Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Glocke läutete hell; ihre Töne zerflossen sanft in dem lichten Mittag; die Menschen kehrten von ihrer Arbeit heim. Die Männer gingen mit der Mütze in der Hand von den Feldern auf die Straße; die Stimme Gottes hatte sie gerufen, das harte Feldgerät aus der Hand zu legen, heimzukehren und sich zu stärken am Gebete und an irdischer Speise. Ein junger, schlank gewachsener Mann war die Straße von der Stadt heraufgekommen. Er war städtisch gekleidet und hatte einen braun marmorierten Ziegenhainer Stock, in den viele Namen eingeschnitten waren, in der Hand. Als er nun das Dorf so vor sich ausgebreitet sah, blieb er stehen, horchte hin nach dem Geläute und schaute umher in den Wald der blühenden Obstbäume, die das Dorf umdrängten. Er grüßte die Leute, die vom Felde herüber kamen, mit einer besondern Freundlichkeit, ja, als ob er sie kenne. Die Leute dankten herzlich und schauten sich alle nochmals nach ihm um, sie meinten, das müsse einer aus dem Dorfe sein, der aus der Fremde heimkehre; er hatte sie ja so durchdringend angeschaut, und doch kannten sie ihn nicht.
Als die letzten Töne der Glocke verklungen waren, als alles auf dem Felde stille, kein Mensch mehr zu sehen war und nur die Lerchen hoch in der Luft jubelten, da setzte sich der Fremdling an den Wegrain, schaute noch lange hinüber nach dem Dorfe, zog endlich eine Brieftasche heraus, und oft wieder um sich blickend, schrieb er hinein:
»Griechen und Römer! Wie hoch schallten eure Triumphe, wie schmetterten eure Kriegstrompeten, aber nur das Christentum grub das Erz aus den dunklen Schachten der Erde, ließ es hoch in den Lüften schweben und weithin seinen Klang ausgießen, zur Anbetung, zur Freude und zur Trauer. Wie herrlich mögen die Harfen und Pauken im Tempel zu Jerusalem geklungen haben; aber nicht mehr ein Tempel steht auf der Erde, tausende hieß das Christentum erstehen allerorten.. – Mir war's vorhin, als ob die Glocken erschallten zum Einzuge in meinen neuen Bestimmungsort, als ob die Stimme Gottes mir Willkommen zuriefe. Wohl saht ihr euch verwundert nach mir um, ihr guten Menschen, ihr wußtet nicht, was wir einander werden sollen. O, könnt' ich die Seelen dieser Menschen ganz in meine Gewalt bekommen, ich wollte sie frei machen von ihrem trägen Aberwitze und sie kosten lassen die reinen Freuden des Geistes. – Da wandeln sie aber hin, und gleich dem Tiere, das vor ihnen hergeht, sehnen sie sich nach nichts als nach dem Futter für ihren Mund . . . Das also ist der Ort, wo mein erneutes Leben beginnt; diese Schluchten und Ackerflächen, mit welchen Gedanken wird mein Auge auf ihnen weilen? O, die Erde ist überall schön und freudespendend, wo es Blumen gibt. Und wenn die Menschen mich nicht verstehen, verstehst du mich doch, o ewige Natur, und lächelst mir freundlich zu, wenn ich deinen stillen Offenbarungen lausche . . . Da stehen die Bäume in ihrer Blütenpracht, und drinnen im Dorfe hör' ich das Jauchzen der Kinder, in deren Herzen ich den Lichtstrahl der Bildung werfen soll . . .«
Der Schreibende hielt inne; seinen Stock betrachtend, sagte er leise vor sich hin: »Nach allen Gauen hin seid ihr zerstreut, ihr Genossen meiner Jugend; nichts als eure Namen hier sind mir geblieben, und mit ihnen betrete ich die Schwelle meines neuen Lebens, ihr alle begleitet mich im Geiste. Ich sende euch einen Herzensgruß hinaus in den Frühling, möge er euch wiedertönen aus dem Munde der Vögel in den Lüften und eure Seele erquicken!«
Rasch stand er auf und schritt durch das Dorf.
Wir wissen nun, daß wir den neuen Schullehrer in dem jungen Manne kennen gelernt. Er fragte nach dem Schultheiß, man wies ihn in das Haus des Buchmaiers.
Der Buchmaier saß mit seinem zahlreichen Hausgesinde bei Tische, als der Fremde eintrat. Nach herzlichem Willkomm wurde er eingeladen, sich zu Tische zu setzen; der Lehrer dankte.
»Ei was?« sagte der Buchmaier, der sich alsbald wieder gesetzt hatte, da er sich beim Essen durchaus nicht stören ließ, »rucket ein bißle zusammen, ihr da. Hurtig, Agnes, hol einen Teller. Da setzet Euch her, Herr Lehrer. Bei uns geht's nicht wie bei den Horbern, die sagen immer: wäret Ihr bälder kommen; wer bei uns zur Essenszeit kommt, muß mithalten. Wo Ihr jetzt hinkommt, kriegt Ihr doch nichts mehr, und da ist gekocht; Ihr müsset halt fürlieb nehmen mit dem, was da ist. Ihr kommt gerade zu einem rechten Schwarzwälderessen: gerührte Knöpfle und Hutzeln.«
Agnes hatte einen Teller gebracht, und der Lehrer, um nicht grob zu erscheinen, sich zu Tische gesetzt.
