Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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13

Wenige Wochen nach dem Begräbnisse Susannens kehrte der Tod auch in St. Cloud ein. Monsieur starb. Man sagt, daß es gefährlich sei, zornigen Gemütes zur Tafel zu gehen. Monsieur hatte sich an jenem Morgen in Versailles mit dem Könige gezankt, daß der Türsteher sich veranlaßt gesehen hatte, ins Gemach zu treten und die allzulaut Schreienden zu warnen; denn draußen in der Galerie hatte sich bereits ein Trüpplein Neugieriger gesammelt. Abends in St. Cloud hatte Monsieur noch vor Wut gezittert. Man hatte aber längst bemerkt, daß er in solchen Fällen, entgegen dem Rat seiner Aerzte, besonders viel und gierig aß. Da hatte ihn denn bei der Tafel der Schlag gerührt.

Es war eine geschäftige Zeit in St. Cloud, denn zweihundert Menschen oder mehr bangten um ihr Brot. Mir hatte gleich in der ersten Stunde ein Händedruck Chartres' die Gewißheit gegeben, daß für mich der Tod Monsieurs keine Aenderung zu bedeuten habe. So blieb ich, entgegen der Sitte, die in gegebenen Zeiträumen einen Wechsel der Gardes en quartier und besonders des Kapitäns vorschrieb, nach wie vor in St. Cloud.

Für Philipp von Chartres war der Wechsel der Dinge ein beträchtlicher, aber nicht, wie viele von uns erwarteten, zu seinen Ungunsten. Gleich nach dem Tode seines Vaters hatte dieser unbegreiflich siegreiche Mensch durch ein einziges Wort, durch eine Geste, hinreißend und rührend in ihrer Grazie, das Herz des Königs so zu gewinnen gewußt, daß dieser den mißratenen Neffen, wie er ihn bisher genannt, mit Zärtlichkeiten und Wohltaten förmlich überschüttete. Der Herzog von Chartres wurde Herzog von Orleans, und zwar mit einer Pension, die ihm jährlich etwa hunderttausend Livres mehr auszugeben gestattete, als sein Vater ausgegeben hatte. Alle Ehren und Vorrechte Monsieurs gingen auf ihn über, alle Einkünfte von Bistümern und Provinzen, seine Regimenter zu Pferd und zu Fuß, sein Kanzler, seine Stimme im Parlament – ja, wie ein Sohn Frankreichs selbst behielt er Monsieurs Garden und Schweizer und mit diesen sogar in Versailles seine eigne Gardenstube. Der Dauphin besaß kaum größere Vorrechte als er. Und die Eifersucht der Prinzen von Geblüt machte wohl vierzehn Tage lang den König zum geplagtesten Manne Frankreichs und Versailles zum Schauplatze ärgerlicher Szenen, bis Seine Majestät auch jenen andern ihre Pensionen erhöhte und somit Frieden schuf.

Als ich mit dem neuen Herzog von Orleans das erstemal nach dem Begräbnis Monsieurs zusammentraf, glaubte ich ein Wort der Anerkennung über des Königs Verhalten, einen halben Glückwunsch zu Philipps neuer Stellung äußern zu müssen. Er hörte mit unruhigem Ausdrucke zu und wehrte ab. »Zu viel und zu wenig,« sagte er finster. »Du hast nicht gehört, mit welch zierlicher, kleiner Rede der König mich in meine Würden eingesetzt und wie ich ihm darauf geantwortet habe. Es ist alles in schönster Ordnung zwischen uns.«

»Das wäre noch kein Grund, so bitterböse dreinzusehen,« wagte ich einzuwenden, aber Orleans nahm diese Bemerkung so übel auf, daß er mit der Faust auf den Tisch schlug. »Vor acht Jahren hast du anders zu mir gesprochen,« schrie er außer sich, »und doch war damals der Schimpf noch fast geringer als heute. Welchem Verdienste verdanke ich denn diese außerordentliche Bevorzugung? Doch allein dem glücklichen Umstande, daß ich eine Tochter der Geliebten des Königs zur Frau habe – wenn nicht auch ein bißchen dem schlechten Gewissen meines Oheims, der ganz genau weiß, wieviel alle diese Umstände dazu geholfen haben, das Leben meines Vaters zu verkürzen.«

