Chevalier von Roquesant
Bruchstücke aus den Memoiren des Chevalier von Roquesant
Chevalier von Roquesant

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15

Ich habe bereits erwähnt, daß Germaine in dem Jahre, das meiner Wartezeit in Paris voranging, wieder Mutter geworden war; doch hatte das Kind, das sie damals Regnard geschenkt hatte, nur wenige Wochen gelebt und war leider an einer damals in Paris herrschenden Seuche gestorben. Jetzt stand das Ereignis zum drittenmal bevor. Einige Zeit vor seinem Eintritt konnte ich Paris verlassen als Hauptmann meiner Kompagnie. Ich nahm von Regnard den allerschmerzlichsten Abschied, denn die Zeiten waren so, daß keiner von uns beiden ruhig die Zuversicht eines Wiedersehens hätte aussprechen mögen; doch dachten wir damals wohl alle beide nur der Zufälligkeiten, die auf mein Haupt fallen konnten, denn mein Regiment sollte in den ersten Frühlingstagen jenes Jahres 1694 wieder nach Flandern abmarschieren.

Ich gewann die alte Magd, daß sie es mir möglich machte, auch Benedikten noch ein letztes Mal zu sehen; und ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß ich helle Tränen weinte, als ich das süße Gesichtchen, das jetzt schon ganz verändert und verschüchtert aussah, zwischen meinen Händen hielt und liebkoste. Benedikte, die nicht wußte, was sie aus meinen Tränen machen sollte und die mich wohl gern getröstet hätte, bot mir wieder ihre unschuldigen Küßchen an wie damals, als wir uns kennen gelernt. Ich hätte zu gern dem Kinde noch ein Andenken hinterlassen, doch wußte ich, daß Germaine es ihm fortnehmen würde. So schied ich nur mit vielen Zärtlichkeiten, die das liebe Wesen ahnungslos erwiderte, und mit einem langen Händedruck von Regnard. Germaine habe ich nicht wiedergesehen.

Einige Monate nachher erhielt ich im Lager von Vignamont einen Brief von Ninon, worin sie mir mitteilte, der goldene Goldschmied sei in ein Kloster der Cordeliers nahe bei Nancy getreten; er sei eines Tages von Paris verschwunden gewesen, und sie, Ninon, habe jetzt erst und mit vieler Mühe herausbringen können, wohin er sich gewendet. Sie erzählte mir auch ausführlich, durch welche unerhörte seelische Erschütterungen und Qualen der ärmste Mensch gejagt worden war, ehe er zu diesem letzten Schritte gelangt war. Was Ninon in dieser Erzählung an traurigen Details unbeschrieben gelassen, das ergänzte meine Phantasie, die nur das Bild der furchtbarsten Frau zu reproduzieren brauchte, um alles zu verstehen und zusammenhängend zu gestalten. Hier ist, wie sich die Sache zugetragen haben muß:

Es hatte sich nach Ninons Aussage Regnard, der von seinem Weibe nun fast nichts mehr sah und hörte, wieder den allerschlimmsten Wegen zugewandt und war, ohne indes die besseren Beziehungen zu Ninon ganz zu lösen, einer solchen Teufelin ins Garn gelaufen, wie sie Männer, die aus Verzweiflung schlecht sind, gern suchen und leider auch immer finden. Das Weib wußte ihn in einen wilden Rausch zu wiegen, wußte ihn gleichsam zu betäuben, wie jene ruchlose Pflanze der östlichen Länder betäubt, die nach Aussage chinesischer Reisenden und Missionare dort von solchen geraucht und genossen wird, die allertiefstes Vergessen ihrer selbst und der Welt umher brauchen und doch nicht den Mut haben, dieses Vergessen da zu suchen, wo es einzig gefunden werden kann, im Tode. Wie aber jene Pflanze das Leben derer, die sie gebrauchen, unheilbar verderben und zerstören soll, so griff auch diese giftige Leidenschaft dem im Grunde feinfühligen Manne bald das innerste Mark an, und Ninon beschrieb in erschütternder Weise, wie er, der unter ihren linden Händen eben noch zu neuer Kraft erblühen zu wollen schien, nun von Tag zu Tag verfallen sei, unstet, reizbar und weinerlich geworden, ja zuletzt sogar Ausbrüchen des Wahnsinns anheimgegeben gewesen sei, die auch ihre mütterlichste und liebevollste Sorge um ihn nicht mehr zu heilen vermocht hätte. Er sei in einem beständigen Wechsel von niedrigster, alles in den Staub ziehender Weltverachtung und reuevoller Selbstverdammnis hin und her gerissen worden, habe heute trunken gelästert und morgen in äußerster Zerknirschung gebetet, bald Germaine, bald sich selbst angeklagt, aber allzeit doch keine Rettung aus dem Irrwege finden können. Doch habe in der letzten Zeit jene unheilvolle Stimmung der Selbsterniedrigung die Oberhand gewonnen, so daß er in dieser moralischen Armseligkeit schließlich selbst der geduldigen Ninon fast zur Last geworden wäre, denn nichts sei, wie sie offen sagte, widerwärtiger als ein Mensch, der sich selbst aufgegeben hat und von andern noch gehalten werden möchte. Dennoch fuhr sie fort ihn zu lieben, um des Gottesbildes willen, das einst aus ihm geleuchtet, und liebte ihn vielleicht tiefer und heiliger in diesen Tagen, wo sie sich zur Geduld und Holdheit zwingen mußte, als vordem, wo sie freudiger für ihn empfand; denn ihre Liebe war lauteres Mitleid geworden und Regnard nichts mehr als ihr armer verlorener Sohn.

Eine geringe, aber durchaus nicht heilsame Veränderung zeigte sich noch einmal, als Germaine, die ihre Stunde nahen fühlte, plötzlich wieder begann, Türe und Arme dem verstoßenen Manne zu öffnen, freilich in einer Absicht, die er gar wohl verstand. Die Möglichkeit eines nahen Todes hatte dies starre Gemüt weich gemacht, so daß es sich nach einer Aussöhnung, und wenn Scheiden verhängt sein sollte, nach einem Abschied in Frieden sehnte; zugleich aber hoffte vielleicht dies allzu eifrige Herz noch immer, den Verlorenen dem Heile zurückgewinnen zu können, und erwartete eine stärkere Wirkung von Worten, die im Angesichte des Todes gesprochen wurden. Die unverzeihliche Lieblosigkeit, die in dieser Berechnung lag, übersah die gute Christin wieder ganz und gar; den Schmerz, den ihr Davongehen dem Gatten immerhin bereiten mußte und den ein echtes Weib mit letzter Aufbietung seiner süßesten Künste eingeschläfert und getäuscht haben würde, verschärfte sie bewußt, schonungslos und verwendete ihn zu ihrem Zwecke. Sie kannte die weiche Seele des Mannes gar wohl! Und gebrochen und reuig, wie er bereits war, gewährte er ihr noch einmal den Triumph, zu ihren Füßen Einkehr und Besserung zu geloben.

Ob Germaine nun in letzter Stunde die Fesseln, die sie dem Wiedereroberten angelegt, zu straff gezogen, daß sie ihm gar zu tief ins Fleisch schnitten; ob jenes andre Weib eine Ueberredungsgabe besaß, die derjenigen Germaines überlegen war – wer kann es sagen? Tatsache ist, daß Regnard in der Stunde, da sein Kind geboren wurde, nicht im Hause war, obgleich er seinem Weibe oft und unter Tränen versprochen hatte, nicht von ihr weichen, sie nicht allein sterben lassen zu wollen. Die Geburt war freilich früher eingetreten, als Germaine erwartet hatte, und Regnard war vielleicht in völliger Beruhigung von Hause weggegangen, um so mehr, als er in den letzten Tagen stets einen Bescheid zu hinterlassen pflegte, an welchem Orte man ihn im Falle der Not zu suchen habe. Diese Arglosigkeit war ihm zum Verhängnis geworden, denn als die Schmerzensstunde für Germaine nun begann, konnte eine der Pflegerinnen es in tugendhafter Entrüstung nicht unterlassen, der Frau mitzuteilen, wo ihr Gatte sich aufhielt, während jene sich in ihren Leiden wand. Und leider war der Ort, den die Wärterin nannte, keine Calvinistenversammlung.