»Da, mein' Agnes,« sagte der Buchmaier, nachdem er einen gehäuften Teller voll herausgeschöpft, »die kriegt Ihr in die Sonntagsschul'.«
»O, Sie werden wenig mehr zu lernen haben,« sagte der Lehrer, um doch etwas vorzubringen. Das Mädchen heftete den Blick scheu auf den Teller.
»Wie! Agnes, red auch, du hast ja sonst dein Maul bei dir; sag, kannst du alles?«
»Jo, mit deam Lease do käm' ich schaun no furt, herrentgege mit em Schreiba, do will's halt nimmei reacht gaun, d' Fingere weant oam härt, wemmer d' gahnz Woch' so schaffe muaß.«
All die Schönheit des Mädchens verschwand plötzlich vor den Augen des Lehrers, da er diese harte, in groben Lauten vorgebrachte Rede hörte.
Nachdem abgespeist und gebetet war, stellte sich einer der Knechte, der bei Tische nicht weit vom Buchmaier gesessen hatte, vor seinen Herrn hin, und indem er sein Messer einsteckte, sagte er:
»I will gaun mit de Gäul' naun alloan naus?«
»Ja, ich komm' bald nach. Nimm einen Buben mit, der dir den Fuchs führt, der will sich nicht recht eingewöhnen.«
»Schätz' wohl, i krieg ihn schaun z'reacht,« sagte der Knecht und ging mit schweren Schritten von dannen. Der Lehrer schüttelte den Kopf.
Agnes deckte schnell ab, denn sie eilte, um in der Küche ihre Bemerkungen über den Ankömmling mit den Mägden auszutauschen.
»Ein nett' s Bürschle,« sagte die Legat, die älteste Magd und Vertraute der Agnes, »er hat dich anguckt, ich hab' nicht recht gewußt, will er dir ein Tätzle oder ein Schmützle geben. Was meinst, wär' das nicht ein Mann für dich? Er ist noch ledig.«
»Lieber möcht' ich ledig bleiben, bis die Kuh einen Batzen gilt, eh' ich den nähm'.«
»Hast recht,« sagte eine andere Magd, »der thät' dich auch mit zwei Händ' ins Maul stecken; hast nicht gesehen, der hat ja das Messer in die recht' und die Gabel in die link' Hand genomme und mit zwei Händ' gessen, das hat man sein Lebtag von keinem ehrlichen Menschen gesehen.«
»Ja,« sagte eine dritte, »der ist auch noch nicht über seines Vaters Miste 'nauskommen, der hat ja die Knöpfle mit dem Messer verschnitten, statt daß man's verreißt; da sind sie ganz talkig worden. O du Talk! geschieht dir recht, daß du hast so dran würgen müssen.«
Während draußen beim Spülen die Mädchen den Lehrer auch nicht ungewaschen ließen, nicht sowohl aus Bosheit, als weil man einmal so begonnen hatte, war drinnen in der Stube die Unterredung des Buchmaiers auch keine sehr erfreuliche.
»Der Sprach' nach,« begann er, »scheinet Ihr aus dem Unterland gebürtig?«
»Eigentlich nicht, ich bin aus dem Taubergrund.«
»Nu, wir nehmen das nicht so genau, was halt unter Böblingen ist, heißen wir das Unterland; wie heißt denn der Ort?«
Der Lehrer stockte ein wenig, legte beide Hände auf die Brust und sagte endlich, sich verbeugend: »Lauterbach.«
Der Buchmaier stieß ein schallendes Gelächter aus, der Lehrer sah ernst drein; endlich sagte ersterer:
»Nichts für ungut, Lauterbach weiß ja jed Kind, das ist ja in dem Lied. Warum habt Ihr denn nicht recht mit 'raus wollen? Das ist ja kein' Schand. Nu, Ihr könnet mir jetzt g'wiß die Wahrheit sagen, warum ist jetzt grad Lauterbach in dem Lied?«
»Wer kann das wissen? Es hat wahrscheinlich gar keinen Grund; solche dumme Lieder werden von einfältigen Menschen gemacht, die diesen und jenen Ort nehmen, weil er ihnen gerade in das Metrum, ich wollte sagen, in das Versmaß paßt.«
»Ei, das Lied ist gar nicht so dumm, und es hat ein' recht lustige Weisung, ich hör's rechtschaffen gern singen.«
»Sie erlauben, daß ich entgegengesetzter Ansicht bin.«
»Was ist da viel zu erlauben? Wenn ich's auch nicht erlauben thät, wäret Ihr's doch; nur frei heraus und saget mir einmal: warum?«.