So hatte ich das Ding freilich noch nicht betrachtet, und zum ersten Male in meinem Leben fühlte ich erschrocken, wie rasch uns die Zeit abnutzt. Wenn ich an die hohen Tugendforderungen, an den Stolz meiner jungen Jahre dachte, so ging's mir wie einem Manne, der einen guten Samtpelz lange und sorglos getragen hat, als müsse er ewig halten; plötzlich bläst ihm der Wind durch die Löcher, und wie er ihn ansieht, findet er ihn fadenscheinig und voll von Schäden. Immerhin kam mir der Gedanke, daß Orleans seinen Samtpelz gut geschont haben müsse, das heißt, er hatte ihn immer nur zu besonderen Gelegenheiten getragen, und so antwortete ich nun meinerseits etwas gallig: ich würde mir an seiner Stelle nicht durch solche Deutungen die schöne Erbschaft verleiden. Friede sei ein gutes Ding, auch zwischen Verwandten, und der König habe jedenfalls mit guter Miene die Hand dazu geboten. »Sei's um das schlechte Gewissen,« fügte ich hinzu; »es ist immerhin schon bewunderungswürdig, wenn ein Monarch von Frankreich solchen Regungen folgt. Er konnte sich in seinem Rechte fühlen – denn Eure Hoheit weiß wohl, daß jedes Ding zwei Seiten hat.«

Wir waren zum Glück nicht mehr die zwanzigjährigen Heißsporne, die wir gewesen, sonst hätte diese Unterredung einen neuen Riß in unsre Freundschaft machen können, den vielleicht kein Savoyarde der Welt zu heilen vermocht hätte. Aber Orleans war ein Mann geworden, der Offenheit auch von einem Untergebenen verträgt, und übrigens klug genug, sich zu sagen, daß ich wahr spräche. Der König liebte nun einmal die dicke Holzpuppe, so unähnlich sie ihrer eleganten und witzigen Mutter auch sein mochte, mit wahrhaft väterlicher Zärtlichkeit; und die dicke Holzpuppe liebte ihren schönen und begabten Gemahl, der sie mit Füßen stieß. Gott weiß, wie manche Stunde menschlichen Elendes der König da durchgekostet haben mochte, wenn die mißhandelte Tochter weinend von ihm die Wahrung ihrer ehelichen Rechte forderte und er am eignen Vaterherzen – und das war bei dem alternden Manne sehr weich! – alle die Schmerzen erleiden mußte, die er selbst einst gedankenlos seinem Weibe zugefügt! Was Orleans »schlechtes Gewissen« nannte, war wohl schlechtweg bittere Neue, und wahrlich! in einem Manne wie Ludwig verdiente dieses Gefühl Achtung und Mitleid. So stellte ich es Orleans dar, und er hörte mich gedankenvoll an. Dann sagte er halb lächelnd: »Meinetwegen, du Prediger sanfter Vergebung, sehen wir denn die Sache so an! Ich habe ja auch schon versprochen, mein Bestes zu tun.«

Es folgte nun wirklich eine Zeit erträglichen häuslichen Friedens zwischen dem herzoglichen Ehepaar. Die Trauer um den Vater verhinderte Orleans, viel auszugehen, so nahm er gern und häufig an den Appartements in Versailles teil, die der Todesfall auch keinen Tag unterbrochen hatte. Der König sah sein fleißiges Kommen mit offenbarem Wohlgefallen, und augenscheinlich beglückte ihn auch die freudig zur Schau getragene Zufriedenheit seiner Tochter. Diese war wenigstens ehrlich genug, den Schwiegervater, der ihr das Leben sauer gemacht hatte, nicht zu betrauern, sondern ergab sich mit der ganzen Kindlichkeit ihres beschränkten Geistes der neuen Lust, in Versailles eine Rolle zu spielen und in St. Cloud nach eignem Sinne Hof zu halten. Madame überließ ihr bereitwillig das Feld, folgte selbst dem Hofe Ludwigs, so sehr sie auch alle die Jahre her über seine Laster geschmäht haben mochte, und nahm fast stehenden Aufenthalt in Versailles: bis zu diesem Grade hatte die Aussicht auf klösterliche Verbannung diese borstige Deutsche zahm gemacht. Nun hatte sie ihrem Sohne, er ihr nichts mehr vorzuwerfen.