Das Versprechen der dienenden Frauen, Regnard bei Eintritt eines bedenklichen Zustandes unverzüglich herbeizuholen, war übereilt gegeben und wurde natürlich im Augenblicke der Geburt, da Verwirrung und Angst alle Sinne gefangennahmen, vergessen. So wiegte der Mann sich in Sorglosigkeit, bis alles vorüber war. Erst gegen Morgen wurde ihm die Geburt eines toten Kindes und eine gefahrvolle, aber nicht hoffnungslose Verfassung der Mutter gemeldet. Da flog er heim, von äußerster Scham gepeitscht.

Einige Stunden nach der Geburt hatte Germaine sich im Bette aufgerichtet. Auf einem Stuhle neben dem Lager schlief sanft und tief die Wärterin, Stille und Dunkelheit lag über dem Hause, nur eine trübe Nachtlampe flackerte im Krankengemache, und durch die Tür des Nebengemaches floß breit und friedlich der Schein der Wachskerzen, welche die Leiche des Kindes umstanden.

Von Fieber geschüttelt, aber ihre Schmerzen nicht fühlend, erhob sich Germaine vom Lager. Schwankend setzte sie Fuß vor Fuß wie eine Nachtwandlerin, die nicht gehen will, sondern muß, von einer schauerlichen Sicherheit geleitet; und wenige Minuten später stand sie vor dem Sarge, wo das blasse, runzlige Gesichtchen des kaum geborenen Wesens steif und spitz aus weißen Kissen in die Höhe ragte. Auch in diesem Gemache saß ein dienendes Weib in tiefem Schlafe. Germaine schob die Leuchter zur Seite, hielt sich am Särglein fest und beugte sich über das tote Kind, leise seine kalten grauen Wänglein küssend. Dann murmelte sie in der Unklarheit ihrer fiebrigen Vorstellungen dicht am Ohre des Gestorbenen: »Wenn er kommt, so sollst du sein Gesicht nicht sehen! In der Ewigkeit, wenn du ihm begegnest, so erkenne ihn nicht!« – und wandte bei diesen Worten die kleine Leiche um, so daß sie halb auf das Gesichtlein zu liegen kam und es in der Tat aussah, als habe sie sich in Entrüstung von irgendeinem Beschauer abgekehrt. Die seltsam ausdrucksvolle Stellung hatte wohl nur der Zufall zuwege gebracht; dennoch nickte Germaine zufrieden darauf nieder, ordnete Laken und Leuchter wieder und entfernte sich mit einem Lächeln. Keine der Wärterinnen war während des Vorganges erwacht.

Im Morgengrauen kehrte Regnard heim. Die Frau, die nicht schlief, erkannte seine Art, das Tor zu öffnen und wieder zu schließen, erkannte seinen Tritt auf der Treppe. Sie lag still in zorniger Erwartung. Jetzt erwachte eine der Dienerinnen und ging dem Heimkehrenden entgegen; Germaine folgte mit Ungeduld den jammernden Mitteilungen, die gedämpft vom Flur her zu ihr drangen. Endlich hörte sie, wie Regnard das Nebenzimmer betrat, hörte auch, daß er schluchzte, und lächelte wieder irr und höhnisch vor sich hin. Sie zählte die Schritte, mit denen er sich der Bahre näherte. Jetzt stand er davor.

Ein gellender Schrei aus Frauenkehlen, ein heiserer, halberstickter aus dem Munde des Mannes erfolgte. Germaine richtete den Kopf ein wenig auf, und ihre Augen flammten eine Sekunde lang in wilder Freude. Dann schloß sie sie wieder, legte sich zur Seite und dachte nicht mehr.

