Berthold Auerbach
Sträflinge / Ein Sonntagmorgen
Berthold Auerbach

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Eine erste Liebe und eine zweite

Wonnig schaute Magdalene andern Morgens zum Fenster hinaus, der Himmel war so schön blau, sie hätte hineinfliegen mögen, so leicht war's ihr. Die Luft war frisch und klar, auf dem Nußbaum in des Jakoben Garten glitzerten die Tropfen; es hatte heute nacht stark gewittert. Magdalene hatte den Sturm und das Gewitter verschlafen. Träumerisch hörte sie dem Buchfinken auf der Dachfirste gegenüber zu, der auch schon so früh auf war und schon was zu singen hatte; sie wollte ihn nachahmen und necken, verstand es aber nicht. Sie ging an die Arbeit und sang beim Holzhereintragen, im Stall und in der Küche, bis die Bäckenfrau durch das Schiebfensterchen rief, sie solle still sein, man könne ja nicht schlafen. Sie war still, aber innerlich war sie den ganzen Tag voll Jubel und Seligkeit; es kam ihr immer vor, als ob heut nochmals Sonntag sein müßte. Auf dem Speicher und in der Küche faltete sie oft die Hände und drückte sie fest aufeinander; sie sprach kein Wort, aber ihre ganze Seele war ein Gebet voll Dank und Liebe. Jetzt eilt sie hinauf in ihre Kammer, aber sie sieht nicht mehr nach der schönen Haube und dem weißen Goller, sondern nach ihrem Sparbüchlein, das ihr Doktor Heister freigemacht hatte. Sie drückt das Büchlein ans Herz und liest darin: Sie hat mehr als hundert Gulden ausstehen und das schon bald vier Jahre. Sie kann gut kopfrechnen, kann aber doch die Zinsen nicht vollständig herausbringen, weil noch etwas am Jahr fehlt und das Geld auch nach und nach eingelegt wurde. Es ist zwar eine Zinsenberechnung beigedruckt, aber da kann man jetzt nicht draus klug werden. Sie überlegt, ob es nicht besser sei, wenn sie das Büchlein Jakob zur Aufbewahrung gebe; ein Mann kann eher darauf acht haben. Es wird ihr auf einmal angst und bang, das Büchlein könne abhanden kommen; sie legt es zuunterst der Truhe und verschließt sie sorgfältig. Sie überlegt, was man mit dem Gelde anfange. Ein Äckerchen zu kaufen, dafür langt's nicht und trägt's nicht genug; ja, das ist's: Ein gutes Pferd und ein Wägelchen, das kriegt man dafür. Jakob kann gut mit dem Fuhrwerk umgehen, er fährt all Woch zweimal als Bote nach der Hauptstadt und hat einen schönen Verdienst. Freilich, das ist dumm, daß er so viel von Haus weg ist, aber es geht nicht anders, und er kommt ja wieder und die Freud ist um so größer.

Mit einem Wort, es war Magdalenen »wieseleswohl«.

Jakob war auch schon früh auf, er spannte einem Frachtfuhrmann vor. Er war heute auf dem Wege wieder sehr wortkarg, ging immer neben seinem Pferde und wehrte ihm die Bremsen ab. Da lächelte er einmal halb schmerzlich vor sich hin, denn er dachte: »Ich bin auch so ein Gaul, der im heißen Sommer den Frachtwagen ziehen muß und an den sich noch obendrein die Bremsen hängen, ihn stechen und plagen und ihm das Blut aussaugen.« – Während er so dachte, hatte er vergessen, auf das Tier zu achten, das nun von den fliegenden Quälern wie übersät war.

Oben an der Steige im Walde wurde haltgemacht. Jakob spannte sein Pferd ab. Der nächtige Sturm hatte hier tapfer gerast. Drinnen bei den Menschenkindern in ihren festgezimmerten Behausungen, da weiß er nichts zu fassen, und er packt nur im Mutwillen einen losen Fensterladen und klopft an, die Schläfer gemahnend, daß er wache. Draußen aber, da ist sein Reich. Er läßt das Korn aufwogen, eilt rasch fort nach dem Walde, weckt die schlafenden Bäume, daß sie rauschen und brausen wie das ewige Meer, von dannen er kommt, daß die sangfertigen Kehlen der Bewohner der Lüfte verstummen und denen gleich seien, die in der Tiefe der Wellen hausen; denn ein einziger vom Unsichtbaren ausgehender Odem beherrscht alles.