So war also zwischen diesen Mitgliedern der königlichen Familie wenigstens ein leidlicher Friede hergestellt, der niemand mehr zu beglücken schien als den König selbst. Es hatte augenscheinlich schwer auf ihm gelegen, daß er selbst in seinem Hause das Sinken seiner Autorität hatte fühlen müssen, während zu gleicher Zeit das Verhalten der Mächte Europas ihn nicht im Zweifel lassen konnte, wie es um diese Autorität nach außen hin stand. Seit dem Frieden von Ryswyk war dem gedemütigten Manne öfters ein Seufzer über die Mühsal hereinbrechenden Alters entflohen, und das banale Wort, das jeder Sterbliche mehr oder minder oft ausspricht, hatte mich aus Ludwigs Munde geradezu erschüttert. Ich sprach in diesem Sinne auch einmal zu Philipp von Orleans, fand aber nur ein mäßiges Verständnis für diese menschlichen Betrachtungen auf seiner Seite. Da er längst gewohnt war, in allerungebundenstem Vertrauen zu mir zu reden, bekannte er unverhohlen, daß er für Ludwig keinerlei Mitleid empfände. »Menschen von Geist und Herz,« sagte er kühn, »brauchen nicht zu altern, büßen ihre Autorität nicht ein. Ludwig mangelt es an beidem. Unwissend in den gewöhnlichsten Dingen und zu träge, sich Wissen anzueignen; blind, vorurteilsvoll und abergläubisch; Schmeicheleien zu jeder Stunde und in jeder Form zugänglich; spielerischen Sinnes, nur von Aeußerlichkeiten beeinflußt; despotisch und stets nur darauf bedacht, jeden seine Macht fühlen zu lassen, mit dieser Macht zu spielen, ihre Tragfähigkeit durch die albernsten Launen zu erproben; im übrigen sentimental, ohne gut zu sein, sinnlich ohne Liebe, verschwenderisch an Wohltaten ohne Gefühl für wahres Verdienst – so hat er sich sein Leben lang durch keine andre Tugend tragen lassen als durch den großen persönlichen Zauber seiner Erscheinung und seiner leichten Rede. Das aber sind Gaben, die dem Alter nicht widerstehen. Er darf sich nicht beklagen, wenn sie ihn jetzt im Stiche lassen.«

Ich mußte wohl zugeben, daß Philipp unbedingt wahr sprach, und, um die Wahrheit zu gestehen, es erleichterte mir sogar das Herz, ihn so sicher in Worte fassen zu hören, was ich im stillen oft gedacht hatte, ohne es indes vor mir selbst laut werden zu lassen. Dennoch wagte ich einen Widerspruch, der mir indes nicht ganz ehrlich von den Lippen kam; schien es mir doch, es sei Untertanenpflicht, die Fehler eines Fürsten zu entschuldigen, wie ein Kind nicht zu hart über seinen Vater urteilen darf. Philipp aber schnitt rasch mein gestammeltes Plaidoyer ab.

»Glaube mir,« sagte er ernst. »Wir, die wir ihn nie in seiner vollen Größe gesehen haben, haben ihn auch nie in seiner ganzen Lächerlichkeit gekannt. Meine Mutter hat mir oft erzählt, wie er vor versammeltem Hofe die endlosen Opernprologe zu singen pflegte, die zu seinem Ruhme verfaßt waren, wie er die gröbsten Schmeicheleien darin herausgriff, wiederholte, sich an ihnen ergötzte! Wie ein Mann, der König mit dem Suppenlöffel aß, käme er ihr vor, so sagte sie. Und wie sang er! falsch, stimmlos, ohrenzerreißend! Diese Eitelkeit allein genügt, eine Autorität zu untergraben, dazu braucht es erst keiner verlorenen Schlachten.«

»Nein,« rief ich aus, »das geht zu weit! Jeder Mensch begeht Torheiten, warum soll ein König verpflichtet sein, keine zu begehen? So schwer darf ihm eine verzeihliche Eitelkeit nicht angerechnet werden.«

»Was nennst du Torheiten?« fragte Orleans lächelnd. »Auch ich begehe solche, und der Mensch, der keine beginge, täte mir leid. Aber es müssen Torheiten sein, über welche die andern nicht lachen, und gelacht hat wohl über mich noch keiner.«

»Torheiten, über welche wir nicht lachen können, nennen wir Laster,« warf ich ein. Orleans aber, ohne sich im geringsten verletzt zu zeigen, antwortete ruhig: »Ein Fürst darf auch eher lasterhaft sein als lächerlich.« Und da ich hierauf keine schlagende Antwort wußte, brach ich das Gespräch mit einem Achselzucken ab.

