialismus in Deutschland geschrieben wurden. Dabei ist es lehrreich festzustellen, daß man Metternich im Maße, als ihm rechtsgerichtete Beurteiler den »Reaktionär« verziehen, den übernationalen Weltbürger übelnahm, so daß er nichts gewonnen hat als den Wechsel der Angriffsfront: ein Jahrhundert lang von links, wird er dann vorzugsweise von rechts befeindet und zumal im nationalen Lager als »österreichischer Verräter« (er war allerdings nie illegal) gebrandmarkt, der aus innerster Charakterlosigkeit und echt österreichischer Genußsucht den Augenblick versäumt habe, in dem er Österreich zur vorherrschenden deutschen Macht in Mitteleuropa machen, das heißt also ein deutsches Mitteleuropa, wenn nicht Europa, hätte anbahnen müssen. Und wann und wo hätte er diesen Nibelungentraum 159 verwirklichen können? Nun, eben auf dem Wiener Kongreß, in jener Nacht, die er sträflicherweise bei der Herzogin von Sagan verbracht hat. Hätte er damals nicht verschlafen – »sich verliegen« nannten es die mittelhochdeutschen Recken – so wäre am nächsten Vormittag Bayern an Österreich gefallen, und alles wäre schön und gut gewesen; denn dann hätte Österreich, durch das bayrische Gesäß standfest gesichert, seinen Arm bis zum Schwarzen Meer vorstrecken können. Indem aber Metternich diese günstige und einmalige Gelegenheit sich entschlüpfen ließ, habe er sich zugleich selbst zur geschichtlichen Bedeutungslosigkeit verurteilt. Er hat in jener Nacht bei der »maudite femme«, wie Gentz von ihr sagte, ein für allemal zugunsten der Genußsucht auf heldische Größe verzichtet und von da angefangen den Rest seiner Tage, mehr als vierzig Jahre, in einer traurigen, ihn selbst nicht mehr befriedigenden, öden Regierungsroutine verzettelt. Eine Auffassung, wie eine andere, die Walter Tritsch, ein jüngerer, vom Feuer des Nationalsozialismus sichtlich angeglühter Österreicher, im Jahre 1934 zum Ausgangspunkt seiner nationalgefärbten Metternich-Biographie machte. Für Tritsch schließt die historische Bedeutung des sich dem deutschen Nationalismus versagenden Helden mit dessen zweiundvierzigstem Jahre ab, den Rest glaubt er überschlagen zu dürfen. So alt nämlich war Clemens Metternich, als ihn Lawrence im Konferenzsessel des Wiener Kongresses, mit überschlagenen Beinen, etwas zurückgelehnt, in angenehm entspannter Haltung dasitzend malte, und man muß zugeben, daß er auf dem Bilde weniger wie Hagen Tronje oder wie Dietrich von Bern aussieht als wie ein großer englischer oder französischer Staatsmann seines Zeitalters, zwischen Pitt und Talleyrand etwa. Er sieht nämlich ausgesprochen europäisch aus.

Und eben dies ist es, was Tritsch und seinesgleichen nicht so sehr vergessen als vergessen machen wollen: daß Metternich in erster Linie Europäer war, in zweiter Linie Österreicher und 160 erst in dritter Deutscher. Europa, ein geeintes, ausgewogenes, glückliches Europa, war es, was ihm immer und überall vorschwebte. Auch jetzt wieder, als nach Napoleons Theaterstreich die Tragödie in mächtigen Auftritten unter dem Donnern der Kanonen abrollte, ließ er es nicht aus den Augen. »Oh monde!« sagte der besiegte Cäsar, als er wenige Monate später auf dem englischen Kriegsschiff »Bellerophon«, das ihn nach St. Helena brachte, die französische Küste entschwinden sah. Er sah nicht nur die französische Küste, er sah Europa versinken. Metternich aber, der ihn besiegt hatte, sah es jetzt erst aufsteigen. Und das war ihm wichtiger sogar noch als der Sieg über Napoleon. 161

 


 


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