Das muß ein lustig Leben hier gewesen sein! Und wie dann der Sturm entflohen war und die segenbringende Wolke alles Leben erquickte! Darum jubilieren auch die Vögel so lustig in den Zweigen, und die Lerche steigt, auf sich selbst ruhend, hoch auf, gleich einem Gebete.

Dem alten Eichbaum am Wege, dessen Wurzeln gleich einer mächtig ausgebreiteten Riesentatze sich in die Erde graben, ist ein schöner junger Ast abgeknackt worden. Solch junger Nachwuchs taugt nicht mehr für den knorrigen Alten, das hat ihn der Sturm gelehrt. Auf dem Stumpfe des geknickten schlanken Astes sitzt ein Buchfink und singt fröhlich in den Morgen hinein; er lockt wohl seinen Gefährten. Ist es vielleicht der drinnen im Dorf auf der Dachfirste?

Jakob war schon sehr müde, sitzlings kehrte er auf seinem Pferde heimwärts. Im Vorbeireiten riß er sich ein Birkenblatt vom Baume, legte es zwischen die Lippen, und nun merkte man erst, wie vielerlei Weisen, lustige und traurige, Jakob im Kopfe hatte. Der Ton, den er durch das »Blätteln« hervorbrachte, glich dem eines schrillen Instrumentes, nur entfernt mit einem hochgezwängten Klarinettenton zu vergleichen; dabei war er aber der leisesten und zartesten Biegungen fähig. Besonders künstlich war, wie Jakob den Klang des Posthorns mit seinem eigentümlichen Zittern nachahmte.

Seitdem Jakob in das Dorf gekommen, war dies zum ersten Mal, daß er etwas von seinem Melodienschatze preisgab. Im Innern war es ihm aber gar nicht »singerig« zumut. Er machte sich grausame Vorwürfe über sein gestriges Benehmen, er ist weiter gegangen, als er wollte; er hat ein fremdes Leben an sich geschlossen, und doch ist ihm sein eigenes zur Last. Er sieht Qual und Kummer von neuem über sich kommen. Er gedenkt einer Vergangenheit – das Blatt entfällt seinem Munde, er fängt es aber noch glücklich mit der Hand auf und blättelt weiter. Er kam sich jetzt doppelt verächtlich vor, da er so hülflos und verlassen ein so herrliches Mädchen mit Gewalt von sich stoßen mußte. Und doch muß es so sein – das war der Schluß seiner Überlegungen.

Als er heimkam, bemerkte er, daß er das »Zielscheit« verloren hatte. Er rannte nun nochmals den Weg hin und zurück, für den er vorhin zum einmaligen Gehen zu müde war; aber vergebens, er fand das Verlorne nicht wieder. Alles, was er heute unternahm, ging ihm »hinterfür«, und selbst die Tiere waren wie verhext. Er trat den Braunen mit den Füßen, weil er sich nicht alsbald schirrgerecht an die Deichsel gestellt hatte; heute zum ersten Mal wurde er von Konrad tüchtig ausgezankt. Jakob ließ sich's aber nicht gefallen, sondern erwiderte scharf und bestimmt: der Adlerwirt könne ihn ja auf Michaeli fortschicken, oder morgen oder gleich heut, es sei ihm alles eins. Konrad schwieg, denn so arg hatte er's nicht gemeint.

So sind aber die Menschen, sowohl die, welche man Herren heißt, als auch die, welche wirklich Knechte genannt werden. Wenn ihnen etwas quer gegangen ist und sie in Verstimmung bringt, da zerren und reißen sie an allen Banden, die sie mit anderen verknüpfen; sie wollen noch unglücklicher, sie wollen losgetrennt und allein sein, damit niemand die Befugnis habe, sie ins Klare zu bringen, weil sie nur im Unklaren zu ihrer Verstimmung berechtigt sind.

Jakob wäre es noch besonders lieb gewesen, wenn ihn sein Herr beim Worte genommen hätte; er selber wollte nichts dazu tun, aber eine fremde Gewalt sollte ihn fortdrängen aus allen seinen jetzigen Verhältnissen, aus all dem Wirrwarr, den er hereinbrechen sah.

Jakob war sehr unglücklich. Ein Schauer überkam ihn, voll süßer Wehmut, wenn er an Magdalene dachte; sie konnte ihm sein Leben wieder aufhellen, und doch war auch sie gebrandmarkt, vor den Augen der Welt wenigstens. Sie waren beide arm – was sollte daraus werden? Er überlegte nun, daß er eigentlich noch gar keine Verpflichtung gegen Magdalene habe, alles war noch zu trennen; um dieses vollends zu bewirken, wollte er ihr berichten, wer er sei.