Noch vernahm sie, wie ihr Gatte ins Zimmer schlich und neben ihrem Bette niederkniete. Sie fühlte die Stöße seines Schluchzens durch ihr Lager vibrieren, fühlte seine Tränen warm auf ihrer Hand. Aber weit entrückt in tödlicher Mattigkeit vermochte sie kein Zeichen der Empfindung zurückzugeben.

Als sie nach langen Tagen der Besserung entgegenging, erzählten die dienenden Frauen ihr mit Gesten des Entsetzens von dem grausen Wunder, das sich im Hause begeben habe: das tote Kind habe sich beim Eintritt des Vaters im Sarge umgedreht. Germaine schaute sie erstaunt an und suchte ihre Gedanken zu sammeln, erinnerte sie sich doch kaum, daß sie ein Kind geboren und was daraus geworden war. Die Weiber erzählten das Schrecknis breit und mit vielen Details: wie sie beide gewacht und den Schlaf der Frau gehütet hätten, wie keine von ihnen ein Auge geschlossen, wie keines lebenden Menschen Fuß in jener Nacht die beiden Räume betreten habe. Dann sei Regnard gekommen, um nach seinem toten Kinde zu sehen, und da habe vor aller Blicken das Wesen sich abgewandt mit einer verachtungsvoll abweisenden Gebärde, die deutlich sagte, es habe nicht teil an dem gottverlassenen Manne. Germaine lächelte nicht zu diesem Berichte. Sie entsann sich plötzlich ihrer Tat, und es graute ihr jetzt selber davor.

Sie rief nach dem Gatten, der alsobald erschien; er hatte im Nebenzimmer gearbeitet. Wie sie ihm ins Gesicht schaute, erschrak sie, so grimmig war es verändert. Nun fragte sie ihn milde, ob er sich um sie gebangt habe, worauf er abermals vor ihr niederkniete und nun seinerseits, während sich ihm noch das Haar zu sträuben schien, die Geschichte von dem umgedrehten Kinde erzählte. Auch er hatte es im Augenblicke einer schmerzlichen Erregtheit und tiefen Zerknirschung so aufgefaßt, als ob das Tote sich bei seinem Herantreten von ihm abgewandt habe, und die Phantasie der Weiber hatte das übrige getan, um die ungeheuerliche Vorstellung in seinem Gehirne zu befestigen. Die haftete nun und wirkte traurig nach. Wie ein Gezeichneter und Verfluchter, von Gottes eigner Hand geschlagen, kam sich der Mann vor, der einst Gottes liebstes Kind gewesen war. Er wartete nur Germaines völlige Genesung ab, stellte, als er sie dem Leben erhalten wußte, ihre und Benediktens Zukunft sicher und ging hin, das zu tun, was Ninons Brief von ihm berichtet hat.

Ich habe ihn nie wiedergesehen, den Goldenen, den Sonnenvogel, dem das unverdienteste Geschick die leuchtenden Schwingen zerbrochen. Aber einmal, viele Jahre später, habe ich wieder einen Muschelbecher von seiner Hand gesehen, den ich sofort als einen solchen erkannte, und von dem mir gesagt wurde, daß er aus dem Kloster stammte, in welchem Regnard lebte. So darf ich glauben, daß er in der geweihten Stille so weit genesen ist, daß er seine Kunst wiederfand. Und so wird er wohl noch ein bißchen glücklich gewesen sein. Von Germaine schrieb mir Ninon später noch, daß sie den Goldschmiedladen und das Haus an der Barillerie verkauft habe, um in einem stillen Gäßchen der Cité in einem streng hugenottischen Hause Wohnung zu nehmen. Dort lebe sie jetzt, wie man sagte, in guten Verhältnissen, erzöge ihr Kind und tue viel Barmherzigkeit an den Armen. In bezug auf Benedikte schrieb mir Ninon nur eine flüchtige Bemerkung: »Ich hüte stets noch treulich das Andenken ihres Vaters, den kleinen Savoyarden. Laß mich, lieber Sohn, immer wissen, wo du bleibst, damit ich ihn dir übergeben kann, wenn ich hinübergehe.«


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