»Ich meine: welcher Gedanke, ja nur welcher Sinn liegt in dem Lied:
Zu Lauterbach hab' ich mein' Strumpf verloren,
Ohne Strumpf geh' ich nicht heim, Jetzt geh' ich halt wieder gen Lauterbach, Kauf mir ein' Strumpf zu mein eim. |
Das ist nichts als barer Unsinn, und das nennen Sie lustig? Wie kann ein Lied lustig sein, wenn gar kein Gedanke darin ist? Ist die Gedankenlosigkeit Lustigkeit?«
»Ja, es mag jetzt sein, wie es will, lustig ist es doch; es paßt: halt so grad, wenn man« – der Buchmaier konnte sich hier nicht mehr recht ausdrücken, er schnalzte nur mit den beiden Händen; dann fuhr er fort: »ich will sagen, wenn man so recht darüber 'naus ist. Wir haben hier einen: den Jörgli, von dem müsset Ihr's einmal hören, dann saget Ihr auch: es gibt nichts Lustigeres. Ein Spaßvogel hat mir einmal berichtet. es müss' nicht ›Strumpf, es müss' Schuh‹ heißen, und deswegen sei von Lauterbach die Red', weil dort auf allen Gassen Schlappen rumliegen. Aber was geht uns jetzt das Lied an? Wir wollen was andres reden. Habt Ihr hier herum auch Bekannte?«
»Keinen Menschen.«
»Nun, Ihr werdet schon gute Freund' bei uns finden; die Leut' sind zwar hier herum ein bißle grob; es ist nicht so, aber es sieht so aus. Ein bißle spöttisch, das ist wahr, das sind sie, es ist aber nicht bös gemeint, man muß nur tüchtig heimzahlen; und wenn man mit ihnen umzugehen weiß, kann man's um einen Finger wickeln.«
»Ich werde gewiß allen Menschen mit Liebe entgegenkommen.«
»Ja, was ich hab' sagen wollen, nun müsset Ihr auch die Gemeinderäte und den Bürgerausschuß begrüßen, Ihr müsset sie besuchen; und noch eins, gehet auch zum alten Schullehrer, der jetzt schon fünfundzwanzig Jahr in Ruhestand versetzt ist; er ist ein braver Mann, und es thut ihm wohl. Er ist noch von der alten Welt, aber auch grundgut. Ich bin auch noch bei ihm in die Schul' gangen, freilich weiß ich auch wenig genug. Der letzte Schullehrer hat's mit ihm verdorben, weil er ihn nicht besucht hat; und wenn Ihr ihm einen besondern Gefallen thun wollet, lasset ihn als einmal am Sonntag Orgel spielen. Jetzt will ich Euch Euer' Wohnung zeigen, Eure Sachen sind schon gestern angekommen.«
Mißvergnügten Antlitzes ging der Lehrer neben dem Buchmaier durch das Dorf. Er war mit so hohen, überschwenglichen Gedanken hier angekommen und war auf eine so rauhe, harte Wirklichkeit gestoßen. Oft hörte er hinter sich sagen: das ist g'wiß der neu' Schullehrer. Bei der Krone begegnete den beiden der uns wohlbekannte Matthes; er war nun im Bürgerausschuß. Der Buchmaier stellte ihm den neuen Lehrer vor. Einige hatten dies gehört, und nun verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Matthes schloß sich den beiden an.
So groß war die hinneigende Liebe der Kinder, in deren Herzen der Lehrer einzudringen gedachte, daß sie davonliefen, als sie ihn von ferne sahen. Hie und da blieb aber auch einer der beherzten Knaben stehen und nickte freundlich, ohne die Kappe abzuziehen, aus dem einfachen Grunde, weil er keine auf hatte.
Nicht weit von dem Schulhause stand ein hübscher Knabe von sechs bis sieben Jahren. »Komm her, Hannesle,« rief Matthes, »gucket, Herr Lehrer, der ist mein. Nehmet ihn nur recht dazwischen, er kann lernen, aber er mag oft nicht. Gib dem Herrn eine Hand, der ist jetzt dein Herr Lehrer, den mußt du gern haben. Wie sagt man zu einem Fremden?«
»Grüß Gott,« sagte der Knabe, herzhaft die Hand reichend.
Das Antlitz des Lehrers war wie verklärt, dieser Gruß aus Kindes Munde that ihm gar wohl. Er war jetzt wieder in seinem Paradiese, das unschuldvolle Gemüt eines Kindes wendete sich ihm zu. Er beugte sich zu dem Knaben nieder und küßte ihn.
»Willst du mich lieb haben?« fragte er dann. Hannesle sah seinen Vater an.
»Willst du den Herrn Lehrer gern haben?« fragte der Matthes.
Der Knabe nickte bejahend mit dem Kopf, er konnte nicht mehr reden, denn die Thränen standen ihm in den Augen.
Die drei Männer gingen fort; der Knabe sprang eilends, ohne sich umzusehen, nach Hause.
Der Buchmaier und Matthes zeigten nun dem Lehrer seine Wohnung.
»Da gehört bald ein Weib 'rein,« sagte Matthes, »ein Schullehrer muß eine Frau haben. Wir haben jetzt zum erstenmal einen ledigen; nun, wir haben hier Staatsmädle, Ihr müsset Euch einmal umgucken. Das Best' ist, Ihr nehmet eine aus dem Ort; wenn man nicht aus dem Ort ist und nicht 'rein heiratet, bleibt man halt wildfremd. Hab' ich recht oder nicht, Vetter?«
»Vielleicht hat der Herr Lehrer schon eine ausgesucht,« entgegnete der Buchmaier, »und sie mag her sein, wo sie will, sie soll bei uns gut aufgehoben sein.«
»Ja, wir halten ihr einen Gegenritt,« sagte Matthes, indem er dachte: der Buchmaier ist doch gescheiter als du. Der Lehrer aber sagte:
»Ich hin noch durchaus ledig, ich kann schon noch eine geraume Zeit zusehen.« Innerlich dachte er: lieber eine Aeffin, als so eine vierschrötige Bäuerin zur Frau.
»Jetzt müsset Ihr mich verexkusieren,« sagte der Buchmaier, »ich muß ins Feld; ich hab' da einen Gaul im Handel und muß sehen, wie der im Zug ist. Nun, wir sehen uns ja heut abend. B'hüt's Gott dieweil. Gehst mit, Matthes?«
»Ja, b'hüt's Gott, Herr Lehrer, und wenn Euch die Zeit zu lang wird, so nehmet's doppelt.«
Der Lehrer verstand diese nicht sehr geschickte Redensart des Matthes, die von dem Bilde eines zu langen Fadens genommen ist, nicht ganz.