Mit diesem Vorsatze ging er den andern Abend zu Magdalene in die Scheune, wo sie kurz Futter schnitt. Sie setzten sich auf einen Kleebündel, und Jakob erzählte:

»Ich hab kein Jugend gehabt, ich kann dir nichts davon erzählen. Not und Elend macht vor der Zeit alt. Ich bin ein vaterloses Kind. Weißt du, was man da auszustehen hat? Von den Alten und von den Jungen? Der Schullehrer hat einen seinesgleichen aus mir machen wollen, ich will aber nicht. Eine Viertelstund von meinem Ort, da ist die Post, da war ich immer und hab geholfen. Ich hab zu essen bekommen, und die Reisenden haben mir auch oft was geben; ich hab aber nie einen angesprochen. Ich närrischer Bub hab gemeint, es kommt einmal ein König mit einer goldenen Kron auf, und der nimmt mich mit und macht mich glücklich. Ich hab allerlei dumme Geschichten im Kopfe gehabt und hab auch gemeint, der müss' kommen von dem mein Mutter nicht gern spricht und hab allen Menschen in die Augen gesehen. – Fort, es ist jetzt alles vorbei... Wie ich vierzehn Jahre alt war, hab ich das Postkärrele bekommen, und was meinst, wie wohl mir's war, wie ich den gelben Rock hab anziehen dürfen und den Glanzhut aufsetzen? Das war die glücklichste Zeit, die ich in meinem Leben gehabt hab. Hurra! Wie bin ich dahin gefahren auf meinem zweirädrigen Kärrele, ich war allein und hab selber kutschiert, jetzt war ich König. Mein Herr hat mich einmal geschlagen, weil der Gaul gefallen ist und hat sich beide Vorderfüß aufgeschürft. Am nächsten Ziel bin ich fort und bin Kutscher in der Stadt geworden.

Nach zwei Jahren bin ich fort. Warum? das gehört nicht daher. Ich bin nun Postillon in R. geworden. Jetzt war mir's erst wieder wohl. Mein Posthörnle, das war mein Freud. Ich hab manches Trinkgeld über die Taxe von den Reisenden bekommen, weil's ihnen gar wohl gefallen hat. Wenn ich nachts durch den Wald heimgeritten bin, da war mir's, wie wenn die Bäum sagen täten: Fang jetzt einmal an, spiel einmal eins auf, wir warten schon lang. Und da hab ich viel besser geblasen, als ich's eigentlich kann, und die Bäum haben sich selber vor Freude geschüttelt im Mondlicht, und der Wald hat selber zu blasen angefangen, und ich hab nicht mehr aufhören können, und eins hat das andere nicht ruhen lassen, und es war mir, wie wenn ich mein Leben lang, hundert Jahr so fortreiten sollt, und mein Gäul sind so still und fromm dahingangen, und ich selber war fromm und lustig und alles war prächtig.«

Jakob hielt eine Weile inne, biß scharf auf die Lippen, dann fuhr er fort:

»Ich bin jetzt nur noch der halb Kerle, der ich war. Ich darf's jetzt schon sagen, ich bin's ja nicht mehr, ich war ein ganzer Bursch. Die ganz Welt hat mich liebgehabt, und ich hab sie wieder liebgehabt; ich hab nicht gewußt, was Kummer ist, und alles hat mir freundlich gelacht, wenn ich's angesehen hab. Es ist vorbei... Mein Unglück hat in dem Haus schräg gegenüber von der Post gewohnt und das war die Frau von dem Kupferschmied, und die allein hat nicht gelacht und hat die Augen niedergeschlagen, wenn sie mich gesehen hat. Was ist da viel zu sagen? Wir haben einander gern bekommen. Jetzt war ich im Fegfeuer, und ich hab Tag und Nacht kein Ruh mehr gehabt. Guck, wenn unser Herrgott einen mit der siebenten Höll strafen will, da soll er ihn nur in eine Ehefrau verliebt machen. Ist man brav, da möcht man verbrennen; ist man nicht brav, da hat einen der Teufel und sein Großmutter am Bändel und läßt einen nicht ruhen und nicht rasten und gunnt einem kein fröhliche Minut. Wenn ein Bursch eine Ehefrau gern hat, sollt er sich nur gleich einen Stein um den Hals hängen und sich ins Wasser schmeißen, wo's am tiefsten ist. Oder ein guter Freund sollt's ihm tun, wenn er selber nicht will. Es gibt kein ander Rettungsmittel. Die Kupferschmiedin war siebzehn Jahr alt, wie sie geheiratet hat. Sie hat damals noch nicht gewußt, was das zu bedeuten hat; sie hat's zu spät erfahren. Der Kupferschmied war ein schlechter Gesell und hat sein Freud dran gehabt, sie zu peinigen. Er ist fast den ganzen Tag bei uns in der Wirtsstub gesessen und hat da gelumpt. Einmal hör ich, wie er zum Doktor sagt: ›Doktor, könnet Ihr mir nicht helfen? Mein Frau liegt mir nicht recht und steht mir nicht recht.‹ ›Warum? wo fehlts?‹ fragt der Doktor, und der Schmied sagt: ›Sie sollt halt auf dem Kirchhof liegen und im Kirchenbuch stehen.‹ Alles hat gelacht, ich wär gern hin und hätt ihm den Kragen rumgedreht. Er muß mir so was angesehen haben und nimmt einen harten Taler aus der Tasch, wirft ihn auf den Tisch und sagt: ›Jakob, den kriegst du zum Trinkgeld, wenn du mir mein Weib abnimmst.‹ Ich hab Angst vor mir selber bekommen, ich hab nichts sagen können und bin naus in den Stall und hab mir gewünscht, wenn ich nur ein Gaul wär oder gestorben. Ich hab mir heilig vorgenommen, gar nicht mehr nach der Kupferschmiedin umzuschauen; aber es ist nicht gangen. Am Sonntag drauf kommt gegen Abend eine Extrapost, ich spann an und fahr mit fort. Es waren zwei prächtige Leutle drin, ein junges Ehepaar, und die haben sich so gern gehabt, und sie hat immer gewollt, er soll rauchen, und er hat gesagt, es sei ihm so feierlich zumut, er könn jetzt nicht; und da haben sie die Handschuh auszogen und haben sich die Hand geben, und er hat ihre Hand an den Backen gehalten, und sie sind still gewesen. – Ich hab schon seit vielen Tagen nichts weiter als das Signal blasen, und jetzt war mir's, wie wenn mir einer das Posthorn an den Mund legt', und ich hab aufgespielt, daß es eine Art gehabt hat, und wie ich absetz, haben die beiden Eheleut in die Händ klascht und haben sich nachher küßt. Wie wir den Berg oben sind und die Sonn ist drüben so schön untergangen, da sagt er wieder: ich soll noch ein Stückle blasen, und ich hab's getan und hab nicht mehr aufgehört, bis wir auf der Station waren, und da hab ich einen harten Kronentaler Trinkgeld bekommen. Ich füttre nun und mach mich auf den Heimweg, die beiden Leutle grüßen noch zum Fenster heraus, und sie ist noch schöner ohne Hut. Ich bin fast immer die Steig hinauf neben meinen Gäul gangen, aber heut waren mir die Stiefel wie Zentnerstein an den Füßen. Es war mir, wie wenn ich im tiefen Wasser ging'; ich hab mich nicht regen können. Mein Sattelgaul guckt mich verwundert an, wie ich jetzt schon aufsteig. In Steinsfeld ist Kirchweih. Ich bind meine Gäul am Haus an und geh auch nauf zum Tanz. Der Kupferschmied ist auch da und tut wie ein lediger Bursch; ich hab mich aber nicht viel um ihn bekümmert und hab mich in eine andere Stub gesetzt. Heut zum ersten Mal hab ich's gespürt, daß ich viel geblasen hab, ein Schoppen langt nicht; ich trink mehr, ich hab ja auch mehr als dreifaches Trinkgeld. Jetzt bin ich grausam traurig geworden. Da sind die Burschen alle, und jeder hat seinen Schatz, und jeder darf ihn zeigen, und ich – ich hätt mir gern ins Gesicht geschlagen. Ich hab mein Schicksal verflucht und hab mir vorgenommen, die Sach zu ändern und wenn ich meinen Dienst aufgeben muß. Es ist schon gegen zwölfe, wie ich heim reit, und die Bäum am Weg haben tanzt, und die Stern haben mich wie zum Spott anblinzelt, und ich hab an die beiden Eheleute dacht und an daheim und an alles, und der Kopf hat mir geturmelt, und mein Horn hat auch den Teufel im Leib und will nimmer. Wie ich in den Wald komm, da geht der Kupferschmied am Weg; ich nehm mein Peitsch und tu ein Fitzerle nach ihm, nur zum Spaß, er aber schimpft, was er vermag, und geht auf mich los. Ich runter, ihn tüchtig durchklopfen und in den Graben schmeißen: das war alles eins.

