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Ein Herz ist aufgegangen.

Schließen wir uns an Wendel und Egidi an. Wir treffen Luzian hemdärmelig hinter dem Tische sitzen, heitern Blickes dreinschauend. Die Angehörigen aber standen in der Stube und auf der Hausflur, so in starrem Schmerz in sich gebannt, als läge in der Kammer nebenan eine geliebte Leiche, deren ewiger Schlaf wie zu leisem Auftreten gemahnte. Die Schwiegertochter, die hochschwangere Frau Egidis, hielt die Kinder behutsam zum Schweigen an; sie wußten nicht, was all der stille Kummer bedeute, und ließen sich's gefallen, daß sie gegen alle Hausregel kurz vor dem Mittagsessen ein Butterbrot bekamen. Das Feuer auf dem Herde war ausgegangen und schickte seine Rauchwolken in die Hausflur und in die Stube, sobald sich diese öffnete; niemand blies das Feuer an. Die Knechte und Mägde trieben sich draußen umher, alle Ordnung schien aufgelöst.

»Willst's mithalten, Wendel?« fragte Luzian den Eintretenden, »von den Meinigen will keins an den Tisch; sie meinen, das sei mein Henkermahl, jetzt gleich nach dem Essen werde ich geköpft. Und ich sag' dir, ich habe einen weltsmäßigen Hunger, so hab' ich mein Lebtag keinen gespürt, grad wie wenn ich übers Hungerkraut gangen wär'. Ich möcht' nur wissen, ob die Hauptketzer, die den Pfaffen ins Zeug gefahren sind, auch allemal so einen Hunger gehabt haben, so einen grundrührigen. Weißt nicht?«

»Ich hab' noch nichts davon gehört, was der Doktor Luther zu Mittag gessen hat, wie er vom Reichstag in Worms in seine Herberge heimkehrt ist,« entgegnete Wendel, Luzian die Hand schüttelnd, und dieser begann wieder: »Also du mußt mir doch auch recht geben?«

»Freilich, es ist genug Heu unten gewesen.«

»Du bist halt der Wendel, du weißt, daß man die Birnen schütteln kann,« sagte Luzian aufstehend. Er ging die Stube auf und ab, in seinem Blicke, in seiner Haltung lag etwas Hoheitliches, wie wenn er plötzlich zum Feldherrn ausgerufen worden wäre und draußen harrten seiner die gescharten Völker. Er schlug sich ruhig mit beiden Händen mehrmals auf die Brust. als wollte er die sich bäumende Kraft darin beschwichtigen. »Also wie ein Mann muß die Gemeinde zu mir stehen,« sagte er endlich stillhaltend.

»O Luzian!« sagte Wendel und schaute mitleidvoll zu dem Abgewandten auf.

»Was ist?« rief Luzian, in halber Wendung sich umkehrend, sprühenden Auges, »was ist? wollen sie nicht?« fuhr er in scharfem Tone fort, indem er Wendel mächtig schüttelte, als wäre dieser der Unterbefehlshaber der aufrührerisch gewordenen Truppen.

»O Luzian!« sagte Wendel kopfschüttelnd, »lehr mich die Menschen nicht kennen. Ich bin nur um ein Jahr älter als du, aber ich bin weit in der Welt herumkommen. Guck, da zerren und bellen sie das ganze Jahr, und wenn einer heraustritt und er packt die Niedertracht bei der Gurgel und er kommt dafür in die Patsch, hui! da ist das Kätzle auf der Mauer, da will keiner was dabei haben, da duckt sich ein jedes und sagt: ja, warum hat er's auch so dumm angefangen? warum hat er sich so weit eingelassen? Er dauert mich – das ist noch das Höchste. Und wenn sie ja zusammenhalten thäten, wär' ihnen geholfen, aber da denkt keiner dran, da –«

»Also du glaubst?« fuhr Luzian auf, und seine Hand faßte krampfhaft den Sprecher.

»Daß du allein schaffst,« fuhr Wendel fort. »Du hist ein reicher Mann, du kennst's nicht aus Erfahrung, weißt aber doch: das schwerste Geschäft ist – allein dreschen. Wenn's mehr bei einander sind, thut sich's noch so ring, es ist, wie wenn der Gleichschlag den Flegel von selber heben thät. Lieber allein tanzen, als allein dreschen. So ist's recht, lach nur. Es geschieht dir auch nicht so viel. Der Pfarrer hat in der Predigt auf dich angespielt, das darf –«

»Nichts da, davon will ich nichts,« entgegnen Luzian. »Er oder ich. Aber du bist immer so ein Schneesieber gewesen. Laß du nur mich machen. Egidi! hol jetzt das Bäbi, es soll das Essen 'rein thun, ich muß bald fort.«

Egidi kam nach einer Weile wieder und sagte, Bäbi sei in ihrer Kammer eingeschlossen, sie weine, gebe keine Antwort und mache nicht auf.