Nachdem hinter den Fortgegangenen die Thüre schon zu war, drückte der Lehrer nochmals an derselben, gleichsam um sich zu vergewissern, daß er jetzt allein sei. Er fühlte sich sehr beklommen und konnte sich doch nicht recht sagen, warum. Endlich fiel ihm die Lauterbacher Geschichte wieder ein. Er sah darin eine grobe und rohe Begegnung, alle ihm sonst erwiesene Freundlichkeit haftete nicht an ihm.
So sind die Menschen! Wenn sie sich in gereizter Stimmung befinden, behalten sie immer nur das eine im Sinne, was sie verletzte, und übersehen alles andre noch so Liebreiche.
Erst saß der Lehrer lange still, dann erhob er sich, seine Sachen auszupacken. Es heimelte ihn wiederum an, da die gewohnten Gegenstände um ihn her lagen. Bald versank er indes abermals in stilles Brüten, und er dachte bei sich: da bist du nun wie in eine Wildnis versetzt: was dich erfreut und betrübt, ist für diese Menschen gar nicht vorhanden; dein Schultheiß ist eben nichts als ein Bauernschulz. noch stolz auf seine Hoheit. Wohl mag der Geist auch in diesen Menschen schlummern, aber er ist verschüttet. Ich will all meine Kraft zusammenhalten, um mich gegen das Verbauern zu wahren. Tagtäglich will ich mein ganzes Sein aufwühlen, ich will frei bleiben von dem Einflusse meiner Umgebung. Ich habe Lehrer gesehen, die mit dem freien Geiste der Zeit erfüllt in ihr Amt traten, und nach einigen Jahren versanken sie ganz in den Schlendrian, sie waren zu Bauern geworden, selbst ihr Aeußeres war nachlässig und schlapp. – Er schrieb auf ein Zettelchen: Memento! und steckte es an den Spiegel.
Endlich raffte er sich auf und ging hinaus auf das Feld, den Weg, den er hereingekommen war. Die Bauern, die hier auf den Aeckern an der Straße arbeiteten, sagten: »Nun, wie geht's, Herr Lehrer? schon eingewöhnt?« Der Lehrer gab kurze, aber freundliche Antworten; diese Zuthulichkeit kam ihm fremd vor und beleidigte ihn fast. Er wußte nicht, daß die Leute ein Anrecht zu derselben zu haben glaubten, weil sie ihn zuerst gesehen hatten, zuerst von ihm begrüßt worden waren.
Nach langem Umherschweifen in den Feldern fand er »im Grunde« einen einsam stehenden Holzbirnenbaum von schönem Schlage. Er umwandelte ihn von allen Seiten, bis er den rechten Punkt gefunden hatte. Nun setzte er sich auf einen breiten Markstein und zeichnete.
Viele Bauern kamen neugierig herbei und schauten zu. Schnell verbreitete sich von Mund zu Mund das Gerücht: der neue Lehrer schreibt die Bäum' ab.
Der Lehrer zeichnete noch den Hügel gegenüber mit dem Haselbusch und der Brombeerhecke, die sich über einen Felsen wand, auch das Feldhäuschen, in dem man das Feldgeschirr aufbewahrt oder bei Unwetter Schutz sucht; zuletzt zeichnete er einen Bauern mit Pferd und Pflug als Staffage.
Es neigte sich gegen Abend. Mit beruhigter Seele kehrte der Lehrer heimwärts. Unterwegs schlossen sich ihm mehrere Bauern an; ohne viel Umstände zu machen, hielten sie gleichen Schritt mit ihm und hatten gar viel zu fragen. So unbequem dies dem Fremdling war, so ließ er sich's doch gefallen. Sehr ungeschickt aber war es, daß er auf die Frage: »Nicht wahr, es ist eine schöne Gegend hier herum?« die Antwort gab: »So so, es geht an.« Er dachte, daß sich hier nicht viel Malerisches zu finden scheine und konnte das doch nicht sagen. Da ihm die Plumpheit der Kirchturmspitze aufgefallen war, fragte er: »Wer hat die Kirche gebaut?«
Die Leute sahen ihn mit großen Augen an, sie konnten sich gar nicht denken, daß es einmal anders gewesen, daß es eine Zeit gegeben haben könne, da die Kirche noch nicht da war.
Zu Hause harrte der Lehrer auf den Buchmaier, der ihn seiner Erwartung nach abholen würde. Es dämmerte, auf der Straße regte sich lebendiges Treiben; nur der Lehrer saß still am offenen Fenster. Er gedachte jetzt lebhafter als je, wie notwendig ihm eine Lebensgefährtin sei, die ihn verstünde, damit er nicht mehr »unter Larven die einzig fühlende Brust« sei.
Es war Freitag Abend; die jungen jüdischen Burschen zogen nach ihrer Gewohnheit singend durch das Dorf. Einst war eine Stimme darunter, die jetzt nicht mehr so hell klingt. Man sang mehr Lieder aus den Büchern. Als man an der Wohnung des Lehrers vorüber kam, wurde eben das schöne Lied begonnen:
Herz, mein Herz, warum so traurig?
Und was soll das Ach und Weh? 's ist ja so schön in fremden Landen! Herz, mein Herz, was fehlt dir denn? |
Nach und nach verklang das Lied nach dem obern Dorfe zu. Der Lehrer fühlte sich in tiefster Seele bewegt. Er griff nach seiner Geige und spielte den Sehnsuchtswalzer; das waren im Dorfe nie gehörte Klänge. Bald vernahm er, daß sich viele Menschen vor dem Hause gesammelt hatten; sich selbst und die andern zur Lust aufrufend, spielte er dann noch einen neuen muntern Walzer. Jauchzen und Lachen auf der Straße lohnte ihm.