Meine Gäul, die sonst ruhig stehen bleiben wie die Lämmer, waren davongegangen, ich muß ihnen schnell nach und hol sie richtig ein, dort wo's wieder den ›Stich‹ hinaufgeht. Tags darauf hör ich, daß der Kupferschmied krank im Bett liegt, er sei auf einen Stein gefallen und sei die ganze Nacht mit den Füßen im Wasser gelegen. Jetzt ist mir's doch bang worden und ich hab dacht, das wär nun die best Zeit, um auf und davon zu gehen; aber der Teufel hat mich am Narrenseil gehabt und hat mir allerlei vorgemacht. Der Schmied hat scheint's die Sach von Anfang nicht bekennen wollen. Samstag morgens hat mich der Schütz und ein Landjäger aus dem Bett geholt, und sie haben mich auf den Turm gesperrt. Ich sag nichts davon, wie mir's da gewesen ist. Der Torwart hat mir gesagt, der Schmied läg am Sterben. Wie ich nun so jeden Tag gehört hab, wie's geht, einmal schlimmer, einmal besser – du kannst dir nicht vorstellen, wie mir's da ums Herz war. Im Gefängnis hab' ich geweint wie ein Kind, und vor dem Richter war ich stolz und hab alles geleugnet. Er war gar scharf. Ich hab in der Nacht kein Aug zutun können, und wenn ich ja hab schlafen wollen, da bin ich wieder aufgewacht; um zwei Uhr da kommt der Postwagen grad durch das Tor, wo ich drauf sitz, den hab ich geführt, und jetzt war mir's allemal, wie wenn mir der Wagen über den Leib wegging', so hat mich's geschnitten, und der weiße Spitzhund hinten auf dem Packkasten hat bellt und hat mich ausgelacht. Nach vier Wochen ist der Schmied gestorben, wie sie sagen an der schleichenden Hirnentzündung. Jetzt hätte ich's gern eingestanden, ich kann aber nicht mehr, ich bin sonst verloren, und der Richter war fuchsteufelswild. Jetzt kommt das Ärgste« – sagte Jakob und baute beide Fäuste – »ich hab Prügel bekommen. Was ich da dacht hab, wie ich dagelegen bin und die ganz Welt hat auf mich losgeschlagen – unser Herrgott wird mir's verzeihen, aber die Welt wenn ich hätt anzünden können, ich hätt's tan. Und wenn sie mir das Paradies schenken, ich kann nicht mehr froh sein, solang ich unter Menschen bin.« –

Jakob war still, sein Atem ging rasch; Magdalene strich ihm mit der Hand über die Stirn und er fuhr fort:

»Ich hab alles eingestanden, mehr als ich tan hab, ich hab wollen köpft sein; nur fort, nur schnell. Kurzum, weil ich trunken gehabt hab und auch sonst noch, ich weiß nicht warum, hab ich nur fünf Jahr Zuchthaus kriegt. Ich bin da jahrelang allein gesessen. Was meinst, was einem da in Kopf kommt, wenn man keinen Menschen sieht und hört und spricht? Ich muß einen festen Hirnkasten haben, daß er nicht versprungen ist.

Siehst du, so bin ich. Ich hab einen Menschen aus dem Leben geschafft, hab kein Freud mehr an der Welt, hab niemand mehr gern, mag nicht mehr. Ich bitt dich«, fuhr er fort, die Hand Magdalenens fassend, »ich bitt dich, laß du mich auch; wer mich anrührt, hat Unglück.«

Magdalene saß lange still, endlich fragte sie: »Wie geht's denn der Schmiedin? weißt nicht?«

»Freilich. Sie hat schon lang wieder geheiratet, den Bachmüller; sie war eine Scheinheilige, ich hab böse Sachen erfahren.«

»Es ist dir doch recht schlecht gangen«, begann Magdalene wieder, »aber du bist doch gut, und es wird dir gewiß auch noch gut gehn.« Sie konnte vor Weinen nicht weiter reden.

Plötzlich stand Jakob straff auf. Es war ihm zumute, als ob er eine große Last abgelegt hätte; er fühlte sich so leicht und frei.

»Und wenn mir's gut geht, so mußt du auch dabei sein«, sagte er mit einer ganz andern Stimme als bisher. Er hob Magdalene in seinen Armen empor und trug sie wie ein Kind umher; endlich gab er ihren Bitten nach und ließ sie herunter.

Als sie auf dem Boden stand, sagte sie: »Nein, ich möcht dich auf den Händen tragen, damit du alles vergissest; gib nur acht, es wird schon.«

Jetzt erst waren die beiden selig.

Von nun an scheute sich auch Jakob nicht mehr, vor aller Augen mit Magdalene zu sprechen und sie zu besuchen.

Besonders oft standen sie hinter dem Hause beim Backofen. Das Verhältnis der beiden Sträflinge reizte aber die Spottlust im Dorfe. Als sie eines Abends so beisammen standen, hörten sie die Burschen nicht weit davon singen:

Und des Hudelmanns Tochter
Und des Bettelbuben Jung,
Die tanzen miteinander
Im Holdergäßle rum.

Der Hudelmann steht daneben
Und lacht überlaut:
Der Herr sei gelobet,
Meine Tochter ist Braut.

Das erste Gefühl Jakobs, als er diesen Sang hörte, war nicht Zorn, sondern Trauer über die Menschen; so sehr hatte er sich geändert.

Nach wenigen Tagen hatte auch die Spottlust ihr Genüge; und man ließ die beiden Liebenden ungekränkt.

Jakob hätte nun gern etwas Großes, etwas Gewaltiges getan, um seine Wiedergeburt, seine Rechtschaffenheit zu betätigen und das Glück zu erringen. Aber wo war ein Raum für ihn? Er arbeitete für zwei Mann, aber was nützte das? Er konnte jahrelang arbeiten, pünktlich und gewissenhaft sein; ein einziger Fehler zerstörte wieder alles, frischte das Brandmal wieder auf, das durch eine einzige Tat seinem Leben aufgedrückt und nie zu tilgen war, weder aus seinem Gedächtnisse noch aus dem der Menschen.

Er stand wieder einmal oben auf dem Berge und sah den abgeknickten Ast an der Eiche, der jetzt verdorrt war. Im Innern Jakobs sprach es. »Wie viel Jahre braucht so ein Ast, um zu wachsen, und ein einziger Sturmwind, ein einziger Axthieb knackt ihn in einem Augenblick ab... Was tut's? Wenn nur der Stamm gesund bleibt, der Saft strömt der Krone zu.«

Eine unwandelbare Zuversicht lebte in Jakob. Er trauerte wohl noch oft, es waren die Nachschauer eines langen Gewitters; die Sonne stand schon hoch und hell am Himmel.

Einen Schmerz aber konnte Jakob nicht verwinden, ohne ihn Magdalene mitzuteilen. Er fragte sie nach ihrem Vater, sie wußte nichts von ihm.

»Guck«, sagte er dann, »es ist jetzt kein Red mehr davon, daß wir voneinander lassen; aber tief tut mir's weh, daß wir so allein stehen, gar keine Familie haben. Ich hab mir früher als dacht, wenn ich einmal heirat, da möcht ich in eine große Familie hinein. So ein alter Schwiegervater und eine dicke Schwiegermutter und recht viel Schwäger und Schwägerinnen und Vaters Brüder und Schwestern und so alles, das muß prächtig sein. Und wenn's auch arme Leut sind, die einem nicht aufhelfen können und einem auf dem Hals liegen, man hat doch recht viel Menschen, die einem angehören und einem doch beistehen können in allen Sachen. So ohne Familie ist man wie ein Baum auf einem Berg, der steht allein und verlassen; wenn ein Wind kommt, packt er ihn von allen Seiten und läßt ihm lang keine Ruh. In einer Familie aber ist man wie in einem Wald; kommt auch ein Sturm, so hält man's miteinander aus und man hält zusammen. Was meinst du dazu? Hab ich recht?«

»Freilich«, seufzte Magdalene, »aber alle Menschen sind ja verwandt miteinander, wenn man's auch nicht so heißt, und... und... ich weiß nicht, wie ich's sagen soll: Die rechte Lieb ist doch, die man zu Leut hat, die nicht verwandt heißen; das ist viel mehr. Und glaub mir, ich hab mein Lebtag die Guttaten der Menschen genossen; es gibt viele, die noch alle gern haben, mehr als Verwandte; denk nur an den Schullehrer und an den Doktor Heister und an alle, die so sind, und das ist unser Familie, und die ist groß.«


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