»Es wird gleich da sein,« sagte Luzian, die Lippen schärfend. Die Frau hielt ihn unter der Thüre fest und rief: »Um Gottes willen gib doch Fried', ich will das Essen bringen.«

»Nein, das Bäbi muß her.«

Er machte sich los und ging die Treppe hinauf. Droben rief er: »Bäbi! mach' auf!«

Keine Antwort.

»Bäbi, ich, dein Vater ruft.«

Man hörte jemand schwer sich vom Boden aufrichten; ein Riegel wurde zurückgeschoben.

Luzian stand selbst eine Weile erschüttert beim Anblick des Mädchens.

»Was hast? was ist? komm abi,« sagte Luzian sanft.

»Vater, schlaget mich tot, aber ich kann mich vor keinem Menschen mehr sehen lassen,« rief Bäbi schluchzend und warf sich auf das Bett.

»Warum? warum? Gib Antwort, red, red, sag' ich.«

»Wenn ich nur tot wäre und der Paule auch,« stöhnte Bäbi endlich.

»Bäbi!« fuhr Luzian auf, die Haare standen ihm zu Berge, es überrieselte ihn eiskalt, »Bäbi, ich will nicht hoffen, daß es Eil' hat mit deiner Hochzeit; Bäbi, ich erwürg' dich jetzt da gleich,« fuhr er zitternd fort, »wenn's an dem ist. Soll der Pfaff sagen: so geht's bei dem Gottlosen her, und so sind seine Kinder? Bäbi, red, oder ich weiß nicht, was ich thu'.«

»Vater! ich mach' Euch kein' Schand,« erwiderte Bäbi.

Unwillkürlich hatte sie das Wort »ich« so scharf betont, daß es Luzian durchzuckte; er hielt an sich, und plötzlich kam eine seltsame Wandlung über ihn. Blitzschnell kam ihm der Gedanke, daß er seinem Kinde unrecht thue, weil er selber in Wallung war. Er schalt sich, daß er seinen Zorn an dem unschuldigen Kinde auslasse, und er sagte: »Verzeih mir, Bäbi, ich hab' dir unrecht than – ich will keinem Menschen unrecht thun, sonst bin ich verloren,« sprach er wie zu sich selber und fuhr dann fort: »Bäbi, dein Vater macht dir auch kein' Schand.«

Diese letzten Worte sprach er wie mit stockender Stimme, so daß Bäbi allen Kummer aus dem Antlitz wischte und wie erhoben zu ihm aufschaute.

Wie rasch schossen hier die Empfindungen hin und wieder. Bäbi wäre gern niedergekniet vor dem Vater, der sich so vor ihr demütigte.

Man muß sich die machtvollkommene, über Widerspruch und Einrede erhabene Stellung des Vaters im Bauernhause vergegenwärtigen, um zu ermessen, was es heißt, daß Luzian sich seinem Kinde wie ein Büßender gegenüberstellte. Ist es schon in andern Kreisen für einen abgeschlossenen, in sich ruhenden Charakter schwer, sich zu beugen, Irrtum, Fehl und Uebereilung offen zu bekennen, umgeht man gern das Geständnis in Worten und will solches stillschweigend aus der nachfolgenden That erkennen lassen – wie unsäglich mehr war solche rasche Reumütigkeit für den Vater hier. Das empfand Bäbi, und es that ihr tief wehe, daß sie den Vater so niedergedrückt hatte.

Heischt man auch im augenblicklichen Unmute oft ein merkliches Reubekenntnis, so wird doch ein edles Gemüt die Beugung rasch aufheben und mochte lieber sich selbst niederwerfen und um Verzeihung flehen, daß man es so weit getrieben.

Wie vieler an Ton und Zeichen gebundener Worte bedarf es, um dem unendlich raschen Fluge der Empfindung schwerfällig nachzugehen.

Vater und Tochter standen hier einander gegenüber, und in ihrer Haltung schien nichts erkennbar von der Weichmütigkeit, dem sanften Fassen und Heben in ihrem Geiste.

Der Blütenkelch eines Menschengemütes öffnete sich, das, wer weiß wie lange noch, verschlossen in sich geruht hätte.

Bäbi erkannte nur einfach, daß sie ihrem Vater helfen und beistehen müsse, statt ihn zu härmen; und schwingt sich ein Herz über das eigene Leid hinaus und sucht fremdes zu heilen, so ist die Erlösung gefunden.

Zum erstenmal in ihrem Leben wagte es Bäbi, die Hand ihres Vaters zu fassen; dann sagte sie: »Kommet, ich will das Essen auftragen.«

Viktor ward herbeigerufen und sprach das Tischgebet. Luzian hörte zu, als vernehme er's zum erstenmal, er schien jedes einzelne Wort in seinen Gedanken zu prüfen.

Wie er verkündet, so war's. Luzian hatte in der Thal einen weltsmäßigen Hunger, wie er's genannt hatte; er war dabei überaus heiter und wohlgemut. »Mich freut das Essen, und ich thue ihm seine Ehr' und Respekt an, ich mein', das war' der beste Dank gegen Gott,« sagte er einmal. Niemand antwortete. Die Frau schöpfte sich auch heraus, aber sie aß nicht. Egidi war ebenso lautlos.

Bäbi betrachtete den Vater immer mit freudestrahlendem Antlitze, als hätte er ihr eben erst das Köstlichste und Herrlichste geschenkt. Niemand ahnte, was in dem Mädchen vorging, und selbst Luzian wußte nicht, welch eine Wunderblume neben ihm aufgesprossen war. Bäbi, die es sonst nie gewagt hatte, bei Tische im Beisein des Vaters ungefragt ein Wort zu reden, sagte jetzt, lange nachdem der Vater gesprochen hatte: »Ja Vater, lasset Euch nur nichts zu Herzen gehen.«

»Sei ohne Sorg', es geschieht mir nichts an Leib und Leben,« erwiderte Luzian staunend, »aber jetzt halt' der Ahne das Essen warm und paß auf, daß es nicht anbrenzelt.«

Die Ahne war nämlich bald nach der Morgenkirche in der Kammer eingeschlafen. Luzian schöpfte ihr bei Tische zuerst und das Beste heraus.

Bäbi ging immer ab und zu, sie verkostete keinen Bissen, es kam ihr fast sonderbar vor, daß die Menschen durch Speise und Trank ihr Leben auffrischen, sie betrachtete die Speisen wie etwas, das sie gar nichts anginge; sie war so satt, so tiefgetränkt, daß sie glaubte, hundert Jahre so fortleben zu können.

In dem Hause, wo sie geboren und erzogen war, das sie noch nie verlassen hatte, schaute sich jetzt Bäbi um, als käme sie eben aus der Luft herabgeflogen und hätte sich nur hier niedergelassen; fragend schien sie zu forschen, wer denn gekocht habe, wer das Hans gebaut und eingerichtet, wie der Mensch so vielerlei nötig habe – sie wollte doch von allem nichts; sie schien fragen zu müssen, oh denn früher schon eine Welt da war, während ihr eigen Leben jetzt erst aufging. Ein neugeboren Kind, das reden könnte, müßte so die Welt erfassen.

Bäbi stand oft still, schloß die Augen und schaute in sich. Sie konnte es nicht in Worte und feste Gedanken setzen, aber sie fühlte es, in dieser Stunde war sie zum Bewußtsein ihrer selbst erwacht, wieder geboren. Wie hatte heute am Morgen namenloser Schmerz ihr ganzes Wesen aufzehren wollen, die süßeste, zuversichtliche Hoffnung war in unabsehbare Ferne gerückt. Jetzt war's ihr, als ob ein fremder Mensch in all den Klagen gerungen habe, sie selber war ja froh, wie abgelöst aus einer fremden Hülse. Sie mußte sich fast gewaltsam die Erinnerung zurückrufen, daß sie Braut sei, daß sie auf der Schwelle stehe, ein eigen Heimwesen zu gründen. Das war ein Kind, das solches erlebt hatte, wo ist es hin? Sie wäre gern zu allen Menschen hingeeilt und hätte ihnen gesagt, daß sie ihren Vater über alles liebe, daß er mehr sei als die ganze Welt. Und Paule? Der war ja eins mit ihr, der mußte ja alles mit erfahren und gedacht haben wie sie – oder war's nicht so?

Ein Mädchen, das den Vater verlassen, besinnt sich jetzt erst in der Entfernung der stillen Verehrung, die es für den Würdigen gehegt, sehnsuchtsvoll öffnet sich das innerste Heiligtum des Herzens, und hell strahlt das erhabene Bild aller Kraft und alles Edelsinns. Wie ganz anders tritt dann wieder die Tochter dem Vater entgegen.

Bäbi hatte sich von ihrem Vater mehr als räumlich entfernt, und sie erschaute ihn jetzt wie einen Heiligen, der ihr geraubt war. Nicht durch äußere Lehre, aus dem innersten Zusammenhang der Familie sollte Bäbi zum höchsten Leben erweckt werden.

Wir werden vielleicht das geheimnisvoll dunkle Walten in der Seele des Mädchens noch näher kennen lernen, wenn es nicht die scharfe Wirklichkeit in sich bricht.

»Was ist das für ein Lärm?« rief plötzlich alles in der Stube. Man sprang ans Fenster. Des Schützen Christoph drehte vor dem Hause die große »Rätsch«, das ist der Kasten aus gespannten Brettern, die ein Kammrad in Bewegung setzt. Die Rätsch dient statt der Kirchenglocken, wenn diese zur Fastenzeit nach Rom zur Beichte wallfahren. Was sollte das aber jetzt mitten im Sommer? Ein Teil der Tischgenossen rannte auf die Straße, um Erkundigungen einzuziehen, die übrigen eilten in die Kammer, wo die Ahne von dem plötzlichen Knattern der Rätsch aufgewacht war und laut schrie: das Haus stürze ein.

Bald erfuhr man, was vorging. Der Pfarrer hatte verordnet, daß, weil die Kirche entweiht sei, keine Glocken geläutet werden dürfen; er wußte wohl, daß die Kirche das Herz der Gemeinde, zumal am Sonntage, und dieses Herz kehrte er um und um; er ließ den Altar, die Gefäße u. s. w. aus der Kirche bringen und im Freien aufstellen, um dort den Mittagsgottesdienst zu halten.

»Kannst du das lesen?« fragte Luzian den Wendel, als sie in der Kammer waren, und deutete auf die innere Seite der Thüre.

»Ja,« entgegnete Wendel und las das mit Kreide hingeschriebene Wort: Thomasius!

»Komm heraus, ich muß dir was erzählen,« sagte Luzian und fuhr dann in der Stube fort: »Guck, wenn ich den Namen wieder seh' und hör', da weiß ich's ganz deutlich, wie es bei mir angefangen hat, daß ich den Pfaffen so auf den Haken sitze; die Hexen sind daran schuld und die Ahne drin.«

»Wie so? Hältst du denn die Ahne für eine Hex'?«

»Umgekehrt ist auch gefahren. Ich hab' mir so denkt, wenn die Ahne in alten Zeiten gelebt hätt', wer weiß, ob sie nicht verbrannt wär', sie hat oft so gewundrige Sachen an sich. Und da, da ist mir's siedig heiß eingefallen, wie doch vor alters die Welt so grausam verdammt dran gewesen ist. Ich hab' den alten Pfarrer darüber befragt, warum denn die Geistlichkeit das so lang zugeben hat, und da hat er mir gestanden, daß man wirklich und wahrhaft an Hexen glaubt hat. Wie ein Blitz ist mir's da ins Herz geschlagen: also so? Euer Sach' ist auch nicht unfehlbar? Ihr könnet auch den letzen (falschen) Weg gehen, und die Weihe und der heilig' Geist hilft nichts . . . Und da hab' ich dem Pfarrer gesagt, warum denn die Lüge von den Hexen und der Zauberei in der Bibel steht. Da hat er die Achseln zuckt und mir ein' Pris' anboten, weißt, wie er oft than hat, wenn er nimmer hat reden dürfen. Er hat hernach wieder sein' alt' Sach' vorbracht, ich soll das Bibellesen sein lassen, das pass' nicht für einen katholischen Christen, da kuspern die Lutherischen immer drin 'rum. Wie ich fortgeh', gibt er mir ein Buch mit zum Lesen. Da steht alles drin. Der Hexenglaube ist ein Bestandvieh, das der alt' Moses aus Aegyptenland bei uns eingestellt hat, und wir müssen Kälber davon ziehen, oder aber es mästen mit dem besten Futter von unsern Matten. Die Lügengeschicht' von den Hexen ist uns von den Juden und aus der Heidenzeit verblieben. Der Doktor Luther hat dem Teufel auch nicht den Genickfang geben, er hat ihm nur das Tintenfaß an den Kopf geschmissen, und er ist schon vorher schwarz. Guck, und weil ich jetzt gewußt hab', daß es keine Hexen und keinen Teufel gibt, da ist alles bei mir zusammengepoltert, grad wie wenn man bei einem alten Haus auf der einen Seite eine Wand einreißt und auf der andern fällt's von selber ein.«

»Was hast du denn aber mit dem Thomasius?«

»Ja, der Mann hat dem Faß den Boden ausgeschlagen. Jetzt horch'. Von all den tausend und aber tausend Geistlichen ist keiner dem Lügenwesen vom Teufel und Hexen auf den Leib gangen, Narr, es steht ja in der Bibel, und sie brauchen's zum Pelzmärte, der Thomasius allein hat die Sach' am rechten Zipfel gefaßt. Die Geistlichen sind immer mit gangen, wenn man so eine arme alte Frau verbrannt hat, und haben noch betet aus ihrer Bibel und aus anderem. Ich hab' dem alten Pfarrer offen gestanden, daß vieles bei mir nichts mehr gilt, da hat er nur so geschmunzelt und hat gesagt: das sei schon lang und wird immer so sein, daß die Gescheiten auf vieles nichts mehr halten, aber der große Haufe, das Volk kann nicht davon lassen. Was meinst, wie mich das grimmt hat? Jetzt, wenn ich nicht von selber drauf kommen wär', so stecket' ich auch noch im großen Haufen? Eure verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist's, ihr Geistlichen, daß keiner in der Geschichte stecken bleibt und an Teufel und Hexen glaubt, die es gar nicht gibt. Da predigen und lehren sie das ganze Jahr Sachen, von denen sie so wenig wissen wie wir, da stopfen sie die Kinder voll mit Zeugs – ich möcht' oft die Wänd' 'nauf, wenn ich hör', was mein Viktor Tag für Tag auswendig lernen muß – und wenn sich das hernach in den Gedanken verhärtet und verbuttet, da schreien sie: Man darf dem Volk nicht an seinem alten Glauben rühren. Ja, wer hat ihn denn hineingepflanzt? . . . . Das Volk! das Volk! Weißt denn, wer das Volk ist? Wenn ich das Wort hör', geht mir allemal die Gall' über. Wer halt nicht mit regiert, geistlich oder weltlich, der ist Volk.

Der neue Pfarrer ist doch gewiß mein Mann nicht, aber da hat er recht: was die Herren nimmer mögen, das sollen wir, das soll das Volk auffressen. Aber es ist grad das Gegenteil von dem, was er gesagt hat: Die Aufklärung ist's nicht, hingegen aber der Lutschebrei.

Aber die Bibel? Das Wort Gottes? Es steht die Geschicht' von den Hexen und dem Teufel und der Zauberei drin – ich will nichts von der Bibel. Guck, noch jetzt, wenn ich das sag', ist mir's, wie wenn ich einen Stich mitten durch den Leib bekäm', aber es geht nicht anders. Dazumal bin ich dir Tage und Wochen herumgelaufen, wie wenn mir einer das Hirn aus dem Kopf genommen hätt'! Es nützt aber alles nichts, in die Bibel hinein kriegt man mich nimmer.«

»Ja, Luzian,« schaltete Wendel ein, »ich seh's wohl, du bist weit ab vom Fahrweg.«

»Freilich. aber ich hab' doch ganz allein den Weg zu unsrem Herrgott gefunden, ganz allein, ohne Pfaff. Ich werd' die Nacht nie vergessen, es ist mir, wie wenn's heut wär'! Ich bin im Spätjahr in G. und mach' mit dem R. einen Bretterhandel ab, du kennst ihn ja, er ist ein gescheiter Mann, er kämmt sich seinen borstigen Backenbart allfort mit einem Weiberkämmle und macht viel Späß', er ist auch beim Landtag. Wie wir nun beim Weinkauf sitzen, geht mir das Herz auf, und ich klag' ihm mein' Not; da lacht er, daß er sich am Tisch heben muß und die Butellen mit wackeln. Ich mag's nimmer sagen, was er vorbracht hat, und wie er sieht, daß es mir bitterer Ernst ist, klopft er mir auf die Achsel und sagt: ›Luzian, folget mir und schlaget Euch die Sachen aus dem Kopf, das Sprichwort sagt: Es ist kein Strick so lang, man findet sein End; das ist aber beim Pfaffenstrick nicht wahr. Darum muß man in der Religion die Leut' für sich machen lassen, was man denkt, bei sich behalten, mögen andre glauben, was sie wollen. Luzian,‹ sagte er, ›Ihr wisset so gut als ich, man muß das Brett bohren, wo es dünn ist, aber da sitzt eine Astwurzel, da bricht der schärfste Bohrer. Lasset Euch ja von Euren Gedanken daheim nichts merken, von keiner Menschenseel'. Wir haben auf Euch gerechnet, Ihr müsset bei der nächsten Landtagswahl Abgeordneter werden, der Alte, der, wie Ihr wohl wisset, das ganze Land im Sack hat, hilft Euch auch, aber von Religion darf dabei nicht die Rede sein. Es kann Euch nicht fehlen; aber wenn das gemeine Volk merkt, daß Ihr ihm an seinen Glauben wollt, da ist's aus und Amen . . . .‹ So redete der R. Was meinst, Wendel? Wenn mir eins ins Gesicht geschlagen hätt', es hätt' mir nicht weher than. Ich hab' still austrunken und bin heim. – So? Also auch die Leut', die thun, wie wenn ihnen der Teufel aus der Hand fressen müßt', die wollen in dem Stück von der Religion nicht 'raus mit der Farb', man fürchtet sich? Guck, Wendel, ich hab' zu gar nichts mehr auf der Welt Zutrauen gehabt. Ich hab' austrunken und bin fort, heime zu, und es ist mir doch grad, wie wenn ich auf der ganzen Welt nirgends mehr daheim wär', es geht mich niemand mehr was an; ich geh' aber die Straß' hin, wie wenn mich eins fortschuben thät. Brennend heiß ist's über mich kommen: Ja, ja, es hilft einem kein Mensch auf der Welt, du mußt dir selbst helfen. Wenn ich nur wüßt', wo ich's anpack'. Jetzt ist mir's gewesen, wie wenn ich gestorben wär', die Leut' laufen 'rum und wollen mich begraben, und ich kann ihnen nicht zurufen, daß ich leb'. Jetzt hab' ich ausdenken wollen, wie's sein wird, wenn ich gestorben bin, was meine Leut' machen und die andere, wie's im Dorf aussieht, was sie reden und treiben. Ich bin aber nicht weit kommen, da kann ich nimmer fort mit meinen Gedanken. Alles ist mit mir gringel'rum gangen, wie dazumal, wie ich auf den Straßburger Münster 'naufgestiegen bin und ich gemeint hab', jetzt müss' ich mich 'nunterstürzen; ich hab' laut aufgeschrieen, und ich hab' gemeint, ich werd' närrisch. Mein Lebtag hab' ich doch kein' Angst gehabt, und jetzt ist mir's, wie wenn aus jedem Busch einer käm' und schießt mich tot, da liegst du. Jeder Steinhaufen am Weg kommt mir wie ein Untier vor, das da liegt und nur wartet, bis ich dort bin und dann aufschnappt. Ich hab' beten wollen und hab' nicht können . . . .«

»Ja, Luzian, das sind die Geburtswehen, dazumal ist der alte Luzian gestorben und der neu' auf die Welt kommen,« schaltete Wendel ein.

»Horch, paß auf,« fuhr Luzian fort: »Wenn mich jetzt der Tod streckt, hat mir's doch eine Menschenseele abgenommen. Es ist lang Nacht, kein Stern am Himmel, und aus allen Zinken und Ecken flimmert ein Licht auf den einzechten Häusern, und wo ich an einem Haus an der Straß' vorbeikomm', da hör' ich beten. Ich steh' manchmal still, und es friert mich und ist doch gar nicht kalt. Die Hunde bellen und geben kein' Ruh, die Leut' gucken zum Fenster 'raus und beten weiter und schauen, was es gibt; fort, fort bin ich wie ein Galgendieb, es war mir, wie wenn ich den Leuten was aus ihrem Gebet gestohlen hätt'. Jetzt fängt es sachte an zu regnen, es säuselt nur so herab, der Kopf hat mir brennt, und das hat mich ein bißle abkühlt. Ich bin so meines Weges fort, und es hat sich mir ein Lied durch die Seel' gesprochen, das die Mutter singt:

Alte Welt, Gott segne dich,
Ich fahr' dahin gen Himmelrich.

Ich hab' nun gar nichts andres im Sinn gehabt als die paar Worte, die haben sich immer allein gesungen, und es ist mir gewesen, wie wenn mich eines nach der Weisung von dem Lied am Leitseil halten thät', und da ist mir's wieder sterbensangst worden, und ich hab' laut aufgeschrieen und bin selber erschrocken, wie's im Wald widerhallt. Der Regen ist stärker kommen, und es hat nur so platscht, und ich hab' dir kaum einen Fuß heben können, meine Kniee sind wie abbrochen; ich schlepp' mich noch fort bis zu dem Steinbruch, wo du das ganze Jahr schaffst; unter deinem Strohdach dort hab' ich mich auf die Steine hingelegt. Ich hab' kein' Müdigkeit mehr gespürt, wie ich so dalieg', aber doch ist mir's, wie wenn ich von der ganzen Welt ausgestoßen wär', ich hab' keine Frau und keine Kinder und kein Haus, nichts, nichts – und unser Herrgott droben verläßt mich auch. Da hab' ich unsren Herrgott bittet, er soll mir ein Zeichen geben, ein Zeichen, was es sei, daß ich weiß, ich bin nicht auf dem unrechten Weg. Still hab' ich hingehorcht, ob nichts kommt; es läßt sich aber nichts hören, als der Regen, wie er durch die Bäume rieselt und rauscht, wie wenn Blatt und Zweig zu einander sagen thäten: Es schmeckt gut und frisch, laß dir's wohl bekommen, ich hab' auch mein Teil. Jetzt spricht sich wieder das alte Lied:

Alte Welt, Gott segne dich,
Ich fahr' dahin gen Himmelrich.

Wie ein Blitz ist mir's jetzt aufgangen; das ist noch alter Aberglaube von dir, daß du ein Zeichen willst; es ist erlogen, daß je einer eins bekommen hat, sonst müßt's jetzt auch sein, und da hätt' unser Herrgott viel zu thun. Was Engel! Gibt's keine Teufel, so gibt's auch keine Engel. Sind einmal Wunder geschehen, so müßten sie auch jetzt vorkommen, weil aber jetzt keine geschehen, so sind auch nie keine geschehen. Sag du, Bibel, was du magst. Und jetzt wird mir's auf einmal, wie wenn ich in lauter Seligkeit schwimmen thät': Du willst rechtschaffen sein! hab' ich laut vor mich hingesagt, und alles hat mir in Freuden gelacht wie lauter liebe Menschengesichter, die ich seh' und die ich doch mit keinem Aug' erblickt hab', und jetzt hab' ich's ganz deutlich gespürt: Ja, ich bin auf dem rechten Weg . . . . Ich kann dir nicht sagen, wie mir's war, aber so, wie wenn mich unser Herrgott selber geküßt hätt', und ich bin aufgesprungen und hätt' gern jetzt die ganze Welt glücklich gemacht. Ich hab' gewußt und weiß es, ich bin nicht schlecht und will nicht schlecht sein. Was will ich denn? Könnt' ich nicht in Fried' und Ehren leben, wenn ich den Aberglauben sein ließ'? Aber ich darf nicht und will nicht. Ich hab' mich wieder umgelegt, ich mag nicht heim, mir ist so wohl da draußen, wie wenn ich vom Tod auferstanden wär'; so glücklich bin ich noch nie gewesen, wie da in der Stund'.«

»Du bist ja dagelegen wie der Erzvater Jakob auf dem Stein, wo er gesehen hat, wie die Engel auf einer Leiter auf und nieder fliegen vom Himmel,« bemerkte Wendel schalkhaft; Luzian aber erwiderte ernst:

»Was! auf und nieder steigen von dem Himmel! das ist ja auch alter Aberglaube, daß auf dem blauen Deckel da oben unser Herrgott sitzt. Nein, mir ist's anders gewesen, rings 'rum um die ganze Welt gibt es Menschen, freie, gute, die sind mir lieber als die Engel, die auf und ab steigen. Ich bin gleich fertig, ich muß dir auserzählen. Erst gegen Morgen bin ich heimkommen, und meine Leut' haben nicht gemerkt, warum ich von da an so heiter gewesen bin, der Ahne hab' ich's so halb und halb berichtet. Ich will mich nichts berühmen, es könnt' ein jedes braver sein, wenn es sich ehrlich fragt; aber von dem Tag an hab' ich mit Wissen und Willen gewiß keinem Menschen was Leids than und hab' geholfen, wo ich kann. Darum bin ich jetzt so heiter. Guck, die Pfaffen, die plagen einen immer mit unsrer Sündenschuld, ja freilich, es hat ein jedes sein Bündele, aber man kriegt' mehr Kraft, wenn man einem sagen thät': freu' dich an dem Rechtschaffenen, was du than hast. Wenn man's betrachtet, will's eigentlich nicht so viel heißen, und man thut weiter. Guck, das Blut könnt' ich teilen mit meinen Nebenmenschen, und ich schäm' mich, wenn sie sich für einen guten Dienst bei mir bedanken, und da soll ich mir von dem Pfaff sagen lassen, das sei alles für die Katz', wenn man den rechten Glauben nicht hat? Nein, und neunzigmal nein. Wenn ich nicht vor mir selber sagen kann, du willst rechtschaffen sein, da bin ich verloren. Erst heut hab' ich meiner Bäbi unrecht than und . . .«

In diesem Augenblick hörte man ein Geräusch in der Küche. Das Schubfensterchen, das nach der Stube führte, ging ganz auf, eine Pfanne fiel lärmend auf den Steinboden. Luzian setzte nur noch hinzu: »Aber das ist jetzt vorbei.«

»Du guter Kerle,« schloß Wendel, »du hast dich hart angriffen und plagt, bist 'rumgelaufen wie ein verscheuchter Dieb und ist doch gar nicht nötig gewesen. Narr, was man nicht verheben kann, das läßt man liegen. Ich hab's viel kürzer gemacht. Wie ich zu Verstand kommen bin, und es hat vieles nimmer 'nein wollen, da hab' ich's halt draußen gelassen mit aller Ruh. Mag die Bibel und alles, was davon herstammt, sehen, wo es ein Unterkommen findet, bei mir ist kein Platz. Ich lass' aber die andern Leut' auch treiben, was sie wollen; ich dürft' nichts anfangen, wenn ich auch wollt'. Ich muß von meinem Handwerk leben und gelte drum nicht viel; du, du darfst dich schon eher an den Laden legen, du bist der reichste Mann im Ort.«

»O Wendel!« sagte Luzian mit weicher Stimme, »du kannst dir nicht denken, wie tief es bei mir gesessen ist; drum darf ich meine Nebenmenschen nicht laufen lassen, ich muß ihnen helfen. Und da siehst du's jetzt an dir selber, wie es in der Welt steht, daß man reich oder g'studiert sein muß, wenn das Wort von einem was bedeuten soll. Wo ist da die Religion?«

»Ja, Luzian, du solltest halt auch auf einem andern Platz stehen.«

»Nein, ich möcht' gar nichts anders sein. Ich hab' mich auch lang mit dem Gedanken plagt, aber es ist am besten so. Guck, was anders sein wollen, was man einmal nicht sein kann, das ist grad, wie wenn man sich mit dem zukünftigen Leben nach dem Tod abquält. Heut ist Trumpf, sagt der Geigerler, jetzt bin ich da, und was ich bin, will ich recht sein. Von Tag zu Tag ist mir's heller und klarer worden: es ist vorbei, daß man mit alten Säcken neue flickt. Bruderherz! Jetzt geht's los, und ich freu' mich drauf, daß das Gebittschriftel ein End' hat; jetzt, Vogel, friß oder stirb.«

»Ich fürcht',« sagte Wendel kopfschüttelnd, »ich fürcht', du wirfst das Beil zu weit 'naus. Du bist gegen die Franzosen ins Feld, und dein' Flint' ist nicht warm worden, es kann dir noch einmal so gehen, und der Feind jetzt ist viel schwerer zu finden als der Franzos. Glaub' mir, wenn auch die Leut' ihre sieben Gedanken zusammenraspeln könnten, es ist jetzt grad die unrechteste Zeit, wo an allen Ecken der Bettelsack 'naus hangt. Ich will aber doch jetzt umschauen, wie's im Dorf steht.«

Wendel ging davon und Luzian zur Ahne in die Kammer.

Die Wände haben Ohren. Durch das Schubfensterchen hörte Bäbi alles, was der Vater gesprochen, ihr ganzes Wesen bebte in stiller Freude; sie saß dann lang in Gedanken auf dem Herd und vergaß, das Geschirr zu spülen. Als endlich Paule kam, trat sie ihm mit den Worten entgegen: »Mein Vater ist der heiligste Mensch von der ganzen Welt.«


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