Endlich ward es dem Lehrer doch zu lange, er verließ das Haus und fragte den ihm begegnenden Matthes nach dem Buchmaier.
»Kommet mit,« sagte Matthes, »im Adler ist er und am Freitag Abend besonders gern.«
Der Lehrer fand es zwar nicht recht, daß der Schultheiß so bei den andern im Wirtshaus saß, er ging indes doch mit.
Im Adler traf er große Gesellschaft und eifriges Gespräch. Die Juden, die großenteils die ganze Woche nicht zu Hause sind, saßen hier unter ihren christlichen Mitbürgern und tranken; nur mit dem einzigen Unterschiede, daß sie, weil Sabbat war, nicht dabei rauchten.
Eine Weile herrschte Stille, als der Lehrer in die Stube trat; aber bald nach dem Willkomm, und nachdem der Buchmaier neben sich Platz gemacht, fuhr dieser fort:
»Wie gesagt, der Thiers hat mit einem fetten Stück Deutschland Frankreich schmälzen wollen; pros't Alter, dir hat man die Supp' versalzen, du wirst nimmer so schleckig sein. Was meinet Ihr, Herr Lehrer?«
»Sie haben ganz recht, nur sollten wir auch das Elsaß wieder haben.«
»Ja, mornemorgen, aber die Elsässer wollen nicht. Wie ich das letzte Mal in Straßburg gewesen bin, hab' ich mich in die Seel' 'nein geschämt, wie sie mich gefoppt haben, ob wir nicht wieder bald falsch Geld haben, das kein' Heimat hat? Ein rechtschaffener Mann hat mir gesagt: die Beamten von drüben, die wären lieber deutsch, bei uns sind sie am besten bezahlt, sind versorgt auf Kinder und Kindeskinder, und haben Ruh', aber drüben ist das anders; die Beamten machen das nicht aus. Und wenn's deutsch würd', wer sollt's kriegen? Ein Sohn von dem falschen Sechser? Es ist, glaub' ich, noch einer da? Oder ein verlegtes hannoverisch Zehnguldenstück? Man thät's aber nicht einem geben, man thät's verschnipfeln; sie haben ja den Ueberrhein in drei Teil verschnitzelt, damit man's auch recht weiß, daß er deutsch ist.«
Der Lehrer saß in stummem Erstaunen nach dieser Rede des Buchmaier; da begann ein starker, wohlbeleibter Mann, dessen städtische Kleidung und eigentümliche Redeweise den Juden nicht verkennen ließ:
»Ja, und die vielen Juden im Elsaß ließen sich eher massakrieren, ehe sie deutsch werden thäten; drüben sind sie vollkommen gleich mit den christlichen Bürgern; wir, wir bezahlen alle Steuern gleich, werden Soldaten wie die Christen und haben doch nur die halben Rechte.«
»Hast recht, Mendle, kriegst aber nicht recht,« erwiderte der Buchmaier.
Eine Pause entstand, nach welcher der Buchmaier wiederum begann:
»Herr Lehrer, was haltet Ihr von den Tierquälervereinen? Kann man mir befehlen, wie ich mit meinem Eigentume umzugehen hab'? Darf man mich dafür strafen?«
Der Lehrer sah hierin wiederum nichts als die Roheit dieser Menschen; mit großem Eifer verteidigte er daher die Polizeimaßregeln wegen Mißhandlung der Tiere; der Buchmaier aber entgegnete:
»In der Stadt, da kann's meinetwegen nötig sein, daß man die Leut' ermahnt, das Vieh zu schonen, aber strafen kann man's nicht. So ein Kutscher oder Kutschersknecht, oder so ein Livreebeamter, ich will sagen Livreebedienter, der hat kein' rechte Lieb' zum Vieh, es ist oft gar nicht einmal sein eigen, und davon, daß er's aufgezogen hat, ist gar nicht zu reden. Bei uns aber, ich hab' schon gesehen, daß die Leut' mehr heulen, wenn ihnen ein Rind draufgeht, als wenn ihnen ein Kind stirbt.«
»Die Herren sollten zuerst die Bauern besser behandeln,« sagte Matthes. »Der alt' Amtmann, der hat seinem Hund die besten Wörtle geben und die Bauern nur so angeschnauzt; sie sollten zuerst einen Verein stiften, daß keiner mehr Er zu einem Bauern sagt.«
»Ja,« sagte der Buchmaier, »die Hauptsach' ist, die Amtleut' wollen jetzt gern auch über das Vieh regieren. Ihr werdet sehen, wenn's so fort geht, wird man über zehn Jahr einem befehlen, was er auf seinem Acker säen darf und wann er ihn brachlegen muß; man kann ja auch seine Aecker quälen und kann ihnen zuviel zumuten.«
»Wenn die Menschen nicht so vernünftig sind,« sagte der Lehrer, »das gehörige Maß in allen Dingen zu halten, so ist der Staat verpflichtet, das Gute durch Strafen einzuführen.«
»Nein und neunundneunzigmal nein!« rief der Buchmaier, hielt aber plötzlich inne; sei es, daß er seiner Heftigkeit den Zügel halten wollte, oder daß er in der That nichts vorzubringen wußte. Er trank in langsamen Zügen, währenddessen ein Mann mit gerollten, weißen und schwarzen Haaren, so was man Kümmel und Salz nennt, auf hochdeutsch sagte:
»Man kann die Menschen dafür strafen, wenn sie schlecht handeln, aber man kann sie nicht zwingen, gut zu sein; eine durchs Gesetz erzwungene Güte ist auch keine Güte mehr.«
»Hat recht,« sagte der Buchmaier auf die Rede des Mannes, dessen Rede trotz des Hochdeutschen in dem singenden Tone des jüdischen Dialekts gesprochen war. Der Lehrer aber ging nicht darauf ein. Es ist nicht wahrscheinlich, daß er, wie die gelehrten Herren pflegen, auf die Gegenrede eines Juden that, als ob sie nicht vorgebracht worden wäre; vielmehr betrachtete er nur den Buchmaier als seinen Gegner, er fragte diesen:
»Glauben Sie, daß der Staat ein Recht hat, die Leute durch Strafen zu zwingen, ihre Kinder in die Schule zu schicken?«
»Freilich, freilich.«
»Ja warum denn?«
»Weil das in der Ordnung ist.«
»Ja, man hat doch aber kein Recht, die Leute zu zwingen, daß sie gut seien.«
»Man kann's aber strafen, wenn sie schlecht sind, und wer sein Kind nicht in die Schul' schickt, der handelt schlecht. Ist's nicht so?« schloß der Buchmaier zu dem gewendet, der vorhin das Wort für ihn ergriffen hatte.