Kurz nach jener Unterredung erfolgte ein Ereignis, welches Orleans' Worte bestätigen zu wollen schien: Chiari am Oglio. War es schon bitter genug, daß unser bester General von ebendem Manne geschlagen werden mußte, dessen Dienste Ludwig XIV. einst hohnlachend verschmäht hatte, so war es wie ein sichtbares Zeichen des Gotteszornes, der blendet, ehe er fällt, daß gerade Villeroy, der doppelzüngige Schwätzer, der Prahlhans und Schmeichler, nun hin ins Mailändische geschickt wurde, um die verlorene Sache zu retten. Philipp von Orleans wurde blaß vor Wut, als er es hörte. »Solche Menschen wählt der König zu solchen Aemtern,« rief er, meinen Arm pressend, daß er ihn fast zermalmte. »Bedauerst du ihn nun noch immer? Er hat nun, was er will: Honig um seinen großen Mund – daran laß ihn nun lecken! Er wird bald genug nach Sennesblättern schreien.«

Und so geschah es. Honig waren Villeroys Briefe aus Italien, Honig die Versprechungen des Herzogs von Savoyen, Honig die Sentenzen der Minister, der Generäle und sämtlicher Höflinge. Den ganzen Winter hindurch leckte der König daran. Alles mußte aufs beste gehen, war doch die Armee begeistert, strotzten doch die Magazine von Vorräten, waren doch die neuen Waffen unübertrefflich, die Stellungen der Heerkörper die allergünstigsten, die doppelte Verbrüderung mit dem Herzog von Savoyen die sicherste Bürgschaft treuer Unterstützung. Der unglückliche Catinat, der bei Chiari vergeblich den Tod gesucht, kam nach Paris und wagte einige Worte zu seiner Verteidigung; da diese sich gegen den Mann richten mußten, der jetzt Kriegsminister und Generalkontrolleur in einer Person und obendrein dem König wegen seiner Fertigkeit im Billardspiel unentbehrlich war, so kann man sich denken, wie sie aufgenommen wurden. In süßester Sicherheit tanzte der Hof ins neue Jahr hinein. Bei der kleinen Herzogin von Burgund wurde Theater gespielt, sie selbst zeigte sich als Athalie, eine sanfte, ins Anmutige übersetzte Athalie, die einem artigen Kinde glich, das sich im dunkeln Zimmer vor Gespenstern fürchtet. Im Hotel Conti führte Longueville seine Elektra auf, die so griechisch war wie seine Sitten. Und dazwischen kreisten Villeroys interessante und stilvollendete Briefe vom Kriegsschauplatz, die besonders den Beifall der Damen des Hofes fanden. Orleans prophezeite nicht mehr, nur von Zeit zu Zeit einmal blickte er lange und sinnend nach dem Könige mit solchem Ausdrucke, als ob er dem verschworenen Mitleid doch etwa noch zugänglich sei.

Dann kam der Februar. Da wurde Villeroy bei Cremona vom Prinzen Eugen gefangengenommen, und nur der allerwunderbarste Zufall hinderte den siegreichen Führer der Kaiserlichen, seinen Erfolg so auszunutzen, wie er es gekonnt hätte. Der Herzog von Savoyen erklärte sich offen für Oesterreich, und um auch nach jeder andern Seite hin die Lage zu komplizieren, trat Marlborough in ein ebenso unverhohlenes Einverständnis mit dem Prinzen Eugen, und hinter den beiden großen Feldherren hoben die Mächte wieder ihre geduckten Köpfe.

Jetzt erzitterte der ganze Hof in einem einzigen hellen Aufschrei der Wut; nur Orleans schwieg und vermied es auch, mir gegenüber die Sache zu berühren.


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