»Gewiß,« erwiderte dieser. »Der Staat ist der Vormund derer, die nicht selber für sich sorgen und sich nicht wehren können. Wie er die Pflicht hat, sich um ein Kind anzunehmen, wenn ihm die Eltern sterben und so durch den Tod nicht mehr für dasselbe sorgen können, so muß er auch solche, die durch Dummheit oder Schlechtigkeit ihre Kinder vernachlässigen, durch Strafen zu ihrer Pflicht zwingen.«
»Hat recht, hat rechtschaffen recht,« sagte der Buchmaier triumphierend.
Ohne sich an den, wie ihm schien, unberufenen Redner zu wenden, doch auch ohne ihn zu vermeiden, sagte der Lehrer:
»Wenn der Staat der Vormund der Unmündigen ist, derer, die sich nicht selber helfen und wehren können, so hat er auch die Herrschaft über das Vieh, das in gleichem Falle ist wie die Kinder.«
»Aepfelstiel und Birenschnitz, wie kommen die Rüben in den Sack? Das ist gar kein Vergleich,« sagte der Buchmaier lachend. »Herr Lehrer, nichts für ungut, aber da habt Ihr Euch vergaloppiert. Ich hab' zu Haus ein Waisenrind, das arme Tierle hat kein' Vater und kein' Mutter mehr, ich muß bigott morgen den Gemeinderat zusammenkommen lassen, man soll ihm einen Vormund setzen.«
Ein schallendes Gelächter erdröhnte in der ganzen Stube. Der Lehrer gab sich alle Mühe, seine Ansicht näher zu begründen, aber er konnte nicht mehr zu einer ordentlichen Auseinandersetzung kommen. Die ganze Versammlung war seelenfroh, daß das zu ernste Gespräch endlich eine lustige Wendung genommen hatte. Nur so viel vermochte er darzulegen, daß er weit entfernt sei, die Kinder und das Vieh in eine Reihe zu stellen.
»Davon ist keine Red',« sagte der Buchmaier, »Ihr habt ja des Matthesen Hannesle einen Kuß geben, das thut man keinem Vieh. Aber jetzt ist mir's, wie wenn ich eine dreifache Versicherung hätt', daß das mit den Tierquälervereinen nichts ist, als den Hühnern die Schwänz' 'naufbinden, sie tragen's schon allein oben.«
Die Heiterkeit steigerte sich nun immer mehr, überall öffneten sich die Schleusen eines nicht immer sehr wählerischen Witzes. Der Lehrer war nicht dazu aufgelegt, sich davon fortreißen zu lassen, vielmehr ward er im Tiefinnersten verstimmt.
Mit jenem quälenden Gefühle, vor mehreren seine Ansicht ausgesprochen zu haben, ohne sie ganz dargelegt zu haben und ohne ganz gehört worden zu sein, verließ der Lehrer nun bald das Wirtshaus. Er sah es wohl ein, wie schwer es ist, eine Versammlung von Erwachsenen in der gründlichen Erforschung eines Gedankens zu leiten und ihn durchzukatechisieren; bald aber verließ er diese Betrachtung wieder und ward überzeugt, daß er hier die Roheit: getroffen, die nicht in der eckigen und derben Natürlichkeit, sondern in der selbstgefälligen Mißachtung der Bildung und der verfeinerten Ansichten besteht. Er war sehr betrübt. Der Vorsatz: sich nur der bildsamen Kindheit und der reinen Natur hinzugeben, befestigte sich stets mehr in ihm.
Andern Tages, es war Samstag, machte der Lehrer die Besuche bei den Gemeinderäten, er traf aber keinen zu Hause. Er ging nun zuletzt zu dem alten Schullehrer, man wies ihn nach einem Garten am Wege. Hier waren die Beete nach der Schnur schon geordnet und mit Bux eingefaßt; der üppige Buchenzaun, der das Ganze einhegte, war schön geschoren, und nach genau abgemessenen Zwischenräumen erhob ein Stämmchen nach dem andern seine gerundeten Zweige über den Hag. In der Mitte war ein Rondell, um welches ein mehrere Schuh hoher Bux einen natürlichen Kübel bildete, Blumen aller Art knospeten und blühten. Man vernahm hinten am Garten, in der Nähe der Laube, ein Gespräch. Der Lehrer trat auf die beiden Männer zu, und seinen Hut abziehend sagte er:
»Kann ich den Herrn Schullehrer sprechen?«
»Wir sind zwei für einen, he, he,« sagte der alte Mann, der hemdärmelig die Hacke in der Hand hielt.
»Ich meine den alten Herrn Lehrer.«
»Das bin ich, und das ist der Judenlehrer, he, he,« erwiderte der Mann mit der Hacke, auf seinen sabbatlich geputzten Nebenmann deutend.
»Das ist mir lieb, daß ich Sie auch hier treffe. Haben wir uns nicht gestern gesprochen?«
»Als Sie mit dem Schultheißen sprachen.«
Der alte Mann warf die Hacke weg, that die Pfeife aus dem Munde, griff schnell nach seinem Rocke und wollte ihn anziehen; unser Freund aber verhinderte dies.
»Wir brauchen voreinander keine Umstände zu machen,« sagte er, »wir sind ja Kollegen, ich bin der neue Lehrer. Gehört der Garten Ihnen eigen?«
»He, he, wem denn? Ja,« erwiderte der Alte; alle seine Reden waren mit einem aus tiefer Brust geholten Lachen begleitet. »Grüß Gott in Nordstetten,« setzte er hinzu und reichte dem Angekommenen die Hand; diesem war es, als ob er die eiserne Hand Berlichingens fasse, so hart war sie anzufühlen.
Der jüdische Lehrer stand in Verlegenheit da, seine gefalteten Hände aufeinander reibend. Er wußte nicht, sollte er dem Angekommenen die Hand reichen oder nicht. Er fürchtete, zudringlich zu erscheinen, da man ihn nicht aufgesucht hatte; sodann fühlte er sich auch durch diese Nichtbeachtung beleidigt, er glaubte sich durch Zuvorkommenheit etwas zu vergeben.
Diese beiden Gefühle – Furcht vor Zudringlichkeit und Mißachtung auf der einen, und vor zu weit getriebener Empfindlichkeit auf der andern Seite – das sind die beiden Schächer, zwischen denen der Jude im gesellschaftlichen Leben gekreuzigt ist, sie bleiben es so lange, als seine Stellung in der menschlichen Gesellschaft keine gesicherte und vor Mißdeutungen geschützte ist.
Wie alle gebildeten Juden aus der älteren Generation hatte der jüdische Lehrer die Sätze der Schrift genau inne, er gedachte der Bibelstelle: »Liebet den Fremden, denn ihr waret selbst Fremde im Lande Aegypten,« und »Betrübe den Fremden nicht, denn du weißt, wie es ihm zu Mute ist.« Er gedachte der Freude, die ihm vor Jahren ein freundliches Entgegenkommen bereitet hatte. So stand er nun da, seine Lippen bewegten sich still, alle seine Gesichtsmuskeln zuckten. Er trat endlich auf den Angekommenen zu, reichte ihm die Hand und hieß ihn mit besonderer Herzlichkeit willkommen. Der Fremde sagte:
»Sie können mir gewiß viel Anleitung gehen, meine Herren, über mein Verhalten dahier; ich bin hier so ganz fremd.«
»Ich kann mir das noch recht gut denken,« nahm der jüdische Lehrer das Wort, »ich war auch bloß auf Verfügung des Konsistoriums hierher gekommen und kannte keinen Menschen. Ich wünschte mir oft, ich hätte eine Zeitlang inkognito dableiben können, um die Charaktere der Eltern genau zu beobachten, und ohne die Eltern, wissen Sie wohl, ist auch bei den Kindern nichts auszuführen. Bei mir war noch der besondere Umstand, daß ich vor fünfundzwanzig Jahren zum erstenmal eine geordnete Schule einzurichten hatte, was die Juden damals noch gar nicht kannten. Ich kam mir in der ersten Zeit vor, als wär' ich in eine fremde Welt verzaubert.«
»Nun, du hast dich bald verzaubern lassen und hast das schönst' Mädle aus dem Ort geheiratet, he, he, und das war auch recht,« erwiderte der alte Mann. Zu unserm Freunde gewendet fuhr er fort: »Ihr müsset halt auch ein Mädle aus dem Ort heiraten.«
Unser Freund fuhr so bestürzt zurück, daß er in ein wohlgeglättetes Beet trat; es war ihm, als hätte sich alles gegen ihn verschworen, um ihn zu verkuppeln. Nachdem er sich über die angerichtete Zerstörung entschuldigt, sagte er:
»Ich meine nur über mein Verhältnis zu den Eltern und den Kindern.«
»Nur recht streng,« sagte der Alte, die zertretene Stelle wieder aufhäckelnd. »Von dem neuen Schulwesen versteh' ich nichts, da fragt man die Kinder: wer hat den Stuhl gemacht? als wenn man das nicht schon von selber wüßt'; da lautieren sie b. k. l. m. wie die Stummen, es gibt gar kein ABC mehr.«
»Sie meinen also recht streng?« erwiderte ablenkend unser Freund.
»Ja. Wie die Mannen im Dorf 'rumlaufen, ist keiner da, der es nicht aus dem Salz von mir kriegt hat, und sag du, ob sie nicht noch heutigestags allen Respekt vor mir haben?«
»Ganz gewiß,« sagte der jüdische Lehrer lächelnd. Der Alte fuhr fort:
»Und wenn eine Lustbarkeit im Dorf ist, da darf man nicht den vornehmen Herrn spielen, der sich's eine Weile so anguckt, wie das dumme Volk auch lustig sein kann; nein, da muß man auch mitthun. Kreuz Himmel! Ich hab' die tollsten Streich mitgemacht, den Balbiererstanz, den haben sie von mir gelernt, und den Siebensprung, den hab ich mit meiner Gret immer vorgetanzt; es juckt mich noch in den Beinen, wenn ich daran denk'.«
»Sie waren aus der Gegend, Sie konnten schon eher so etwas mitmachen.«
»Ich bin nicht aus der Gegend. Anno fünf ist hier erst württembergisch geworden, damals war alles vorderösterreichisch. Ich bin bei Freiburg daheim.«
»Sie haben wohl viel erlebt?«
»Das will ich meinen. Die Leut', die jetzt dreißig Jahr' alt sind, die wissen gar nichts von der Welt, da geht alles glattweg, wie auf der Kegelbahn. So ein Lehrer, ich mein' Euch nicht mit, aber was weiß denn jetzt so einer? Wo ist er in der Welt gewesen? In den Büchern ist er gesteckt. Da geht alles jetzt seinen geweis'ten Weg, eins, zwei, drei, Schüler, Seminarist, Lehrer. Ich war Soldat, ich war Musikant, ich war Schreiber auf dem Amt in vielerlei Herren Ländern. Ich hab' Russen und Franzosen und Sachsen und alles Teufelszeug mit durchgemacht. Ich hab' hier im Ort ein Buch angefangen gehabt und mit der schönsten Fraktur, und denket nur einmal, grad wie ich beim F bin, kommen die Teufelsfranzosen; da war's aus, die haben Fraktur mit einem gesprochen.«
Nun erzählte der Alte, auf die Haue gestützt, seine zwei Hauptgeschichten: wie er nämlich einen Topf mit zweihundert Gulden im Keller vergraben hatte, den die Franzosen doch fanden; wie er im grimmkalten Winter den Pfarrer nach Egelsthal begleitete, um einer alten Frau die letzte Oelung zu geben, unterwegs ihnen ein Kosake begegnete und dem Lehrer die fuchspelzenen Handschuhe auszog. Er war eben an einer ausführlichen Beschreibung der Handschuhe, als es elf Uhr läutete: man verließ den Garten.
Unser Freund ging noch im Geleite seines jüdischen Amtsgenossen bis zum Adler, dort hatte er sich zur Kost eingedungen.
Am andern Morgen erwarb sich der Lehrer viel Lob durch sein Orgelspiel. Aus einzelnen Gruppen, die sich nach der Kirche gebildet hatten, hörte er mehrmals den Ausspruch: »Er kann's fast gar wie der alt' Lehrer.« Er ging nun zu diesem und bot ihm das Orgelspiel für die Mittagskirche an.
Der alte Mann lachte ganz überselig und sagte endlich, wie immer in schnell abgestoßenen Sätzen sprechend: »Ja, sie können was lernen, die jungen Leut', wenn sie wollen. Ich war dritthalb Jahr Unterorganist im Münster in Freiburg, he, he. Ja, der früher' hochmütig' Professor hat mich aus der Kirch' vertrieben, ich hin ein ganz Jahr nicht 'neingegangen, ich hab' dem sein Gequicks nicht hören können, und später bin ich nur zum Amt und zur Predigt: beim Singen hab' ich davonlaufen müssen.«
Der alte Lehrer spielte nun mittags die Orgel, aber er machte mit dem heiligen Instrumente so lustige Sprünge, daß der junge Mann oft den Kopf schüttelte; auf dem Antlitze aller andern Anwesenden aber leuchtete zufriedene Heiterkeit.
Die Freundlichkeit gegen den alten Lehrer erregte dem neuen vieles Lob; darüber aber, daß er die Gemeinderäte am Werktage besucht hatte, da sie doch nicht zu Hause waren, ward ihm ebenso vieler Tadel. Von beiden kam ihm nichts zu Ohren.
Montags begann die Schule. Der Pfarrer, ein freundlicher und edel denkender Mann, führte den neuen Lehrer mit einer gehaltvollen Rede im Beisein des ganzen Gemeinderats und Bürgerausschusses in seinen Wirkungskreis ein.
Von dem Tage an, da die Schule begonnen hatte, aß der Lehrer nicht mehr im Wirtshause; das laute Leben und die Gespräche dort störten ihn, er wollte, nachdem er die Schar der Kinder entlassen, ganz allein sein. Ueberhaupt zog er sich ganz in sich zurück, er verrichtete sein Amt gewissenhaft, pflog aber mit niemand Umgang; nur bisweilen ging er mit dem jüdischen Lehrer oder mit dem alten spazieren. Ueber den Charakter des letzteren war er bald einig, der Geistesrichtung des ersteren aber, in der die staatlichen und sittlichen Angelegenheiten seiner Glaubensverwandten im Vordergrunde standen, konnte er keine entsprechende Teilnahme widmen. Mit den übrigen Leuten im Orte, selbst mit dem Buchmaier, stand der Lehrer noch so fremd wie am Tage seiner Ankunft. Er ging nie ins Wirtshaus und gesellte sich nie zu den abendlichen Kreisen, die sich vor den Häusern bildeten. Waren die Schulstunden zu Ende, schweifte er einsam durch Wald und Feld, zeichnete oder schrieb in sein Taschenbuch, und wenn es Nacht war, musizierte oder las er.
Da wir die Zeichnungen nicht vorlegen und die Musik nicht wieder aufspielen können, so mögen hier die Taschenbuchbemerkungen eine Stelle finden, unter dem Titel, den ihnen der Lehrer selbst gab: