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[Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein]

Das Kometenjahr 1811, welches heute noch durch seinen Wein berühmt ist, leuchtete in dem Sinn der europäischen Menschen und auch in meinem Sinn mit der Erwartung und Hoffnung auf von gewaltigen Entscheidungen und Umwälzungen der Dinge, die da nächstens erfolgen würden. Das kleine und dumme Volk träumte und schwatzte sich mit Ungeheuerlichkeiten von Krieg und Pest müde; die Frommen und die Gescheiten schauten mit sehr verschiedenen Gedanken, Gelübden und Gebeten zum Himmel empor, nicht in ihren Anfängen aber wohl in ihren Enden der Gebete und Gedanken miteinander einstimmig. Ich, damals ein kleiner Professor in Greifswald, hatte mit vielen Tapfern schon spanische und tirolische Gedanken. Ich empfand und wußte, daß ein sogenanntes allgemeines, alle Welt in Frieden und Faulheit zugleich begrabendes zweites römisches Imperatorenreich, wie der große Attila Europas es verkündigen und weissagen ließ, eine Unmöglichkeit war. Ich hatte zuvielen Zorn und Haß in der Brust; ich wußte, daß gottlob! viele, ja die meisten davon noch genug im Herzen trugen: es mußten noch gewaltige Kämpfe kommen. Das große Gewitter im Osten über den polnischen und russischen Sümpfen, Wäldern und Wüsten dunkelte düster am Horizont auf. Ich nahm in diesem Kometensommer des Jahres 1811 Abschied von meiner Stelle in Greifswald, fuhr im Herbst jenes Jahres nach Berlin Arndt reiste erst im Januar 1812 nach Berlin, s. Erinnerungen S. 103. (D. H.) und holte mir von dem dortigen russischen Gesandten Pässe für Rußland, jenem Gesandten, einem Grafen Lieven, besonders empfohlen durch zwei alte, schwedische Stockholmer Göllner und Freunde, durch den General Armfelt, damaligen Statthalter Finnlands, und durch den früheren, schwedischen Oberhofmarschall Freiherrn Munck. Mit diesen Pässen hatte ich mich für allen Notfall versehen, und solcher Notfall trat bald ein. Im Winter 1812 ging ich nach Berlin und wartete dort ein paar Monate das näher heranziehende Gewitter ab. Dann ging es nach Schlesien, um von da beim Kriegsausbrüche sogleich weiter gegen Osten fliehen zu können. Denn von meinem Napoleon durfte ich mich freilich nicht einholen lassen. Dieser Bruch und Ausbruch kam und fand mich gerüstet. Ich fuhr dann durch Böhmen und Polen gen Moskowien, noch besonders eingeladen von einem großen Vorausreisenden, dem Reichsfreiherrn vom Stein, der, gleich mir von Napoleon geächtet, durch einzelne meiner Schriften auf mich aufmerksam geworden war. Ich zog nicht allein gegen den Osten, ich ein armer, antinapoleonischer Federheld, der gegen den Gewaltigen nur Gänsespulen wetzte, sondern es zogen viele tapfre Degen aus deutschen Landen, besonders manche preußische Offiziere dahin, um die Glut des gerechten deutschen Zorns gegen den großen Überlister und Dränger der Könige und Völker im welschen Blute abzukühlen. Da half es freilich nicht, es mußte dieser Zorn auch in deutschem Blute, das für Napoleon mitfließen sollte, abgekühlt werden. Napoleon war schon Attila, der die dick zusammengerollten Haufen bezwungener Völker und auch die Scharen deutscher Könige und Fürsten über Oder, Weichsel und Dniestr mit sich und hinter sich hertreiben ließ. Von den Abenteuern dieser meiner Hedschra, von meiner durch Böhmen und Galizien, durch Moskau und durch Rostopschins des Hauptstadteinäscherers Siegesfeste und Tedeums hin bis zur zweiten russischen Hauptstadt an der Newa habe ich anderswo Erinnerungen S. 111–130. (D. H.) breiter erzählt. Gegen Ende Augusts des Jahrs 1812 stand ich vor dem berühmten Minister Freiherrn vom Stein.

Er empfing mich freundlich mit den Worten: »Gut, daß Sie da sind. Wir müssen hoffen, daß wir hier Arbeit bekommen. Ich sah einen Mann vor mir gedrungenen, mittleren Wuchses, schon mit ergrauendem Haar und etwas vornüber geneigt, mit leuchtendsten Augen und freundlichster Gebärde. In bester, getreuester Meinung hatte er mich zu sich gewünscht und gerufen, und ich, wie ich vor ihm stand schien einem Bilde solches Wohlwollens zu entsprechen. Er empfing mich wirklich mit solcher fröhlichen Zärtlichkeit, als hätten wir uns schon Jahre gekannt, und ich, mit welcher hohen Verehrung ich auch vor den berühmten Mann getreten war, deuchte mir fast wie vor einem alten Bekannten vor ihm zu stehen. Die Jugendblödigkeit des gebornen Plebejers, die auch nie sehr demütig gewesen war, war in dem dreiundvierzigjährigen Mann, der vor dem fünfundfünfzigjährigen Freiherrn stand, schon vor einem Vierteljahrhundert abgerieben und abgeklopft. Ich hatte in großen Hauptstädten schon genug Welttreiben gesehen und war unter Grafen und Baronen und weiland Staatsministern und Fürsten kein Fremdling mehr, hatte die letzten bösen Lehrjahre meines Lebens mit solchen Menschen und unter schlimmen, verworrenen Dingen am Staats- und Hoflager in Stockholm durchgemacht. Kurz ich ward auf das allerfreundlichste empfangen und für den nächsten Morgen wieder berufen, um gleichsam meine Anweisung und Einweisung in meine Petersburger Stellung aus seinen Händen überliefert zu erhalten. Ich mußte sogleich mit ihm zu Mittag essen; dann beschied er mich auf den morgenden Vormittag. Ich war im Hotel Demut abgestiegen, wo er wohnte; wenige Wochen darauf bezog er ein stolzeres, ministerlicheres Palais.

Ich ging gerührt und bewegt durch die Haltung, Art und Rede des ritterlichen Mannes in mein eignes Kämmerlein und mußte grübeln über eine Anwandlung von Erinnerungen, wo mir eben die Menschen und Dinge der Erinnerungen nicht kommen wollten. Diese Anwandlung von Erinnerungen und Ähnlichkeiten und meine Grübelei nahm die folgenden Tage noch zu, bis ich es einmal plötzlich hatte und rufen mußte: Fichte! Ja mein Fichte, mein alter Fichte war es fast leibhaftig: dieselbe gedrungene Gestalt, dieselbe Stirn, die auch bei Fichte zuweilen recht hell und freundlich glänzen konnte, dieselbe mächtige Nase bei beiden, nur mit dem Unterschiede, daß dieser mächtige Schnabel bei Fichte in den Welt hineinstieß als die da noch suchte, bei Stein aber wie bei einem, der sein Festes, worauf er stoßen sollte, schon gefunden hatte. Beide konnten freundlich sein, Stein noch viel freundlicher als Fichte; in beiden ein tiefer Ernst und zuweilen auch eine schreckliche Furchtbarkeit des Blickes, der bei dem Sohn des deutschen Ritters gelegentlich doch viel schrecklicher war als bei dem Sohn des armen Lausitzer Webers.

Stein wies mir nun ungefähr die Stellung an, welche ich mit und an und unter ihm haben sollte Das Unter aber hat er niemals gegen mich gebraucht. Über seine Stellung zu dem hohen Zaren sprach er nimmer ein Wort, sondern schloß das kurz mit den Worten ab: »Sie wissen ja, warum und wozu ich hier bin, so gut Sie es wissen, warum Sie so weit nach Osten ziehen gewollt haben. Unsre kleinen Geschäfte werden sich finden.« Und dann nannte er mir das Nächste und die nächsten Personen, welche ich sehen müsse und bei welchen ich schon angemeldet sei. Ich habe nur hinzugehen und meinen Namen zu nennen. Ihre Namen hießen: der alte Herzog von Holstein-Oldenburg, Graf Lieven, jüngst noch russischer Gesandter in Berlin, Graf Kotschubey, Oberst Arentschild und einige et cetera. Hier die Erklärung über dieses Nächste:

Wie gesagt, über sein Verhältnis zum Kaiser Alexander, also noch weniger über etwanige Gespräche und Verhandlungen mit ihm hat er außer freundlichem Lobe, welches er dem Autokrator reichlich spendete, fast nie ein Wort mit mir gesprochen. Diese seine Wirksamkeit und Arbeit ist begreiflich immer unter vier Augen geblieben, und von eigenen Taten und Werken erzählte er überhaupt fast nie; in der äußerlichen, sichtlichen Stellung aber stand er hier in Petersburg gleichsam als Stellvertreter Deutschlands und der möglichen Entwickelungen und Erfolge und der Vorbereitungen und Rüstungen der Dinge, die sich auf Deutschland beziehen und für Deutschland ergeben könnten, gleichsam ein noch sehr in der Luft oder vielmehr in dem Lichte des Gedankens schwebender deutscher Diktator. In der Ferne schwebte allen uns Deutschen, die noch ein heißes, zorniges Herz für unser Vaterland hatten, die Wiederaufrichtung desselben aus dem Jammer und der Schande, die Vernichtung des scheußlichen Rheinbundes und die Zertrümmerung der französischen Macht vor. In der Nähe, hier in Rußland, fochten unter Napoleons Fahnen wenigstens 150 000 Deutsche, seine Soldaten, aus eroberten deutschen Landen ausgehoben, die heranbefohlenen Rheinbundstruppen, endlich die Hilfsscharen Österreichs und Preußens. Es war die Meinung und Hoffnung, wenn das Kriegsglück des gewaltigen Attila etwa wanke, die Herzen dieser über alle Ströme und Wüsten so weit gegen Osten aus der Heimat fortgetriebenen Jünglinge zu erschüttern und sie zu erinnern, daß sie jenseits ein großes Vaterland haben, für dessen Glück und Ehre sie lieber in den Streit gehen sollten als sich von dem fremden Überzieher in den Tod treiben zu lassen. Viele tapfre Männer, welche von edlem Zorn und heller Hoffnung brannten, waren unter diesem Zeichen deutsches Vaterland nach Rußland gegangen, unter Alexanders Fahnen gegen Napoleon zu fechten und aus allen Kräften deutsche Jünglinge für die Erlösung ihres Vaterlandes zu einer Gegenschar zu waffnen. Dies war der Gedanke der deutschen Legion. Für die Errichtung und Gründung derselben ward in Petersburg zunächst geplant und gearbeitet, und hierfür bekam ich gleichsam meines Eintritts erste Tätigkeit und Beschäftigung.

In Beziehung auf die Errichtung dieser Legion hatte Stein mir die obengenannten Namen ausgesprochen. Ich muß also hier über sie ein wenig erzählen.

Der Herzog von Oldenburg war vor zwei Jahren von Napoleon von Land und Leuten verjagt, nächster Vetter und Gefreundter des Kaisers von Rußland. Er sollte gleichsam der Feldmarschall dieser Hoffnungsschar sein und hatte den alten Obersten Arentschild, einen hannöverschen Bremenser, als seinen Generaladjutanten mitgebracht. Er stand an der Spitze für die Angelegenheit dieses Ausschusses und neben ihm Stein und die Grafen Kotschubey und Lieven. Stein sagte zu mir: »Sie können sich mit Ihrem Namen ihm nur vorzeigen, sich verneigen und ihn sprechen lassen. Er steht da wie ein langbeiniger Storch und wird Ihnen stans pede in uno ein Examinatorium über die ganze deutsche Reichsgeschichte und deren Fürstenstämme zumuten.« Ich ging hin, fand in der Tat die Bestätigung in steifer, fürstlicher Freundlichkeit, habe nur dieses erste, einzige Mal Gelegenheit gehabt, mich persönlich vor ihm zu verneigen, mit seinem Sohne Dem späteren, 1829-53 regierenden Großherzog August, Erinnerungen S. 125. (D. H.) aber hatte ich in Smolensk im Feldlager an dem Generalstisch des Herzogs Alexander von Württemberg vier, fünf Tage mit meinem Freunde, dem Grafen Chasot, am gemeinsamen Mittagstische gesessen. Später erkannte ich wohl, daß Stein und der Herzog in demselben Gespann zusammen nimmer gut ziehen konnten. Sie haben zu verschiedene Gründe und Anfänge der deutschen Dinge gewollt, also auch zu verschiedene Aufforderungen und Verkündigungen für die deutschen Angelegenheiten. Der Herzog wollte alles allein mit, durch und für die Fürsten anfangen und in ihrem Namen Deutschland! rufen, Stein aber meinte mit einem sehr spanischen Gefühl, auch den Fürsten müsse man erst lehren, wieder deutsch zu gehorchen und nicht zu glauben, daß Gott allein für sie die Welt geschaffen habe; nur durch alle, durch alles Volk, Große und Kleine, werde die Zerbrechung des welschen Joches möglich sein. Die beiden Herren, der Weserfürst und der Rheinritter, sind demnach immer weiter auseinandergekommen; der Herzog von Oldenburg als Haupt der Legion ist zuletzt bloßer Name geblieben, die Legion selbst ist ein ganz andres Ding geworden, als man bei ihrem Anfange gemeint hat. Begreiflich, daß der Herzog mich, ein Steinsches Nachtschaden- oder Landschadenkraut, nur ein einziges Mal angesehen hat.

General Graf Lieven war eben als russischer Gesandter aus Berlin angekommen, ein wohlwollender und der guten Sache freundlicher, aber kein bedeutender Mann; der Mann aber hatte einen Mann hinter sich. Dieser Hintermann war die Macht und hieß Gräfin Lieven, eine kurländische Freiin von Benkendorf. Sie war eine echte, lebendige, bewegliche Kurländerin, ich möchte sagen, von der schlanksten Beweglichkeit und Geschmeidigkeit, welche den kurländischen deutschen Adel auszeichnen; obgleich die erste Jugendblüte von ihr abgeblasen war, doch noch mit angebornen Reizen und mit einer leichten, ungelernten Anmut. Diese beiden empfingen mich sehr freundlich, einen Bekannten schon von Berlin her, wo ich einige Male bei ihnen eingeladen gewesen war und meine Pässe für Rußland empfangen hatte. Bei den späteren Sieges- und Freudenfesten in Petersburg bin ich bei der allgemeinen Freude, welche in der Hauptstadt alle Stände und Geschlechter damals mischte, von der schönen Kurländerin oft mit zärtlichsten Händedrücken und Umhalsungen beglückt worden. Noch in ihrem Alter ist diese Gräfin Lieven in den Marmorsälen von London und Paris eine leuchtende und mitspielende diplomatische Gestalt geblieben.

Ich habe eben nicht umsonst von der echten, lebendigsten Kurländerin gesprochen; ich hätte sie auch eine halbe Polin nennen können. Bei den Kurländern – ich meine bei dem kurländischen Adel – muß man immer an die Polen denken, unter deren Herrschaft und Einfluß das reiche, fruchtbare Land Kurland ein paar Jahrhunderte gestanden hat. Ich kenne ja meine leichtfüßigen, leichtzungigen, leichtlispelnden Kurländer, habe vor manchen längstverschienenen Tagen in Jena manche liebenswürdige kurländische Rittersöhne (Korfe, Mirbache, Sacken usw.) zu lustigen Kameraden gehabt. Bei dem ersten Anblick des Kurländers und der Kurländerin fällt einem in ihrer Art und Sitte und in der leichthin säuselnden und lispelnden deutschen Sprache derselben die Beweglichkeit, Geschmeidigkeit, Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der Polen und Polinnen in vielfältigen Ähnlichkeiten sogleich auf. Die weiland reizende, berühmte Herzogin von Kurland und ihre Töchter Anna Charlotte Dorothea, geborene Gräfin Medem, die Gemahlin des Herzogs Peter, der 1795 Kurland an Rußland abtrat. Von ihren Töchtern ist besonders Dorothea, Herzogin von Sagan, bekannt. und diese Kurländerin« Gräfin Lieven haben ganz die Leichtigkeit und Anmut der schönen Polinnen gehabt. Dies alles ist nicht wunderbar, aber doch sonderbar genug. In solcher Weise wirkt schon die Nachbarschaft, wie vielmehr aber die Herrschaft mit ihren mitgebrachten Verbindungen und Beziehungen eines verschiedenartigen Volks auf ein ganz anderes. Ich weise dies sogleich in einem Beispiel nach. Der livländische deutsche Bürger und Edelmann war ursprünglich während der Herrschaft der deutschen Ritterschaften zwischen dem dreizehnten und sechzehnten Jahrhundert ganz derselbe Stoff und die gleiche Art des kurländischen und preußischen, aber Livland und Estland haben über ein Jahrhundert unter Schweden gestanden, haben manche schwedischen Familien und noch mehr schwedische Art und Sitte bei sich eingebürgert, leben jetzt bald anderthalb Jahrhunderte unter den Russen, und wie verschieden in Haltung und Gebarung sind die Männer und Frauen von dem Kurländer und der Kurländerin! Dies war mir schon klar unter meinen Jenenser Burschen, es ist mir in Petersburg noch viel klarer geworden. Bei den Livländern, deucht mir, ist noch manches von schwedischer Schwere und Ruhigkeit aber gottlob! auch von schwedischer Geradheit und Derbheit, wovon der leichtere Kurländer viel weniger zeigt. Dies sind so Schatten und Bilder der Länder und Völker, welche dem Auge wie leichte Schimmer und Schatten vorschweben, welche man sich aber hüten muß mit zu dicken und festen Farben zu malen.

Der Russe Graf Kotschubey und seine Gemahlin. Ich bin mit Stein in diesem Hause oft eingeladen gewesen und habe ihre Art und ihr Leben also kennen gelernt. Kotschubey war Stein bei seinen Arbeiten zugeordnet, und Stein hatte den Mann bald sehr lieb gewonnen. Wenn man diese Familie und ihr Wesen betrachtete, ihre schlichte, einfache, prunklose Weise, so konnte man wohl fragen: Von welchem Planeten sind diese in dieses starre Schneeland Moskowien gefallen? Können solche Pflanzen auch an der Newa wachsen?

Arentschild! Klingt ja mein eigner Name in diesem Namen wieder. Er stammt wirklich wie ich aus Schweden. Nach Gustav Adolf in der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts kamen infolge schwedischer Besitzungen und der Besteigung des schwedischen Königsthrons durch Fürsten deutschen Bluts (des Wittelsbachischen) nach Pommern und an Elbe, Weser und Rhein manche schwedische Kriegsmänner, Landvögte und andre Beamte, die ihre Geschlechter dort hinpflanzten deren Kinder und Enkel dort nun halbverdeutschte Namen führen. Arentschild ist die schwedische Ritterfamilie Örnsköld (Adlerschild). Unser alter Oberst schien mir in der Tat viele, fast zuviele schwedisch-nordische Ruhigkeit und Gelassenheit in sich zu tragen. Sein Adjutant Major Stülpnagel klagte sogar über ihn: »Der Alte ist nicht bloß ruhig nein, er kann nichts mehr; unter ihm werden wir keine geschwinde Schwerthiebe führen.« Er ist später, als es wirklich Schwerthiebe geben sollte, gar nicht zum Oberkommando gekommen Wilhelm von Arentschild, der ehemalige Kommandeur der oldenburgischen Truppen, 1812 übrigens erst 52 Jahre alt, erhielt zwar nicht den Oberbefehl über die deutsche Legion, führte aber anfangs die erste Brigade später die Infanterie-Division derselben. (D. H.). Dazu war von Stein zuerst der edle Graf Chasot ausersehen, der aber in Rußland an der schrecklichen Kriegslazarettseuche starb nach ihm Gneisenau, der aber sogleich nach seiner Rückkehr aus England eine höhere Bestimmung erhielt, endlich ist Steins Schwager, der österreichische General Graf Wallmoden, ihr tapfrer Führer geworden.

Bei den Geschäften, die mir von dem Minister aufgetragen wurden, hatte ich auch häufig mit den Obersten und Offizieren der Legion zu tun, auch zuweilen Hader zu schlichten und Händel beizulegen, wie es bei der Zwiespaltigkeit der Ansichten von Stein, Oldenburg und Arentschild denn auch an allerlei Außerordentlichkeiten und Abenteuerlichkeiten nicht fehlen konnte. Die meisten Offiziere der Legion waren Preußen, welche Abschied oder Urlaub genommen hatten, um in Rußland ihre Säbel an Franzosenköpfen zu erproben, manche derselben adligste und zugleich edelste Männer, die wir später als Feldherrn und Generale in ihrem alten preußischen Kriegsrock wiedergesehen haben: Grafen Dohna, Freiherren Horste, Goltze, Horn, Alvensleben usw. Mit vielen ist mir bis in meine späten Jahre frohe Erinnerung unsrer Petersburger Tage und treue Genossenschaft und Freundschaft geblieben.

Hier ein paar Proben:

Major von Stülpnagel war erster Adjutant Arentschilds, ein Ukermärker, ein feiner, sehr tätiger und geschickter Offizier, dem Minister durch seinen Schwager, den Grafen Arnim-Boitzenburg, ganz besonders empfohlen, wie denn auch der Graf Arnim in seinem brennendsten Franzosenhasse mehrere auf Rußland gegen Osten fahrende preußische Offiziere mit seinem Golde reichlich befördert und ausgerüstet hatte. Stülpnagel klagte nun oft über Steins unerträgliche Grobheit, der ihn manches Verkehrte empfinden lasse, was in verzwickten Verhältnissen und Persönlichkeiten liege; und dann seinen Ärger darüber auf ihn gleichsam ablade. Ebenso hatte Stein vor mir, wann ich den Stülpnagel lobte, sich wohl so ausgesprochen: »Gehen Sie mir mit Ihrem Stülpnagel! Das ist ein blöder Zuckler und Bücklingmacher.« Da riet ich nun auf seine Klagen dem Stülpnagel einmal: »Nun fassen Sie sich mal einen Ochsenmut gegen den Löwen und werden Sie wieder grob.« Und das hatte er getan. Als ich nach solcher seiner Erkühnung den folgenden Morgen zu Stein kam, sagte er: »Sie hatten nicht ganz unrecht, ich hatte mir den Stülpnagel doch falsch vorgestellt; er ist doch so übel nicht, aber er sollte nur nicht so fein sein wollen und ein wenig mehr soldatisch auf die Menschen losgehen.« Ich hatte Stein bald abgemerkt, daß man auf ihn wirklich ein wenig soldatisch losgehen mußte, daß er, die zu schüchtern oder zu fein vor ihm auftraten, für Tröpfe oder gar für Schleicher und Schelme hielt.

Dies war eine Stülpnageliade, aber es gab ganz andere Abenteuerlichkeiten bei der Legion. Wie gesagt, die Mehrheit der Offiziere waren treue, edle Preußen, aber auch einige Kurländer und Livländer (Rönne, Simolin usw.) traten ein, und ich selbst brachte einen Schwedisch-Pommern von Mühlenfels hinein, der in zwei Feldzügen vom Leutnant bis zum Oberstleutnant im russischen Dienst vorgerückt ist; aber Abenteurer aus allerlei Volk und mit allerlei Namen vornehmsten Klanges meldeten sich genug. Petersburg ist ein rechtes Posthalt der Abenteurer, die auf Fortunas Flügeln durch die Welt fliegen, ein europäisches Absteigequartier. Aus Frankreich, England, Deutschland fliegen hier alle Tage solche Vögel zusammen. Gelingt es ihnen hier nicht, so läuft die Reise auf dem freien, lockern Wege Fortunens gewöhnlich über Jassy und Bukarest auf Konstantinopel und von da wohl auf Smyrna oder Alexandria weiter.

So kam uns unter andern einer mit dem großen Namen Baron Douglas, der aber, da wir ihn scharf faßten, dunkel und still verschwand; so ein zweiter mit der Aufschrift Baron Locn-Taxis, ein schönes, stattliches Gewächs mit einem prächtigen Rundkopf und einem jugendlich schwarzen Schnurrbart. Er wollte preußischer Offizier gewesen sein und trug Sterne und Orden an der Brust. Er brachte aus russischen Häusern Empfehlungen, besonders von vornehmen Damen, wobei Stein etwas prustete, war auch bei Stein eingeführt, der mir seine Papiere zur Durchsicht gab. Unsere Offiziere munkelten allerlei hin und her über ihn und wollten ihn nicht zum Kameraden haben; einer von ihnen, mein' ich, sprach auch von einem Gerücht, ein Locn sei im Jahr 1807 unter Blücher und Marwitz in Rügen gewesen, aber bald wegen unlöblicher Geschichten verschwunden und verschollen; mit dem Titel Herr Major, den er sich gab, und dem Orden pour le mérite militaire, den er trug, möge es wohl nicht viel richtiger sein als mit dem Brustschmuck, womit Douglas glänzte. Er aber machte den Kühnen, wollte alle auf die Klinge fordern. Sie riefen mich mit in den Kriegsrat. Unser Bedenken fiel dahin aus, daß man kein Ehrengefecht mit ihm eingehen könne bis er sich erst besser ausgewiesen habe. Es mochte ihm endlich wohl schwul werden. Genug, auch dieses glänzende Meteor verschwand plötzlich, ohne daß jemand Kunde geben konnte, wodurch und wohin. Nun habe ich zehn, zwölf Jahre später aus den Tagebüchern eines französischen Offiziers, welcher bei Mehemet Ali Gemeint ist wohl der Albanesenhäuptling Ali Pascha von Janina; sein Zeitgenosse Mehemet Ali war Vizekönig von Ägypten. (D. H.) in Janina Oberst eines Regiments gewesen sein wollte, in Zeitungsblättern gelesen, er habe dort einen Preußen namens Locn-Taxis als Kameraden gehabt. Er war also mit seiner europäischen Abenteuerlichkeit zur rechten Stelle, zu den Türken, hin verschlagen.

Die Legion hatte jetzt ihr Standquartier in Petersburg; dieses ward später nach Finnland verlegt, wohin nach den großen Schlachten die Menge deutscher Gefangenen zu Tausenden abgeführt wurden, aus welchen die Legion gemehrt werden konnte. Sie wuchs allerdings auch dadurch aber nimmer in dem Maße, wie wir nach der Zahl der Gefangenen gehofft hatten. Zuerst wollten freilich alle Gefangene nicht sogleich diesen Dienst nehmen, aber die meisten waren dazu in ihrer traurigen, jedem rohen, russischen Jammer ausgesetzten Lage, die sonst sogar nach Sibirien versetzt werden konnte begreiflicherweise sehr willig. Man träumte also nun bald den Anwuchs zu einer Zahl von Zehn- und Zwanzigtausenden, aber – Gott sahe drein, oder vielmehr Gott hatte schon drein gesehen. Die Gefangenen waren durch Märsche, Kälte, Mangel und durch harte, grausame Behandlung ihrer russischen Treiber bei der Wegführung auf Schnee- und Eiswegen in Mark und Gebein welk, dürr und lahm und starben wie die Fliegen dahin. Ich habe ja genug Exemplare dieser unglücklichen, verhungerten und erfrornen Jünglinge gesehen. So ist wenig Frisches und Gesundes für die Legion übrig geblieben. Späterhin als das Glück sich mit so wunderbarem Umschwung und Umschlag gewaltig gegen Napoleon wandte, ward bei dem geschwinden Lauf der Dinge gegen unsern Westen hin der Gedanke, aus der Legion in Rußland ein Heer zu machen, natürlich aufgegeben. Was da unter Waffen fertig war marschierte indessen, an Männern, Waffen, Pferden trefflich gerüstet, im Winter 1813 in Königsberg auf: Fußvolk Reiterei, Artillerie etwa 5000-6000 Mann, sie haben im russischen, dann im englischen Sold den großen deutschen Krieg tapfer mit durchgefochten und sind endlich meist als besondere Regimenter und Geschwader, in den preußischen Dienst übergegangen, welchem fast alle ihre Oberbefehlshaber angehört hatten.

Hier ward ich also sogleich, wenn nicht mit hineingestellt, doch hinangestellt und habe auch für die Bestimmung und Verteidigung dieser deutschen Legion in zwei Jahren manchen Tintentropfen aus der Feder laufen lassen müssen Arndt schrieb »Zwei Worte über die Entstehung und Bestimmung der deutschen Legion« s. Bd. 13, S. 99-115. (D. H.). Hier erzähle ich nun beiläufig, daß Stein mich als einen literarischen Mitläufer oder Beiläufer in dem Budget seines Departements mit aufgeführt hatte. Er brachte, als er die hiesige Art kennen gelernt, den lächelnden Scherz an mich: »Hören Sie, Sie müssen ein russisches Zeichen, das hier jedermänniglich trägt, einen Orden haben. Das ist hierlandes eine Einlaßkarte; sonst läßt kein Pförtner Sie ein.« Worauf ich lachend erwiderte: »Ich und ein russischer Orden? Ich werde in keinen Schlössern und Palästen zu tun haben, wo E. E. nicht eintreten, und Ihr Name ist Marke genug.« Es ist also dabei geblieben.

Wundersamer Wechsel der menschlichen Dinge und Geschicke! In den Jahren 1807 und 1808 hatte ich in Stockholm aus dem Kabinette des Vierten Gustavs und aus dem Kabinette meines Herzens Verkündigungen und Pamphlets, harte und bittere, gegen die Russen und den Kaiser Alexander geschrieben In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Der Nordische Kontrolleur«. (D. H.), und jetzt in Petersburg schrieb ich für denselben Kaiser Alexander und für mein Deutschland, das wir für den Krieg fertig machen wollten. Hatte ich Haar und Farbe gewechselt? Nein. Stein ließ mir meine Reisekosten, die ich aus eigenem Beutel bestritten hatte, und die einige hundert Taler ausmachten, ersetzen und Diäten, etwa einen Friedrichsdor für den Tag, anweisen. Diese sowie manche andre Summe in seinem Auftrage hatte ich aus dem wundersamen und grauenvollen Labyrinth des Kaisers Paul von einem Oberzahlmeister Worotschenko abzuholen, dem längsten und schlanksten Russen, den meine Augen gesehen haben, und, wie mir deucht, einem der freundlichsten und ehrlichsten. Er ist in diesen Jahren 1840 und 1850, die wir schreiben, russischer Finanzminister gewesen und auch schon unter den Verstorbenen gemeldet.

In diesem Paulslabyrinth Dem alten Michaelspalast. (D. H.), wo die wundersamsten, durcheinander gewundenen und verschlungenen Rundgänge und Durchgänge mit einer Menge Treppen, Treppchen und Türen sich befanden, bin ich viel aus und ein gegangen und habe hier, obgleich mit einem vorzüglichsten Orts-, Namen- und Zahlensinn von der Natur begabt, seine vielverschlungenen und verworrenen Wege und Stege doch nimmer richtig gehen lernen gekonnt. Ja bei hellem Tage, nach manchen Tappungen, Hin- und Herläufen, Stampfungen und Klopfungen an Türen Türchen und Pförtchen war das gewöhnliche Resultat, daß Worotschenko, durch das Gepolter aufgeweckt, mir fast immer zu Hilfe kam. Diesem Russen, er war damals ein Jüngling, dessen seines, redliches Gesicht mir noch heute hell vor Augen steht, mußte ich, ich weiß nicht wodurch, das Herz abgewonnen haben. Er ließ sich gern in Gespräch mit mir ein, wollte auch über die Westlande und Südlande, welche ich besser kannte als er, von mir gern etwas lernen und erzählte mir dann gebeten und ungebeten wieder, was ich als Gegengeschenk zu empfangen wünschte. So stehe denn hier einiges über Pauls Labyrinth und die zu ihrer Zeit über ganz Europa als eine blutige Mär hingeklungenen Begebenheiten dieses grauenvollen Baugeflechtes:

Kaiser Paul, ein seltsamer Fürst, der einen orientalisch-tatarischen Charakter aus Turan mit europäischer Gesittung und Bildung im wunderlichsten Gemisch verband, der von Jugend auf in den gewaltigen, oft mordlichen moskowitischen Geschichten und in der Geschichte seines eigenen Vaters, die er wohl kannte, viele natürlichste Spiegelungen buntester und dunkelster Phantasie erblickt hatte, der auch nimmer hatte vergessen gekonnt, wie seine Mama, die große Katharina, feilte Jugend und sein Mannesalter bis an ihr Ende von Wächtern und Auflaurern hatte belauschen lassen – dieser Kaiser Paul hatte sich sein künstlichstes Elsternest gebaut, in welchem Eingänge und Ausgänge auf eine ganz besondere Weise berechnet und durcheinander verwirrt waren. Dieser Palast steht da als ein ungeheurer, rundester, dickster Bienenkorb, von oben bis unten ein vollständiges Rund. Es gab einen Haupteingang mit einer mächtigen Treppe, welche noch da ist, aber auch einige kleine Seiteneingänge, welche jetzt vermauert sind. Dieser künstlichste Fuchsbau, worin aber kein Fuchs sondern ein ganz eigentümlich gestalteter, bald gutmütiger, bald grimmiger Bär saß, war mit seinen vielen Rundläufen, Hallen, Treppen und Türen absichtlich so berechnet und gebaut, daß nur einer, der lange darin gewohnt und die bunte Karte des Ganzen wohl studiert und auswendig gelernt hatte, sich darin hatte zurechtfinden können. In diesem seinem Labyrinth wollte Kaiser Paul niemand bestricken und fangen, und doch ist er selbst darin gefangen und abgefangen worden. Hier stehe über diese Abfangung aus meiner Erinnerung darüber, was der treffliche Stettiner Pommer, der weiland kaiserliche Staatsrat und Petersburger Akademiker Adelung, und mein zutraulicher Labyrinthleiter Worotschenko mir darüber erzählt haben.

Pauls wunderlichste und phantastischeste Hin- und Herschwankungen, auch die Schwenkungen und Lenkungen, wodurch mancher seiner geliebten Untertanen von der gewöhnlichen Straße ab gelegentlich auf die Straße gelenkt werden konnte, welche über Nischney-Nowgorod und die Wolga bis nach Tobolsk und Irkutzk immer weiter in den verschneiten und verwüsteten Osten läuft, sind noch sehr in dem allgemeinen Gedächtnis der Zeitgenossen. Als er angefangen hatte, dieses, sein Wunderlabyrinth zu bewohnen, war Rostopschin sein Generaladjutant und Nebenschläfer, ein treuester, tapferster Wächter. Weil die, welche mögliche Ablenkungen von dem gewöhnlichen Wege auf den Straßen des Reichs von Paul fürchteten; diesen gewaltigen Cerberus des kaiserlichen Palastes kannten, so brachten sie es durch vielfache Zettelungen und auch durch Palastdamen zustande, daß Rostopschin zu einem Oberbefehl in einer entfernten Landschaft befördert und versetzt ward. Kaum war er fort, so schritten sie zur Tat, vier Männer, von welchen die Namen Graf Pahlen, General Bennigsen und Subow mir im Gedächtnis geblieben sind.

Generaladjutant Graf Pahlen führte den Tagesbefehl und hatte die Wachen am Tor und an den Pförtchen teils geändert, teils weggeschickt. Mitternächtlicherweile brachen die Verschwornen in des Kaisers Schlafzimmer, er erwachte sogleich und wollte entfliehen, mit schwerem Ringen warfen sie den starken Mann auf sein Bett zurück, der Riese Subow stürzte sich auf ihn, mit Bennigsens Schärpe ward ihm die Kehle zugeschnürt Dieser kaiserlich-russische Feldmarschall hat nach manchen Schlachten und Siegen noch mehrere Jahre nach dem allgemeinen Frieden ein Jahrgeld von 36 000 Silberrubeln bezogen.. Kaiserin und Söhne in den Nebenzimmern waren durch das Geräusch des Kampfes aus ihrem Schlaf aufgestört, man hat ihnen schweigen geheißen, und sie haben geschwiegen. Es schien zunächst weder Hund noch Hahn danach zu krähen, wie laut die schwarze Mär auch über alle Meere und Länder klang. Ich habe zu dieser gemachten Leiche von englischen Kanonengrüßen gleichsam die Glocken läuten gehört, als ich den ersten April des Jahres 1801 m Rostock einfuhr, segelte Nelson mit seiner siegreichen Flotte in dortiger Reede mit Kanonendonner auf, und bald nach ihm kam dort von der am 23. März vollbrachten Tat die Nachricht an. Der Riese Subow übrigens hatte ein ganz gutes, gewöhnliches, breites Gesicht, woraus doch ein paar listige Augen blinzelten. Mit diesem Riesen habe ich in guten Häusern, namentlich ein paarmal bei dem Banker Severin, einen Rubber Whist gespielt. So unschuldig lebt sich's in Petersburg miteinander.

Meine Stellung war also die eines Schreibers, an der Hand und unter dem Schirm des großen Steinschen Namens wenn man vornehmer sprechen will, die Stellung eine, deutschen Schriftstellers, der einige Stellen in Europa kannte wo sein Kopf vor den Klauen des allgewaltigen Vogels Roch des Tages nicht sicher war. So hatte er die Reise nach Petersburg machen gewollt; aus ähnlichen Gründen hatte auch der Minister Stein dahin gewollt. Hier war er nun in reichster Beschäftigung, teils aus dem eignen Herzen, teils im unmittelbaren Auftrage des Kabinetts und des Kriegslaufes hin und her einzelnes durch den Druck ausfliegen zu lassen, kleine Pamphlets, Aufforderungen, Verkündigungen Gegenschriften und Widerlegungen napoleonisch-französischer Verkündigungen und Berichte – einiges, wie es aus russischem Sinn und Sprache geflossen, gemessen und zugeschnitten war, das meiste jedoch mehr im deutschen – darf ich sagen? – im Steinschen Sinn. Solches ward gelegentlich deutsch gedruckt und hin und her ausgegeben, auch wohl ausgeworfen oder versandt; zuweilen hat man's auch in französischer Übersetzung laufen gelassen Arndt schrieb während seines Aufenthalts in Petersburg: »Kurzer Katechismus für deutsche Soldaten«, »Die Glocke der Stunde in drei Zügen« und »Historisches Taschenbuch für das Jahr 1813«. (D. H.). Solche Blätter fliegen wie ausgestreute Funken, von welchen gehofft wird, sie werden hie und da ein pulvergefülltes Herz finden und zünden, damit es weiter zünde.

Bei dieser Schreiberei hatte ich mit Leuten des russischen Kabinetts durchaus nichts zu tun; nur kriegte mich zuletzt ein alter Russe heran, der nach des Ministers Speransky Fall eine Zeitlang eine Art Minister des Innern war. Er hieß, wenn ich den Namen recht schreibe, Admiral Schischkow. Er war ein stattlicher, mit echtester russischer Mimik und Pantomimik begabter Greis, welchem mitten in den schwersten Wechseln der Erscheinungen und Entwickelungen des Herbstes von 1812 das Lachen und Scherzen doch immer viel näher war als das Klagen und Wimmern der Verzagten. Ihm war von mir wie von einer schallenden Kriegsposaune erzählt worden, er hatte dann einige meiner gedruckten Kleinigkeiten teils deutsch – was er doch kaum halb verstand – teils in französischen Übersetzungen gelesen; und es geschah demzufolge, daß, wann er Aufrufe und Meldungen für das russische Volk in Beziehung auf den Reichsfeind und den Krieg erlassen wollte, er mich zu Hilfe rief. Das gab, weil ich den echten, alten Moskowiten in seiner beherzten, treuen, patriotischen Herzhaftigkeit bald recht lieb gewann, oft recht lustige Unterhaltung miteinander, obgleich zuweilen, wenn er mich zu lange festhalten wollte, auch ungeduldige. Wir radebrechten da, zumal da er wenig Deutsch, ich gar kein Russisch verstand, wir beide aber mit dem Französischen uns nur mittelmäßig aushalfen, zumal wo es die höhere und feinere, diplomatische, französische Sprache gelten sollte; wir radebrechten, sage ich, in deutschen und französischen Phrasen oft stundenlang, ehe wir das rechte Wort finden konnten; denn mächtige und gewaltige Worte wollte der Alte gegen Napoleon schleudern Arndt lieferte für die von der russischen Regierung herausgegebene Wochenschrift »Syn Otetschestwa« (Sohn des Vaterlandes) einige Beiträge, darunter »Stimme der Wahrheit«, später in »Die Glocke der Stunde« aufgenommen. (D. H.).

Mit andern Männern habe ich mit meinem Gehirn und meiner Feder nichts zu schaffen gehabt, wohl einzelne Schriften und Aufsätze von solchen auf Steins Befehl mit ihm durchmachen und seine und meine leisen notulas darüber den Verfassern mitteilen gemußt. Die meisten dieser Aufsätze kamen, wie mich's erinnert, aus den Händen und Federn jüngerer Männer, welche nach Romanzoffs Entfernung mit Stein und für Stein im Kabinett arbeiteten. Von solchen sind mir sowohl in Gesellschaft als im Kabinette Steins zwei öfters zu Gesicht gekommen, über deren Aufsätze er mich zuweilen zu Bemerkungen und Gegenbemerkungen aufforderte; in Gesellschaft mit ihnen etwas geschaffen oder gearbeitet habe ich nimmer. Beide, die in ihren Personen und Arbeiten mir oft erschienen, waren geborne Deutsche; ihre Werke wurden mir auch oft zur Begutachtung und Beurteilung zugestellt. Sie hießen von Anstett, ein geborner Elsasser, und Graf Nesselrode, auch ein Rheinländer, aber vom Niederrhein im Norden von Köln und Bonn; der erste ein stattlicher, wohlleibiger und wohllebiger Halbfranzos, der zweite ein feiner zarter, noch sehr jugendlicher Jüngling, der Sprößling eines alten, Stein sehr befreundeten Geschlechts, dessen Ahnen mit Steins Ahnen auf den Höhen des Westerwaldes oder auf den Feldern der Wetterau und in den Reichsstädten Wetzlar und Limburg in Festen und Turnieren weiland wohl miteinander buhordiert haben mochten. Wie dem sei, Nesselrodes Vater war in beklommenen Umständen und Verhältnissen in Petersburg gestorben und hatte dort einen Sohn als hilfloses Kind hinterlassen. Dieses Kindes hatte sich die große Katharina angenommen, und es war nach Berlin zur Erziehung geschickt und, als es fertig war, später als ein brauchbares Gerät des Kabinetts angestellt worden. Er schien jetzt im Kabinett seine diplomatischen Lehrjahre zu machen und hatte eines Steins mächtiger, ungestümer Gewalt gegenüber etwas zu Blankes und Geschmeidiges, was der starke, gewaltige Mann leicht zu blöder Beschränktheit oder schlimmer zu schleichender Listigkeit auszulegen pflegte Nesselrode war 1780 in Lissabon geboren, also 1812 bereits 32 Jahre alt. Sein Vater, der auch schon in russischen Diensten gestanden hatte, starb 1810 in Frankfurt a. M., 14 Jahre nach Katharina II. (D. H.).

Aus späteren Auftritten, als das Glück des Kriegs mit uns in das Jahr 1813 hineinlief und es galt gegen Westen vorzudringen, und aus den Aufrufen und Verkündigungen, welche jetzt an die deutschen Könige, Fürsten und Völker und gegen den fliehenden Napoleon losgelassen wurden, merkte ich, ja es ward oft vor meine Augen gelegt, daß Nesselrode von russischer Seite den Auftrag hatte, die Schriften und Aktenstücke für Deutschland zu überbringen, auch wohl zu bearbeiten. Ich sage, ich merkte und mir deuchte; denn im geheimen Rat habe ich nicht mitgesessen. Da hatte sich denn wohl oft begeben, daß er (der Überarbeiter oder Durcharbeiter) mächtige Gedanken oder ungestüme Worte Steins nach Höherem oder Höchstem Kaiserlichen Willen bei der Ratschlagung hatte ablenken oder doch mehr stillen und sänftigen müssen. Kurz gesagt, für unsre deutschen Aufrufe und Verkündigungen, auch für die Verkündigung aus Kalisch vom Frühling 1813 war er mit beigezogen und hatte mit darin gesessen. Er war noch nicht in der Stellung, ein Mann eignen, mächtigen Entschlusses oder Wortes zu sein, sondern mußte wohl noch nach fremdem Willen und Befehl dem gewaltigen Löwen Stein in die fliegenden Zügel seiner Entschlüsse und Worte fallen. So ward er ihm natürlich oft sehr mißfällig, und dann schalt er seinen rheinischen Vetter aus den Bergen der Agger und des Siebengebirgs nur den kleinen, blanken, kriechenden Taschenkrebs.

Solche wie die hier geschilderten waren im Sommer und Herbst auch wohl meine kleinen politischen Beziehungen, aber viel nähere bekam ich zu Stein selbst, wozu vorzüglich Briefwechsel mit England und Deutschland gehörte, besonders mit dem Grafen Münster, damals in London sitzend für die englisch-deutsch-hannoverschen Angelegenheiten. Der englische Briefwechsel war der heißeste und schwerste für mich, so daß mir bei der Zurechtstellung und Anordnung der Briefe und Papiere, welche ich häufig zu versiegeln und dem in Petersburg angekommenen englischen Gesandten Lord Cathcart der Sicherheit wegen immer in Person und zu eigner Hand zu überbringen hatte, oft der Kopf geraucht hat, was denn freilich durch den freundlichsten Blick und das wiederholte Streicheln des edlen Mannes über meine Wangen hin immer auf das reichlichste belohnt ward.

Ja das war Arbeit, wenngleich durch die erlangte Einsicht in den Gang der großen laufenden Dinge mitunter erquicklich, doch häufig eine sehr unerfreuliche Arbeit. Es galt nämlich England, welches noch den gewaltigen Kampf in Spanien gegen Napoleon kämpfte, und Rußland wieder zu verbinden und ein von Großbritannien mit Recht gehegtes Mißtrauen in Alexanders Treue zu heilen. Da machte Stein für England zunächst die Mitteilungen und Erörterungen erst an Münster, noch öfter an den General Gneisenau, der im Frühling für Preußens und Deutschlands Zwecke mit Hardenbergs und Steins Wissen und Willen nach London gegangen war.

Dies gab mir wirklich oft eine Schwerenotsarbeit, Steins Aufsätze, Briefe und Verhandlungen mit Kaiser Alexander, in deutscher oder französischer Sprache, oft aus der flüchtigen, undeutlichen Kladde zu enträtseln, klar abzuschreiben und obenein – was oft zehnfache, ja hundertfache Zeit erforderte – nach unserm in mehreren Büchern nachzusehenden Chiffernschlüssel in die diplomatische Hexensprache zu verwandeln. Stein schrieb nie, wie sein Kollege Hardenberg, eine klare, in seiner sogenannten Kladde aber (ich bekam fast immer nur seine Kladde oder Kopien von Kopien abzuschreiben) meist eine abscheuliche und unleserliche Hand mit mancherlei ihm eignen Verkürzungskrücken, die ich allmählich lernen mußte, und deren Entchifferung und Berichtigung meinen Augen oft ebenso viele Mühe machte als das Nachschlagen und Nachsuchen unseres Chiffernschlüssels; aber inhaltreich, lehrreich für mich, oft entzückend erfreulich waren diese Steinschen Aufsätze und Briefe durch die Einblicke in das ganze, volle, stürmische Herz des Mannes und in die Großartigkeit, womit er die Dinge vor dem Kaiser Alexander behandelte, um das ganze seit dem Tilsiter Frieden befolgte, zugleich ebenso schwächliche als treulose System zu lockern und zu brechen und den zähen Träger und Stützer desselben, den Minister Graf Romanzoff, vom Staatsruder herunterzustürzen.

Wenn ich nun in diesen Papieren und Briefen Steins Art und Rede zu Alexander las, und wie er die Politik der letzten fünf Jahre malte und den schleichenden, honigsüßen und honigweichen Charakter jenes Ministers gleichsam an den Galgen der Schande hängte, bei welcher Malung und Hängung doch einige Schmutzflecke auf den Kaiser selbst abspritzen konnten, so erkannte und bewunderte ich die ganze Herzhaftigkeit und Mutigkeit Steins, bekam aber für den Augenblick, wo Stein in dem Herzen und Rat Alexanders auf höchster Stelle zu stehen schien, von Alexander selbst eine viel höhere Meinung, als ich bisher gehabt hatte. Der endliche Aussprung der Steinschen Reden und Briefe mit und an den Kaiser war doch bald, daß es um Romanzoff und seinen ganzen Klüngel getan war und andre Männer, Stein an der Spitze, nebst Kotschubey, Lieven usw., oben zu schweben schienen.

Für den Augenblick galt es jetzt, Großbritannien zu voller Teilnahme und auch Schweden und Wenigermächtige zu gewinnen. Ich habe die Namen Graf Münster und General Gneisenau genannt. Für das englische Kabinett ging alles an Münster. Begreiflicherweise stand er mit Stein auf dem allerfreundlichsten Fuße. Stein war überhaupt mit seinen Gefühlen und Ansichten ein so ohne alle Berechnung voll natürlicher Mensch, daß, wo Großes auf dem Spiele stand, alles Kleine und alle kleinen, alltäglichen Rücksichten bei ihm zusammenfielen, und nur ein großer Grundgedanke herrschte. Wer mit ganzer Seele die Franzosen und Napoleon und ihre Herrschaft haßte und verabscheute, den umhalste er sogleich mit voller Herzenswärme. So ward Münster ihm jetzt eine Zeitlang ein politischer Liebling, und in solcher Gesinnung waren auch die Briefe an ihn gefaßt. Mir aber, der die Briefe beider zu lesen bekam, und der etwas kühler zwischen den Zeilen lesen konnte, entging nicht, wie grundverschieden die eigentliche Grundlage der Charaktere der beiden Männer war.

In Stein erkannte ich den stolzen, freien Reichsritter, welchen noch hohenstaufische Kaisererinnerungen umleuchteten, und welcher alles deutsche Volk groß und frei haben wollte; in dem Grafen Münster schaute mir doch der hoffärtige, aristokratische Junkergraf des achtzehnten Jahrhunderts entgegen. Er machte in seinen Briefen schon häufig Einwendungen gegen Steins Ansicht, daß es nimmer anders gehen könne, daß der Krieg als ein Aufstand gegen die Welschen, damit ihnen die Haare zu Berge stünden, in spanischer und tirolischer Weise geführt, daß alles Volk mit allen Kräften der Herzen und der Fäuste zu den Waffen gerufen werden müßte. Ja er sprach es nicht undeutlich aus, es werde am Ende besser getan sein, das welsche, napoleonische Joch allenfalls noch ein zehn, zwanzig Jahre länger zu tragen und die Zeit abzuwarten, als das Gefühl der Stärke zu sehr an die Kleinen zu bringen, spielte schon auf gefährliche Volksdemagogen hin. Diese Ansichten Münsters bezeichnete Stein mir selbst als kleinlich und junkerlich mit den Worten: »Er ist einmal ein Westfale, und diese langsamen Plattdeutschen wägen alles zu sehr und wollen in dem eben gelegten Ei sogleich den Hahn mit den vollen Sporen sehen; auch hat er zuviel hannoversche Hofluft der Junkerei eingeatmet – aber er ist doch ein braver, zuverlässiger Mann.« Diese Meinung Steins über Münster änderte sich sehr in den folgenden Jahren. Schon in den Briefen aus Petersburg warnte und schalt er Münster zuweilen als einen ungerechten und verbissenen Gegner und Hasser Preußens; als aber in den späteren Jahren 1814 bis 1816 Gras Münster mit allen Feinden deutscher und preußischer Größe sich zusammenschlug und für Preußens Schwächung und Verkleinerung und für die Vergrößerung solcher Staaten strebte und arbeitete, welche doch als Halter und Stützen des Vaterlandes durch alles das nicht mächtig genug werden konnten sondern desselben wahre Macht nur zersplitterten, da war alles Frühere unter ihnen sehr erkaltet.

Bei dieser meiner Stellung und Beschäftigung, die vorzüglich in meinen ersten zwei Petersburger Monaten eine sehr lebhafte und mühevolle war, bekam ich auch den Einblick in die laufenden englischen Verhältnisse und in die Personen, welche sie in Petersburg vertraten. Diese waren der Botschafter Lord Cathcart und sein Gesandtschaftssekretär, der Engländer Walpole, Großneffe des bekannten großen Ministers unter Georg I. und Georg II., Robert Walpole, und Neffe jenes Robert Walpole, der nicht so als Staatsmann sondern mehr als feiner Glossenmacher und Witzbold und Tagesblättler der Londoner und Pariser Jahre 1760 und 1770 bekannt ist.

Diese beiden Männer nun waren Stein aus zwiefachem Grunde unangenehm, der Lord wegen einer gewissen unzugänglichen, frostigen Steifheit, welche sich durch gewaltige Gefühle und mächtige Gründe nimmer fortreißen ließ, weswegen er ihn auch den schottischen Eiszapfen schalt, und Walpole vielleicht des bloßen Namens wegen, auch wohl wegen eines gewissen glatten, abgeschliffenen Wesens, worin mehr List als Geist zu lauschen und zu lauern schien. Menschen mit solchem Schein fielen aber in Steins Urteil immer sogleich zu Boden. Es war aber wohl noch mehr der bloße Name Walpole. Sein Oheim, jener witzige, französelnde Robert Walpole der erwähnten Jahre 1760 und 1770, eine der bösesten, giftigsten Zungen seiner Zeit, hatte gleichsam die Chronique scandaleuse des Großbritanniens und des englischen Hofes der ersten beiden George in seinen jetzt gedruckten Tagebüchern der Welt überliefert Es sind Horace Walpole und seine »Memoirs« gemeint.. Steins Gemahlin war des hannoverschen Feldmarschalls Grafen Wallmoden Tochter, Wallmoden selbst ein Bastard Georgs II. Es füllen aber die Geschichten und Hebungen und Senkungen der Weiber und Beischläferinnen jener welfischen Könige die Tagebücher Walpoles mit einem gewissen englischen Hohn und Übermut gegen alles aus Hannover und Deutschland Herübergekommene: Ärgerliches mit lügenhaften Fabeln gepaart. Dergleichen tut weh, und auf dem Punkt der Familienehre war unser edler Reichsfreiherr sehr reizbar und schalt jenen Tagebuchführer wohl einen verliederlichten Franzosen und Voltairianer. Das zweite war gewiß wahr.

Und die Schweden? meine Schweden? Es war ein schwedischer Gesandter da, Graf Löwenhaupt. Es galt jetzt das schwedische Kabinett für den Kampf gegen Napoleon zu gewinnen. Man wußte, Bernadotte, der in Schweden eigentlich schon regierte, war von Napoleon vielfältiglich verletzt; es wurden von Petersburg aus für den Beitritt Schwedens Unterhandlungen gepflogen. Mit diesen Dingen hat Stein nichts zu tun gehabt; er setzte überhaupt auf Schwedens Hilfe geringes Vertrauen. Ich habe einzelne zur Gesandtschaft gehörige Männer zufällig nur zuweilen in Salons gesehen; wir hielten uns artig, höflich voneinander; sie kannten mich als einen Franzosenfeind und als einen alten Gustavianer.

Nur ein Schwede werde hier erwähnt, der aber eigentlich jetzt kaum noch Schwede heißen konnte, der General Graf Moritz Armfelt, den Titel russischer Statthalter Finnlands führend und gegenwärtig in Petersburg anwesend. Armfelt, ein geborner Finne, war in seiner Jugend mit apollischer Schönheit und auch mit apollischem Geist gerüstet gewesen, durch Liederklang und Waffenklang berühmt. Er hatte, wie auch der Königsmörder Graf Gustav Horn, als Jüngling Lieder gedichtet, welche heute noch gesungen werden, und war im schwedischen Kriege Gustavs III. gegen die große Katharina der Jahre 1790 bis 1792 glänzend unter den Vordersten immer voran gewesen. Also ein Gustavianer, Genoß der Feste, Gelage und Reisen Gustavs III. aber auch der Fehler und Gebrechen desselben. Der Greis trug in seiner stattlichen, nordischen Länge seinen prächtigen, blauen Augen und seinem noch vollen, blonden Gelock noch die Spuren der jugendlichen Schönheit. In ihm traf ich einen, alten Bekannten von Stralsund und Stockholm her. Wir hatten wenigstens den Haß gegen Napoleon gemein und deswegen hatte er mich als unbekannten Dozenten an der Hochschule Greifswald schon aufgesucht. Ich hatte ihn in Stockholm viel gesehen, war oft in seinem Hause gewesen. Auch hier in Petersburg war der lebendige, unruhige Mann allenthalben, wo große Festlichkeiten standen und für Zungen- und Herzenskämpfe gegen Napoleon patriotische Säle geöffnet waren. Dieser Haß gegen Napoleon und sein System hatte schon in früheren Jahren den Alten durch Italien und Deutschland begleitet, er hatte im Herbst des Jahres 1805 mit Gentz und Genossen namentlich mit dem Comte d'Entraigues Graf d'Antraigues, ein politischer Agent der Bourbonen. (D. H.) in Olmütz den Gang und den traurigen Auslauf der Dinge beobachtet.

Jetzt ward nun Armfelt hier natürlicherweise über die schwedischen Angelegenheiten und ihre Behandlung und Verhandlung viel zu Rate gezogen, kam auch bei Gelegenheit mit Stein in Besprechung und Verhandlung, aber Stein hatte diesen leichten und immer etwas abenteuerlichen Windvogel der in allen seinen Lebensverhältnissen politisch in Hinsicht auf Gesinnung und Treue doch nie ein Windvogel gewesen war sondern bis ans Ende als der treueste Gustavianer ausgeharrt hatte, bald gänzlich von sich abgestoßen. Stein, der streng sittliche, deutsche Ritter, trug doch in Rede und Gebärde das Antlitz eines christlichen Zeno oder Kleanth und konnte so scherzhafte, leichtfertige Naturen wie Armfelt nicht ertragen; denn Armfelt, ein sehr geistreicher Mann, war doch von unerschöpflicher Lustigkeit und Scherzhaftigkeit, welche er auch bei Verhandlung über die ernsthaftesten Dinge nicht verleugnen konnte, und sein für Gefühl und Genuß aller sinnlichen, irdischen Lebensgüter ausgeprägtes Gesicht konnte vor Stein keine Gnade finden, zumal da er dabei auch Ansprüche des vornehm gebornen Mannes hatte. Solche Ansprüche machte Stein äußerlich selten, aber innerlich verlangte er von Hochgebornen doppelte Strenge in sittlicher Haltung, die ja leider sovielen Hohen fehlt.

Ich will hier von Armfelts Scherzen und Witzen, die ihm leicht von der Zunge flogen, keine erzählen, aber aus allen seinen Worten und Zügen schien die Leichtfertigkeit und die bewußte Sieghaftigkeit, womit er weiland die Weiber bezwungen hatte unverkennbar hervor. In Schweden habe ich den Überfluß von Geschichten solcher Schlachten und Siege gehört, »daß diesem schönsten Jüngling vor dreißig Jahren kaum ein Weib habe widerstehen gekonnt«. Mir zeigte er noch in Petersburg eine Probe davon. Einen Vormittag kam ich ihn besuchen und ward in sein gewöhnliches Zimmer geführt. Da trat er aus einer Seitentüre herein, und was erblickte ich? Vier, fünf der schönsten, jungen Blondköpfe, die mit einer sogenannten Gouvernante an einem Büchertisch in der Schule saßen, feine Kinder von acht bis zwölf, vierzehn Jahren nach meiner Gischung, blondeste, blühendste Mägdlein. Ich fragte: »Euer Exzellenz Enkel?« – »Nein,« antwortete er lächelnd, »meine Kinder. Meinen Sie, weil ich krumm einherzugehen beginne, daß ich so junge Kinder nicht haben könne?« Ich hörte später von einem seiner Hausvertrauten, dies seien Erzeugnisse des Südens, aus der Zeit seiner schwedischen Gesandtschaft in Neapel, von ihm mit einer schönsten Herzogin und zwei, drei ihrer Töchter erzeugt. Sei das, wie es sei, politisch war dieser Mann nie ein leichtfertiger Schelm und Flatterer gewesen und hatte der Treue und Freundschaft immer redlichste Opfer gebracht.

Ich habe angedeutet, wie ich im Zuge war, wie Stein mich im Zuge hielt, und was zunächst um und mit ihm stand. Mein Petersburger Leben fing lustig an und ward durch Gottes Gnade noch lustiger. Ich ward als wäre ich fast sein Familiengenoß gewesen, mit größter Freundlichkeit in die Paläste und Häuser eingeführt, die von seinen Gesinnungsgenossen bewohnt wurden. Ich weiß nicht, ob in ihnen immer so gelebt worden, und glaube das kaum; aber es war in den Sälen der Minister, Grafen und Barone dort eine solche Ungezwungenheit, Leichtigkeit und Freiheit, als ob es in Gesellschaft und Rang keine Unterschiede und Stufen gäbe; es ward offen, frei und fröhlich gelebt, offen, frei und fröhlich gesprochen und geredet. Man kämpfte ja für die Freiheit gegen die allgemeine europäische Sklaverei. Indessen der Ton welchen der vornehmste Vogel des Tages in Petersburg sang, lockte und bestimmte auch wohl die Töne der andern Vögel. Stein aber ging nur über die Schwellen der Paläste von Gleichgesinnten, und ich hörte auch zu meinem Erstaunen den gewaltigen Mann über viele Dinge, worüber man in Kaiser- und Königshäusern wohl meistens kaum zu flüstern wagt, sich mit solcher Offenheit aussprechen, als hätte man in Petersburg nimmer die Lauscherohren einer geheimen Polizei gekannt.

Aber nicht bloß in solche Range, zu welchen Stein gehörte, ward ich eingeführt, sondern fand mich, wann ich nicht durch Arbeiten abgehalten ward, gesellschaftlich mehr angetastet und eingeladen, als mir gut war. Stein war in Petersburg ein hoher Namen geworden, der meine Kleinigkeit mit hob, und in der Art und Weise, wie die Menschen mich aufnahmen und einluden, begriff ich, daß sie mich auch für etwas hielten, weil ein solcher Mann mit mir zugleich die Treppen hinaufstieg oder auf den Gassen umherspazierte. Aber außer diesen Zufälligkeiten waren einige natürlichste Wirklichkeiten da, die mich zu sich zogen. Zuerst mehrere Familien, die meiner Heimat angehörten, der berühmte Astronom Schubert und Staatsrat Adelung Friedrich Theodor von Schubert war 1758 in Helmstedt geboren, aber schon als sechsjähriges Kind mit seinen Eltern nach Greifswald gekommen, dagegen war der Orientalist Friedrich von Adelung 1768 in Stettin geboren. (D. H.) voran, und außer ihnen mehrere angesehene Handelshäuser, welche pommersche Städte ihr Vaterland nannten. Zweitens kam ich, obgleich kein Hochberühmter, doch auch bald in die Kreise der dortigen Gelehrten und Akademiker, unter welchen ich einige recht herzige und herzliche Freunde gewann, die oder deren Kinder in späteren Jahren auf vaterländischem Boden mich zuweilen durch Händedruck und Erinnerung noch erfreut haben.

So begann, so stand mein Petersburger Leben. Mit meinem lieben Minister kam ich in wenigen Tagen auf einen Fuß, als hätten wir jahrelang miteinander gelebt und verhandelt. Er hatte mich, der doch schon für Rußland segelfertig war, zu sich gerufen, weil die Art Gesinnung und Weltansicht, wie sie in meinen politischen Schriften ausgesprochen waren, mit den seinigen übereinstimmten. Bei Schriften und Aufsätzen, welche ich bei ihm oder nach seinem Wink und Befehl machte, gewahrte ich bald, daß ihm selten etwas fremd und mißfällig oder solches deuchte, das da geändert werden müsse. Ich hatte meistens seinen Ton getroffen. Da sagte er denn wohl in seiner kurzen, schneidigen Weise: »Recht so! Sie sind immer kurz und gradaus; ich mag die Wortschnitzler nicht, die weitschweifigen Umwickler, Entwickler und Auswickler der Dinge; sie hauen meist in die Luft, statt die Sache zu treffen.«

Es war hier im Jahr 1812 ein schöner Sommer, es war Ende Septembers in Petersburg noch ein recht heller, warmer Sommer. Wir hatten die ersten Wochen, wo weder auf dem Kriegsfelde noch auf dem diplomatischen Gebiet keine entscheidende Schlachten vorgefallen waren, noch nicht viel zu tun, und Stein machte nachmittags oft kleine Rundläufe und Spaziergänge mit mir, wo denn über die Stadt und die Menschen Betrachtungen angestellt und Glossen gemacht, auch wohl einzelne Merkwürdigkeiten und Seltsamkeiten beschaut wurden. Von diesen Spaziergängen erinnert's mich, wie wir auch die asiatischen und europäischen Völker, von welchen alle möglichen Muster uns hier vor Augen umherwandelten, durch die Musterung laufen ließen. Wir wurden durch Augen und Haarlocken wie durch Kleider und Monturen genug auf solche Betrachtungen und Unterhaltungen geführt, namentlich bei den eingekleideten Soldaten und aufziehenden Landwehren zu Fuß und zu Pferde kam das Gespräch auf die verschiedenen Grundstämme der Menschen, wie sie in dem weiten russischen Reiche zusammengewürfelt und in den vielfältigsten Mischungen und Gestaltungen durcheinander geworfen sind. Da wies ich denn darauf hin, indem ich auch männliche und weibliche Exemplare anführte, die von unsrer Petersburger Salonsbekanntschaft waren, wie man in den Köpfen und Leibern, besonders in der Haltung und Gestaltung des Wuchses, leicht entdecken könne, ob einer von tatarischer und kalmückischer oder von slawonischer und germanischer Abstammung sei. Für das Mongolische und Kalmückische standen uns die platten Köpfe und schiefen, geschlitzten Augen, besonders aber der Wuchs ohne recht gehörige, volle Flanken, durch welche und durch breite Schultern der germanische Stamm sich zu seinem Vorteil nicht nur von den Mongolen und Kalmücken sondern meistens auch von den slawischen und romanischen Stämmen auszeichnet. Breite Schultern und rundgespannte Brust und gefüllte Flanken zeichnen Kraft und Stärke. Bei den leichten, gewandten Franzosen zum Beispiel, wenn man nur einmal ihre aufmarschierten Regimenter mit deutschen Augen mustert, findet man bei übrigens wohlgeordnetem unteren Körperbau in den Oberteilen oft eine auffallende, unschöne Schmalheit und die Menge sogenannter Heringsrücken. Indem man nun eben durch Polonien und Moskovien gepilgert hat und in Petersburg auf den Straßen und in den Palästen genug Russen und Polen und Russinnen und Polinnen begegnet ist, stößt man auf die geschichtliche Sage von den Sarmaten, als von edlen Medern, in ältesten Tagen von weiland aus den kaukasischen südlich auslaufenden Bergen Mediens gegen Nordwesten nach Europa, nach Pannonien und Sarmatien (Polen) ausgewandert. In der Tat, in Polen kommt es einem oft vor, als erblicke man in den höheren, älteren Adelsgeschlechtern und in dem gemeinen Volke und dem geringeren Adel zwei sehr verschiedene Volksarten, indem der vornehmste polnische Adel mit prächtigen Adlerschnäbeln und schwarzen Augen und Haaren, fast wie mit einem unverkennbaren asiatischen Gepräge, von den Geringen oft ausgezeichnet ist, bei den Russen dagegen Adel und Volk in Gesichtern und Haaren meistens ganz aus einerlei Holz gehauen zu sein scheint. –

Solche Unterhaltung ergötzte meinen lieben Herrn, und er sprach dies wohl scherzend aus: »Nun wahrhaftig, man sollte sich vor Ihnen in acht nehmen, Sie müssen wirklich in früherer Zeit, ehe Sie in die gegenwärtige Form gegossen worden, durch viele Leiber und Wiegen gewandert und gewechselt sein.« Also im gutmütigsten Sinn machte er mich doch zu einer Art hin und her umgetauschten Wechselbalg.

Ja, was ich früher und in andern Ländern schon häufig bemerkt hatte, ward mir hier zum hundertsten und tausendsten Male gleichsam auf die Nase gedrückt, nämlich das mongolische Zeichen bei vielen Russen, auch bei vielen vornehmsten Russen: die Leiber ohne tüchtige Flanken und die Schlankheit über den Hüften gleich dem weiblichen Wuchse. Wer russische Regimenter, vollends wer russische Heere gesehen, wer die russischen Offiziere in ihrer Staatsuniform gesehen hat, dem muß diese Schlankheit an der Stelle, wo des Soldaten Gürtel um den Leib gewunden wird, aufgefallen sein. Man hat wohl von unsers seligen Königs spartanischer Ansicht gehört, welche man in der Tat nur loben kann, wegen welcher die dickelnden Herren Majore und Obersten, welche seine Augen erwarteten, weil sie wußten, daß der Herr bei Offizieren die dicken Bäuche nicht leiden konnte, sich den Bauch oft bis zur halben Ohnmacht mit einem Schmachtriem zusammengeschnürt haben sollen. Da hat denn die Bosheit, welche weder Könige noch Obersten verschont, geflüstert, der König habe sich in jene unschöne Schlankheit der russischen Offiziere über den Hüften verliebt und wolle daher die möglichste Knappheit und Geschlossenheit der Montur. Der Herr hatte doch auf die dicken Bäuche den früheren hohenzollernschen Spartanerhelden gleich ein Kreuz machen wollen, als müsse er diese Dicken in Ruhestand setzen.

Also neben den ernsten, heißen Tagen, wo uns heiße Arbeit an Tischen gefesselt hielt, wurden auch scherzhafte und lustige Umläufe und Umschaue gemacht. Ja unverkennbar ist in vielen Petersburger Gestalten und Gesichtern der große, tiefe Einfluß, welchen eine dreihundertjährige Herrschaft der Tataren und Mongolen auf die Russen geübt hat, und es begegnen einem zu Hunderten Gestalten, welche treue Abbilder jener Hunnenbilder sind, die Ammianus Marcellinus uns vor fünfzehnhundert Jahren so vortrefflich gezeichnet hat. Wenn man die vielen slawischen Volksstämme an der Donau und Adria gesehen hat, wenn man die Böhmen und Polen gesehen hat, so findet man bei den sprach- und stammverwandten Russen vieles, ja das allermeiste, gar anders; sie sind im eigentlichsten Verstande ein großes Volk für sich mit eigentümlichsten Sonderlichkeiten.

Ich hatte vor vierzig, fünfzig Jahren ja etwas schärfere Augen zum Sehen als jetzt; ich hatte von jeher viel Reiz und Lust, mir die verschiedenen Geschlechter der vielsprachigen Menschen &#956;&#941;&#961;&#959;&#960;&#949;&#962; &#7940;&#957;&#977;&#961;&#969;&#960;&#959;&#953;. zu betrachten, aber die scharf ausgeprägte Eigentümlichkeit der Moskowiter hat sich mir unvergeßlich eingedrückt, am meisten aber die Sonderlichkeit, daß ich bei keinem Volke so viele Köpfe gesehen habe, welche man Steinköpfe oder Klotzköpfe nennen könnte, ohne die gewöhnliche schlimme Nebenbedeutung, die man mit diesen Wörtern verbindet. Ich meine Köpfe solcher massenhaften Breite und Rundheit, wie etwa ein Eichenblock oder ein Marmorklotz, welche zur Ähnlichkeit eines Kopfes erst aus dem Groben gehauen werden sollen. Dies gilt nicht bloß von den gemeinen Russen mit den langen Bärten und den asiatischen Kaftanen sondern auch von vielen Edelleuten. Die Polen, Böhmen, Serben und Kroaten zeigen in dem Bauer und Edelmann freilich eine große, oft auffallende Verschiedenheit von den Menschen germanischen Stammes, aber ihre Gesichter sind, kann man sagen, doch schon fertig; sie sind in den unteren Klassen häufig schärfer gezeichnet und fast mehr fertig als bei unsern deutschen untersten Volksklassen. Ein gewöhnlicher Bauer und seinesgleichen in Polen Böhmen, Österreich und Ungerland hat zwar in Wuchs, Art und Haltung und auch in Gesichtszügen und Gebärden genug, was ihn von dem deutschen und schwedischen Bauer unterscheidet, aber der Schnitt und die Form der Köpfe und Gesichter dünken einem, im allgemeinen gesehen, im ganzen doch sehr ähnlich; hier aber, wie gesagt, erblickt man bei vielen Köpfen das Unfertige, beinahe Klotzige. Ich habe mir nicht bloß auf den Gassen und Märkten, sondern in Feldlägern und auf Heerstraßen die Menschen darauf angesehen und habe die dicken Breitköpfe und Klotzköpfe fast ohne Nasen nicht allein bei den gemeinen Russen sondern bei vielen Offizieren guten Adels gefunden. Hier schaue und winke ich zur Erklärung aus der Ferne der Jahrhunderte her. Alle Reste ältester Völker, die man noch sieht (Hebräer, Parsen, Hindus) haben meistens ein Hauptstück des Gesichtes scharf ausgeprägt, die Nase, welche gerade im Mittelpunkt des Vorderkopfes sitzt und um welche als um einen Hauptteil die Gesichtszüge sich gleichsam herumgestalten und versammeln. Der romanisierte Spanier unsrer Tage nennt darum das ganze Gesicht meist nur el rostro. Dieser Schnabel, der dem Menschenantlitz am meisten eine bestimmte Form zu geben scheint, fehlt fast bei vielen Russenköpfen oder ist wenigstens fast wie eine Hundeschnauze platt eingedrückt. Solches ist nun auf jeden Fall, wenn nicht gerade eine Häßlichkeit, doch eine Ungestalt. Das ist überhaupt etwas Ausgemachtes, daß bei höherer Bildung und mächtigem, lebendigen Streben des Menschen von innen heraus das Gesichtsgepräge schärfer hervortritt, daß der Schnabel bestimmter gezeichnet hervortritt; sprechen ja die alten Geschlechter deswegen so gern von Adlernasen, die sie mit einem eignen Stolz Adlergesichter nennen, worüber die erzürnten Plebejer sich denn häufig mit der Bemerkung rächen: Ja, Raubtiere, Raubvögel, Raubritter waren ihre Ahnen. Wahr ist es, die stattliche Nase, die scharf und spitz hervorspringende Nase bezeichnet Verstand und Stärke, mehr noch Witz und Scharfsinn, aber die Adlerschnäbel ältester Völker oder alter Adelsgeschlechter, welche häufig schon zu spitz und scharf sind, sollen sich hüten, daraus für sich eitel feine Schlüsse zu ziehen. Papa Sokrates war ein Breitkopf mit eingedrückter Nase; ich habe mächtige, geistbegabte Rund- und Breitköpfe mit kürzestem Schnabel oder mit fast gar keinem gesehen, deren gewaltiger Geist Dutzende Geisterchen schönster Adlernasen und schärfster Spitznasen verschlingen konnte. Ich schaue hierbei auch auf Schellings Büste hin und erinnere mich des weiland Präsidenten des Obertribunals der Rheinlande, Daniels, dessen allmächtiges Gedächtnis und wundersam entwickelter, ulpianischer Scharfsinn zu seiner Zeit von jedermänniglich angestaunt worden ist. Sein Rundkopf war aber ein breiter, fast naseloser Pudelkopf. Das steht freilich fest, ohne eine fertige Nase kann kein Gesicht je ein schönes Gesicht heißen. Aber man schaue nach einer andern Seite hin; da steht es wenigstens auch fest, wann bei den sogenannten verfeinerten und veradligten Geschlechtern die Nasen zu lang und die Füße zu schmal und kurz werden, da ist irgendwie und irgendwo auch wieder der Teufel los, da ist in der Regel des Mutes und Witzes und der Kraft und Stärke zuwenig, da kann man oft drüber schreiben: hic finis generis humani.

Wie habe ich mich von meinem Wege ab zu dieser Betrachtung verlaufen? Was will ich damit sagen? Ich will damit wohl sagen, wenigstens deucht es mir so, daß, wo bei einem Volke die Klotzigkeit und Dickköpfigkeit vorherrscht – was wohl wieder Kindsköpfigkeit heißen kann – wo der Geist noch nicht ins Antlitz des Menschen herausgetreten ist, solches wohl in jedem Fall auf etwas sehr Rohes und Ungebildetes hinweist. Wir wissen nicht, ob unsre alten Sigambern und Cherusker, welche die römischen Adlerköpfe nebst den Adlerfahnen der Legionen an den Eichen ihrer heiligen Haine festnagelten, schon zu Adlerschnäbeln herausgebildet waren; wir haben auch keine Gleichbilder weder in Münzen noch in Gemälden von unserm Karl dem Großen, Heinrich dem Vogler oder seinem Sohn Otto und können also nicht sagen, ob ihre Köpfe einem breitschnäbligen Sokrates oder einem schönsten Perikles und Alcibiades glichen, aber wahrscheinlich gab es in unserm ersten Jahrhundert wie in unserm achten und neunten und zehnten auch unter den vornehmsten Freien und Adligen weit mehr Dickköpfe und Kindsköpfe als heute.

Ich las jüngst mit großer Erbauung und Erheiterung meiner Gedanken in einem französischen Tagesblatte eine hübsche Beurteilung einer Künstlerreise durch Frankreich, nämlich der Reise eines Malers, der die alten Denkmäler seines Vaterlandes zu beschauen ausgefahren war und ringsumher in den Landschaften die Bilder der Kirchen und Schlösser in Augenschein und Betrachtung genommen hatte. Das Resultat seiner Rundschau in Hinsicht auf die Menschenbilder war dahin ausgefallen, daß die Geschlechter – das hatte er vorzüglich in den Familienbildern der Schlösser erschaut – von Jahrhundert zu Jahrhundert sich aus dem Klotzigen zum Gestalteten, aus dem Häßlichen zum Schönen fortgestaltet, daß sie sich immer mehr verfeinert und verschönert haben. Der berühmteste Connetable Frankreichs Duguesclin war in seiner vierschrötigen Gliederung und seinem mächtigen Klotzkopf ein echtes Muster des gröberen Mittelalters – wie möchte sein verfeinerter Enkel, wenn er einen hinterlassen hätte, sich heute in den Sälen Napoleons III. und seiner Kaiserin Eugenie ausnehmen? – O Schatten und Geister der Dinge! In ähnlicher Weise ist es auch wohl in unserm Germanien ergangen. In unsern Tagen freilich kann man das Maß der menschlichen Schönheit, der Gestalt und Bildung überhaupt auch wohl zu fein stellen, wo das zu Feine und zu Schmale, was schon auf Nichtigkeit und Untergang hindeutet, häufig für Schönheit genommen wird.

Doch weg von dieser Schnabelbilderei und von der Bilderleserei wieder zur lebendigen Wirklichkeit, wie sie im Leben, im Volke und in den Palästen und Gassen lebendig erschien. Als erstes Bild voran wird auch hier mein lieber Reichsfreiherr stehen. Ich hatte mir die Russen seit Monaten schon sehr betrachtet, auf den Zügen und Märschen, in dem Heerlager bei Smolensk, in der alten Hauptstadt Moskau und in Peters Hauptstadt hier an der Newa. Ich war aus Not, weil mir im Westen die Welt wirklich zu eng werden wollte, doch auch mit Erwartung und Hoffnung großer und neuer Dinge gen Osten nach Rußland gezogen. Bei der Lage der Dinge, wie sie war, und bei meiner Gesinnung war in Europa nirgends mehr eine sichere Stätte für mich als in Rußland und Großbritannien. Ich hatte, wie die Würfel der Entscheidung jetzt aus dem Glücksbecher Fortunens ausgeschüttelt werden sollten, einstweilen Rußland vorgezogen, aber nimmer mit der Absicht oder Hoffnung, dort meinen Wohnsitz aufschlagen zu können. Als ich nun Volk und Land und die Weise, wie und wo es eben auf dem Pfade der Weltbahn steht, auf welcher unser neunzehntes Jahrhundert einherwandelt, und wie es von oben, von seinem Zar und von seinen Knesen, Bojaren, Bischöfen und Priestern geleitet und getrieben wird, noch mehr und näher und tiefer gesehen und betrachtet hatte, hätte mich nimmermehr die Lust anwandeln können, auf solchem Boden meinen Kohl pflanzen zu wollen.

Aber auf diesem Boden wohnen doch Menschen, die Christen sind, und nebenbei unter vielen Knechten und Sklaven doch viele sehr gute und tapfere Menschen. Ich sollte hier vieles sehen und erleben, was mich zur größten Achtung des russischen Volkes als eines einigen, großen Volkes hinriß – etwas, was wir bei uns in Deutschland seit einem halben Jahrtausend als unsern verlornen Schatz vergebens suchen – aber anderes trat mir auch sogleich vor Augen und schlug mir ins Herz, was mir zurief: Nein! Hier dürftest du nimmer lange weilen. Ich hatte es sogleich in den ersten zwei Wochen, ich hatte es in den vier Monaten, die ich in Petersburg verweilte, hell genug vor mir. In den ersten acht Tagen meines Aufenthalts hatte ich schon Proben eines oft ganz stummen ( NB. was auch ganz stumm und dumm macht) und verschwiegenen asiatischen Regiments.

Ich gewann mir einen Deutschen, Doktor Trinius, einen gebornen Mansfelder, Leibarzt bei dem Herzog Alexander von Württemberg, einen wichtigen Genossen und Freund für mein Petersburger Leben. Es war die Zeit, als Minister Stein und der Wechsel der Ansichten im Kopfe des russischen Kaisers anfing an Romanzoffs System zu schütteln – da führte mich Trinius in das Haus der Frau eines Freundes, die und deren Kinder er trösten ging. Ihr Mann war plötzlich verschwunden, und es hatte gemunkelt, er sei nach Sibirien abgeführt. Zu derselben Zeit war Speransky, Minister des Innern, ein Mann, welchen die Redlichen lobten, wenn er gleich an einer für Rußland am wenigsten tauglichen und brauchbaren Schwärmerei leide, wirklich nach Sibirien abgeführt Speransky wurde nur nach Nischni-Nowgorod, später nach Perm verbannt. (D. H.). Beide hatten bei dem ungeheuren politischen Wendepunkte, auf welchem die Wage des Augenblicks schwankte, an den Kaiser Eingaben gemacht und angedeutet, es wehe ein neuer Weltwind, und man müsse die Segel anders spannen. Noch war der Reichskanzler Romanzoff mächtig genug gewesen, mit ihnen abzufahren.

Der erstere, der Freund meines Trinius, war ein ehrlicher Thüringer, Geheimer Staatsrat Beck, der als Jüngling in der Eigenschaft eines Utschitels oder Lehrers in das Haus eines Grafen von Pahlen nach Livland gekommen war und jetzt unter Romanzoff das geheime Chifferdepartement der auswärtigen Angelegenheiten regiert hatte. Er war, als er mit seinem Portefeuille unterm Arm aus dem kaiserlichen Schlosse gegangen war, ergriffen und abgeführt, und zwar nicht nach Sibirien sondern als Gefangener in die Newazitadelle, die in geradester Richtung etwa nur fünfhundert Schritt von seinem Hause und Garten liegt; und Frau und Kinder trauerten um ihn, als fahre er schon durch die Eiswüsten des Oby und Jenisei. In seiner Zitadelle hat er etwa sechs Wochen gesessen, dann ist er eines Tages wieder plötzlich bei den Seinigen erschienen. Über seine Einkerkerung gab es begreiflicherweise nach russischer Art weder Untersuchung noch Erklärung; genug, er trat in sein Amt wieder ein und ward, wie mich's erinnert, zur Entschädigung in seiner Besoldung um 500 Silberrubel gemehrt. Ich habe den wackern Mann öfter gesehen, und er hat mich später auf Badereisen hier in Bonn ein paarmal besucht; jetzt wandelt er seit ein paar Jahren schon in den Gefilden der Seligen.

Solches und ähnliches hatte ich mit meinen Augen und Ohren sogleich als russische Probe, und manches desgleichen bekam ich später öfters zu sehen. Bei hellem, lichtem Tage sah ich mehrmals Schergen der Polizei auf feine und wohlgekleidete Leute (es hätten diese allerdings auch Spitzbuben sein können) Jagd machen und sie unter allem Volk umherjagen und einfangen. Um Mitternacht, wann ich mit fröhlichen Genossen aus dem Winterpalaste, wo mein Trinius wohnte, oder von andern Stellen heimging, sah ich Männer in Pelzen verhüllt zwischen vier, sechs Soldaten über den Schnee fortknirschen, wobei denn ich und meine Genossen durch einen schon gewöhnten Instinkt stumm und still seitwärts auswichen; da wurden die Worte geflüstert: Dergleichen Gepelzte wandern meistens in Staatsgefängnisse.

Solche Anblicke und Flüsterungen konnten mir wahrlich keine russische Lust wecken, auch wenn ich sie sonst hätte haben können; nein, lieber tot als sich freiwillig zu solcher Flüsterung verdammen. Über Gefängnisse und über das Geschäft und die Verrichtung des Knutens und oft Totknutens von Verbrechern war mir auch schon allerlei erzählt. Meine Freunde erboten sich, mir die Gelegenheit zu verschaffen, eine solche Ausrichtung einmal mit anzusehen. Die blutige Geißelung wird gewöhnlich in einem inneren Hofe des Gefängnisses vollbracht. Ich weiß nicht, ob Geschäfte oder eine Empfindsamkeit, die ich hier als eine übel angebrachte schelten muß, mich um dieses schauderhafte Augenspiel gebracht hat. Lernen soll der Mensch alles, was zur großen Geschichte gehört. Ich hätte hier in der fürchterlichen, russischen scutica und in dem Führer derselben das treueste Bild eines carnifex romanus kennen lernen gekonnt; denn auch das Ähnliche hat der russische Knuter mit dem römischen von weiland, daß er selbst ein Verbrecher ist, der in den Gefängnissen gehalten und für solche Lederarbeiten abgerichtet ist.

Dies war nichts Lockendes und Appetitliches, aber das Volk, der geringe Bürger und der eingekleidete Soldat oder Landwehrmann, der zu Tausenden aus dem Norden und Süden gegen den Feind auszog, der Mut und die Lust der Gemeinsamkeit und der wirkliche Jubel, mit welchem er von allen Daheimbleibenden für den Kampf begrüßt, gesegnet und begleitet ward, kurz das Gefühl eines tüchtigen, tapfern, bei allen seinen Gebrechen sehr ehrenwerten Volkes ließen mich still in den Jubel einstimmen, wenn ich auch nicht mit ihnen joste und toste.

Hierbei stehe eine Episode, die Episode von der Ankunft der berühmten Frau von Staël und August Wilhelm Schlegels in Petersburg, mir in der Erinnerung immer noch merkwürdig, weil der Stand der Dinge und Personen im Herbste des Jahrs 1812 sich auch darin zeigen sollte. Diese berühmte Tochter des berühmten Genfers Necker, die mit kindlicher Treue in ihren Schriften den Vater gern zu einem großen Mann hätte stempeln mögen, war eine hochgebaute Schweizerin mit mächtigen Beinen und Füßen, aber mit herrlicher Stirn und gewaltigen Augen, wobei man leicht vergaß, daß ihr Bau nicht schön, ihre Haltung und Bewegung nicht anmutig, ja nicht einmal ihre Kleidung für anmutige Darstellung mit Geschmack gewählt war. Mit ihr war ein hübscher, junger Schweizer, ein Waadtländer namens Fontana Der Begleiter der Frau von Staël, mit dem sie übrigens damals schon heimlich verheiratet war, hieß Rocca. (D. H.), den sie als Kriegsverwundeten einst freundlich bei sich gepflegt hatte, und den sie später geheiratet hat, und unser deutscher Wilhelm Schlegel, den sie an sich herangezogen hatte, um durch den gelehrten Mann in die Kunde der deutschen Literatur und in andres schönes Wissen von ihm eingeführt zu werden.

Er trat vor den Russen und vor uns Deutschen eben nicht deutsch auf sondern erschien, wo wir andern nach Zeitart und Kriegsart meist gestiefelt und gespornt einhertraten, wie ein blank geschniegelter, französischer Abbé in Schuhen mit goldnen Schnallen und schneeweißen, seidenen Strümpfen und flüsterte meist sehr leise, was wohl in einer gewissen Furcht seinen Grund hatte, als flüstre man hier überall über dionysischen Ohren, indem er mir, der gewöhnlich wohl zu laut spricht, einmal zuflüsterte: »St! St! Hier in Rußland sind hinter allen Türen und Tapeten Ohren.« Leider wahr, das mochte aber in jener Zeit der Tyrannei und Spionerei wohl in den meisten Hauptstädten Europas ebenso sein. Die Töchter und zwei Söhne der Staël waren auch mit.

Die lebendigste und politischeste Französin und unsern lebendigsten Stein miteinander zu sehen, das war dir ein Leben. Sie waren einig in ihrem Haß gegen Napoleon; sie mußte sich schon einige starke Steinsche Ausfälle und Aushiebe gegen ihre Franzosen gefallen lassen, er dagegen war entzückt durch einzelne Kapitel, welche sie ihm aus ihrem Manuskript sur l'Allemagne vorlas, und ich hatte die Not, daß er mir die Kapitel zum Abschreiben für Frau und Töchter gab. Ja eine Lust war es, diese beiden lebhaftesten, leidenschaftlichsten Menschen an Tischen und auf Diwanen in ihren lebendigsten Bewegungen gegeneinander stoßen und karambolieren zu sehen.

Diese Frau, in welcher Schönheit nie gewesen und die Jugendblüte verwelkt war, übte durch den treuen, klaren, liebenden Ausdruck ihrer Gebärde, ihres Antlitzes doch auch auf mich eine solche Gewalt, daß ich in ihr die Französin ganz vergaß; es war ein Spiegel hellesten Geistes und klarster Treue und Redlichkeit. Ich habe ihr wenigstens eine kleine Förderung im Gebrauche der französischen Sprache zu verdanken. Als nämlich Stein oder ein andrer mich als einen Halbsoldaten, als einen einmal im Zweikampf Verwundeten und Niedergeschossenen S. Erinnerungen S. 90., ihr darstellte und ich auf eine Frage von ihr antwortete: »Oui, Madame, j'ai été percé par un boulet,« erwiderte sie mir lachend: »Comment, Monsieur? Vous avez eu un boulet dans le corps, et vous vivez encore?« Ich will's gleich deutsch übersetzen, um die Spitze zu zeigen: »Wie, mein Herr? Sie haben eine Kanonenkugel im Leibe gehabt, und Sie leben noch?« Da lachte alles, und ich lachte mit. Ich hatte das verkehrte boulet für balle (Flintenkugel) gegriffen. Dies war praktischester Unterricht.

Ein Zeichen der Zeit, wie damals die Gemüter der Völker zueinander standen, und wie ein französisches Weib den Glanz und die Herrlichkeit seines Volkes immer empfinden wird, gab uns diese Frau auch. Sie war mit dem Waadtländer und ihrem Sohn ins französische Theater gegangen, um zu sehen, wie Racines Phädra auf den Petersburger Brettern gespielt würde. Und was hatte sich dort diesen Abend begeben? Es waren eben die Wochen, wo die ersten blutigen Schlachten und Gefechte vorgefallen waren, welche in unsern Berichten natürlich immer als Siege prangten, in welchen denn auch immer viel von den durch die Franzosen verübten Greueln, Verwüstungen und Brandstiftungen erzählt ward. So war alles Volk bis auf das alleräußerste aufgereizt und aufgestachelt, und gerade als die Staël auf den Petersburger Brettern die süßen, melodischen Töne Racines hatte deklamieren hören wollen, war auf dem Theater ein Zischen, Schreien, Fluchen und sogar ein Drohen: » Fort! Fort mit den verfluchten Franzosen!« ausgebrochen, das Stück hatte mitten im Spiel abgebrochen werden müssen, die Schauspieler hatten sich, um Mißhandlungen zu entgehen, durch Hinterpförtchen geschwindest und stillest fortmachen müssen. Ja dieser Russenzorn war so mächtig, daß von dieser Phädra ab das französische Theater lange geschlossen bleiben mußte. Da, an diesem Phädraabend, erblickte man nun die ganze, volle Französin, wie man in den Russen die vollen Russen erblickt hatte. Sie kam mit einer Verstörung nach Hause, als habe sie nicht nur eine Tragödie gesehen sondern selbst eine erlebt; sie zerwarf sich auf dem Sofa, weinte, ja schluchzte, obgleich es doch nicht zum Haarausraufen kam, und rief ein Mal über das andre: »O, ces barbares! O, mon Racine Etwas anders erzählt Arndt die Geschichte in den Erinnerungen S. 146. Das erstaunte uns, es kam uns von einer stattlichen Vierzigjährigen doch fast mehr als verwunderlich vor. Darin waren wir Deutsche. Sollte wohl eine deutsche Frau oder Jungfrau, wenn sie ein Stück Schillers oder Goethes von einer Bühne Londons oder Paris' mit Fluch und Hohn auszischen und wegjagen hörte, solche Tränen und Stöhner und Schluchzer ausschütten und solche Jammerworte ausrufen? Ein wenig Französisches und Russisches der Art könnte uns bei Gelegenheit doch nicht schaden.

Hier, wo die Bilder sovieler Menschen und Völker wieder durch meine Erinnerung und aus ihr wieder aus meiner Feder gelaufen sind, stehe nun auch das Hauptbild, wie solches im Sommer des Jahres 1812 vor mir stand.

Der Freiherr Karl vom Stein war mittlerer Größe, dem Kurzen (ein rechter Kurzbold) und Gedrungenen näher als dem Hohen und Schlanken, der Leib stark und mit breiten, deutschen Schultern, Beine und Schenkel wohl gerundet, die Füße mit scharfer Rist, alles zugleich stark und fein wie von altem Geschlecht, dessen er war; seine Stellung wie sein Schritt fest und gleich. Auf diesem Leibe ruhte ein stattliches Haupt, eine breite, sehr zurückgeschlagene Eselsstirne, wie die Künstler sagen, daß der große Mann sie häufig haben solle; seine Nase ( el rostro, wovon oben schon gefabelt worden) eine mächtige Adlernase, unter ihr ein fein geschlossener Mund und ein Kinn, das wirklich ein wenig zu lang und zu spitz war.

Hiebei sei ein für allemal gesagt, und zwar gegen diejenigen, welche immer mit der feinsten, weißen Haut und den silberklarsten, blauen Augen als dem Urstempel des edelsten Menschen und dem echtesten Geniezeichen herankommen, daß die beiden größten Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts, Goethe und Stein, aus braunen Augen die Welt anschauten, mit dem Unterschiede, daß das Goethische Aug' breit und offen meist im milden Glanze um sich und auf die Menschen herabschaute, das Steinsche, kleiner und schärfer, mehr funkelte als leuchtete und oft auch sehr blitzte. In der Regel sprach dieses Aug' Freundlichkeit und Treue, aber wenn der Mann in sehr ernster oder gar, wenn er in zorniger Stimmung war, konnte es auch fürchterlich blitzen. Das war das Besondere bei dem edlen Ritter, daß sich auch bei der heftigsten Seelenbewegung auf seinem Gesichte gleichsam zwei verschiedene Menschen abspiegelten. Seine Stirn, meistens auch sein Blick wurden von dem Nebelgewölk des Verdrusses oder vollends von den düstern Donnerwolken des Zorns selten überzogen, dort leuchtete fast immer der klare, heitre Olymp eines herrschenden, bewußten Geistes; unten aber, um Wangen, Mund und Kinn, zuckten die heftigen, empörten Triebe, die wohl an einen Löwengrimm mahnen konnten. Fast immer trat er die Menschen, auch die gewöhnlichen, die nur Gewöhnliches zu bringen und vorzutragen hatten, mit sehr freundlichem Ernst an, aber seine Gebärde erfüllte doch die meisten mit Blödigkeit und Verlegenheit. Er war durch Gott ein Mensch des Sturmwinds, der reinfegen und niederstürzen sollte, aber Gott der Herr hatte in den treuen, tapfern, frommen Mann auch lieblichen Sonnenschein und fruchtbaren Regen für die Welt und für sein Volk gelegt.

Ich erinnere mich, was Savigny in Reichenbach, wo er ihn zuerst gesehen hatte, kurz von ihm sagte: »Welch ein prächtiges, herrliches Sultansbild habe ich in Stein gesehen!« In diesem Ausspruch mochte wohl ein wenig von dem Urteil seines Freundes Niebuhr mitsprechen. Ja es war ein imperatorischer, ein königlicher Mann, meinethalben ein Sultansgebild – alle Sultane sind doch nicht Menschenwürger gewesen. Er erschien mir auch oft so, daß er schwer werde dienen können und also herrschen und immer in erster Stelle stehen müsse. Seiner Sturmwindsnatur und daß es in ihm oft zu wild brausen und stürmen wolle, daß er in seinem Ungestüm zuweilen dem Jähzorn preisgegeben sei, und daß es dann mit ihm durchgehen könne, dieses Mangels war er sich wohl bewußt und klagte sich dann zuweilen wohl über alle Gebühr an, wie es denn seine Art war, als ein wahrhaft demütiger und rechtschaffener Mann seine Fehler nicht nur anzuerkennen sondern auch wieder gutzumachen, wo er glaubte, gute Menschen durch zu große Geschwindigkeit und Heftigkeit verletzt zu haben. Das habe ich an mir selbst und an vielen andern genug erfahren. Wie oft hat der fromme, tapfre Mann, von längst verschienenen Jahren, besonders von seinen Jugendjahren sprechend, im Bewußtsein dieser seiner natürlichen Leidenschaftlichkeit und anderer angebornen Feuertriebe, wie solche in gewaltigen Herzen strudeln und sprudeln, gesagt: »Glauben Sie mir, der Mensch soll mit seiner Natur nimmer prahlen, wir sind, wie Dr. Luther sagt, alle arme Sünder; aus mir hätte ein Bösewicht werden können, hätte eine fromme Mutter und eine noch frommere, ältere Schwester meinen Knaben- und Jünglingsjahren nicht Zügel angelegt.« – Und sein Geist? Wer kann das Wunder Geist, in einem jeglichen Menschen immer eine andere neue Erscheinung, beschreiben?

Er hatte in seiner Jugend zu Hause und auf der Göttinger Hochschule gute Studien gemacht, auch seines Volkes und Vaterlandes Geschichte und der Völker Geschichten durch Lesen und Reisen gelernt und später, da er als Beamter in Preußen dienen wollte und sollte, mit großem Fleiß und edler Sorge stracks zu erobern und zu erkunden gesucht, was Amt und Pflicht von ihm forderten, aber doch mochten manche, die sonst tief unter ihm standen, ihn an Kenntnissen und an erworbener Geschicklichkeit übertreffen, selbst seinen Zeitgenossen und Nebenbuhler Hardenberg nicht ausgenommen, aber es war ein Etwas in diesem Geist, etwas Unbeschreibliches und nur Andeutbares. Stein war in jedem Augenblick ganz und voll, was er war, er hatte in jedem Augenblick sein Gerät und Waffen immer fertig, ganz und voll immer bei sich, die Revolvers, die Umroller und Ausroller seines Geistes, hatten die Kugeln immer zum Abdruck bei der Hand; in hellen, frischen Stunden blitzte nicht bloß Verstand sondern auch Witz auf Witz aus seinem Munde.

Solcher Natur gemäß war Sprache und Rede; festgeschlossen und kurz floß es ihm von den Lippen, selbst in heftiger Aufregung und im zornigen Mute purzelten und stürzten seine Worte nimmer unordentlich durcheinander. Gradaus! und Graddurch! war sein Wahlspruch; Mut und Wahrheit fanden immer die rechte Stellung und die rechte Rede, diese hätten nimmer krumme, verschlungene Pfade gehen, für alle Schätze der Welt ja und nein nimmer willkürlich wechseln können. Wenn dieser Mann als Minister ein offenes freies Parlament vor sich gehabt hätte, gewiß würde er für einen alles niederdonnernden, zerschmetternden Redner gegolten haben mit seinem unbezwinglichen Mute und seiner Tugend und Kraft.

Dieser Mann, durch die jammervollen Geschicke seines Volkes seit fünf, sechs Jahren durch die Welt umhergejagt und ein Land der Freiheit und Ehre mit der Seele suchend, saß nun in Petersburg, saß und stand da bald als ein von vielen beneideter und gefürchteter Mann, im Rat des Zaren Alexander der Erste und Oberste; er hatte die letzten Fäden des Systems zerrissen, wodurch Romanzoff und andere seit dem Tilsiter Frieden für Napoleon und die Franzosen den Kaiser verstrickt gehalten hatten; Romanzoff selbst war gefallen, neue Verhältnisse waren mit England, Schweden usw. nach allen Seiten angeknüpft, neue Ansichten und Einsichten waren gewonnen und neue politische Gesichtspunkte gezeigt. So war Stein der erste Mann des Augenblicks, er bei den Seinigen, das heißt bei allen, welche seine Gesinnungen teilten und etwas von seinem Mut in der Brust hatten, der bewunderte, ja von vielen der angebetete Mann. Ich habe diese seine hohe Stellung in der russischen Hauptstadt für meinen kleinen Teil wenigstens als Augen- und Ohrenzeuge mit geteilt und genossen und in denselben Kreisen viel mitleben gedurft; durch ihn waren mir die Paläste geöffnet. Wenn ich nun zurückdenke an alle die Orte, wo ich den Gewaltigen habe wirken und wandeln gesehen, an Petersburg, Königsberg, Breslau, Dresden, Frankfurt usw., so ist er mir nie und nirgends als ein Glücklicherer und Mutigerer erschienen als in unserer Newaburg. Auf seinem Antlitz, in seiner Gebärde und Rede, in Schritt und Tritt schien er wie von frischer Jugendkraft neu durchschossen und mit einem Glanze des Mutes und der Hoffnung durchleuchtet und umleuchtet, daß ich alle seine kleinen, mitspielenden Zufälligkeiten, sein schon ergrautes Haar, seine durch Podagra zuweilen gehemmten und gekürzten Schritte darüber vergaß. Mit solchem Glanz und solcher Frische durchschritt er die Säle der Fürsten und die Paläste der Knesen, jetzt schon gleich einem glücklichen, triumphierenden Sieger. Ich habe ihn freilich mit dem Kaiser nicht gesehen – so hoch reichte in Petersburg meine Kleinheit nicht – aber ich kann doch mit einigen Strichen zeichnen, wie er in der Gesellschaft von Prinzen und Bojaren sich trug; ich zeige es nur an zweien, an zwei solchen, wo er oft fröhliche Abende beim Teetisch zubrachte, und wo ich unter andern mitsitzen durfte. Man kann sich kaum vorstellen, und wenn man ihn in späteren Jahren wiedersah, konnte man seiner eignen Erinnerung kaum trauen, mit welcher Leichtigkeit und Witzigkeit dieser ernste, strenge Mann durch seine Gespräche und Einfälle auch die Freude schöner Frauen sein konnte oder vielmehr, wie schöne Frauen seine Freude sein konnten.

Den ersten Platz nehmen hier billig ein die herrlichen, mir unvergeßlichen Abende am Teetisch der Herzogin Antonie von Württemberg, gebornen Herzogin von Sachsen-Koburg. Ihren langen Herrn Gemahl, den Herzog Alexander, den Befehlshaber einer russischen Kriegsschar, hatte ich im Feldlager bei Smolensk nicht nur gesehen sondern war durch meinen Freund, den General Graf Chasot, bei ihm und, was viel lustiger war, bei seinem Generalstisch eingeführt worden, wo ich unter Prinzen und Obersten aller Art und allerlei Volks des Mittags bei Braten und Weinen, des Nachts auf Stroh und Heu mitgelebt habe. Antonie war die Tochter einer schönsten Prinzessin Reuß-Vogtland und die Schwester des jetzigen Königs der Belgier Leopolds I. (D. H.), wie alle ihre Geschwister stattlich und schön und glückliche Mutter von einem halben Dutzend Söhne und Töchter. Ihre Mutter, die Reußin, war in ihren Tagen die schönste Prinzessin unter der Sonne genannt worden.

Diese edle Frau Antonie war nun ganz von den deutschen Gefühlen für Freiheit und Vaterland durchglüht und von Stein und von dessen Wollen und Wirken begeistert. Bei ihr erging man sich nicht nur in frohester Hoffnung sondern auch in freiester Rede, wie sie in Kaiserschlössern wohl selten erklingt, über Fürsten und Völker, wozu Stein wahrscheinlich zuerst den Ton angegeben hatte, und welcher sich in gleichem Sinn oft so ungezwungen fortsetzte, als wäre man im Hause eines guten Edelmanns oder reichen Plebejers gewesen. Hier saß mein Minister mit heiterer Miene, in einer oder andern Ecke irgend ein Bojar oder Diplomat; auch der Schwede Armfelt war oft da, fast immer aber ein kleiner, dicker Mann, der seine eigne dunkle Ecke hatte, von wo heraus er mit freundlichsten Augen wie ein stiller Späher lauschte; er schien russisch schweigen gelernt zu haben. Dies war Oubril, der im Jahr 1805 vor dem Kriegsausbruche der sogenannten dritten Koalition auf deutschem Boden viel umhergefahren war und zwischen Napoleon, Rußland, Österreich, England usw. unterhandelt hatte.

Aber außer diesen stehenden Gästen waren oft auch einige nicht hochbetitelte Plebejer da, Gelehrte und Akademiker, unter ihnen der lebendigste, der Leibarzt Trinius. Da ward denn auf eine in Petersburg bis jetzt gewiß unerhörte Weise, wie die Welt frei und glücklich werden solle, freiestes Gespräch geführt, und freieste politische Lieder in deutscher, französischer, englischer Sprache, wie es sich gab, wurden oft angeklungen, wozu die Herzogin oft eigenhändig das Klavier schlug. Kurz, bei dieser edlen Herzogin war seit Steins Ankunft gleichsam ein kleiner politischer Klub, wo, als der Sieg die russischen Waffen zu krönen anfing und die Freude und Freiheit des Lebens von Tage zu Tage mehr wuchs, oft die wunderlichsten Gestalten und Persönlichkeiten eingeführt wurden. Hier erschien, um Menschliches und Natürliches auch einmal vernehmen und empfinden zu können, in der Schar der Hofdamen meistens im hinteren Inkognito versteckt zuweilen die regierende Kaiserin Elisabeth. Die beiden hohen Damen waren nach dem Gerücht ganz besondere Freundinnen, hatten sich auch beide über Ehefreuden manches Untröstliche zu vertrauen. Hier stehe ein Scherz, welchen der lustige Schwede Graf Armfelt der Kaiserin und uns allen einen fröhlichen Abend machte:

Unter andern seltsamen und hin und wieder abenteuerlichen Personen – unsereiner war ja auch als ein lauschender Abenteurer des Glücks an die Newa gekommen – erschien daselbst im Herbst ein Tiroler, weiland Adjutant des Tiroler Helden Andreas Hofer von Passeyr, des Namens Franz Fidelis Jubile, ein stattliches, schönes Mannsbild, ein Dreißiger. Er kam aus England und zeigte gern mit triumphierender Miene eine prächtige, goldgefütterte Dose vor, aus dem Holz des Nelsonschen Admiralschiffes in der Schlacht bei Trafalgar, Victory, gemacht und dem tapfern Tiroler mit Dukaten gefüllt als Abschiedsgeschenk von dem Prinzen Regenten gegeben. Dieser echte tirolische, höchst lebendige, frische Mann ward in Petersburg wohl über einen Monat hin und her in vielen guten, patriotischen, deutschen und russischen Gesellschaften gefunden, war vom General Armfelt auch bei der Herzogin Antonie eingeführt, wo er seine Tiroler Schlachten und Gefechte erzählen und Volks- und Kriegslieder, auch Schimpf- und Schandlieder auf den Rheinbund und auf die Franzosen und Bayern singen mußte, wozu die Herzogin in ihrer Freundlichkeit und Begeisterung für die tirolische und deutsche Sache auf dem Klavier wohl die lustige Begleitung spielte.

Von diesem tirolischen Wunder war auch der Kaiserin Elisabeth erzählt, sie wollte den prächtigen Tiroler Schützen sehen und hatte sich einen Abend eingefunden und die kaiserliche Majestät unter den übrigen Damen und Hoffräulein versteckt. Armfelt war bestellt und befohlen, den Jubile mitzubringen, der in seinem Hause wirklich wie ein alter Kriegskamerad aus und ein ging. Der Tiroler ward nun für seine Erzählungen und Lieder durch die Herzogin gehörig in den lebendigen, lustigen Ton gesetzt und ihm Herz und Zunge durch reichlich gereichten und zugeklungenen Wein und Punsch in glühenden Silberfluß gebracht. Nun geschah gegen den Schluß der Belustigung, daß die Kaiserin aus der Reihe der Damen hervortretend über Tirol und die Könige von Bayern und Württemberg und die Höfe von Darmstadt und Karlsruhe, gleichsam als wenn sie von daher eine deutsche Landsmännin und Hoffräulein sei, sich mit dem Tiroler in ein lebendigstes Gespräch einließ und ihn absichtlich reizte, sich über die Fürsten, ihre Schwäger, Brüder und Vettern, frisch auszusprechen, was er auch ohne alle Umstände tat, und namentlich über Bayern, Württemberg und Baden gar nicht in den glimpflichsten Ausdrücken.

Als dieses Gespräch ein Ende haben und die Teegesellschaft sich erheben und auseinandergehen sollte und der Tiroler noch wie Abschied nehmend vor der hohen Frau dastand, faßte ihn der Schalk Armfelt und sprach: »Vergessen Sie diesen Abend nicht, Sie sollen wissen, daß Sie heute mit der regierenden Kaiserin von Rußland gesprochen haben.« Bei diesen Worten lief es dem armen Tiroler eiskalt über die Gänsehaut und sich allertiefst bis zur Erde verneigend stotterte er zur allgemeinen Ergötzung heraus: »Halten Euer Majestät meine Worte zu Gnaden, ich glaubte halt, Sie seien nur eine Hofmagd.« Das Schrecken und die Angst bei der plötzlichen Enthüllung der kaiserlichen Majestät war dem wackern Tiroler nach seinem eignen Ausdruck so auf die Brust gefallen, daß er den Arzt hatte holen lassen und einige Tage im Bette liegen müssen.

Nach dem kaiserlichen Palast und seiner hohen Bewohnerin, der Herzogin Antonie, war eine Frau, welche von Stein wie von einem höheren Geist angeweht schien, und welche auch ihn wie ein Frühlingswind voll Maimondduft und Jugend wieder zu durchwehen schien. Dies war eine Gräfin Orloff, geborne Prinzessin Soltykow, nach der Überlieferung aus altem Zarenblute, wozu mehrere andere Häuser, z. B. die Gallyzin, Dolgorucky usw. gezählt zu werden pflegen. Es war wirklich eine lebendigste, reizende, durch und durch geistreiche Frau, zugleich von der allerliebenswürdigsten Einfachheit und einer natürlichsten Natürlichkeit, wie Gott der Herr einzelne seiner Lieblingskreaturen zur Freude der Menschen zu machen pflegt. Sie schoß aus ihren Augen, welche wirklich blaue Thusneldaaugen (eine russische Seltenheit) waren, mutige und gefährliche Strahlen und verstand auf die liebenswürdigste Weise mit unserm edlen Ritter zu spielen. Versteht sich, bei beiden war die gleiche tapfere Gesinnung auf Leben und Tod gegen den Reichsfeind Napoleon.

Dies war das erste Band, welches beide zueinander zog, aber das zweite war ihr funkelnder, blitzender Geist. Geist gesellt sich immer zum Geist, und eine geistreiche Frau hat vor dem Mann den Vorteil, daß sie sich sogleich, sei sie Baronin, sei sie Fürstin, frisch und kühn neben und über jeden Rang stellen darf. Dieser liebenswürdigen Frau sah man es aber an jeder Gebärde an, daß sie an dem vollen Mut und der tapfern Wahrhaftigkeit unseres deutschen Ritters in der Tat schwelgte; sie war von der Kraft und Tugend des Mannes, welche in jedem Lande selten ist, in Rußland wohl seit Suworows Tode gewiß die seltenste ist, wirklich entzückt, ja sie war in sie verliebt. Es war eine Lust, diese beiden beisammen zu sehen, wie sie Witz und Rede wechselten. Da sprach auch Stein unverhohlen aus, daß es schade sei, daß ein solches Weib in Rußland leben und sterben müsse. Er war von dieser ganz anders ergriffen als von der französischen Neckerstochter.

Ich bin in diesem Hause oft und viel wie zu einem häuslichen Mittagsessen gewesen, wie solche Mittagsessen in Palästen in Petersburg sind, aber ich habe im Lande Moskowien keine einfältigere und natürlichere Seele gesehen, als diese vornehmste Knesin in ihrem Leben und Wesen war. Ihr Gefühl tändelte nicht, einen Stein hätte sie wohl nimmer vertändelt, obgleich er in solchen geistigen Naturspielen oft wieder ganz jung werden konnte, wenn auch das Spiel immer mit edlem Ernst anfing und mit edlem Ernst endigte. O sie fielen, ohne zu wissen, wie, oft in die allerernsthaftesten Dinge hinein. Ich führe hier nur eines an, wo er durch den Ernst des Gegenstandes so ergriffen ward, daß er ganz Rußland und auch seinen Liebling schalt, so daß sie ihre Tränen zu verbergen zum Schnupftuch greifen mußte und in weiblicher Verzweiflung beinahe in sich versinken wollte.

Sie hatte das Gespräch, ein ernstes, begonnen, über den Krieg und seine Erfolge, über den Mut und Patriotismus des russischen Volkes und dabei über viele Mängel der Verwaltung, über die Unredlichkeit und Bestechlichkeit, welche durch alle Klassen der Beamten und auch über die meisten Obersten und Generale hingehe, und wie Stolz und Unabhängigkeit des Charakters auch bei den Vornehmsten eine Seltenheit sei. Das Gespräch ward zuletzt ein sehr ernstes Kapitel, welches in eine Steinsche Strafrede sur l'éducation et les moeurs de la noblesse russienne auslief, wobei Stein die Gräfin auf ihr eignes Hauswesen und auf die gewöhnliche Tischordnung des Palastes hinwies mit den Worten: »Woher soll Sitte und Zucht in diesem Lande kommen, wo die Kinder, wie auch in Eurem Hause, in einem tatarisch-kalmückischen Gemisch und Zusammenleben aller Alter und Geschlechter aufwachsen und das Einfache, Edle und Strenge nimmer zu sehen bekommen?« Das war der Punkt, das waren die Dornstiche, womit der Ritter der edlen Frau das Herz durchbohrte, und wodurch sie so schrecklich bewegt ward.

Jetzt muß ich ein wenig erzählen, um auch dies zu erläutern:

Rußland herrscht über ein Drittel Asiens, über den zum Teil fast mit ewigem Eise bedeckten äußersten Norden bis an die Grenzen Chinas, Tibets und Japans; die rauheste Luft und auch die roheste Barbarei weht darüber hin, es ist der wilde Hauch des alten, verrufenen, sagenhaften Turan. Ein Wunder wäre es dann, wenn es nicht auch in Petersburg viel Asien atmete und lebte, wenn die sogenannte asiatische Einfalt des Lebens und Regiments sich dort nicht in einer gewissen asiatischen, gleichsam unvertilgbaren Einförmigkeit und Roheit zeigte. Wenn ich so das Treiben und Wesen in den russischen Palästen und in den Sälen der Vornehmen und Reichen mir betrachtet habe, ist mir ungefähr die Zeit eingefallen, welche man das dritte Jahrhundert der alten Imperatoren Roms oder die Zeit des sechsten, siebenten Jahrhunderts der ersten Merowinger in Gallien an der Seine und Loire nennen könnte: eine rohe, grausame Geschichte von Herrschaft und Knechtschaft, oft ein einzeln freundliches, wo eine ungezwungene Gleichheit zu herrschen scheint, wo aber öfter Barbarei, Willkür und Grausamkeit, häufig wie in possenhaften Spielen des Scherzes dann plötzlich wieder hervor und dazwischen springen. – Ein russisches Gastmahl zu Mittag und Abend in einem Palaste im Dezember und Januar: zehn oder zwanzig, dreißig Schlitten, mit zwei oder mit vier Rossen bespannt, vor den Toren und Türen haltend, die Pferde gegen die Kälte bis über die Ohren mit Decken oder gar mit Pelzen behängt und ungeduldig so drei, vier, fünf Stunden im Schnee stehend, stampfend und wiehernd; die Kutscher und Bedienten, oft zu Zahlen von vierzig und fünfzig schnarchend in den Vorhallen, vor allen Türen, auf allen Treppen hingestreckt, die Gäste, die Wirte und ihre Diener, Köche und Kellner dazwischen durchlaufend oder darüber hintretend, auch wohl sie mit den Füßen tretend oder fortstoßend, daß es unter denselben schreit und flucht.

Das ist so eine kleine Äußerlichkeit der Bewegung vor den Sälen und Gemächern des Palastes, aber in den Nebenhäusern und Hinterhäusern desselben sieht es noch ganz anders aus, da ist selbst in alltäglichen Sitten und Bräuchen eine Weise, wie man sie sich sicherlich in dem sechsten, siebenten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bei den Merowingern und ihren Edlen und Magnaten vorstellen muß. Dies zeigte die Hauseinrichtung und selbst die Haustafel der edlen, tugendhaften und geistreichen Knesin Orloff-Soltykow.

Der Palast Orloff selbst ein hohes, mächtiges Gebäude; der Hinterteil ein langer, breiter Hof, zu beiden Seiten mit langen, zweistöckigen Nebengebäuden. Was lebt und wohnt in diesen? Alle möglichen Handwerker: Schuster, Schneider, Schlosser, Schreiner usw. und in den besseren Zimmern die Klassen, welche den verschiedenen Ordnungen der Künste und Wissenschaften angehören: Lehrer und Lehrerinnen jeglicher Art (sogenannte Utschitel), Sprachmeister, Tanzmeister, Fechtmeister, Maler und wie die Gattung sonst genannt wird, welche an europäischer Bildung arbeitet, kurz alle Sprachen, Deutsche, Franzosen, Italiener, durcheinander. Solcher saßen mehrere an der Orloffschen Haustafel an ihren bestimmten Plätzen, ebenso ein Dutzend und mehr Jugend, welche von ihnen aus dem Groben gearbeitet und glatt gehobelt werden, darunter mehrere adlige Knaben – ich meine, die Orloffs hatten keine Kinder – mit ihnen zehn, zwölf andere Kinder verschiedener Völkerstämme des weiten Rußlands (Kirgisen, Kalmücken, Tataren), je ein ausgesuchtes Exemplar, je ein Männlein und Weiblein, alle, damit es recht bunt würde und bliebe, in ihren Volkstrachten, versteht sich, in seidene und wollene Kleider, Tücher und Bänder und in feinere Stiefeln und Schuhe verwandelt, wie es dem Palaste und der Tafel eines solchen Knesen geziemte.

Solche Kinder nun in solchen Palästen und in den allgemeinen Künsten und Übungen gleich Grafen- und Fürstenkindern erzogen und oft, wenn ihr Los glücklich fällt, wenn die Kirgisin oder Tatarin schön und reizend ist und ein französisches Lied oder eine italienische Arie zum Klavierspiel herausgurgeln gelernt hat, kann sie möglicherweise auch einmal eine Gräfin und Knesin werden, und wenn der Tataren und Kalmückenjunge Schönheit und Gestalt hat, kann er allenfalls zum russischen General aufsteigen.

Dies ist auch ein Asien; und solches Glück ist nicht selten ein russisches Glück. Wer war Potemkin? Man sagt, das war eines Bauers Sohn. Katharina sah den reisigen, blondlockigen Jüngling, der als ein junger Pope in Smolensk einherschritt; er gefiel ihren Augen, ward alsbald als Offizier in die Leibwachen eingestellt, schritt in Rang und Gunst der nordischen Semiramis mit Riesenschritten vorwärts, in wenigen Jahren regierte er ihr Herz, ihre Schlösser und Heere. Dies ist asiatisches, dies ist russisches Glück: geschwindes Steigen, aber oft auch geschwindestes Fallen.

Diese Orloffsche Tischordnung erregte also einen Sturm von Reden und eine Flut von Tränen zwischen den beiden trefflichen Menschen. Aus Stein sprach hier nicht bloß der Reichsbaron, den die Mischung der Stände und Völker, die er hier erblickte, ärgerte, nein, sein sittliches Gefühl machte sich Luft: »Wie wollt ihr edle, selbständige Männer bilden bei solchem wüsten Gemisch, wo sich das von Kind auf bunt durcheinander treibt, wo die Geschlechter verschiedenster Art bis zum Jünglingsalter so gemischt werden? Wie kann da das Gefühl von Zucht, Ordnung und Sitte je entwickelt und rein erhalten werden?«

Ich lebte denn – ich war damals ein sehr rüstiger, frischer Mann, und es war ja die allerfrischeste Zeit – unter Steins Schirm nicht allein in Palästen sondern auch in manchen guten Bürgerhäusern von Kaufherren, Bankern und Gelehrten und des Abends oft unter meinen Genossen eben von der gelehrten Gilde, von welchen ich nur Adelung, Fuß, Krug, Trinius, Stofregen und Storch nennen will und auch den Liebenswürdigsten von allen, den Weltumsegler Krusenstern. Ein berühmtes Paar Petersburger Lichter habe ich nur zuweilen berührt; sie waren mir doch zu sehr moskowitisiert worden und konnten ein gewisses steifes und blankes Hofkleid nicht ausziehen in Tagen, wo vor der gewaltigen Macht der Dinge viele bunte Zieraten des Lebens abgestreift wurden. Diese beiden Männer hießen der Pommer Schubert und der Sachsenhäuser Frankfurter Klinger. Alle diese Genannten sind deutsche Namen, und in Petersburg werden kaum andre als deutsche Namen als Gelehrte gezeigt werden dürfen. Wie sind nun diese Deutschen hier in der eisigen russischen Hauptstadt an der Newa? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten; doch will man darüber eine Antwort haben. Ich gebe diese Antwort denn in Gottes Namen wie ein herodotisches Wie mir deucht.

Kein Mensch steht auf dem Boden seiner Geburt und auf der Art seines Volkes so fest, daß er in einem fremden Lande und unter einem fremden Volke nicht vielfältiglich verändert und wenigstens in seinem Äußern noch mehr als in seinem Innern mit andern Farben als mit der Naturfarbe seines Volkes angestrichen und überfärbt werden könnte, wenn jene Naturfarbe bei Gelegenheit auch immer noch etwas durchschimmert. Petersburg ward im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts an den äußersten Grenzen der deutschen Zunge, wo diese Zunge selbst nur noch mit schwächeren deutschen Tönen tönte, von Peter I. gegründet. Seine nächsten Anwohner lieferten zum Teil auch seine ersten Einwohner; diese Anwohner hießen Esten und Liven, über welche die deutsche Sprache als die Sprache der Ritter und Städtebürger, hin und wieder auch schon mit etwas schwedischer Art und Sprache gemischt, als die herrschende oben schwebte. Also ist hier begreiflicherweise der ursprüngliche deutsche Grundton jener deutsche, wie er in Estland und Livland herrscht.

Die Art der deutschen Kurländer, Esten und Liven ist doch an diesen äußersten deutschen Ostgrenzen im Ablauf von sechs, sieben Jahrhunderten, wo sie mit dem Schwert zurückerobert wurden, von dem eigentlichen alten Deutschland eine sehr verschiedene geworden; es ist, wie ich oben mehrmals angedeutet habe, ein Hauch slawonisch-polnisch-russischer Leichtigkeit und Leichtfertigkeit, die von der deutschen Schwere und Ernsthaftigkeit sehr fern liegen, nicht bloß darüber hingeweht sondern auch an vielen Stellen hineingeweht worden.

Von diesem Lebensodem der weiland äußersten deutschen Ostseelande muß natürlich jeder deutsche Kaufmann, Handwerker und Gelehrte, den sein Geschick nach Petersburg geführt hat, mit der Zeit einen guten Teil einatmen, er muß in vielen den Eingebornen allmählich ähnlich werden. Außer dieser unvermeidlichen Verähnlichung droht dem gebildeten, vornehmen Deutschen aber noch ein anderes, nämlich in der hohen und vornehmen Gesellschaft, wie sie hier gewöhnlich ist, viel von dem Übermut und der Menschenverachtung anzunehmen, welche in Ländern der Knechtschaft auch unvermeidlich erwachsen.

In solchem Übermut, in solcher jämmerlichen, kalten Hoffart, der Nichtigkeit aller Nichtigkeiten, habe ich leider manche Deutsche hier kennen gelernt; die beiden Zuletztgenannten, Schubert und Klinger, trugen davon die traurigen Zeichen, beide sonst an Leib und Geist stattlichste, schönste Männerbilder. Schubert war bloß der Glatte, Hoffärtige, Abgeschlossene, der da gefühllos auf den gewöhnlichen Haufen der Menschen herabsieht und nur die Künste und Listen achtet und ehrt, wodurch in der Welt hohe Staffeln erstiegen werden; nach seiner Haltung und Gebärde war er auch als Jüngling wohl kaum einer edlen Begeisterung fähig gewesen. Es gibt Gesichter, auf welchen das mit leserlichsten Zügen geschrieben steht. Er bewunderte Napoleon und sprach, als wir anderen von Siegen und vom Untergang des Verderbers träumten, ganz trocken vor mir aus: »Sie sehen die Welt und Geschichte mit ganz verkehrten und geblendeten Augen an, lieber Landsmann: der Starke allein hat auf Erden das Recht zu herrschen; die meisten Menschen, glauben Sie mir, sind doch nichts als Gesindel, und man muß sich freuen, daß es solche Nimrode als Napoleon einmal wieder auf Erden gibt, Grundwühler und Aufräumer, welche die seit Jahrhunderten aufgetürmten Dreckhaufen auseinanderwerfen. Hier sind Sie auf der rechten Stelle, hier können Sie lernen, wie man auf Dreck treten muß.« Also das hatte der Greifswalder Schubert hier nur gelernt? Nein, eine große Anlage dazu hatte er gewiß mitgebracht.

General Klinger, der Sachsenhäuser, war von Natur gewiß andrer Art, der siebenzigjährige Greis Friedrich von Klinger war 1752 geboren, damals also erst 60 Jahre alt. (D. H.) stand da in rundester, mannlichster Stattlichkeit und Schönheit, ein metallener, wie aus Erz gegossener Mann. Als ich ihn zuerst sah, sah ich ihn freilich sehr gebeugt: in der Schlacht von Borodino hatte er seinen einzigen Sohn, auch sein einziges Kind, einen Garderittmeister, verloren. Man kennt ja seine Schriften, es ist etwas kaltes Geistiges und Dämonisches, doch über diese Welt oft Emporschwebendes darin; doch weht bei einzelnen Anstrichen und Anhauchen des edlen Gefühls im ganzen ein kalter, stolzer Wind vornehmer Betrachtung darüber hin, zuweilen eine Sentimentalität, die man eine Newasentimentalität nennen möchte, wie einen bei glühender Kaminhitze oft friert. Dieser war mit Goethe zugleich von der Frankfurter Bahn in die Welt ausgelaufen; aber wie fern von der Goethischen erquickenden Liebes- und Lebenswärme! Es erschien in dem General doch zu sehr der russische General; wenn man Blick und Gebärde an ihm betrachtete, hatte er davon auch wohl vieles aus Deutschland mitgebracht, wozu Rußland und die im russischen Dienst gemachten Erfahrungen wohl ihre Zugift gegeben hatten. Doch erblickte man in seinen prächtigen Augen und in seinem Antlitz, dessen Herrlichkeit an das Antlitz seines Jugendgenossen Goethe erinnerte, daß Jahre gewesen waren, wo er die Welt wie ein fröhliches, deutsches Blumengefild, nicht wie ein hartes, asiatisches Rußland empfunden hatte. Er war bei einer gewissen trotzigen Herbheit sehr freundlich zutraulich zu mir und sagte mir, als ich ihn etwa das drittemal besuchte: (ich hatte in Petersburg ein bißchen diplomatisch galoppieren gelernt) »Was wollen Sie hier? Sie gehören, wie ich Sie mir betrachte und auslege, nicht hierher; die Menschen hier kann man nicht genug verachten. Gewöhnen Sie sich nur recht grob zu sein; will man nicht mit ihnen laufen, ist das das beste.« Vielleicht glaubte er, ich sei hierher gekommen, um auch ein sogenanntes Utschitelglück zu machen, wie hinter dem Kandidaten Ostermann aus der rheinischen Grafschaft Mark später noch viele andre.

Begreiflich, daß ich, der in der Atmosphäre der Stein und Trinius lebte, Männer gleich diesen zwei beiden nicht oft sah.

Ich hatte noch eine Genossenschaft, mit welcher ich gewöhnlich lebte und mich an derselben Mittagstische meistens sah. Es waren die tapfern Kriegsmänner, welche auf Deutschlands Erhebung hofften und ihre Herzen und Degen darauf gerüstet hielten. Zu diesen kamen noch in unsern beiden letzten Petersburger Monaten in Angelegenheiten des Heers, worin sie gegen die Franzosen stritten, oder in Sendungen an den Kaiser und an Minister Stein oft andere unsrer besten Degen. Clausewitz, Chasot, Pfuel usw. – kamen und verschwanden zu frischer, blutiger Arbeit.

Auch kamen und verschwanden, unter allerlei Kappen und Masken verhüllt, in Aufträgen des eigenen Herzens oder in Geschäften, die mir verhüllt blieben, wahrscheinlich auch, um den Lauf der Dinge hier zu erspähen oder ihren endlichen Auslauf besser zu ahnen, mehrere wackre deutsche Männer aus dem Westen, von welchen ich nur den Obersten Boyen, Scharnhorsts Freund und unseren späteren Kriegsminister, und den Obersten Adolf Lützow nenne.

Das gab frisches, soldatisches Leben und einige soldatische Freudengelage. Noch erinnert's mich, wie ich mit Boyen und dem Grafen Dohna von unsrer Legion ein Dutzend Donsche Champagnerflaschen geleert habe, die der Kaufmann Karl Scheer mir als eine Merkwürdigkeit für solches Festgelag geschenkt hatte. Dieser wackere Scheer, jetzt in London, war der Sohn eines pommerschen Pastors, Nachbar und Beichtvater meines seligen Vaters. Karl Scheers Freundlichkeit versah mich bei meiner winterlichen Abreise noch mit einem Dutzend des herzhaftesten Portugiesweins. Solche sind auch liebe Erinnerungen des Alters.

Endlich war eine große Entscheidung gekommen, die Mordschlacht bei Borodino an der Wiäsma Borodino liegt nicht an der Wiäsma, sondern an der Kolotscha. (D. H.) war geschlagen; obgleich als ein Sieg verkündigt und mit Pauken und Trompeten und mit Geläut von allen Türmen gefeiert, von den Russen verloren und bald von jedermänniglich als eine verlorne Schlacht erkannt worden. Und nicht lange – so erklang die Botschaft, Rostopschin hat Moskau in Flammen aufgehen lassen, und Napoleon ist in den Kreml eingezogen.

Den Tag, als diese Nachricht ankam, hatte Stein eine Mittagsgesellschaft zusammengeladen, vorzüglich auf den wackern Hessen, General Dörnberg, der eben aus England angekommen war. Ich sollte auch mit an diesem Tische sitzen und ein gewisser Staatsrat F., den Stein sonst wohl leiden mochte, über welchen er sich aber heute früh also aussprach: »Eben war der F. bei mir, hatte ein Gesicht wie ein Weib, dem sich im Bauche die ersten Wehen krümmen und kramen; ich wollte ihn anfangs auch einladen, als ich aber seinen Weheschrei über Moskau hörte, und daß wir nun leider bald einen schlechten Frieden haben würden, ließ ich den armen Sünder. Mut, lieber Freund, Mut gilt's für den Mann im Leben! Wer weiß, ob wir nicht noch ein Paar hundert Meilen weiter gegen Osten, bis nach Kasan und Astrachan reisen müssen? Ich habe mein Gepäck im Leben, wie oft, wohl drei-, viermal verloren. Einen Tod kann man doch nur sterben. Heute mittag wollen wir doch auf gutes Glück trinken.« Und wir haben auf gutes Glück frisch getrunken und angeklungen.

So er und wir andern, die heute mittag mit ihm und dem Dörnberg auf Altengland und auf gutes russisches und deutsches Glück und auf Wellington und seinen spanischen Kampf anstoßen sollten; aber die moskauischen Rostopschinflammen, wie sie die Kühnen und Mutigen erfreuten, schreckten die Kleingläubigen und Feigen. Ihnen voran war die alte Kaiserinmutter, die sonst so stattliche Württembergerin, und ihr zweiter Sohn Konstantin, der durch alle Gassen und Paläste Frieden! Frieden! schrie.

Wenn die Borodiner Schlacht und der alten Hauptstadt Brand in solcher Weise die Herzen erschütterte und Millionen Beine und Zungen in Bewegung setzte, stand mein Ritter fest und unerschütterlich da. Nie habe ich ihn frischer und rüstiger gesehen als in diesen entscheidenden Wochen. Auch Kaiser Alexander stand und hielt fest, wieviel auch an solcher Stellung gezupft und gerüttelt werden mochte. Ich habe nicht mitgesessen im innern Rat und weiß nicht, wieviel er sich auf Steins Mut und Tugend gestützt hat; genug, trotz aller Neigungen und Senkungen nach der andern Seite hin und trotz Napoleons Sendungen, Friede ward nicht geschlossen, und endlich kam eine Freudenbotschaft nach der andern, daß der große Überzieher der Völker und Durchzieher der Länder mit seinen Heerhaufen durch Eis und Schnee einige hundert Meilen von Osten gegen Westen die Rückreise angetreten habe. Hier stehe nun eine Erzählung, welche mir der Minister Graf Uwaroff nach dem Erlebnis eines kaiserlichen Freudengastmahls gemacht hat, bei welchem Steins Mut und Kühnheit alle Russen zum Erschrecken und zur Bewunderung hingerissen hat.

Die alte Herrin und Kaiserin hatte sich dort auch erhoben, jetzt bei der Nachricht von dem Rückzuge und der Flucht der Feinde von ihren Schrecken erlöst, hatte, auch von dem allgemeinen Siegesmut angesteckt, dem Minister Stein gegenüber ihre stolzen Württemberger Lippen ungefähr mit den Worten aufgetan: »Wenn jetzt noch ein französischer Soldat durch die deutschen Grenzen entrinnt, so werde ich mich schämen, eine Deutsche zu sein.« Bei diesen Worten, so erzählte Uwaroff, sah man Stein im Gesichte rot und längs seiner großen Nase vor Zorn weiß werden, sich erheben, verneigen und in geflügelter Rede also erwidern: »Ew. Majestät haben sehr unrecht, solches hier auszusprechen, und zwar über ein so großes, treues, tapfres Volk, welchem anzugehören Sie das Glück haben. Sie hätten sagen sollen, nicht des deutschen Volkes schäme ich mich sondern meiner Brüder, Vettern und Genossen, der deutschen Fürsten. Ich habe die Zeit durchlebt, ich lebte in den Jahren 1791, 1792, 1793, 1794 am Rhein; nicht das Volk hatte schuld, man wußte es nicht zu gebrauchen. Hätten die deutschen Könige und Fürsten ihre Schuldigkeit getan, nimmer wäre ein Franzose über die Elbe, Oder und Weichsel, geschweige über den Dniestr gekommen.« – Und die Kaiserin hatte die Rede aufgenommen, wie sie nicht anders konnte, und mit aller Fassung gedankt: »Sie mögen vielleicht recht haben, Herr Baron; ich danke Ihnen für die Lektion.«

Hier muß zum Schluß noch einiges stehen über den unmittelbaren kaiserlichen Palast:

Ich habe den Kaiser in Petersburg, ich habe ihn später am Rhein und zuletzt noch einmal in meinem Bonn gesehen. Äußerlich ein schöner, schlanker Mann, blonden Haars und grauer Augen, mit hübschen, feinen Gesichtszügen, mit einem gewissen Ausdruck von Weichheit und Empfindsamkeit, mit jener eigentümlichen Freundlichkeit, welche gleichsam die Gegenfreundlichkeit erwartet, kurz welche ein gewisses Etwas hatte, was man in weiblichen Gesichtern buhlerische Eitelkeit nennt. Er machte nicht den Eindruck eines über 70–80 Millionen Menschen herrschenden Kaisers; aber Stein war jetzt voll seines Preises und seiner Festigkeit, in der vollsten Überzeugung von seiner Treue und Hochherzigkeit und schaute in diesem Glauben fröhlich in unsern Westen hinaus.

Die alte Kaiserin? Ein Teil von ihr ist schon dargestellt. Sie stand in den Fünfzigen, eine schöne, stattliche Dame aus dem württembergischen Pelopidenstamm, die glückliche Mutter von stolzen Söhnen und schönen Töchtern. Ich habe sie nur von fern gesehen. Die sie näher kannten oder die zunächst unter und in ihrem Bereich und Erreich standen und wirkten, rühmten und verklagten zu gleicher Zeit ihre Festigkeit und unermüdliche, unruhigste Tätigkeit. Ihr Sohn Alexander hatte manches Öffentliche, besonders was der Wohltätigkeit und Erziehung angehörte, z. B. weibliche Spitäler, Fräuleinerziehungs- und Fräuleinpensionsanstalten unter die höchste Obhut seiner Mutter gestellt. Die Männer, auch die würdigsten, welche unter ihrer Hand standen, klagten über ihre unruhige Tätigkeit, welche die Behörden mit und um tausend Kleinigkeiten ermüde und zerquäle, und dabei bedauerten sie ihre stammfeste Gesundheit, daß sie oft stundenlang an derselben Stelle und vor demselben Geschäft auf ihren Füßen stehen und ihre Untergebenen, welche vor ihr natürlich im unverrückten Stehen beharren mußten, fast zur Ohnmacht niederstehen könne. Also eine Tyrannin, welche die Leute allenfalls totstehen konnte.

Die junge Kaiserin, von fern eine anmutige, zart schwebende Erscheinung, in der Nähe schon das Verblühen, schlanken Wuchses, freundlichster blauer Augen, ihr Gesicht ganz von Freundlichkeit überzogen, aber doch mit dem Ausdruck einer schmerzlichen Empfindung. Sie war keine glückliche Frau; sie hatte ein Kind gehabt, das früh starb, jetzt kinderlos, also eine unglückliche Zarin.

Alexander hatte neben ihr eine erklärte Geliebte, die Oberhofmarschallin Fürstin Narischkin. Da ward auch von kaiserlichen Kindern, von sogenannten Bastarden, gemunkelt, die Leibärzte munkelten dagegen: sie gehören dem Kaiser nicht, er bilde sich da wie in vielen andern Dingen auch mehr ein, als er könne. Bekannt war, daß er in Rußland, später auch in Deutschland und Frankreich jedem anmutigen Weibergesichte in den Salons immer recht geflissentlich die Cour gemacht hat. Sie munkelten da wieder: Das alles ist auch nur Schein, ein ungefährlicher Schein, die Männer können ihn ohne Sorgen vor ihren Weibern umherspielen lassen. Was weiß ich es? Aber solche Aussprüche der Kunstverständigen und kaiserlichen Leibärzte und Bettvertrauten weisen doch auch auf etwas hin, was auch einige politische Rollen erklären hilft, die Alexander durchgespielt hat, oder die mit ihm durchgespielt sind. Ich meine auch wohl, außer den freundlich wohlwollenden Blicken, womit das kaiserliche Gesicht fast jedem Nahenden entgegenstrahlte, war doch noch ein gewisser Schein da, den man bei jungen Offizieren wohl einen Schein bewußter und studierter Eitelkeit zu nennen pflegt.

Konstantin. Die Mannsgestalt stattlich, mannlicher als des Kaisers, der Kopf mit Nase und Augen etwas wie kalmückisch-mongolisch aufgestülpt und zurückgestülpt; er machte den Eindruck vieler Russen mit mongolisierten Gesichtern. Daß er kein Mann des Mutes war, ist schon erzählt. Von wilden und wüsten Garnisonsgeschichten, von bösen Abenteuern mit Weibern und Mädchen, die der Zarensohn mit gleichen Genossen getrieben haben sollte, wie sie bei manchen wilden Offizieren und Kavalieren nur zu gewöhnlich sind, ward über diesen Prinzen, vielleicht auch weil er ein Zarensohn war, viel Tollstes erzählt; aber gottlob! es gibt wenige monstra nulla virtute redempta; so will ich denn von dem jungen Zar auch etwas Gutes erzählen; ich erzähle hier einem Heimatsmann, dem wackern Akademiker Adelung nach, der die geheimen Geschichten der kaiserlichen Schlösser vor den meisten kannte.

In dem nächsten Bezirk um Petersburg und Zarskoje Selo lagen einzelne Dörfer und Höfe, früher zum Teil von deutschen Kolonisten angelegt, gleichsam ein peculium imperatoris, oder richtiger gesagt, ein peculium gentis imperatoriae. Kaiserliche und königliche Familien haben oft dergleichen Stiftungen und Anlagen als Zeichen patriarchalischen Urzustandes, aus welchem auch sie hervorgegangen sind, als Zeichen einer menschlichen Liebe und Herzensfreundlichkeit gegen alles und jegliches Menschengeschlecht, womit sie dem kleinen Volke, vorzüglich dem einfältig lebenden und liebenden Bauervolke, bisweilen ein Zeichen zu geben lieben, daß sie sich auch erkennen als ursprünglich von Adam her gleiches Stoffs mit ihnen. Die besagten Höfe und Ansiedlungen waren nach der großen Katharina und Kaiser Pauls Tode unter die Söhne verteilt. Da hatte denn für seine Unterhabenden, für alt und jung, für hilflose Witwen und ihre Töchter, auch für die Zucht und Schule der Kinder, keiner so treu und liebreich gesorgt als eben Prinz Konstantin. Sollte man hier nicht fast sagen müssen: Es ist die Geschichte von dem Fuchs, der alles Gevögel und Gefieder, was ihm in den Weg kommt, zerreißt und verspeist, der aber das Huhn, das hinter seiner Hütte seine Eier gelegt und ausgebrütet hat, und die Kinder des Huhns ruhig um sich spielen läßt.

Doch genug, übergenug von Petersburg. Der Weltkampf zog von dem Osten jetzt gegen Westen; wir blickten jetzt mit dreifacher Sehnsucht in diesen Westen und in die geliebten Heimatlande hinein; wir wollten und mußten mitziehen. Wir hatten große und gewaltige Tage, wir hatten auch manche fröhliche Tage in Petersburg verlebt; wir hatten unter vielem Traurigen und Widerlichen doch viele Erscheinungen eines tapfern und ehrenhaften Volkes gesehen. In den ersten Tagen des Wintermonds des Jahres 1813 war unser Gepäck geschnürt, des Ministers Kutsche ward auf einen Schlitten gestellt, ein mächtiger Packwagen, ebenso gestellt, mit unserm Gepäck, fuhr hinter ihm; ich saß neben dem Minister, wir beide nach hiesiger Landesüblichkeit leidlich in Pelzwerk gehüllt, zwei Diener vor uns, ein kaiserlicher Feldjäger unsern beiden Schlitten voranfliegend, ein zweiter uns nachklatschend. So fuhren wir in der dunkeln Abendstunde Am 5. Januar, s. Erinnerungen S. 151. (D. H.) – es läuteten eben alle Petersburger Türme die Abendbetstunde – gegen Südwesten hinaus der Düna zu.

Den folgenden Nachmittag machten wir in Pleskow Halt, unsern lieben General Chasot Chasot war Oberst. (D. H.) zu besuchen, der dort eine Station genommen hatte, um aus den Tausenden deutscher Gefangenen für unsre Legion zu werben. Ach, wie fanden wir den trefflichen Mann? Besinnungslos am Lazarettfieber niederliegend. Er war von seinen Rekruten angesteckt, von welchen auch die meisten den vollen Tod schon im Leibe hatten. Sein Adjutant von Tidemann, ein geborner Preuße, führte uns an sein Bett, den Minister warnend, seinem Aushauch nicht zu nah zu treten. Ich drückte dem Tapfern die Hand, Stein aber, ihn auf die Stirn küssend, rief dem warnenden Tidemann zu: »Ei was, Lebensgefahr! Wir stehen immer zwischen Leben und Tod, aber auf diesem Felde steht man doppelt dazwischen.« Wir sollten den vortrefflichen Mann nimmer wieder sehen – in einigen Tagen war er eine Leiche, ich mußte seiner Tochter seinen Tod melden.

Das war ein Trauerbesuch und eine Traurigkeit. Als wir zurückkamen, begegnete mir eine Ärgerlichkeit, so daß ich mit doppelter Wahrheit singen und sagen konnte: O trauriges Pleskow am Peipussee Vers aus einem Liede auf Chasots Tod. Unsre Bedienten, unsre Feldjäger waren, sich zu vernüchtern, insgesamt in die Schenke gegangen und hatten unsre Schlitten unbewacht stehen lassen, da war die moskowitische Fixfingrigkeit, die ich auf meiner Reise von Brody über Moskau nach Petersburg den vorigen Sommer in manchen kleinen Denkzeichen und Diebszügen aus meiner Garderobe schon genug erfahren hatte, sogleich über unsern Gepäckschlitten her gewesen; ein mächtiger Mantelsack, den ich bei der geschwindesten Übereilung unsrer Abreise hatte packen müssen, hatte die Oberstelle des Gepäcks bekommen; er war weg, als wir von Chasot zurückkamen. Er enthielt fast meine ganze Wäsche – ich mußte mir unterwegs von dem Minister ein Hemd leihen – und, was mir das Leideste war, nicht allein einen reichen Vorrat für die Reise (Karawanentee, Chesterkäse, Rigaer Mettwürste usw.), sondern gar viele hübsche Petersburger Andenken und Geschenke von Männern und Frauen, die meinem Herzen lieb geworden waren. Das war alles dahin; trotz aller Anzeigen und erlassenen Verkündigungen auf den Poststationen konnte davon, zumal in solcher Zeit, nichts wiedergewonnen werden. In Rußland singe hinter solchem Raub her nur jeder wohlgemut: Verloren ist verloren. Nach innerm Wert war dieser Verlust mir unschätzbar, nach dem wirklichen Wert konnte ich ihn wohl auf zweihundert Reichstaler anschlagen. Ich mußte mich bei unsrer Ankunft in Königsberg sogleich wie neu ausmontieren und ausrüsten lassen.

Wir gelangten nun bald auf die große Straße, welche das fliehende französische Heer gezogen war; man konnte sie wohl ein Leichenfeld des Kriegs nennen. Schon waren uns Bauerschlitten in Menge begegnet, auf welchen kranke und marode, gefangene deutsche Jünglinge, aus welchen die Legion rekrutiert werden sollte, gegen Norden geführt wurden; hinter den Schlitten her gingen, die noch gehen konnten; einige Dutzend Kosaken mit gezückten Peitschen geleiteten und trieben die Unglücklichen. Ach, die meisten von ihnen, bleich, hager und hohläugig, trugen den Tod, dem sie bald erliegen sollten, in allen ihren Zügen. Der Weg ging durch eisige Felder und über gefrorne Sümpfe, hin und wieder durch Tannen- und Birkenwälder, wo man nur einzelne schlechte Gerippe von Hütten, durch die Flüchtlinge des Heers in einen dachlosen und fensterlosen Zustand versetzt, manche auch nur in angebrannten Balken und Ständern das gräßliche Bild des Krieges ausmalend erblickte. Die Schlitten rollten hie und da über Leichen, links und rechts lagen Leichen, Pferde, Trümmer von Kanonenlafetten, auch standen einzelne verlassene Wägen und Karren im Schnee festgefroren; Raben flogen und krächzten, und Wölfe heulten ein grauliches Konzert darüber her. O schaurig waren die Nächte, wo der Mond und die Sterne auf den grausen, kalten Jammer herabschauten.

Wir hätten leicht auch einen Toten haben können, wenn ich nicht zufällig geweckt hätte. Vor uns im Schlitten saßen zwei Diener. Diese nahmen auf den Haltestellen des flüssigen, heißen Nasses immer gehörig zu sich. Der eine, ein langer, tapfrer Böhme mit schwarzem Schnurrbart und grimmigem Blick, hatte wohl etwas zuviel geladen. Es war ein tapfrer Grenadier mit mehreren Ehrenmünzen an der Brust und einigen Schmarren im Gesicht.

Solche Leute hatte Stein gern um sich. Ich erinnere mich, als wir während des Waffenstillstandes in Reichenbach saßen, hatte er sich sogleich einen alten, auch mit Tapferkeitsmünzen geschmückten, alten, pommerschen Husaren als Kutscher aufgefunden, dessen tapfere Art bei einer Fahrt nach Schweidnitz er mir mit lachendem Munde mit den Worten rühmte: »Nun, Ihre Pommern sind doch Kerle, wie sie sein müssen, sie erinnern heute noch an des großen Königs Testament, der sie für seine rechten Schlachtenbahnbrecher erklärt hat. Als ich aus dem Tor fuhr, gerieten wir sogleich unter einen langen, breiten Zug russischer Artillerie und Kürassiere. Da gebärdete sich mein Pommer, als wenn er Kaiser und Könige im Wagen habe, und rief mit einer Stentorstimme, welche Tote hätte erwecken können: Man drist! man drist Nur dreist! nur dreist! und alles wich ihm aus.«

Unser tapfrer Grenadier, von welchem ich eben spreche, wollte nun in seiner Treue seinem Herrn vergelten, und so wie der Minister nur ein wenig druste und schlafen wollte, zog er sogleich den ledernen Vorhang unserer Sitzbühne zu, was ihm dann alsbald einige Püffe von seinem Herrn einbrachte, der ihm mit den Worten: »Plagt Ihn wieder der Teufel? Will Er mich schon wieder in den Affenkasten einsperren?« einige tüchtige Nackenstöße beibrachte.

Dies hatte er nun wieder getan; sogleich waren die faustüblichen Nackenstöße da, aber mein Grenadier rührte sich nicht. Dies ward uns verdächtig, und in der Tat, er war jetzt auch auf seine Weise durch die zu reichliche Flüssigkeit drusig, mehr als drusig geworden. Es war eine bitterkalte Nacht, und ich rief: »Wir müssen den Schläfer herauskriegen, er muß gehen, sonst erstarrt er uns.« Und ich und der zweite Diener nahmen ihn zwischen uns und suchten den langen Recken aus allen unsern Kräften wieder beinig und frisch zu machen. Und was begab sich? Wie wir unsern Trunkenbold so fortschleppten und fortstießen, war der alte Herr in seinen Pelzstiefeln, Doktor und Podagra ganz vergessend, plötzlich hinter uns – er wollte mithelfen. Das war auch der Mensch mit seinen Tugenden und Mängeln, das war Stein. Wir brachten, zuletzt im Grenadiergeschwindschritt marschierend, unsern Erstarrten wieder in natürliche Gelenkigkeit, und auf dem nächsten Posthalt holte ich von meinem in die Wagentasche gesteckten Ehrengeschenk des Portugiesweins eine Flasche heraus. Wir ließen ihm einen Glühwein machen, und Stein stand fröhlich und gerührt dabei, als der arme Sünder mit dieser Kraftsuppe neues Leben trank.

Unter solchen kleinen Abenteuern gelangten wir durch die Heiden und Wälder Litauens unter der Begleitung von einzelnen zerrissenen, armen Soldaten und der Musik der Wölfe, Elstern und Raben den dritten Tag unserer Fahrt nach Wilna Sie kamen erst am 11. Januar, also am sechsten Tage ihrer Reise, in Wilna an, s. Erinnerungen S. 154 und Pertz. Stein III S 264. (D. H.). Es war eine helle, kalte Mitternacht, als wir einfuhren, und es schien, als ob ein böser Dämon uns kein Nachtquartier gönnen wollte; denn nicht fern von dem ersten Gasthof der Stadt, den ein Herr Müller hielt, faßte ein vierspänniger Schlitten, der uns vorbeigaloppieren wollte, die eine Seite unseres Schlittens und warf uns gegen die andere Seite in einen Rinnstein. Wir saßen fest und fluchten etwas, und ich faßte im Zorn den Mann, der jenseits auch aus seinem Schlitten sprang, in die Brust und rief ihm zu: »Sie hätten doch auch wohl etwas sachter fahren können, da Sie unsere hohe Kutsche sahen.« Natürlich faßte er mich auch wieder an die Brust; es sollte ans Schütteln gehen, wir sahen uns scharf in die Augen, und der Zorn sprang zum Lachen um: es war Oberst Pfuel Pfuel war seit 28. Dezember 1812 Major in russischem Dienst. (D. H.), der mit seinem großen Vierspänner aus Kutusows Hauptquartier Zucker, Wein usw. – Notabene, wenn dort zu finden waren – aus Wilna zu holen kam. Da kam Stein auch bald herunter, Pfuel und seine Leute halfen nun unsern Schlitten aus dem Rinnstein heraus, und er fuhr mit uns in das Gasthaus, erzählte uns die jüngsten Märsche, Gefechte und Abenteuer, und fuhr den andern Morgen mit seinem gefundenen Proviant weiter.

Wir fanden in diesem Hause sogleich alle Spuren eines Krieges, dessen Spuren sich hier in Wilna wirklich in den allerscheußlichsten Bildern offenbarten. Mit mir anzufangen: In dem ganzen Gasthofe, der wirklich ein prächtiges Äußere und größte Säle und die Menge Zimmer hatte, war doch fast alles aufgeräumt, die Spiegel zerschlagen, die Tapeten zerrissen, zerbrochene Stühle umher, kaum hie und da noch ein halberhaltner Sofa oder Diwan; kaum konnte der Minister etwas einem Bette Ähnliches erhalten. Ich quartierte mich in einen großen Saal ein, wo noch ein ganzer Spiegel hing und wo, Reste eines früheren Glanzes, Raffaelische Gemälde in Kupferstichen von Raffael Morghen unbeschädigt hingen; Kunstkenner und Liebhaberdiebe, auf dergleichen lüstern, scheinen sich also hier nicht einquartiert zu haben. Ich nahm mein Lager auf einem schmutzigen Sofa mit der Haut meines Wolfspelzes umwickelt; den folgenden Morgen hatte ich freilich mit dem Überlauf der gens pediculosa zu kämpfen, einem echt polnischen Völkchen. Sie krochen auf allen Stühlen und an allen Wänden umher.

Als die Sonne aufgegangen war, und meine Augen unsere Wägen und Hof, Ställe und Pferde in Durchmusterung nahmen, welche Wüstenei erblickten sie da! Zerbrochene Waffen und Geschirr, zerrissene Monturen, zerschlagene Tschakos und Helme ringsumher gestreut; unser Kutschenschlitten stand auf einer von Dung und Stroh halb zugedeckten, nackten Leiche.

Bald als wir am Frühstückstische saßen, ließ sich beim Minister ein deutscher Offizier melden. Es klang Herein! Und hintrat ein großer, schöner Mann in der Uniform eines französischen Kürassieroffiziers und stellte sich, den Hut in der Hand, nach tiefer Verbeugung vor den Minister hin. Er ward zum Sitzen befohlen, der Namen gefragt – von Mosel aus dem Lande Kleve, Sohn eines preußischen Kriegsrats. »O setzen Sie sich,« rief Stein freundlich und schenkte ihm eine Tasse Schokolade ein, »Ihren Vater hab' ich sehr gut gekannt, war ein braver Mann.« Nun ward gefragt nach dem Was und Warum des Morgenbesuches, und der Kürassier stotterte heraus: »Ich war Leutnant bei dem preußischen Regiment von Schenk, nach dem Unglück von 1806 verabschiedet und in Langerweile zu Hause sitzend. Da hab' ich denn, als der Französisch-Spanische Krieg begann, als Offizier Dienst begehrt und in Spanien einige Feldzüge mitgemacht, bis unser Regiment von da heraus kommandiert und mit nach Polen und Rußland geführt ist.«

Ich sah, daß meines Herrn Gesicht sich bei diesen Worten etwas verzückte und Gewitterwolken sammelte und sagte in mir: Dummer Teufel, wie bist du drein getölpelt! Bald nahm mein Mosel wieder Aufstand und nahm sich wieder verneigend zum zweitenmal das Wort, sprechend: »Ich und meine unglücklichen Kameraden haben mit Freuden vernommen, daß E. Exz. nach Rußland gekommen sind, sich der unglücklichen Deutschen anzunehmen. Wir sind hier viele Gefangene, unsere unglücklichen Leute kommen vor Hunger, Mißhandlung und Läusen um. Wir bitten E. Exz. Barmherzigkeit –«

»Ja« – so brach der Freiherr in der vollen zornigen Heftigkeit seiner geflügelten Worte die Rede durch – »ja, mein Herr, den Deutschen, allen Deutschen möchte ich gern helfen im Unglück, aber ich bin nicht hierher gekommen, deutschen Edelleuten zu helfen, die sich freiwillig aus Langerweile erbieten und erbitten, für einen Tyrannen ein edles, freies Volk plündern und unterjochen zu helfen. Gehen Sie! Die Wege der Menschen sind sehr verschieden, unsere Wege aber sind die verschiedensten; der meinige führt jetzt nach Deutschland, der Ihrige nach Sibirien.«

Und der stattliche Kürassier ging wie ein beschneiter Hund davon. Was zunächst aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, später habe ich aber gehört, er habe im Feldzuge von 1815 als Offizier bei der preußischen Landwehr gedient.

Stein fuhr den zweiten Tag von hier ab Stein reiste erst am 15. Januar von Wilna ab, s. Pertz, Stein III. S. 267 und 586. (D. H.) in das russische Hauptquartier Kutusows an der preußischen Grenze, wo Kaiser Alexander sich auch eingefunden hatte. Ich mußte noch ein paar Tage in Wilna bleiben, Gepäck und anderes von Petersburg Kommendes, was ich Stein nachführen sollte, zu erwarten. Ich habe ihn dann an unsrer deutschen Grenze im Lande der alten Masuren (Masovia) mitten unter Kosaken und russischer Landwehr, unter abgedeckten und zerrissenen polnischen Häusern und Hütten, das heißt mitten unter Brand, Hunger und Seuchen auf einem Posthalt wiedergefunden, und erst in dem preußischen Städtchen Lyck sind wir mit unseren Schlitten und Gepäck wieder zusammengestoßen.

Ein paar stille Tage also in Wilna, der Hauptstadt Litauens, in einer Gegend, wo man sich in den weit hinter uns liegenden Jahrhunderten, von dem ersten Jahr nach Christi Geburt bis zum Jahr 400 etwa einen Zusammenfluß von sarmatischen, slawonischen, gotischen Stoffen nach historischem Belieben etwa denken kann, aus welchen das Volk geworden sein möchte, was später Litauer oder Letten heißt. Wilna, einst eine schöne Stadt, aber wie sah diese Stadt jetzt aus! Von Freund und Feind durchzogen und ausgesogen und von den fliehenden Franzosen nach Gefechten und Scharmützeln mit Kosaken noch rein ausgeplündert, mit allen schauerlichsten Zeichen des Wintermordfeldzugs. In den Städten überall war der Anblick und das Gefühl einer Verlassenheit und Öde, als seien die Bewohner ausgestorben: so still war es meistens auf ihren Gassen. So sah man hier nur selten das Gesicht eines ordentlichen deutschen oder polnischen Mannes; nur Juden, orientalisch immer aufgeweckt und munter, in und vor den Türen stehend und immer auf Neues und Lärmendes oder Gewinnversprechendes lauschend; nur bei Juden – so sehr war alles ausgeleert und ausgeplündert – konnte man allenfalls noch einige Notdurften befriedigen, doch suchte man auch da jetzt manches vergebens. Obgleich mir in Pleskow ein Teil meiner Kleider gestohlen war, schien ich für den Rest doch noch wieder eine Bürste nötig zu haben. Ich besitze noch eine Kleiderbürste als ein Andenken an Litauens Hauptstadt, die nebst andern Kleinigkeiten ich hier kaufte. Hier stehe ihre Inschrift, welche ich in der kalten Langeweile der Wilnaer Abende, wo ich nicht einmal eine Zeitung zu lesen bekommen konnte, darauf gemalt habe, und welche noch heute leserlich darauf steht:

Bürste die Kleider, so freut sich der Schneider,
Bürste die Narren, so freut sich Gott;
Männer der Ehren suche zu mehren,
Straubige Narren geiß'le mit Spott.

Welche Greuel habe ich hier gesehen! Unweit von meinem Gasthause das Tor, aus welchem man nach Grodno fährt, ein, wie man dem sehr verwüsteten Bau doch ansah, weiland prächtiges Kloster, jetzt alles, was geöffnet, geleert und zerbrochen werden konnte, offen, leer und verwüstet, die öden Fensterluken, kein Fenster ganz, doch in einzelnen inneren Gemächern immer noch einige kranke oder verwundete Gefangene; der Hof draußen ein Leichenhof, wie er in Ländern des Christentums gottlob! wohl selten erblickt worden ist; die Toten, wie sie gestorben, als nackte Leichen, immer sogleich frisch aus den Fenstern geworfen, lagen in gräßlich getürmten Haufen bis zum dritten Stockwerk empor, jetzt gottlob! alle auch zu Eis gefroren, so daß ihre Beine auf den hartgefrornen Straßen gewiß doppelt geklappert haben. Eben waren Hunderte Schlitten beschäftigt, hier und vor andern Lazaretten der Stadt die klappernden Gebeine aufzuladen und in breite Waken der Wilia zu werfen, damit sie so über Kowno in den Niemen und so immer weiter den Fischen der Ostsee ein mageres, kümmerliches Futter zu ihrer letzten Bestimmung fortgespült würden.

Und die Vorstadt vor Wilna? Da hatten Raub, Mord, Brand und Tod, wie es schien, am allerärgsten gewütet. Reste von abgedachten, zum Teil auch eingeäscherten Häusern, Hütten und Scheunen – Holz und Stroh und was von Balken und Sparren niederzureißen war, hatten die unglücklichen Flüchtlinge natürlich zum Feuermachen oder Kochen verbraucht – hin und wieder Reste niedergebrannter steinerner Häuser – da lagen in einem großen Saale, sehr massiv aus Stein gebaut, wo sie wohl letzten Schutz gesucht, die zerrissenen Leichen von Kleidern, Mützen, Hüten, Schärpen, unter ihnen auch ein paar von Menschen; es lagen auch einige Leichen, zum Teil angebrannt, neben und in Backöfen, Öfen und Kaminen, vielleicht durch zu geschwinde Hitze und Wärme zu geschwind zum Tode geführt, halbverbrauchte Holzkohlen und Holzklötze neben den halbverbrannten Leichen, deren Inhaber in der erstarrten Besinnungslosigkeit dem Feuer leicht zu nahe gekrochen sein mochten. O Menschengeschicke! Wie viele Leichen lagen so in Wäldern und Feldern hinter Mauern und Zäunen, ja auf Misthaufen, unbeweint und unbegraben, über deren Wiegen einst auch glückselige Mütter gesungen, gebetet und gesegnet haben!

In dem preußischen Städtchen Lyck und auf dem Posthalt nächst vor Lyck hatte ich mich also mit Stein wieder zusammengefunden. Ich wohnte mit ihm in einem der Prachthäuser, deren es dort doch einige gab. Ich glaube, es war das Amtshaus, vielleicht Amtsschloß genannt. Es lag so dicker Schnee über den Wäldern und Dächern, daß man die Gestalten von Vornehm und Gering kaum unterscheiden konnte; ich war auch gar nicht in der Stimmung umherzulaufen und Lyck und seine Pracht kennen zu lernen. Der Kaiser Alexander war da, Generale, Minister, Hofmarschälle und Uniformen aller Art. Von des Kaisers Gefolge sah ich Narischkin, Nesselrode und Anstetten.

Dieses preußische Städtchen war damals ein wahres Hungernest, dort habe ich wirklich seit meinem Auslauf aus Schlesien und meiner Fahrt durch Böhmen, Polen und Rußland im eigentlichen Sinn zum erstenmal gehungert, ich hätte einen Taler für ein Stück von dem Chesterkäs gegeben, den mir die russische Diebshand in Pleskow weggerappst hatte. Ich hatte in der Eile des Tages nichts gegessen, bei meiner Ankunft mit Stein eine Tasse Kaffee getrunken; er war unterdessen fortgegangen; ich weiß nicht, ob er beim Kaiser oder sonst irgendwo seinen Bissen Abendbrot gefunden hat; ich fand beim Nachfragen abends 10 Uhr alles so vergriffen und ausgeschöpft, daß ich zuletzt kaum ein Stückchen Weißbrot erwischen konnte. Wo ich fragte, entschuldigte man sich mit der entscheidenden Antwort: Morgen, für heut ist alles aufgegessen.

Den folgenden Morgen, als Kaiser und Gefolge zum Hauptquartier zurückgekehrt waren, machten wir uns auch auf den Weg, jetzt immer durchs liebe preußische Land hin weiter gegen Nordwesten. Unsre Schlitten mit doppeltem und dreifachem Vorspann flogen im Lande der Masuren durch Wald und Feld und über eine Menge spiegelheller Seen dahin; mit deutscher Freude, mit deutschem Jubel wurden wir allenthalben begrüßt und empfangen, auf vorausgelaufenen Befehl standen die Pferde auf allen Halten schon angeschirrt für uns bereit, und auf königlichen Domänenhöfen ward zu Mittag und Abend reichlich für uns aufgetafelt; ich konnte mich für den Lycker Märtyrertag reichlich entschädigen.

Wir waren in der Tat so dahingeflogen, wir waren in der Nacht in Gumbinnen, wurden in der Wohnung des Präsidenten von Schön von ihm auf das freundlichste empfangen; seine Frau konnte uns nicht empfangen, hielt mit einem eben gebornen Töchterchen ihre Wochen.

Ich sah hier zum erstenmal einen schlanken, hübschen Mann, der mir in Berlin schon als ein Mann beschrieben war, mit fester, ruhiger Rede und klarer, heitrer Miene, in Blick und Gebärde oft ein ironisches Lächeln durchschimmernd, welches nebst der ruhigsten Sicherheit der Haltung mich an viele wackre Schwedenköpfe erinnerte. Ich dachte mir bald, das muß ein mathematisch logischer Kopf sein, und in solcher Bedeutung habe ich auch später die Erklärung dieses ausgezeichneten Mannes gefunden.

Als nun Stein und Schön zusammentraten und anfingen, über die Tagesgeschichten miteinander zu fabulieren, sah ich aus der Stellung, worin Schön sich zu dem älteren Manne hielt, wohl eine gewisse Ehrfurcht, aus ihrem Gespräch aber und aus der offenen, zutraulichen Art, womit es geführt ward, ging eine alte Bekanntschaft und Gemeinschaft hervor. In der Zeit, wo Stein an der Spitze des preußischen Staates gestanden hatte, im Jahr 1808 bis in 1809 hinein Stein stand von Sept. 1807 bis Nov. 1808 an der Spitze des preuß. Staates. (D. H.), war Schön, wie man zu sagen pflegt, als treuer Helfer und Genoß ihm nicht nur an der Hand sondern, wie viele erzählten, auch an dem Kopf, ja mit im Kopfe und im Herzen gewesen. Manche Entwürfe und vorzüglich die Durcharbeitungen und gehörigen Ordnungen und Reihungen dieser Entwürfe der neuen Steinschen Verfassung in Beziehung auf Städteordnung, Bauernwesen, Aufhebung der Leibeigenschaft usw. wurden nicht bloß von Schöns Hand geordnet sondern auch von seinem Kopf entworfen gesagt.

Kurz, ich gewahrte bald, hier standen alte Vertraute nebeneinander, und ich gewahrte mit wahrer Ergötzung, daß Schön den edlen Ritter und seine Art durch und durch kannte und mit ihm verkehren gelernt hatte. Er verstand in einer eignen trocknen Weise um den Bart und die Mähnen des Löwen zu spielen und ihn durch Scherze und Gegenreden doch nicht dahin zu bringen, daß er zornig mit seinen Tatzen aushieb. Ich meine hier die ernsten und wichtigen Dinge, worüber bald in Königsberg verhandelt werden sollte, über die Begebenheiten des Tages ward abgerissen und leichter hingefahren. Höchst ergötzlich waren mir die vielen Erzählungen der jüngstverflossenen Wochen, von den Durchzügen der gegen Westen fliehenden Franzosen und von dem Betragen und der Einquartierung der hohen Offiziere, Marschälle, Generale und Intendanten Napoleons, wie sie unter Schöns Augen sich begeben hatten:

»Man hat in Gumbinnen für die Vornehmsten und Obersten, wie natürlich, die besten Quartiere bei den angesehensten Bewohnern der Stadt ausgesucht und ihnen die Quartierzettel darauf zugestellt, viele hatten sich aber ohne Wissen von Präsidenten (Schön) und Polizei unter der Hand an andern Stellen die Nachtwohnung gesucht und bei einem Schuster oder Schneider mit dem Preise von fünf, sechs Talern für den Nachtschlaf oft ein elendes Stübchen und Bettchen gedungen; sie hatten nämlich doch, fuhr Schön fort, wohl etwas von dem Bewußtsein ihres Übermuts und der in diesem Lande verübten Freveltaten im Leibe und fürchteten, da man die Quartierzettel eines jeglichen Namens wußte, nächtlicherweile leicht aufgehoben und abgeführt oder gar totgeschlagen zu werden. Sie kamen auch wirklich meist in einem so armseligen, jämmerlichen Aufzuge an, so zersprengt und einzeln nacheinander, mit zerbrochenen Wägen und Geschirr, mit abgetriebenen Pferden, zum Teil gar zu Fuß, ohne irgend einen marschallischen und generalischen Prunk und Pracht – wie fern von dem Glanz und Stolz, mit welchem sie vor nicht neun Monaten über Weichsel und Niemen gegen Osten gezogen waren, daß sie von ein paar hundert lustigen und wohlberittenen Husaren leicht hätten können abgefangen und zusammengehauen werden. Das Volk wäre dazu wohl lustig und nach den Mißhandlungen und Schändungen, die es von ihnen gelitten hatte, auch wohl berechtigt gewesen: ja hätte nur einer der Oberen die Trompete geblasen: Schlagt tot, schlagt tot! von den Tausenden dieser Generale und Offiziere wäre kein Mann über die Weichsel entkommen.«

Hier fiel Stein ihm ein: »Aber warum haben Sie die Kerle denn nicht totschlagen lassen?« Und Schön erwiderte ihm ruhig: »So zornig Sie bei Gelegenheit auch werden können, Sie hätten es auch nicht getan.« Jener aber rief zurück: »Ich glaube, ich hätte blasen lassen.« Nach diesem Wortwechsel belächelten beide sich eine Weile. –

Man kann nach solcher Zwiesprache unter solchen Männern eine deutsche Betrachtung anstellen, nämlich die Betrachtung und die Frage, ob es mehr die Frage deutscher Milde und Menschlichkeit oder vielmehr deutscher Flauheit und Gleichgültigkeit ist, daß von diesen frevelhaften, sonst übermütigsten, stolzesten Flüchtlingen auf dem Boden deutscher Sprache vielleicht kaum hie und da ein einzelner beraubt und erschlagen ist. Soviel ich weiß, sind in einem kleinen Anfall wirklichen Aufstandes im friesischen, oldenburgischen Lande nur ein paar französische Sünder und Zöllner totgeschlagen, wogegen Davoust sogleich einige edelste deutsche Männer erschießen ließ. Ist im Frühling des Jahres 1813 an der deutschen Nordwestküste geschehen. –

Deutsche Milde und Menschlichkeit, Barmherzigkeit mit denen, die jetzt zerplagt und zerrissen nach dem Glanz so langer Siege und der glücklichen Ausplünderung aller Länder, mitten durch feindselige Lande und Herzen die welsche Heimat wieder zu erreichen suchten. Gut, wenn es Menschlichkeit war, dann wollen wir diese barmherzige Geduld mit den frevelhaften Räubern auch als eine deutsche Tugend loben Soviel ist gewiß, in einem gleichen Fall und gleicher Lage würde in solcher Flucht eines zerrissenen, aufgelösten und waffenlosen Heeres in Spanien und Frankreich kaum eine Maus von einem deutschen Menschen die Heimat je wiedergesehen haben. Man hätte in Preußen und Deutschland dem Napoleon seine besten Feldherren und Generale und einige tausend tüchtige und erfahrne Offiziere, durch deren Hilfe er bald wieder 400 000 Mann unter die Fahnen stellen konnte fangen oder totschlagen können.

Wir erholten uns hier bei Schön zwei Tage, und ich erholte mich vortrefflich nach dem Märtyrertum von Lyck. Wir saßen hier übrigens auf heiligem deutschen Boden. Gumbinnen und die Umgegend sind gleichsam eine jüngere deutsche Schöpfung, die im Jahr 1813, welches wir lebten kaum achtzig Jahre alt war. Es war in den Anfängen des Jahres 1730, daß ein fanatischer Erzbischof von Salzburg Leopold Anton, Graf von Firmian. (D. H.)30 000 bis 40 000 fromme Protestanten von Hab und Gut und aus ihrem Lande der schönsten Alpenberge verjagen durfte wie in unsern Tagen 5000 bis 6000 Zillertalern, in unsern Tagen, sage ich, von Kaiser Franz von Österreich selbst nach dem Wiener Kongresse noch geschehen ist. Den meisten jener verjagten Salzburger hat damals der König Friedrich Wilhelm I. von Preußen in seinen ostpreußischen Wäldern Land und Ansiedelung verliehen, dort öde Heiden und Sümpfe in fruchtbare Gefilde und in Städte und Dörfer zu verwandeln Bei diesen Salzburgern denkt man an Goethes schönstes Idyllium Hermann und Dorothea. Eine Legende von einer schönen Salzburgerin soll, ihm den Gedanken dazu eingegeben haben.

Ich habe die unglücklichen Zillertaler genannt. Diese armen Verjagten haben durch unsern seligen König Friedrich Wilhelm III. am Fuße des Riesengebirges in Schlesien eine Zuflucht, doch kein so herrliches Vaterland wiedergefunden als das, woraus sie verjagt waren. Die Gewalt und Unterdrückung, welche fanatischer Pfaffengeist über sie gebracht hat, hätte freilich nach feierlichst geschlossenen und besiegelten Religionsverträgen angesichts des neunzehnten Jahrhunderts nimmermehr geschehen dürfen. Man hat die Freundlichkeit und Milde des guten Königs von Preußen mit Recht gelobt, aber er, der mächtigste Herrscher in Deutschland und jetzt der geborne Vertreter und Vortreter und Vorfechter der Protestanten, hätte seinem Bruder Kaiser Franz ein Halt zurufen müssen, ja ein Halte deutsches Gesetz und Recht, lieber Bruder! hätte er ihm zurufen müssen; das hat er aber nicht getan.

Von Gumbinnen ging es jetzt geradesten Weges nach Königsberg, wohin auch Schön von Stein geladen und befohlen ward, baldigst nachzukommen; den 21. Tag des Wintermonds 1813 fuhren wir dort ein in die Hauptstadt des alten Preußens Am 22. Januar, s. Erinnerungen S. 154, Anm. (D. H.) wo uns in dem stattlichen Hause der Gebrüder Nicolovius das Quartier schon bestellt und die schönsten, wärmsten Zimmer schon geheizt und die Betten gemacht waren. Der Minister wohnte bei dem Buchhändler, ich bei dem Präsidenten Nicolovius.

Hier saßen wir kaum beim Teetische, wo sich schon mehrere stattliche Männer um Stein versammelt hatten, so polterte ein Kriegsmann durch die Türe herein, fast wie wir bei unserm Frühstückstisch in Wilna von dem Kürassier Mosel begrüßt waren. Dies war ein Soldat aus meiner Heimat, ein Sohn der Insel Rügen, dessen Vater den mecklenburgischen Oberforstmeister Freiherrn von Barnekow auf Teschwitz, ich wohl gekannt hatte. Ich sage, er polterte herein, die linke Seite auf einer Krücke stützend, erzählend, er sei ein paar Meilen vor Königsberg mit seinem Schlitten umgeworfen und habe eine kaum geheilte Wunde an der Hüfte wieder aufgerissen – übrigens ein viel schönerer und reisigerer Mann als der französische Kürassier von Mosel. Bei dem Namen Barnekow ward Stein wunderfreundlich und umhalste und küßte den Niegesehenen, von dessen wundersamer Streitbarkeit und Tapferkeit in der Schlacht bei Borodino selbst die russischen Münde so voll waren, daß der Barnekow ein wahrer Glanz deutschen Ruhms im ganzen Lande geworden war.

Er war durch die ganz neue Art, mit welcher er, jetzt kaiserlich russischer Oberst, drei, vier Pulks Kosaken in die Franzosen hineingetrieben und sie selbst gegen schwere Reiter fechten gelehrt hatte, ein laut klingender deutscher Name geworden. Daher auch die zärtliche Umarmung des deutschen Steins. In seinem Mordkosakengefechte war er, von einer Kugel in der Lende getroffen und von mehreren Lanzenstichen an der Oberfläche der Haut nicht leicht getüpft, von dem Schlachtfelde aufgelesen, zuerst in des Statthalters Rostopschins Palast nach Moskau, dann weiter hinauf nach Twer gebracht, wo die Prinzessin Katharina, Kaiser Pauls edelstes Kind, damals vermählte Prinzessin von Oldenburg, später Königin von Württemberg, den Verwundeten wegen seiner bewunderten Streitbarkeit mit eignen Händen verpflegt hatte.

Dieser schöne und wilde Krieger, in einem Hause gezeugt, das, wie manche andre Häuser meiner Insel, an romantischen und tragischen Abenteuern reich war, hatte schon in der Schlacht bei Preußisch-Eylau vom Jahr 1807 als Leutnant durch seine ausgezeichnete Tapferkeit den preußischen Kriegsverdienstorden und in den österreichischen Schlachten von 1809 einen österreichischen Orden erfochten; in Rußland aber war er eben ein deutsches Kosakenwunder geworden. Wie gesagt Stein umhalste und küßte ihn freundlich, dann aber schalt er ihn tüchtig aus, er solle sich geschwind hinlegen und seine zerschossene und verrenkte Hüfte für den neuen, deutschen Kampf heilen lassen.

Als der Stürmer weg war, sagte er zu mir: »Gehen Sie morgen und schaffen den Wilden aufs Bett, daß er still liege, besorgen Sie ihm einen Chirurgus.« Dies tat ich; ich hatte einen Königsberger Freund, den Doktor Wilhelm Motherby, dieser nahm einen Chirurgus mit, und sie streckten den Wildfang auf ein Sofa und umwickelten und salbten seine Wunden und Verrenkungen so gut, daß er nach vier Wochen wieder ganz frisch auf den Füßen stand.

Ich lernte ihn erst hier kennen, obgleich er aus meiner lieben Insel war – da hatte ich ihn nimmer gesehen – kam aber durch Stein mit ihm in die allernächste Beziehung, sowie auch durch meinen lieben Motherby und durch die auf den russischen Schlachtfeldern bewiesene Außerordentlichkeit. Stein übergab mir nämlich eine bedeutende Summe, ungefähr 4000 Taler in Silber und Gold, welche eben wegen seiner Wundersamlichkeit in Moskau, Petersburg, Twer und anderswo für ihn gesammelt worden und Stein bei seiner Abreise von Petersburg war übergeben worden.

Diese schöne Summe überlieferte ich ihm, als er hergestellt war, mit der Ermahnung, sie wohl anzuwenden; worauf er: »Das wollen wir, ein paar schöne Pferde und neue Ausrüstung, das übrige im Beutel für frohes Leben.« Und was geschah? Das frohe Leben ging wohl fast sogleich mit dem meisten durch. Nach ein paar Tagen kam mein Motherby und sprach: »Weißt du was Neues? Dein Barnekow wird morgen einen Ball geben, hat alle seine alten Bekannten und alle schöne Frauen und Mädchen Königsbergs zum Tanz eingeladen.« Barnekow hatte nämlich früher bei dem Dragonerregiment Auer in Preußen gestanden und hatte auch in Königsberg alte Kunden und Kundinnen genug. Wo flogen da die russischen Dukaten hin?

Ein solcher war mein schönster Reiter Barnekow, eine Art junger Blücher. Blüchers Kindheit war ja auch in der Insel Rügen erzogen bei einer Großmuhme, einer Frau von Krakevitz (ein jetzt ausgestorbenes Geschlecht) Frau von Krakevitz auf Venz, bei der Blücher einige Jugendjahre verlebte, war seine Schwester. (D. H.). Aber nicht allein diese russische Gabe war auf meinen kühnen Reiter gefallen, sondern als er im Herbst eben dieses Jahres 1813, er und Czernischeff, den König Hieronymus aus Kassel verjagt hatten, waren viele Packwägen und auch das Silberzeug des fliehenden Königs ihre Beute geworden, und Barnekows Anteil derselben waren nicht weniger als 36 000 Rtlr. gewesen. Von diesen waren die meisten Taler auf den Spielbanken von Paris wieder in alle Welt hinausgeflogen. Der tapfre Rugier ist vor etwa zehn Jahren als preußischer General in der Landschaft Sachsen gestorben Er starb 7. März 1838 als Generalmajor in Berlin. (D. H.)

Hier in Königsberg gab es nun ein ganz neues, gewaltiges Leben der Freuden und Wonnen und auch des buntesten Getümmels, Lärms und Wirrwarrs, in dessen großen Knäul ich gottlob! nicht eingewickelt war, aber den ich stets wickeln und abrollen sah, und von dem auch mir bei Gelegenheit einige Fädchen um Stirn und Nase schwirrten auch sie zuweilen wohl etwas empfindlich streiften, denn ich ward, wie es in solchem mächtigen Wirrwarr zu geschehen pflegt von manchen in manchen Dingen, von welchen ich weder Schuld noch Wissen mit mir trug, mitschuldig und mitwissend geglaubt; sehr begreiflich, denn ich war mit dem Höchsten hergekommen und wohnte mit ihm unter einem Dache.

Ja, Königsberg gab jetzt auf seine Weise auch ein recht lebendiges Bild des Kriegslebens: wechselsweise die tapfern Regimenter des Generals Yorck in und um der Stadt, russische Generale und Offiziere, zum Teil sogar noch solche, die als preußische Gefangene oder Verwundete hierher gebracht waren und die nun, ohne daß die Lage der Dinge zwischen Rußland und Preußen erklärt und abgeklärt war, doch als bei erklärtem Frieden und Bündnis frank und frei umhergingen auch Durchführungen und Durchtreibungen unter dem Knall der Kosakenpeitschen unglücklicher einzelner Truppe französischer Gefangenen; zu diesen die meist unter lautem Jubel einziehenden scharen von Jünglingen, welche das Yorcksche Heer ergänzen und verstärken sollten; dazu die Getümmel um die mit deutschen, russischen, auch noch hin und wieder mit einzelnen französischen, kranken oder verwundeten Kriegern gefüllten Kriegslazarette, auch hier der viele Tod, doch keine so greuliche Erscheinung als in Wilna; doch wie der viele Tod mit seinen Seuchen immer den Krieg begleitet, hatte die Plage auch in der Stadt um sich gegriffen oft so schlimm, daß in den Lazaretten die Hälfte der Ärzte gestorben war. Nun war auch Stein dazu gekommen, und die Augen aller Menschen waren auf ihn gerichtet, aus allen Enden des Landes strömten die Männer herbei, teils in des eignen Herzens Angelegenheiten, teils zu dem großen von Stein veranlaßten preußischen Landtage gelockt und berufen.

Man begreift, daß dieses alles zusammengenommen die Stadt in die außerordentlichste, lebendigste Bewegung und alle Herzen in eine ungewöhnliche Teilhaftigkeit versetzt hatte. In diesem Ozean von stürmischer Bewegung und Leben schwamm ich, ein glücklicher Tropfen, so mit, allen hohe Versammlungen und dem Landtage und allen öffentlichen Festlichkeiten und Ehren- und Freudengelagen fast immer mit beiwohnend und in meinen Mußestunden mich der freundlichsten Treue und Liebe gleichgesinnter Genossen, alter und neuer Freunde in der Wonne des aufgehenden deutschen Morgenrots so jugendlich erfreuend, als wäre ich plötzlich aus meinen Vierzigen in meine Zwanzige versetzt worden.

In diesem Leben und Weben der Dinge und Menschen war Stein der Morgenstern der Hoffnung wohin alle blickten; um ihn rissen sich Freunde und Feinde – ich sage, auch Feinde; denn die Feinde kamen auch wohl heran aus Furcht und für den Schein, oft mehr als Lauscher, Späher und Berichterstatter. Der große Mann sollte nun in allem sein, bei allem sein, er konnte vor Festschmäusen und, Mittagstafeln meistens doch von seinen Getreuesten angerichtet, sich kaum retten, wich den meisten aus, weil er dafür weder Zeit noch Gesundheit übrig hatte, wo er aber erschien, war jetzt durch ein in den deutschen Grenzen gleichsam mächtiger erglühtes und erblühtes Leben in ihm die Lust der Mutigen, das Schrecken der Feigen, durch Schritt und Tritt und Blick und Rede den Kühnsten voran. Bei diesen Gastmählern wußte er auch scharf zu unterscheiden; jeder frische Hauch des Lebens, auch der frischeste Hauch des Krieges vom Feldmarschall bis zum Feldwebel hinunter schien dem Tapfern zu behagen. Ich erinnere mich eines Mittagsessens bei dem damals russischen General Tettenborn Tettenborn war damals russischer Oberst. (D. H.), ein schöner, tapfrer, weiland österreichischer Reiter jetzt ein russisches Reiterregiment und Kosaken führend, eine lustige, leichte Husarennatur, gleich leicht im Nehmen und im Geben, der sich auch gern etwas geben ließ. Ich habe in Frankfurt im Herbst 1814 bei ihm den köstlichsten Judas Ischarioth gekostet. Er hatte sich von dem Bremer Bürgermeister ein hübsches Fäßchen aus dem Judas des Bremer Ratskellers schöpfen lassen; dieses Fäßchen ward in Frankfurt leer geschöpft.

Tettenborn hatte Stein und mich zu einer großen Soldatentafel eingeladen: Russen, Preußen, selbst ein verwundeter Franzos, neben ihm ein verwundeter preußischer Major von Zastrow, von Tettenborn in einem blutigen Scharmützel zum Gefangenen gemacht, jetzt als Freund mit am Tische. An dieser Tafel sollte ein kleiner Franzosenbursch von dreizehn, vierzehn Jahren zuletzt durch Absingen fröhlicher Lieder die Schlußergötzung machen. Tettenborn hatte den Jungen aus einem französischen Marketenderkarren herausgehoben, vor welchem das Pferd und in welchem seine Mutter tot lagen, hatte den Halbtotgefrornen wieder zum Leben erwärmt und auf seinen letzten Kosakenzügen nach Königsberg mitgebracht. Hier nun sang der in bunten Kleidern mit seidenem Gürtel recht hübsch phantastisch ausstaffierte Bursch üppigste und leichtfertigste Lieder, wie sie in Lagerzelten und Hauptwachen zu ertönen pflegen. Natürlich waren sie zum Teil der allerschmutzigsten Art, und da der Junge sie mit einem solchen Ton und solchem Ausdruck der Mimik sang, als wenn er schon das volle Verständnis ihres Inhalts hätte, so ward mein edelster, deutscher Ritter böse und schalt laut: »Wahrhaftig, Sie haben uns mit Ihrem Sänger guten Geschmack zugetraut; hätten Sie den Jungen mit allen andern doch auch erfrieren lassen – das wäre ihm für seine Seele wahrlich besser gewesen; in Ihrem Gefolge bleibt und wird er doch ein Galgenstrick.« Da erwiderte der leichte Husar lächelnd: »Ich werde den Knaben auch nicht bei mir behalten, finde in Deutschland in irgend einem Dorfe wohl einen guten Pfarrer oder Küster, dem ich ihn übergeben will.«

Unter vielen solchen kleinen Dingen standen die großen Dinge und die großen Personen Rußland, Deutschland, Preußen, Kaiser Alexander, König Friedrich Wilhelm, Jorck, Stein, Hardenberg und mehrere andere bedeutende Angelegenheiten und Menschen in der Schwebung, Senkung und Hebung des Tages; es waren schwerste Knoten zu flechten und zu lösen, schwerste Fragen zu erörtern, geschwindeste Bereitungen und Rüstungen gegen Deutschland und den Westen hinaus zu machen: denn das wußte man wohl, Napoleon, welchen man hundertfünfzig Meilen Flucht durch deutsche Grenzen in einem einsamen Schlitten unbeschädigt hatte entrinnen lassen, werde daheim nicht schlummern und schlafen, der gewaltige Löwe werde seine Stimme in den deutschen Wäldern schon wieder ertönen lassen. Stein träumte, wußte, dachte Tag und Nacht nichts anderes als Erhebung und Aufstand des ganzen deutschen Volks gegen den bösesten Feind, als baldigstes Bündnis zwischen Kaiser Alexander und König Friedrich Wilhelm und dann geschwindesten Marsch über Weichsel und Oder zur Elbe und zum Rhein.

Hier in Königsberg öffnete sich nun der Anfang des künftigen deutschen Volkskriegs, hier sahen alle deutsche Hoffnungen auf die Gerüchte von Napoleons Unglück und Steins Ankunft in Preußens Grenzen, und schon waren aus Berlin, Dresden und andern Orten manche wackre, deutsche Männer und Degen mitten durch die französischen Heerhaufen hindurchgedrungen, zu schauen und zu erkunden und den Freunden jenseits im Westen zu berichten und zu erzählen.

In Preußen mußte und wollte Stein mit seiner Begeisterung die Dinge mit der Blitzgeschwindigkeit seiner Natur anfassen und treiben und fortstoßen, und zwar in einer untröstlichsten Lage. Alles lag, ging und lief hier ja, wie ich oben angedeutet habe, gegen- und durcheinander, preußische, russische Kriegsscharen, weder Freund noch Feind, durcheinander gemischt, der Befehlshaber der preußischen Scharen, General Yorck, als Verräter und Aufrührer von seinem Könige geächtet – man wußte nicht, ob bloß aus diplomatischem Schein oder aus Meinung der Tat – das Land selbst durch die Heereszüge seit dem Frühling des Jahrs 1812 von dem tückischen, welschen Feind geplündert, verwüstet, erschöpft; doch mußten, wenn der deutsche Anfang hier wirklich ein tüchtiger Anfang werden sollte, Mittel und Kräfte an Menschen und Geld gefunden werden.

Stein hatte in Gumbinnen diese Angelegenheiten mit Schön vielfältiglich verhandelt und durchgesprochen, jetzt kam es an den Hauptsitz der preußischen Regierung und an ihren Oberpräsidenten, den Landhofmeister von Auerswald, der zu gleicher Zeit Schöns Schwäher war. Dieser mußte, wenn die Dinge hier zu einer Gemeinsamkeit zwischen Rußland und Preußen kommen, wenn die Vorbereitungen und Rüstungen für gemeinsame Zwecke in gewissenhafter Ordnung begonnen und geleitet werden sollten, mit Mund und Tat voranschreiten. Stein fand nun den Oberpräsidenten nicht so geschwind und entschlossen, wie er selbst war, er schalt ihn eine alte Schlafmütze, ohne Mut und Feuer, wo doch jedes deutsche Herz brennen und jeder Nerv zucken müsse, als sei jede Fiber ein Schwert.

Auerswald war aber keine Mütze sondern ein gescheiter, tüchtiger, treuer Mann, der selbst wohl führte und regierte und nebendem noch das zufällige, glückliche Verdienst gehabt hat, mit der schönsten, geistreichsten Frau dem Vaterlande treueste, tapferste Söhne zu hinterlassen. War dem Oberpräsidenten einige zaudernde Bedenklichkeit zu verdenken und zur Feigheit mißzudeuten? Er stand nicht bloß für seine Person sondern auch für sein Vaterland auf der Spitze eines möglichen schauderhaften Abgrunds, wo das Darüberspringen oder Hineinstürzen unentschieden vor ihm lag; er wie alle Preußen hatten gleichen Schauder vor den Russen und den Franzosen; sie hatten auch die fides moscovitica und die fides alexandrina, von welcher Stein in seinem Eifer die schönsten Verkündigungen und Verheißungen machte, in dem Frieden von Tilsit genug erfahren; könne Alexander mit seinen Russen nicht wieder Eroberungen über Preußen meinen? War es ja schon eingetreten, daß ein russischer General, ein Italiener Marchese Paulucci, an der Nordspitze des Landes einrückend, in seines Kaisers Namen verkündigt hatte, er nehme von dem Lande Besitz, was Stein freilich schnell hatte widerrufen lassen; und endlich jetzt in des Oberpräsidenten Auerswald Herzen der Gedanke an den König und an den möglichen Willen und Entschluß des Königs – stand Yorck doch schon als ein nicht lockendes Beispiel königlicher Ansichten als Verräter erklärt vor ihm.

Genug, Auerswald zauderte vor Steins kühnem Ungestüm und wollte sich im Steinschen Sinn, der seinerseits von Alexanders Redlichkeit und Großherzigkeit, hinsichtlich Preußens und Deutschlands die ehrlichste, vollste Überzeugung in sich trug, nicht fortreißen lassen, er wollte seinem gewaltigen Ungestüm nicht sogleich mit Alexandrischem Glauben folgen. Das ward indessen durch die mehr vertrauten Männer und Freunde, durch den edlen, tapfern Grafen Minister Alexander Dohna und durch Schön vermittelt. Es ward ein Landtag ausgeschrieben, und im Namen ihres Königs versammelt, wollten die Stände den General Yorck zu ihrem Präsidenten wählen; er aber lehnte das weise ab, und bald stand Alexander Dohna als ihr Präsident da. Sogleich ward nun desselben Bruder, Major Graf Ludwig Dohna, an das königliche Hoflager in Breslau gesandt, den König über den Gang und Verlauf der Dinge und über die Treue und treue Meinung seines Volkes in allen Schritten und in den in der Not des Augenblicks ergriffenen Maßregeln genauen Bericht abzustatten und für alles endlich seine Gnade und Billigung zu erbitten, auch über das Heer und über Yorcks Führung und Stellung das Wahre und Mögliche darzustellen.

Diesen Yorck, der durch seine bewußte, eiserne Tapferkeit ein berühmtester Name geworden ist, hatte ich nun auch Gelegenheit, mir genauer zu betrachten: ein Mann hohen Wuchses auf runden, stämmigen. Beinen, die fest und gerad wie in einem ehernen Standbilde standen, der Leib stark, doch mehr mager, darüber ein Kopf mit scharfen, ausblitzenden Augen, die Stirn gerunzelt wie gehacktes Eisen, ein eiserner Mann, rauh wie die rauhen Küsten seines hinterpommerschen Strandes. Sein Großvater war Pfarrer an jenen kahlen Küsten gewesen, sein Vater ein armer Leutnant in Friedrichs des Großen Leibwachen, er selbst, ein armer Junker, hatte von unten auf gedient. Dies war ein echtestes Musterbild altpreußischer Schroffheit und Schneidigkeit, durch seine sicherste Tapferkeit der Mann, der selbst in seiner kalten, eisernen Festigkeit seine Krieger begeistert hatte.

Es ist unter Steins, Dohnas, Auerswalds und Yorcks Auspizien der Landtag abgehalten und das edle Land Preußen mit allen seinen letzten noch übrigen Mitteln und mit allem Mut und aller Liebe und Treue seiner Männer und Jünglinge gerüstet und bewaffnet worden. Wahrlich kein Land war gleich Preußen durch die Durchzüge der französischen Heere, durch den Raub von Geld, Kanonen, Menschen, Pferden und Rindern, fast mit berechneter Bosheit und Tücke, für den großen russischen Feldzug so mitgenommen und ausgeleert worden als Preußen, und doch – jetzt bewegte und belebte sich alles, als wenn jüngstes, vollstes Leben, ja die Fülle des Lebens und der Kraft noch dagewesen wäre. Ja, es war jene Fülle der Kraft da, die aus dem Geiste erglüht und erblüht, durch diese Kraft haben Greise wieder wie Männer gefochten und Jünglinge, ja fast Knaben von sechzehn, siebzehn Jahren ihre Säbel wie mit vollster Manneskraft geschwungen. Ich werde das Schwingen, Klingen und Ringen dieser Morgenröte deutscher Freiheit, diesen so leuchtenden Aufgang eines neuen, jungen Lebens nimmer vergessen. Ich erzähle ein wenig, ich war damals ja recht mitten darin. Die Erzählung ist aus meinem 89sten Jahre.

Zuvor noch ein Wort von und über Yorck. Der König, als alles mit Macht zum Kriege gegen die Franzosen drängte, hat sich endlich in Yorcks Schritte bei den Verhandlungen mit den russischen, geheim hin und her gehenden Boten gefunden, hat das Wort Aufrührer und Verräter ausgestrichen, aber gut gefunden hat er sie doch nimmer Aus einer Randbemerkung des Königs zu Segurs Feldzug in Rußland (abgedruckt in Pertz: Stein III, S. 308) geht hervor, daß er Yorcks Handlungsweise in vollstem Maße anerkannt und gewürdigt hat. (D. H.). Königen wird das Verzeihen schwer, wenn Männer ohne sie Entschlüsse zu fassen scheinen, auch wenn diese Entschlüsse zu ihrem Ruhm und Heil genommen sind und durch eine äußerste Notwendigkeit entschuldigt werden, wie Yorcks Verfahren und sein eigenmächtiger Abmarsch von dem Heere des französischen Marschalls Macdonald, dem er untergeordnet war. Friedrich Wilhelm hat das den General Yorck noch viel später empfinden lassen. Als in Frankreich Yorck nach vielen Schlachten und Siegen vor ihm aufmarschierte und die Soldaten zum Teil mit beschmutzten und zerrissenen Monturen und Stiefeln zur Musterung vor ihrem Herrn standen, sagte der König: Schlecht geputzt und gekleidet, und als Yorck das mit dem Winterfeldzuge und der tüchtig vollbrachten Kriegsarbeit entschuldigte und für sich und seine Tapfern eher ein Lob erwartete, fiel ihm der König ein: »Nun müssen's eben ertragen, haben's ja selbst nicht anders gewallt.«

Stein ist es bei seiner Ankunft aus Kalisch in Breslau eben nicht besser ergangen als dem General Yorck in Frankreich bei der königlichen Musterung seiner zerrissenen und durchlöcherten Krieger. Um ihn, der mit dem glühendsten Eifer für die Wiederherstellung seines alten Herrn und Deutschlands mitten im bittersten, strengsten Winter und mit Gicht und Podagra durch Eis und Schnee dahin gekommen war, hatten sich weder König noch Minister gekümmert. Er war dort von einer gefährlichen Krankheit ergriffen worden und hätte allenfalls wie ein gewöhnlicher, fremder Reisender gleichsam ungewußt und unbekannt sterben und begraben werden können. Kurz, man hatte ihn fast wie eine Pest, als fürchte man irgend eine Ansteckung durch ihn, gemieden, und die Vornehmen und Hohen hatten vielleicht gefürchtet, durch Fragen und Besuche nach und zu ihm auf irgend eine Weise verdächtig und anrüchig zu werden Der König und der Hof ignorierten ihn allerdings, doch sandte ihm die Prinzessin Wilhelm täglich Krankenspeise aus ihrer Küche, und Prinz Wilhelm und Prinz August, Blücher und Scharnhorst besuchten ihn. (Pertz: Stein III, 310.) (D. H.).

Doch hatte sich, wie einer mir erzählte, der Oberhofmeister oder Obergroßpapa (spanisch: el gran ajo del rey) des Hofes, Fürst Wittgenstein, bei Stein melden lassen, sein Bote hatte aber die Steinsche Antwort bekommen: »Der Fürst mag kommen, aber er wird mir's nicht übelnehmen, wenn ich ihn die Treppe hinunterwerfen lasse.« So die Erzählung, aber Stein hatte ihn nachher doch gesehen.

Mir hat der alte Herr in Gesprächen späterer Jahre über des Fürsten Lebenslauf und seinen Einlauf in den Sicherheitshafen des Potsdamer und Berliner Hofes folgendes erzählt, nämlich als in den Jahren 1820 Wittgenstein ein wirklich Mächtiger zu sein schien und mit dem Mecklenburger von Kamptz und ähnlichen auch wirklich ein Mächtiger war: »Es gibt Kreaturen, von jenen bösen Kreaturen, welche Gott in seiner geheimnisvollen Weisheit auch hat werden lassen, die sich gleich Vampiren und Wanzen oft bei den besten Fürsten festsaugen, und die sie zuletzt nicht abschütteln weder können noch mögen. Ich kenne ja diesen Wittgenstein Es war in den Tagen der demagogischen Umtriebe, wo er dies erzählte., ich habe ihn hin und wieder flüchtig schon in seiner Jugend gesehen. Hier haben Sie die Anfänge seiner Potsdamer Einfahrt: Er ist aus altem rheinischem Grafengeschlecht, das einst mächtig war, jetzt zum Teil sehr verschuldet und zu kleinem Hofdienst um Gunst und Gnaden bei kleinen Fürsten, die vormals nur seinesgleichen waren, heruntergekommen ist. Das Prinzchen, ein jüngerer Sohn eines verarmten Hauses, streifte, ein leichtsinniger Junge, in allen Bädern und um alle Spielhöllen der Bäder herum und verfumfeite dort und bei der Umbuhlung der Bastardtochter des Pfalzgrafen Karl Theodor, der sogenannten Äbtissin Gräfin von Bretzenheim, sein ärmliches bißchen Erbteil und saß dann, böser Dinge und eines Briefwechsels mit verdächtigen Franzosen der Pariser Jakobinerausschüsse beschuldigt, in der hessischen Festung Rheinfels (St. Goar) in gefänglicher Sicherheit. Da geschah, daß der König von Preußen Friedrich Wilhelm II. von seiner berüchtigten Beischläferin, der sogenannten Gräfin Lichtenau, in seinem Feldlager am Rhein einen Besuch erhielt. Wittgenstein in seinem Gefängnis bekam von ihrer Ankunft Wind, wehte die Günstlingin seinerseits wieder mit demütigsten Bittbriefen an, ihm durch die Gnade des Königs wieder aus dem Felsenloche an die freie Luft zu helfen. Sie half ihm heraus, nahm ihn als Beiläufer auf einer Reise nach Italien mit und führte ihn dann am Hofe zu Potsdam ein. So ist er durch eine schlechte Schürze heraus und herauf gehoben und dann mit andern ähnlichen Kreaturen allmählich weiter gekrochen. Ach, die armen Fürsten! Von wievielen solchen Würmern werden sie bekrochen! – Sie sagen, Sie haben ihn noch nicht gesehen, da haben Sie nichts verloren: ein lächelndes, freundliches, weibisches Armsündergesicht, aber listig und still gerührig, wie ein Maulwurf grübelnd und wühlend. Es ist ein Jammer, aber selbst gute Könige gewöhnen sich zuletzt an solche lächelnde Alteweibergesichter; es ist ihnen oft bequem, auch solche um sich zu haben, denen sie in übler Laune nötigenfalls einen Fußtritt geben können.«

Gewiß war Stein bei Gelegenheit ein tüchtiger Treppenherunterwerfer. Eines Tages im Jahre 1805, als er Finanzminister war, hatte er einen Obersteuereinnehmer Baron v. G. wegen Steuerbetrugs ins Gefängnis befördert; dieser hatte die Wege gefunden, herauszukommen und sich ihm mit den Worten vorgestellt: »Ich wollte mir die Freiheit nehmen, mich E. Exz. zu zeigen, S. Maj. der König haben die Gnade gehabt, mich wieder zu habilitieren.« Und Stein: »Geh Er, beschmutze Er mir nicht die Augen. Gott hat dem Könige die Macht der Begnadigung gegeben, aber kein König kann aus einem Schurken einen ehrlichen Mann machen.« Und Stein nahm den Stock und rief: »Fort! Die Treppe wieder hinunter! Ich will Ihm zeigen ...« Und jener wartete nicht sondern geschwindest aus der Stube weiter.

Stein war in den ersten Tagen des Februars von Königsberg abgereist ins kaiserliche Hauptquartier, dann nach und von Kalisch und Breslau hin und her. Es galt, Alexandern und Friedrich Wilhelm wieder zusammenzuführen und ein festes Bündnis abzuschließen. Der Aufruf an die ganze Jugend der preußischen Monarchie zur Bewaffnung fürs Vaterland war den 8. Februar schon ausgegangen, der Bruch mit Frankreich war unvermeidlich, die Kriegserklärung sollte nun bald erfolgen.

Bei diesen Fahrten zwischen Kalisch und Breslau und Sendungen hin und her war der preußische General von dem Knesebeck viel gebraucht. Weil der Charakter und die Wirksamkeit dieses Mannes oft sehr falsch und mit einseitiger Gehässigkeit dargestellt ist, weil er besonders von den sogenannten Liberalen oft als ein schlimmer, eingerosteter Ultrajunkeraristokrat geschildert ist, so soll hier zur Berichtigung und auch zur Rechtfertigung des Ehrenmannes ein Wort stehen, das Urteil gescheiter und redlicher Männer über den General, der eine Zeitlang bei seinem Könige viel gegolten hat.

Knesebeck war aber keineswegs ein von kurbrandenburgischen Junkervorurteilen tief eingerosteter Mann, umgekehrt – als junger Hauptmann und Major in den Feldzügen von 1792–95 gegen die Pariser Republikaner neigte er sich ihren Grundsätzen von Freiheit und Gleichheit zu, die aber von vielen der ersten Bekenner sehr entweiht werden sollten. Er blieb sein Leben lang ein freisinniger Mann, war überhaupt ein sehr unterrichteter und gebildeter Soldat, aber kränklich und melancholischen Temperaments, dessen bei dem Könige viel geltender Rat und Geist zuweilen von Nebeln des Trübsinns überzogen waren, so daß Scharnhorst einmal von ihm gesagt haben soll: »Weh uns! Eben ist Knesebeck bei dem Könige gewesen, er hat seine Hämorrhoiden wieder, da ist sein Mut in den H...« Er war in der Tat ein redlicher, braver Mann. Bei seinen Sendungen zum russischen Kaiser, jetzt bei der Sendung ins kaiserliche Hauptquartier hat er treue und gute Dienste geleistet Knesebeck entledigte sich seiner Aufträge keineswegs mit großem Geschick, s. Lehmann, Stein III, 248 f. (D. H.), hat über Preußens geographische und militärische Stellung zu Rußland und Polen und über Preußens künftige Grenzen viele nötigste und nützlichste Winke gegeben. Wenn man diese Winke bei den Unterhaltungen nur befolgt hätte oder bei dem hastigen Sturz und Übersturz der Dinge, wohinein später die ganze europäische diplomatische Kunst mitspielte, nur hätte befolgen können!

Die preußischen Landstände waren denn den 5. Februar des Jahres 1813 zusammengetreten. Der fromme, tapfre Graf Alexander Dohna führte sie an, ein höherer Sinn und Geist von Gottes Gnaden und Gottes Glück, welches Deutschland jetzt doch zur Auferstehung aus langer Schmach zu winken schien, beseelte und begeisterte alles. So wurden auf das geschwindeste Gelder gesammelt und Männer versammelt, 20 000 bis 30 000 Mann, Einberufene und Freiwillige, wurden gerüstet und bewaffnet, die Ordnung einer allgemeinen Volkswehr ward entworfen und verkündigt und ausgeführt.

Unsereinem waren allerlei kleine Geschäfte in Königsberg zu besorgen von Stein aufgetragen. Ich saß nun freilich nicht mit in den großen Verhandlungen und Arbeiten, aber ich saß doch sehr mit daran. Ich schrieb unter andern fliegenden Blättern und Blättchen, wie sie der geschwind fliegende Tag und das geschwind fortmarschierende Glück verlangte, in Steins Sinn und Befehl mein Büchlein: Was bedeutet Landwehr und Landsturm? und meinen Deutschen Soldatenkatechismus S. Kleine Schriften I, S. 19–76 und S. 83–99. (D. H.).

Hier muß ein kurzes Wort der Berichtigung und der Abwehrung stehen in Hinsicht auf die Berufung der Ständeversammlung und die Errichtung der Landwehr.

Nicht allein in leicht hinfliegenden und verfliegenden Tagesblättern, sondern in ernsten Büchern ist Steins Auftreten und Wirken in Königsberg von Unkundigen oder auch von Neidern und Feinden als ein russisches, ja als ein zu russisches und beinahe moskowitisches dargestellt worden. Freilich in dem bloßen Antrieb und Beruf seines deutschen Herzens konnte Stein nicht auftreten, solche Macht hatte er nicht in der Welt, da hätte er keine Ausrede wie Yorck, ja nicht einmal wie Alexander Dohna und Schön zur Mitwirkung bringen gekonnt; in dem Augenblick hatte er nur den Namen und die Macht Alexanders von Rußland hinter sich, er konnte nur in diesem Namen handeln und berufen; er handelte in vollster, sicherster Überzeugung von des Kaisers redlicher Gesinnung für die allgemeine, deutsche und russische Sache und hat sich wohl bei und vor allen Menschen in diesem Sinne ausgesprochen; er hat auch wohl bei Schwierigkeiten und Bedenklichkeiten und Einwendungen, die ihm gemacht wurden, auf der Russen Stellung und auf Alexanders Macht vor den Wankenden und Schwachen hingewiesen, auch wohl, wie seine Art war, zuweilen ein halbrussisches Drohwort herausplatzen lassen, aber nur Steins Feinde konnten meinen und die verleumdende Meinung ausbreiten, daß dieser Mann fähig gewesen wäre, zum Vorteil des russischen Kaisers nur ein deutsches Dorf oder Städtchen hinzugeben.

Doch haben seine Feinde hin und her gemunkelt, Stein sei gar nicht abgeneigt gewesen, Polen und Preußen allenfalls an Rußland zu vertun und zu verkaufen. Das muß man auch bedenken, Stein mußte, wie hier in Königsberg die Lage der Dinge war, und wie die Verhältnisse und die Personen in Preußen gemischt und verwirrt durcheinander lagen, sich größerer Ruhigkeit, Vorsicht und Gewandtheit befleißigen, als der sonst heiße und gerade Mann seiner Natur nach gewohnt war. Es waren bei fast allen Verhandlungen und Versammlungen, Gelagen und Festschmäusen russische Generale und Späher offen und versteckt immer mit dabei, es waren andere Späher da, welche die Wittgensteine, Vosse und Kalkreuthe aus Berlin und Breslau zur Belauschung und Ausforschung unter allerlei Kappen ausgesandt hatten. Ich erinnere mich mehrerer solcher Gesichter. Dies wußte Stein so gut wie andere; aber hier habe ich auch einmal seine Ruhigkeit, Mäßigung und Klugheit loben und bewundern gekonnt.

Wer hat die Landwehrerrichtung getroffen? Wer ist der erste Ausführer derselben gewesen? Denn in Preußen ist ihr Anfang gemacht. Da werden von Scharnhorst an bis auf Stein die mancherlei Namen genannt. Der Gedanke derselben war ja schon seit Jahren ein deutscher Gedanke; seit Tirols und Spaniens Erhebung, seit Österreichs freilich unvollendeter, nicht ganz glücklichen allgemeinen Bewaffnung des Jahres 1809 lagen Beispiele vor Augen. Landwehr – das Wort rief Stein mit Tausenden wackerer deutscher Männer aus, in Königsberg rief er es als eine gebotene Notwendigkeit aus.

Hierbei sind nun verschiedene Namen genannt: der Minister Dohna, der Präsident Schön, der vormals preußische Oberst Clausewitz Clausewitz hatte 1812 als Major den Abschied aus preuß. Diensten genommen und war 1813 russ. Oberstleutnant. (D. H.), noch in russischen Diensten, aber damals in Königsberg anwesend. Er und Friedrich Graf Dohna waren ja von Petersburg auch als geheime Sendeboten nach Kurland zum General Yorck für die Bewirkung seines Übertritts abgeschickt gewesen. In Preußen standen die Dinge ja jetzt in der großen Bebung, Hebung und Schwebung aller Menschen und Verhältnisse, ungefähr so, wie wann ein Vulkan zu rauchen beginnt, und man nicht weiß, ob sein verderblicher Rachen befruchtenden Staub oder verderblichen Schlamm und Gestein über die Fluren ausspeien wird – kurz wenn man von der Errichtung der Landwehr in Preußen spricht, kann man wirklich wohl mit Recht sagen: Auerswald, Alexander Dohna und Yorck standen an der Spitze und mit der Leitung und Führung aller preußischen Dinge, aber nach meinen Erfahrungen und Erkundungen wird das Endresultat sein: Graf Alexander Dohna ist dafür der allereifrigste gewesen, und Oberst Clausewitz, einer von Scharnhorsts Lieblingsschülern, hat nebst dem braven Major Grafen Ludwig Dohna die einzelnen Artikel der Landwehrordnung mit Kriegsmannseinsicht wohl vorzüglich entworfen und geordnet. Graf Ludwig Dohna, Alexanders und Friedrichs Bruder, ein teurer mir unvergeßlicher Mann, hat vor vielen andern zur ersten Gestaltung und Ausbildung der preußischen Landwehr gewirkt und gearbeitet. Er mit 15000 tapfern Wehren in Gemeinschaft mit einer ungefähr gleichen russischen Schar, die der Gemahl meiner Herzogin Antonie, der Herzog Alexander von Württemberg, befehligte, hat Danzig berennt und umzingelt, bis es durch Hunger zur Übergabe genötigt worden. Hier hat er aber so viel Not und Ärger gehabt, russischen Übermut zu dämpfen und der Ausplünderung und Verwüstung des Landes durch diese Bundsgenossen zu wehren, endlich die Russen nicht zu den Meistern und Herren des Weichselschlüssels bei seiner Übergabe werden zu lassen, daß der herrliche Mann in kräftigster Jugend für sein Vaterland ein schönstes Opfer geworden ist.

Der Graf bemerkte, daß bei der Übergabe der russische Feldherr mit seiner liederlichen, sehr zusammengeschmolzenen Schar in Alexanders Namen in die Tore wollte, er kam ihm mit seinen tapfern Landwehren zuvor und besetzte die preußische Stadt geschwindest mit seinen Preußen Die Russen besetzten nach der Kapitulation Danzigs am 2. Januar 1814 die Festung und übergaben sie erst am 2. Februar den preußischen Truppen (Max Schulze, Um Danzig 1813–14, Berlin 1903). (D. H.). Darüber so ärgerliche Auftritte mit dem russischen General, der auch seinen Prinzen und höheren Titel geltend machen wollte, daß er stracks nach dieser tapfern Tat erkrankte und am Nervenfieber starb.

Dieser Name Ludwig Graf Dohna werde nimmer von keinem tapfern Preußen vergessen. Wäre Prinz Alexander mit seinen Russen zuerst in die Festung eingerückt und hätte Besitz genommen, wer weiß, ob der Pariser und Wiener Frieden und Kongreß oder irgend ein anderer Kongreß, der nicht mit Kanonen geführt wird, sie jemals wieder daraus gebracht hätte? Danzig ist gar ein süßer, appetitlicher Weichselschlüssel und der Eingang und Schluß zur Herrschaft über Polen und Preußen.

Hier in Königsberg lebte ich nun nach einem Jahre wieder ganz deutsch – und wie deutsch frei und glücklich! – und ward durch die Freudigkeit und Lebendigkeit der Menschen mitgetragen und gehoben; hier hatte ich auch Stein ganz in seiner Naturweise zuerst einherschreiten gesehen. In Petersburg mußte der Löwe sich doch oft wie in einem Käfig gefühlt haben.

So ist einmal der große Mensch, der sogleich alles loslassen und fliegen lassen möchte; aber die menschlichen Dinge laufen nicht so, auch die Gewaltigsten müssen ihrer Zwischenläufe und Erfolge warten, müssen den Verhältnissen oft nur zu sehr folgen und gehorchen. Welche Minierarbeit hat er die ersten Monate in Petersburg getrieben! Langsam nur hat er den elenden Romanzoff bei dem Kaiser aus dem Sattel gehoben; was hat ihm dies bei der Feurigkeit seiner Natur wohl gekostet? Ich habe die innerliche Zornwühlung seines Wesens und wie die langsame Unentschlossenheit und Zauderhastigkeit des russischen Kabinettes, durch Unterhandlungen mit dem übrigen Europa wieder in Verbindung zu treten, ihn häufig mit Ungeduld zerriß, genug in unverkennbarsten Zügen und auch in seinen eignen Äußerungen gespürt.

Stein war also weiter nach Süden weg, ich mußte in Königsberg ungewöhnlich rasch und frisch sein, so viel ward von allen Seiten her von mir verlangt, so viel rissen mich nicht nur anbefohlne Aufträge und Arbeiten sondern vielmehr noch die Menschen hin und her. Noch bin ich dieser Königsberger Tage in der Erinnerung froh, ja ich könnte stolz sein, wenn ich bedenke, wie ich zehnmal und hundertmal mehr, als ich wert war, von den besten Menschen hier auf den Händen, ja nach russischer und altdeutscher Weise fast auf den Köpfen und Schultern und Schilden getragen ward. Es waren aber viele der Besten und Edelsten hier.

Zunächst hatte ich hier meine Petersburger Freunde und Kriegskameraden von der deutschen Legion, die sich jetzt herabgezogen hatte und neue Werbung und Ergänzung machte, darunter die preußischen Grafen Friedrich Jetzt Feldmarschall. und Helvetius Dohna, den Freiherrn Horst, einen Osnabrücker, Major von der Goltz und mehrere tapfre, damals alle junge Gesellen. Die Brüder Dohna alle – einer, Graf Fabian Dohna focht damals in Spanien unter Wellington gegen die Franzosen – alle Dohnas, ihr vortrefflicher Ältester, der Minister Alexander, voran, standen auf der höchsten Höhe der Zeit, und ihr Haus und die Gefreundeten und Genossen desselben bildeten in der Königsberger Gesellschaft die Blütenkrone; die eigentliche Blumenkönigin der Freude und Begeisterung war aber die herrliche Gräfin Julie, Friedrich Dohnas Gemahlin, Scharnhorsts ähnlichste und ganz von seinem Geist durchwehte Tochter, in Gestalt und Gesinnung und auch in mancher äußerlichen Art des edlen Vaters Ebenbild, schlank, blond und schön, sie mit den wirklichsten, schönen, himmelblauen Thusneldaaugen, wie man sie von einer Tochter des Harzes und der Weser aus dem Cheruskerlande her, wo Scharnhorsts elterliches Bauernhaus stand, sich so gern einbildet, und wie da schöne, blondlockige Bauerdirnen auch heute noch zu schauen sind.

Diese schöne Harztochter und ihren Vater hatte ich vor meiner Rußlandfahrt den verflossenen Frühling 1812 in Breslau und in dem schlesischen Bade Cudowa viel gesehen. Dort lebten wir in wartender Spannung und Hoffnung, jetzt war eine große Erfüllung da, und fröhlich trug die siegesglückliche, herrliche Frau jetzt ihren Erstgebornen auf dem Arm in der Freude, daß er doch wie ein Freier in deutschen Ehren aufwachsen und leben werde. Sie und die Dohnas zogen mich nun in ihre Kreise, bei ihnen und ihren Gefreundeten, z. B. bei dem mit einer Dohna verheirateten Kanzler Preußens, Freiherrn Schrötter, verlebte ich manchen glücklichen Abend; bei ihnen versammelte sich gleichsam der höhere Geist der Hauptstadt, auch von den Genossen der Hochschule alles, was frischeren Mut in der Brust hatte.

Hier ging auch Schön viel aus und ein, und hier lernte ich auch zwei Männer kennen, welche später in Bonn meine Amtsgenossen werden sollten, nämlich Hüllmann und Delbrück und den seit Herders und Kants Königsberger Tagen berühmten Kriegsrat Scheffner, den schönen, schon schneeweißen Greis, welcher damals in keiner guten, begeisterten Gesellschaft fehlen durfte. Außer diesen war mein alter Freund Motherby da und die beiden Brüder Nicolovii, welche auch ein lebendiges Haus machten. Es war auch wohl seit Jahrhunderten kein lebendigeres Leben in Königsberg gewesen als in den ersten Monaten dieses Jahrs 1813. –

Bei den Nicolovii sah ich zuerst die in Weimar ausgeheckte, deutsche Schmeißfliege Kotzebue, die dort mit ihrer alles beflatternden und beschmutzenden Beweglichkeit Schillern und Goethen einst genug Unruhe und Ärger bereitet hat. Ich hatte mir diese berühmte Kreatur gar anders vorgestellt, als ich ihn erblickte. Nach seinem Durchlaufe und Lebenslaufe durch die Russen, der sich sogar einmal bis nach Sibirien hin hatte verlaufen wollen, hatte ich mir in äußerer Erscheinung und Gebärdung einen gewandteren, höfischeren, ja etwas kavalierischen Mann gedacht, und ich fand in der Erscheinung etwas von einem Lumpentrödler und Altflicker, einen länglichen, vornüber gebückten Mann mit freundlicher, halb zutraulicher, lauschiger Gebärde; ja wie ein rechter Lurifax sah der Mann aus, so blinzelten seine Augen ringsumher, als ob er jedem etwas abhorchen und aus ihm herausholen wollte. Er hatte sich, als die Russen nach Deutschland vordringen sollten, sogleich an Wittgenstein gehängt, um als Bulletinschreiber dessen Großtaten und die Anrufungen, Ausrufungen und Verkündigungen deutscher Freiheit auf dessen Heerzügen zu verfassen.

Er hat auch ein halbes Jahr solche Bulletins geschrieben in seiner das Größte und Edelste entweihenden oberflächlichen und immer unzeitig und unverschämt witzelnden und dann wieder weibisch empfindelnden Manier, und wo er sich auf früheres Leben und Vorgeschichte der Völker und ihrer Begebenheiten und Entwickelungen berief oder hinwies, mit solcher Oberflächlichkeit und Unwissenheit, daß man sich dieses Deutschen deutsch schämen mußte; so rief er zum Beispiel die meißnischen Sachsen oder die guten sogenannten Kursachsen, welche durch die traurige Politik ihres Königs leider noch gefesselt gehalten wurden, daß sie ihren braven deutschen Mut nicht zeigen konnten, das heißt die ganz zufälligen Namenssachsen, durch den Namen Sachsen eben verführt, in Namen ihres weiland Wittekind auf, wie er weiland gegen Karl den Großen gestanden, so gegen den, welcher der Karl der Große der Gegenwart sein wolle, mit gleichem Mut aufzustehen und zu stehen. Diese Unwissenheit und die elenden, leeren Anspielungen und leichtfertigen Witzeleien, welche dieser deutsche Mistkäfer auf den großen und heiligen Ernst der Gegenwart spritzte, empörte uns alle, keinen aber mehr als Niebuhrs zartfühlendes deutsches Herz.

Um solcher Elendigkeit zu wehren und über Großes und Hohes groß und hoch sprechen und erzählen zu können, hat er sogleich mit seinem Freunde, dem Buchhändler Georg Reimer in Berlin, ein Deutsches Tagesblatt begonnen, welches, da er durch andere höhere politische Berufungen von der Oberleitung desselben entfernt ward, etwa anderthalb Jahre durch die verschiedensten Wechsel und Hände gegangen ist; auch unsereiner hat zuweilen seinen kleinen Beitrag dazu geliefert Niebuhrs Zeitschrift war »Der preußische Korrespondent«, Kotzebues Zeitschrift, »Russisch-Deutsche Blätter« betitelt. (D. H.).

Bei meinem Freunde Motherby verlebte ich ähnliche aber viel jugendlichere, rauschigere Abende als bei den Dohnas und Schrötters. Dies war ein edles, freies Bürgerhaus, beide ein vom englischen und Kantischen Geist durchwehtes Haus. Motherbys Vater war ein geborner Engländer aus Hull gewesen, Kaufmann in Königsberg, wie sein Freund, der Schotte Hay, Freund und Tischgenoß Kants. Von dem Geist jenes Lebens hatten die Söhne des Huller Motherbys etwas abbekommen. Das Motherbysche Haus war gleichsam das Kasino, das Versammlungshaus der feurigen, kriegslustigen Jugend, die sich mit Herz, Faust und Degen rüstete und für den nahen, großen Kampf einübte. O hier waren prächtige Jungen!

Die Namen vieler wackern Jünglinge stehen noch mit hellesten, goldensten Buchstaben auf der schon sehr gebleichten und bemoosten Tafel meines alten Gedächtnisses geschrieben: Friccius, Freiherr Hoverbeck, von Fahrenheit, von Bardeleben und viele andre Vortreffliche, die aus den blutigen Schlachten nimmer die Heimat wiedergesehen haben sondern in fremder Erde begraben sind; unter diesen letzten ein Bruder Motherbys Regierungsrat in Gumbinnen und Hauptmann in der preußischen Landwehr, der beim Sturm auf Leipzig auf der erkletterten Mauer, den Seinigen ein Vorstürmer, von einer tödlichen Kugel getroffen ist.

Von diesen wackern Jünglingen sind Friccius und Fahrenheit mir dreißig, vierzig Jahre später treueste Freunde und Genossen geblieben und haben mich zuweilen noch in meiner Hütte am Rhein besucht. Fahrenheit war einer der reichsten preußischen Schloßbesitzer, ist nebst seinem Freunde, dem Oberpräsidenten von Schön, für manche schöne Stiftungen und Gründungen in Preußen ein treuer Arbeiter und Helfer gewesen. Friccius, ein Altmärker, unweit Stendals gebürtig, in Königsberg als ein junger Sachwalt lebend, verließ sein schönes, jugendliches Weib und ein zartes Kind und zog als Offizier der Landwehr mit gegen Westen, focht alle blutigsten Schlachten, der Dennewitz, Leipzig, Laon usw. mit, führte als Oberst im zweiten Jahr schon ein Bataillon und hat die Taten seiner tapfern Kameraden in schönen Büchern beschrieben schaut nun auch schon seit zwei Jahren gewiß von einem besseren Stern auf uns und unsern kleinen Erdball herab.

Das waren Tage ja das waren herrliche Tage! Die junge Lebens- und Ehrenhoffnung sang und klang durch alle Herzen, sie klang und sang auf allen Gassen und tönte begeistert von Kanzel und Katheder. Der Bücherstaub der Gelehrsamkeit ward von dem Sturmwind des Tages abgeweht, und der goldne Blütenstaub des fröhlichen Maientags der Hoffnung und des Mutes fiel auf die Stirnen, die jener sonst umgraut hatte; auch die Kältesten wurden warm, auch die Steifsten wurden gelenkig, sie glühten und zitterten in der allgemeinen Bewegung mit fort.

Ich erzähle eine prächtige Szene: Professor Delbrück hatte mich zu einem feierlichen actus des Gymnasiums geladen, dessen Scholarch er war. Alle Primaner wollten ins Feld und gingen ins Feld, die meisten traten in ein Reiterregiment, welches Oberst Graf Lehndorf aus eitel Freiwilligen errichten wollte, die Pferd und Rüstung aus eignen Mitteln schaffen konnten. Ich litt auch sogleich durch diesen Patriotismus: mein schöner Helfer und Ausrichter, der Bediente meines Wirts, des Präsidenten Nicolovius, ward auch von dem kühnsten Mut fürs Vaterland ergriffen, er mußte sich die Mittel zur Anschaffung von Roß und Rüstung bei Gönnern sammeln, ich trug auch fünfzehn Taler bei. Ich habe den braven Jungen später in Berlin wiedergesehen als Wachtmeister mit schönsten Ehrenzeichen auf der Brust.

Der von Delbrück geordnete actus im Gymnasium war der allerfeierlichste, Klopstockische Oden, Gleimsche Lieder, die Hermannsschlacht und andres dergleichen überaussiges Deutsches und Preußisches wurden von den Schülern hergesagt; noch erinnert's mich, wie der Klopstockische Vers

»Ha! dort kommt er mit Schweiß, mit Römerblute,
Mit dem Staube der Schlacht bedeckt; so schön war
Hermann niemals, so hat's ihm
Nimmer vom Auge geflammt.«

in der Kehle eines Jünglings halb zerbrochen stecken blieb, und wie der bei solchen Gelegenheiten immer und damals doppelt deutsch begeisterte Delbrück den Vers nun selbst über seine Lippen mit solcher erschütternden Bewegung herausspringen ließ, daß alle Zuhörer miterschüttert in laute Jubeltöne ausbrachen.

An diesem erwähnten Reiterregiment preußischer Freiwilligen, welches in wenigen Wochen mit Männern und Waffen auf das prächtigste gerüstet dastand, und an seiner Fertigung habe ich zufällig mit arbeiten gemußt, indem der Graf Lehndorf den für diesen Zweck an seine lieben Landsleute gerichteten Aufruf mir zur Durchsicht und Begutachtung vorlegte. Ich habe aus demselben mehr etwas zuvieles Feuer ausgelöscht als von dem meinigen hinzugetan. Der Graf hat sein prächtiges Regiment mit großen Ehren durch viele Schlachten geführt aber die wenigsten seiner tapfern Jünglinge wieder zu Hause gebracht; sein persischer Prüfungskorb würde bei der Heimkehr des Regiments sehr leer Die Lanzen der goldenen Leibwache der Perserkönige wurden aus großen Körben gezogen. Bei der Heimkehr aus dem Felde als Tapferkeitszeichen wurden sie wieder eingesteckt. gestanden haben. Er ist mein Freund geblieben; ich habe ihn zehn, fünfzehn Jahre später, wo er in Köln als General einen Befehl hatte, öfter in meinem Hause wiedergesehen.

Hier sprang jetzt aus dieser allgemeinen Begeisterung, die mit dem ganzen Volke in den Kampf gehen wollte, auch mein sogenanntes Deutsches Vaterlandslied hervor, das im lieben Deutschland noch in späteren Jahren gesungen ist und endlich wohl mit andern Tagesliedern zu seiner Zeit auch verklingen wird. Möchten wir in dem Augenblicke, worin wir eben leben, seinen Wünschen doch näher sein, als wir sind!

Ich habe die Menschen und Kreise genannt, mit welchen und in welchen ich hier in diesen jauchzenden und triumphierenden Tagen so glücklich mit oben schwamm. Unter diesen war eine der merkwürdigen Erscheinungen der Geheime Kriegsrat Scheffner, wie ein Königsberger Orakel geehrt, noch ein übriger aus jener berühmten Schar der Königsberger Geister, der Herder, Hamann, Kant, Hippel, jetzt schon hoch in den Siebenzigen, mit schneeweißen Locken, seinen schlanken, hohen Leib noch gerade tragend, und durch Lebendigkeit und Witz Königsbergs Lust und Ehre; ja, geistreich und witzig, sprudelnd und sprühend von geistreichen Spielen und Einfällen war der liebenswürdige Greis. Er war eine Ruine aus dem Siebenjährigen Kriege und Gesell und Kampfgenoß von drei Namen, die in Preußens Kriegsgeschichte berühmt geworden sind. Hier ein Wörtchen über die drei:

Als der Siebenjährige Krieg begann, standen vier reisige Jünglinge und Kameraden in den Listen der Hochschule Halle eingeschrieben. Da gerieten sie einen guten Abend bei einem Kommers in das Gespräch von der Not, daß sie als Kantonisten wahrscheinlich bald gefaßt und eingekleidet werden würden, und endigten mit dem Entschluß, lieber sogleich als Freiwillige in ein berühmtes Husarenregiment einzutreten. Ich weiß nicht, wie hohen Grad Scheffner da als Offizier gewonnen hat, später hat er in Königsberg bei der Kriegs- und Domänenkammer als Kriegsrat gestanden; aber die andern drei hallischen Studenten – sie hießen l'Estocq, Neumann und Günther – haben es mit hohen, verdienten Ehren alle drei bis zum Range des Generals gebracht. Neumann ist, als in Schlesien viele sich matt und feig gezeigt hatten, durch die tapfre Verteidigung Kosels berühmt geworden; l'Estocq, auch durch seinen schlichten, graden Charakter als ein Biedermann gepriesen, hat nach dem ersten preußischen Sturz in der Schlacht bei Preußisch-Eylau den alten Heldenruhm des Volkes wieder aufgerichtet und ist als Feldmarschall gestorben; Günther stand zuletzt als kommandierender General in Preußen, ist durch seine wissenschaftlichen Kriegs- und Geschichtskenntnisse gleichsam ein Vor-Scharnhorst gewesen und hat manche tüchtige Jünglinge, unter andern auch Boyen (spätern Kriegsminister), zu tapfern Kriegern ausgebildet Diese Erzählung enthält mehrere Unrichtigkeiten. Nur Günther studierte 1757 in Halle und war vermutlich mit den drei Königsbergern Scheffner, L'Estocq und Neumann nicht bekannt. Er trat zunächst in das Kommissariat ein und bald darauf in das Freibataillon von Angellely. L'Estocq, der ebenso wie Scheffner in Königsberg Rechtswissenschaft studiert hatte, begann seine militärische Laufbahn im Winter 1757–58 bei den Zieten-Husaren, Scheffner und Neumann traten erst 1759 in das preuß. Heer ein. (D. H.).

Scheffner war ein Ehrenmann, von den Matten und Feigen wegen seines Witzes gefürchtet. Er gehörte zu den geistreichen Menschen, die darin einem echten Kieselstein gleich sind, daß sie nur durch Draufschlagen Feuer geben. Er hat in Prosa und Versen einiges geschrieben, das ist aber seinen unmittelbaren Erzeugungen, die in der lebendigen Gesellschaft aus ihm hervorsprudelten, nimmer vergleichlich geworden sondern viel zu künstlich gemacht und antithetisch, solchen Witzen gleich, welche man französische oder jüdische Witze zu nennen pflegt.

Der Alte hatte eine Lebensbeschreibung eigner Hand hinterlassen und sie den Besorgern seines letzten Willens, den Professoren Hüllmann und Delbrück, zur Herausgabe nach seinem Tode übergeben. Diese hatten sie auch wirklich abdrucken lassen; ich habe diesen Abdruck, den man einen Abdruck avant la lettre nennen konnte, durch Hüllmanns Mitteilung in Bonn in der Hand gehabt und die interessantesten ergötzlichsten Kapitel desselben mit großem Vergnügen durchgelaufen. Es waren viele prächtige, köstlichste Sachen und Schilderungen darin, mit schärfsten Blicken gefaßt, und die Verhältnisse und darin auftretenden und spielenden Personen mit freiester Lust und Witz geschildert.

Vor allem ergötzten mich die Schilderungen, als der unglückliche Hof, bis an die äußerste Grenze nach Memel verlegt, nun endlich wieder in Königsberg von König und Königin gehalten ward. Da wurden die verschiedenen Bilder nach dem Leben gezeigt, Minister und General und Korporal, wie sie die Höfe umschweben und umflattern, und auch die Abendunterhaltungen an dem Teetische und in dem Lesekabinette der Königin Luise, wie der witzige und geistreiche Schwede Brinckmann, Legationssekretär des schwedischen Gesandten Grafen Ehrenström in Berlin, dort den patriotischesten Deutschen und Preußen spielte und der Königin vorlas und vorplapperte der Schelm, den ich wohl gekannt habe, der in Schwedens und Preußens Angelegenheiten daheim durchaus eine französische Rolle gespielt hat, wie auch Hüllmann, Delbrück und Süvern zur Wiederbelebung des gesunkenen Geistes damals öffentliche Vorlesungen hielten und auch zur Unterweisung des Kronprinzen, unsers jetzigen Königs Friedrich Wilhelm IV. (D. H.), verwandt wurden. Alles auf das lebendigste und lustigste mit den frischesten, hellsten Farben geschildert; aber, aber – dieses hübsche Buch hat das Schicksal sovieler Bücher gehabt, die nach dem Tode ihrer Verfasser gedruckt werden sollen. Die deutschen und universitätischen und professorischen Zustände waren seit Kotzebue, Sand und den Karlsbader Beschlüssen trüber und mißlicher geworden, da hat denn auch unsre beiden Professoren bedenkliche Furcht ergriffen, sie haben das fertige Buch, einstampfen lassen und ein verstümmeltes, verschnittenes Leben Scheffners herausgegeben, das sich noch ganz leidlich lesen läßt, woraus aber das frischeste, schärfste Scheffnersche Salz herausgelangt ist Scheffners Autobiographie wurde noch zu seinen Lebzeiten gedruckt, der erste Teil in Leipzig, der zweite meiner »preßfreieren Stadt«, in Rudolstadt, und zwar sind in einem Anhang zum zweiten Teil die von dem Leipziger Zensor gestrichenen Stellen mit Ausnahme von zweien wiederhergestellt. Veröffentlicht wurde das Buch erst 1823 nach Scheffners Tod. Reicke bezweifelt aber wohl mit Recht (»Altpreußische Monatsschrift«, Bd. 1, Königsb. 1864), daß die ursprüngliche Lebensbeschreibung Scheffners eingestampft sei. (D. H.).

So dieser wackre alte Preuße. Ich hatte mich unter diesen Preußen ein paar Monate sehr angenehm festgelebt und eingelebt. Ich fand sie sehr anders, als ihre westlichen und östlichen Nachbarn, die Pommern und die Kurländer; von den südlichen Nachbarn, den Polen, schienen sie gottlob! wenig angenommen haben.

Die Kurländer sind größtenteils mit ihnen aus demselben Stoffe aber in ein paar Jahrhunderten doch sehr von der leichten, dünnen Luft des benachbarten Polens durchweht. Die Preußen sind gottlob! unter deutscher Herrschaft geblieben, sie waren von Anfang an der größere Stammleib des deutschen Ritterstaats in diesem deutschen Osten, mit der von Ottokar von Böhmen gegründeten Hauptstadt und mit den größten und glänzendsten Residenzen, Burgen und Schlössern des Ordens. Sie sind offenbar sich selbst und dem ursprünglichen Wesen viel gleicher geblieben als die Kurländer und Livländer, haben auch von den großen Heldenkurfürsten und Königen hohenzollerischen Stammes nichts Gemeines und Niedriges leiden und erben gekonnt.

Sie machten mir, als ich einige Wochen unter ihnen gelebt hatte, einen gar eigentümlichen Eindruck; in manchen Köpfen alter Edelleute und ehrenwerter Bürger, in einer gewissen, ruhigen, sicheren Haltung der Köpfe, in einigen über die Gesichter hinschwebenden, wie in stiller Betrachtung und Schauung begriffenen, halb lächelnden, halb ironischen Zügen glaubte ich manche bekannte Köpfe Stockholms und Schwedens wieder zu sehen: ein zugleich sehr ruhiger und stiller und doch sehr fester und scharfer Ausdruck. Dies mochte in den Gesichtern zum Teil wohl der Ausdruck des Nordens sein, welcher hier doch schon mehr ein Norden ist, als er bei den Leuten in Lübeck, Rostock und Stralsund heißen kann. Dies maß zum Teil allerdings wohl klimatisch sein, aber größtenteils verdanken sie diesen Ausdruck einer fest und gerad vor sich hinschauenden und stillen Mannlichkeit, der mir hier so sehr auffiel und gefiel, wohl der großen Geschichte ihres Ordens. Sie geben gleichsam den Anblick eines Mannes, der mit dem Bewußtsein vieler tüchtig bestandener Kämpfe auftritt. Das Gepräge großer Taten und Leiden dieses Ordens hat viel Ritterliches, Festes und Selbstbewußtes den Enkeln und Urenkeln als einen schönen Nachlaß hinterlassen müssen.

Sie haben eine große, herrliche Geschichte gehabt, Bürger und Edelmann ist mit dem Gefühl dieser Geschichte aufgewachsen, der Enkel hat von einem Stolz und einer Ritterlichkeit der Gesinnung als Erbschaft der Ahnen noch ein hübsches Stück übrig. Es hatte sich nun in dem letzten Halbjahrhundert so gefügt, daß diese Preußen, diese echten, rechten Preußen, bei den meisten westlichen Deutschen fast wie vergessen da zu liegen schienen, auch deswegen wohl, weil der große König Friedrich II. sie wenig gerechnet und hervorgehoben zu haben schien. Während seines letzten großen Kampfes gegen Maria Theresia und die halbe europäische Welt, während des Siebenjährigen Krieges, lag Preußen dem großen Kriegsschauplatz fern und war fast immer von den Russen durchzogen und überzogen; es schien daher für die Rettung des Staates weniger gewagt und getan zu haben als andre Landschaften und ward deswegen mit einer gewissen Gleichgültigkeit von ihm angesehen und behandelt, obgleich er in seinem schlechten Latein das alte Pruscia in Borussia verwandelt und ausgestempelt hatte.

Jetzt nun sollten diese Preußen Gelegenheit bekommen, zu zeigen, wes Geistes und welcher Art sie sind. Daß sie hoher geistiger Art sind, haben sie durch Herder, Hamann, Kant, Simon Dach und andere genug gezeigt. Friedrich hat durch Worte und Taten in seinem Testament und in Vermächtnissen ihnen die Pommern und Brandenburger weit vorgezogen. Hätte er dazu ein Recht gehabt, sie haben in allen Schlachten, mit Dennewitz und Leipzig anzufangen und mit Laon und Waterloo aufzuhören, sich als die Treuesten und Tapfersten erwiesen. Ja ein gewisser Stolz der Mannlichkeit und Geradheit, eine eigentümliche Freisinnigkeit in Antlitz und Rede und in Schritt und Tritt ausgeprägt, tritt einem hier fest entgegen. Auch in unsrer jüngsten Zeit in Frankfurt und in der Volkskammer in Berlin treten uns die eigentlich preußischen Namen als Männer entgegen, welche die Zeit begriffen haben, während es in manchen pommerschen und brandenburgischen Köpfen noch von so dicken Nebeln dunkelt, als wolle ein bißchen mittelalterliche Finsternis wieder in unser neunzehntes Jahrhundert hereinbrechen. Ich will keine Namen nennen, weil ich durch Gegeneinanderstellung von Namen kein Sonderneid erregen will.

Ja die Deutschheit hat in diesen sumpfreichen und waldreichen Nordrevieren zwischen Weichsel und Niemen recht feste, tiefe Wurzeln getrieben, und die Stämme, welche von ihnen gehalten und genährt werden, stehen stolz und gerad in den Stürmen des Tages. Das kann man in Wahrheit sagen, daß diese Wurzeln so fest stehen, daß der Mensch und das Land in Liebe und Treue so ineinander verwachsen sind, daß der in Preußen geborne Mensch sein Land, sein rauhes und in mancher Hinsicht unschönes und unromantisches Land, mit unendlicher Liebe festhält und lobt und preist. Sein edles, durch und durch deutsches Blut, wie ist es in den langen Kämpfen der tapfern Väter hier geflossen! Wie teuer ist dieses Land durch das Schwert gewonnen und behauptet worden!

Wirklich ist Preußen seiner Liebe eine Art Paradies geworden, in welchem alles fast in der ersten Unschuld der Liebe erblickt wird. Was auf diesem Boden wächst und blüht, der Mensch und das Tier, das Roß und der Ochs, der Weizen und der Apfel – alles wird von ihm schöner, stärker, voller, süßer gesehen und gepriesen, als was andre deutsche Länder tragen und erziehen. In der Tat, seine Heimat ist ihm das Land des Paradieses; hat ja auch ein vormaliger Doktor der Theologie, namens Hasse, in seiner Erklärung des ersten Buches Mosis um Königsberg in der Pregel und in den in die Pregel hineinfallenden Flüssen und Bächen die fünf Ströme gefunden, die das Paradies umfließen Hasse, Preußens Ansprüche als Bernsteinland das Paradies der Alten und Urland der Menschheit gewesen zu sein. (Königsberg 1799). (D. H.). Wie oft habe ich über dieses Kapitel des Paradieseslandes mit meinen Freunden Motherby und Schenkendorf streiten und doch über ihren preußischen Patriotismus mich freuen gemußt! Glücklich, wenn in allen Landen deutscher Zunge die Heimat von solchen Herzen geliebt, von solchen Köpfen und Fäusten verteidigt und verherrlicht würde!

Endlich gegen Ende des Monats März bin ich, auf schlechtesten Straßen schon durch Hinderungen und Überschwemmungen der Frühlingswasser über die Weichsel gekommen, habe des Kriegs wegen große Umschweife der Straßen machen müssen und habe das durch Kopernick und das Jesuitenmordgemetzel berühmte Thorn nur aus der Ferne geschaut. Es war noch von Polen und Franzosen besetzt, und unsre belagernden Krieger donnerten eben recht frisch, als mich im schnöden Regen- und Schlackenwetter auf dreckigen, ausgefahrnen Wegen vier magre Pferde, von polnischen Postillionen getrieben, mit meinem leichten Wagen nur langsam weiter gegen Süden fortschleppten.

In Kalisch fand ich meinen Herrn Minister wieder, weilte dort zwei Tage und fuhr durch polnischen Dreck und mit polnischen Postillionen des Weges gen Breslau. An der polnischschlesischen Grenze hätte mich trotz alles meines Rufens der polnische Postillion um ein Haar mit dem Wagen zusammenstoßen lassen, worin der König von Preußen eben zum Besuch des Kaisers Alexander nach Kalisch fuhr. Welch ein Abenteuer, wenn ich armer Plebejer so mit dem königlichen Wagen zusammengestoßen und mit meinem leichten Wägelchen seitwärts geschleudert wäre! Kaum entging ich solchem auf jeden Fall für mich gefährlichen Zusammenstoß. So, selbst nicht durch Sturz und Fall, darf man keine königliche Aufmerksamkeit erregen. Ich hatte schon aus der Ferne dem Wagen voranfliegende Reiter und auf dem Vorderwagen Hüte mit Federbüschen gesehen und sogleich auf einen Prinzen oder Generalissimus gedacht und meinem Polacken mit lautester Stimme Halt! Halt! zugeschrien, aber der Kerl hatte nichtsdestoweniger geradesten Weg gehalten und nur desto mächtiger drein gepeitscht, wahrscheinlich aus polnischer Tücke, daß er einen Deutschen fuhr; glücklicherweise aber strich mein Wägelchen, ohne gefaßt zu werden, an dem Majestätswagen ohne Anstoß vorbei.

In den ersten Apriltagen des Jahres 1813 fuhr ich in Breslau ein – o mit welch einem andern Herzen und anderer Hoffnung als am Ende des Winters von 1812 von Berlin einfahrend. Ich konnte mit Recht über die schöne Wratislavia rufen: Eheu! quantum mutata ab illa, quam anno praeterito conspexi! Zwei Tage später traf auch der Minister von Kalisch hier ein Arndt traf am 3. April in Breslau ein, Stein am 7. April. (D. H.). Ich fand und sah hier meine alten Freunde des vorigen Frühlings: Manso, Mittelstedt Gemeint ist Wohl der Theolog Heinrich Middeldorf. (D. H.), Gaß, Steffens. Bei Steffens sah ich seine Verwandten, den Kapellmeister Reichardt und die beiden Professoren Gebrüder von Raumer. Von Steffens ward ich sogleich auf einen mächtigen Ball mitgerissen, wo sich der Glanz und die Blüte der Stadt und eine Unendlichkeit von Uniformen und besternten Brüsten eingefunden hatten. Was für eine edle, glänzende Ritterschaft war bei der allgemeinen Bewegung versammelt!

Ich ward da von einigen als ein alter Bekannter, von andern als ein Steinscher Begleiter mit Freuden und Ehren und wie zum Eingange als mit dem glücklichsten Wahrzeichen von einer hübschen Jungfrau mit dem allerherzhaftesten, herzigsten Kusse begrüßt. Wirklich umhalste mich ein hübsches Mädchen, das ich nimmer gesehen, des königlichen Leibarztes Hufeland älteste Tochter, vor allem Volke mit einem fröhlichen, deutschen Willkommskuß. Solche Küsse konnten einem damals wohl durch Mark und Bein gehen. Es war gewiß ein Freuden- und Ehrenkuß aus vollem Herzen.

Doch haben an dieser schönen Dirne die deutschen Professoren weder Glück noch Freude erlebt; sie hat sich einem wallachisch-russischen Bojaren, einige Jahre nach diesem Kusse vermählt, jenem Sturdza, der alle deutschen Hochschulen und Professoren gleichsam des Hochverrats gegen Gott und gegen alle Kaiser und Könige angeklagt Durch sein »Mémoire sur l'état actuel de l'Allemagne«. (Paris 1818.) (D. H.) und mit dem Lärmschreier Kotzebue die Sandsche Mordgeschichte mit vielen schlimmsten unvergeßlichen et ceteras mit erregt hat.

So schlägt die wundersame Verknüpfung der menschlichen Dinge und Schicksale die einzelnen Fäden der Spinner und Weber oft auf das seltsamste durcheinander. Aber wir fragen immer: Wer ist der rechte Spinner, Weber, Knüpfer und Löser? Keiner weiß es, darum rufen wir immer und ewig in alle Ewigkeit hinein: Hoffe und glaube!

Hier in Breslau fand ich auch manchen lieben Berliner schon im Kriegsrock, auch mehrere Lützower in demselben Gasthofe, wo ich eingekehrt war, noch viel mehrere derselben zu Fuß und zu Pferde auf der Straße, die nach Dresden führt. Es war der sechste oder siebente April Es wird einige Tage später gewesen sein. Am 6. April schreibt Arndt noch aus Breslau an Reimer: »Ich bin seit drei Tagen hier, bleibe wohl nicht lange,« am 13. April schreibt er aus Dresden an Quistorp: »Ich bin seit vier Tagen hier.« (D. H.), als ich auf dieser Straße fuhr. Da erschien mir Gott der Herr, dessen Liebe und Gnade den kleinen Nachen meines Lebens bisher ziemlich glücklich durch manche Strudel und über manche Klippen und Untiefen hin hatte fortschießen lassen, mit einem Zeichen, das auch den Leichtsinnigsten mit feinen und frommen Gedanken und Erinnerungen hätte durchblitzen müssen.

Es war eine kalte Frühlingsnacht, ich in meinem flauschigen Mantel gehüllt war eingeschlafen – und horch! ich sollte plötzlich durch helle Trompetentöne aufgeweckt werden. Der Tag brach eben an, ich war eine halbe Stunde von Liegnitz, dessen Türme ich im Morgenglanze vor mir schimmern sah. Woher kamen die Trompetentöne? Es zog ein preußisches Reiterregiment mit fliegenden Fahnen die Straße, und mein Postillion mußte ausbeugen, auch eine Weile stillhalten. Es war in einem etwas durchlauchtigen, dünnbestandenen Walde, einzelne Fichten mit bereiften Köpfen fast in den Weg hinüberhangend. Da stieg vor meinen geöffneten Augen sogleich wieder eine Erinnerung auf, es war mir, als erblickte ich in einigen Steinsäulen und ein Paar himmelhohen, halbverwitterten Tannen alte Bekannte. Ja es fuhr mir die Erinnerung wie ein Blitz durch die Seele: wir fuhren durch dieselben kahlen Tannenbäume hin, wodurch ich vor einem Jahre im Wagen meines Grafen Chasot nach Breslau fuhr. Da war es, gerade in diesem Walde zwischen diesen Tannen war es, wo ich vor einem Jahre ähnliche Trompetentöne gehört hatte, aber Trompetenstöße widerlichster Art. Jetzt waren es Preußen, die für Hoffnung und Sieg aufbliesen, den vorigen Frühling aber einige Schwadronen sächsischer und polnischer Reiter, die für Napoleon gegen Osten marschierten.

Mit solchen Klängen und mit ganz anderen fröhlicheren Gefühlen als damals fuhr ich früh morgens in Liegnitz ein, weckte eine mir befreundete Familie, die des Regierungsrates Benda, genoß bei ihnen ein reichliches Frühstück und erzählte von Rußland, woher ich Grüße von einem Vetter der Benda brachte, einem Leutnant von Mühlenfels, Offizier bei der deutschen Legion; sie bezahlte diese Grüße mit Erzählungen aus meiner Insel Rügen, unsrer gemeinsamen Heimat, wo sie jüngst gewesen war. Von Liegnitz ging es auf Postflügeln, freilich nicht flügelgeschwind, weil Kriegsmärsche die Landstraßen verderben, bis Dresden hin.

Hier erschien nun auch bald mein Herr Minister Stein war bereits seit dem 6. April in Dresden. (Lehmann, Stein III, 280, Anm. 1.) (D. H.). Ich ward hinfort gleich andern Kriegszüglern und Offizieren ordentlich einquartiert; ich nahm mein Quartier bei dem Appellationsrat Körner, dessen Haus mir schon von den Lützowern empfohlen war, unter denen Körners Sohn als Kamerad diente. Dies ward uns beiden, Körnern und mir, eine willkommene Einquartierung; ich wohnte bei würdigen, deutschgesinntesten Menschen, und sie wurden über einen Monat von wilder, soldatischer und auch kostbarer Einlagerung befreit. Ich habe dort immer morgens nur ein paar Tassen Tee getrunken und bin die Mittage und Abende gewöhnlich an der Steinschen Tafel oder in einem Gasthause gewesen.

Wenn keine andere Tafel, war hier doch immer eine wohlbesetzte geistige Tafel. Körner war ein ausgezeichneter, sehr gebildeter und wissenschaftlicher Mann, an Kenntnissen den besten Deutschen ebenbürtig, an Gesinnung und Treue fürs Vaterland den meisten überlegen. Hier war Speise und Weide für Kopf und Herz. Der brave Körner hatte mit dem Jüngling Schiller bei dessen Morgenrötenaufgang frühe Freundschaft geschlossen, hatte dessen erste Thüringer und Leipziger Jahre mit treuester Hilfe und Rat gestützt und geschützt; sein Sohn, jetzt im Lützower Waffenrock, war Schillers und meines Freundes, des Grafen Geßler, Pate. Er selbst war Schriftsteller. Nun ging in den vielen dieses Haus Besuchenden mit den einen Mut und Freude, mit den andern Furcht und Sorge in und durch dieses gastfreundliche Haus.

Hier sah ich Goethen nach vielen langen Jahren auch einmal wieder. In meinen Studentenjahren in Jena hatte ich ihn dort und auch in Weimar nur immer äußerlich gesehen, zum erstenmal auf der Geleitsbrücke in Jena, wo der schöne, stattliche Mann in einem grünen Jägerrock einherschritt. Ich war ja damals ein unbedeutender Jüngling, konnte mich weder als Graf noch als Baron einem berühmten Manne nicht aufdringen, war auch in meinem Sinn in meinen Jenaer Tagen beide zu einsam und in mir geschlossen und zu stolz, mich vor Höheren zu verneigen oder sie durch meine Kühnheit zu belästigen. So ist es geschehen, daß ich bei aller Begeisterung für beide Männer im Jahr 1794, wo ich mehrere Wochen in Hamburg zubrachte, auch Klopstock nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen habe, so wenig als ich vor Goethen getreten bin.

Goethe kam nach Dresden auf seiner gewöhnlichen Badereise nach Karlsbad und Teplitz; sein Anblick und seine Rede waren gleich unerfreulich; der erste sprach aufgestörte Unruhe, die zweite ungläubige Hoffnungslosigkeit. Da rief er einmal aus, indem Körner über seinen Sohn sprach und auf dessen an der Wand hangenden Säbel wies: »O ihr Guten, schüttelt immer an euren Ketten, ihr werdet sie nicht zerbrechen, der Mann ist euch zu groß Erinnerungen S. 175. (D. H.)«.

Außer Goethen sah ich hier auch, aber nicht mit oder neben ihm, seinen berühmten Weimarer Antipoden Böttger Karl August Böttiger, 1791–1804 Direktor des Gymnasiums in Weimar, seitdem Studiendirektor der Pagen in Dresden, von Schiller als »Magister Ubique« verspottet. (D. H.), der in einer eigensten Angelegenheit in wahrer Angst zu Körner kam, er möge doch durch mich oder durch eine andere Verwendung einen Steinschen Sturm, der ihm drohte, von ihm abwenden. Dieser Böttger nämlich, der bestellsamste und allerlauschigste Ausschnüffler und Marktschreier aller, neuesten und oft auch aller verbotensten Dinge, den die Hohen in Weimar nur die krächzende Aaskrähe schlimmer und ärgerlicher Gerüchte nannten, war in auf der Post beschlagenen Briefen, die nach Prag gehen sollten, ertappt als politischer Berichterstatter, worin auch über Stein und seine neuerrichtete deutsche Zentralverwaltung und über anderes Jungdeutschrussisches – so hatte er es genannt – eben nicht mit den glimpflichsten Worten Böttgersche Glossen gemacht waren. Stein hielt gewiß kein Spionenbureau und verachtete alle Geheimspäherei; aber die Böttgerschen Berichte waren ihm zu Händen gekommen, und er hatte im Zorn zu jemand gesagt: »Der verfluchte, naseweise Schwätzer über mich mag sich in acht nehmen; ich könnte für ihn allenfalls auch ein kleines Königstein auffinden, wo er, wenn er von Geheimnissen bersten und platzen will, sie in der Einsamkeit mit Sonne, Mond und Sternen beplaudern kann.« B. war nun in der Angst zu Körner gekommen; ich habe über den Reichsherold böser Gerüchte mit Stein nichts zu handeln und zu bitten gehabt; er sagte nur: »Laß den alten, grauen Lügenschelm laufen,« aber unter der Hand hatte er ihn in seiner starken Weise warnen lassen.

Hier eine hübsche Böttger-Goethe-Anekdote, welche mir mein Graf Geßler erzählt hat. Goethe war in Karlsbad, kam von einem Morgenspaziergang zu Hause und sagte: »Man stößt in der Welt doch immer und allenthalben auf unsaubere Geister, da habe ich von fern einen Mann vorbeirutschen gesehen, der Kerl hat mich ordentlich erschreckt; ich glaubte den leibhaftigen Böttger erblickt zu haben.« – »O, erwiderte der Freund, Ihre Augen haben sich da nicht versehen, Sie haben wirklich den Leibhaftigen gesehen.« Bei diesen Worten rief Goethe aus, wie einer, der von einem Schrecken wieder aufatmet: »Gottlob! Gottlob! Daß Gott nicht ein zweites solches A...gesicht geschaffen hat.«

Hier bei Körner war also lebendiges, merkwürdiges Gewimmel verschiedenster Menschen; weit lebendiger war es um Stein und seine nächsten Beziehungen. Hier sah ich manche trefflichste Preußen, welche ich bisher nur einzeln und aus der Ferne erblickt hatte, unter ihnen auch Niebuhr, der in schlimmster Zeit zwischen den Jahren 1820 bis 1830 sich mir als treuesten Verteidiger, Beschützer und Freund erwiesen hat, und mit Niebuhr den Schlesier Staatsrat Freiherrn von Rhediger. Rhediger und Schön sollten unter Stein in dem Zentralausschuß für die deutschen Angelegenheiten für Preußen, Kotschubey und Nesselrode für Rußland sitzen. So waren sie dafür ernannt, sind aber nicht dabei geblieben, so wenig als Niebuhr oder Schön. Unter Steins Leitung war nämlich ein solcher Verwaltungsrat oder Zentralverwaltungsausschuß errichtet, um in den über die Franzosen und ihren Anhang mit dem Schwert geöffneten und eroberten deutschen Landen die Verwaltung und Benutzung aller Hilfsmittel derselben zu übernehmen und die Ausrüstung und Bewaffnung der Jugend in denselben für das deutsche Vaterland zu leiten und zu ordnen. Alles dieses freilich tausendmal leichter zu entwerfen als auszuführen; aber es mußte doch mit einem deutschen Gedanken, der da hieß alle für alle angefangen werden; daß der deutsche Rheinbund ohne Schwert zerstört und wiedergewonnen werden könne, welcher verständige Mann konnte sich das einbilden? Die Fürsten mit ihrer sogenannten Souveränität hatten sich zu fest mit ihrem Treiber Napoleon verklebt. Dergleichen Herrschaftsverklebung reißt sich nicht leicht los.

Also Minister Stein in Dresden mit seinem deutschen Zentralausschuß, die Russen im Vorrücken immer weiter gegen Westen, die Preußen – alles, was an die Wand p... konnte, zum Kampf gegen ihren Plager aufgerufen – an allen Enden des Landes in voller Rüstung und Waffenbereitung – was gab das für ein unendliches Gewimmel und Getümmel! Gewimmel und Getümmel nicht bloß auf allen Straßen und Gassen sondern auch in allen Herzen und bis in die Arme und Beine hinein: denn alles, was noch etwas Arm- und Beinkraft in sich fühlte, wollte und sollte jetzt für das Vaterland zu den Waffen greifen. Nun kamen außer den obengenannten Männern eine Flut, eine Sintflut, deren ein Teil Gewoge auch wohl Sündflut gescholten werden durfte; denn neben Biedermännern kamen auch wohl, die man gelindest Raub und Beute und andere Ungebühr suchende und witternde Abenteurer nennen konnte; nicht nur solche, die gute deutsche Mär hören und rechtschaffene, deutsche Tat tun wollten, sondern Lauscher, Horcher und Späher und neben ihnen jenes, wie es scheint, unschuldige und doch nicht unschädliche Gesindel, welches geboren ist, auch über die beste Zeit und die größten Dinge seine Noten und Glossen zu machen. Vieles dergleichen wollte sich bei Gelegenheit auch um und an Stein sammeln und drängen, aber meistens zeigte ihnen der Adler solche Augen und Klauen, daß dergleichen lauernde Aasraben und krächzende Krähen, die den Tag, wie er lief, ausplündern oder beschreien wollten, sich erschrocken davon machten.

Unter den Guten kam zuerst ein alter Jugendfreund Steins, ein Graf Schlaberndorf, ein Bruder des weiland preußischen Gesandten am französischen Hofe, Grafen Schlaberndorf Gustav Graf Schlaberndorf war nicht preuß. Gesandter in Paris, sondern lebte dort von 1788 bis zu seinem Tode 21. August 1824 als Privatmann; vgl. über ihn Varnhagen im »Historischen Taschenbuch«, Bd. 3 (Leipzig 1832). (D. H.), der als eine etwas wunderliche deutsche Reliquie unter allen verschiedensten Wechseln und Umwälzungen der Dinge, als ein edler, freisinniger Zukunftsvogel immer nur bestes Glück und menschlichste Freiheit ausspähend und ausrufend, bis an sein Ende in Paris ausgeharrt hat. Sein Bruder, Steins Freund, war ihm an Gesinnung ähnlich, ein frommer, kindlicher Mann, der jetzt mit seinem durch Alter schon geschwächten Arm durchaus als Freiwilliger den Säbel über Franzosenköpfen schwingen wollte. Solchen heroischen Entschluß hat Stein ihm schwer weggeredet, indem er ihm sagte: »Geben Sie ein paar tausend Taler zur Ausrüstung deutscher Freiwilligen und senden Sie den Sohn.« Beides hat der wackre Alte getan, und der tapfre Sohn ist als tapfrer Reiter in allen Hauptschlachten mit dabeigewesen.

Der zweite der Guten, die auf dem Dresdener Pflaster erschienen, war der Freiherr Hans von Gagern, eines der Häupter der alten, oberrheinischen, deutschen Ritterschaft, ein Mann des treuesten Herzens und kühnsten Entschlusses für die Erlösung und Ehrenrettung des Vaterlandes. Er hatte in Schwaben und in Tirol eben nach deutschen Geistern herumgespäht – zugleich ein kluger und rechtschaffener Späher – und für einen allgemeinen Aufstand aller Deutschen gegen den welschen Trug und Übermut Fäden zu spinnen gesucht, in welchem kühnen Spinnen er durch Metternichs lauernde Politik unterbrochen war. Über diesen Österreicher brachte er nun Stein die jüngste, nächste Kunde; es hing ja die Welt jetzt vorzüglich mit an Österreichs Entscheidung. Über jenen Mosellaner Metternich habe ich die beiden Ritter oft viel streiten gehört; Stein wollte ihm kaum ein gutes, deutsches Haar lassen, ihm mehr Schlauheit und Pfiffigkeit als Rittersinn und Rittermut zutrauend. –

Da kam nun ein dritter, ein Graf Reisach aus Bayern, von altem, glorreichem Geschlecht (sein Urahn war Reichskammergerichtspräsident in Speier gewesen), als deutscher Patriot von deutschen Patrioten Stein aufs beste empfohlen: ein kleines, zierliches, lächelndes Männchen, welchem man nach seiner äußern Erscheinung keinen rechten deutschen Heldenmut zutrauen konnte. –

Da kamen mit einer stillen, meist nächtlich verhüllten Heimlichkeit einzelne wackre Offiziere des Königs von Sachsen aus der Festung Torgau, von welchen ich nur Miltitz und Carlovitz nennen will. Der König von Polen und Sachsen war mit drei, vier polnischen und sächsischen Reiterregimentern ins Land Österreich vor den Russen entflohen, hatte aber sein übriges deutsches Heer, etwa 10 000 bis 12 000 Mann, in den Festungen Torgau und Wittenberg eingeschlossen. Diese wackern sächsischen Offiziere, die aus Torgau zu Stein kamen, kamen zuerst nur als Erkunder der Dinge, um zu forschen, wie weit die Unterhandlungen ihres Königs für den Beitritt desselben zur großen, deutschen Sache gediehen seien; sie brannten mit Tausenden ihrer tapfern Landsleute von der Lust, ihre Säbel für den deutschen Kampf wetzen und zücken zu können, und hofften immer noch auf einen glücklichen Entschluß ihres Königs; aber dieser König, sonst ein weiser und gerechter Fürst und als ein Vater seines Volkes erfunden, baute zu sehr auf Napoleons Glück und hielt zu fest an dem Ehrentitel König von Polen, der seinem Lande und seinen Ahnherrn früher schon zuviel Unglück gebracht hatte.

Diese sächsischen Dinge und Verhältnisse und die hin und her laufenden Verhandlungen mit Österreich, kurz die vielfältigsten und die vielfältigst verflochtenen und verfitzten diplomatischen Federkünste und die Lockerheit und Unbestimmtheit so vieler flutenden und schwebenden Dinge zerquälten das ungestüme Gemüt Steins, aber oft zeigte er sich doch höchst liebenswürdig und heiter; so hatte Gott es ihm ins Herz geblasen, oder so schien er doch eine göttliche Weissagung von Glück und Sieg in der Brust zu tragen. Wenn er im Ärger über die Schlechtigkeit, Jämmerlichkeit und Feigheit der Menschen oft auch übergereizt war, immer sprach er sich mit unerschütterlichster Hoffnung aus und strahlte diese Hoffnung aus seinen blitzenden Augen und von seiner schönen Stirn auf uns andere herab, die er dann auch ein anderes Mal wohl mit recht derben Worten schalt und züchtigte. Ich erzähle wieder:

Ich und mein Freund Steffens, der Breslauer Professor, jetzt statt seines Philosophenmantels in Jägeruniform, Offizier von freiwilligen Studenten, welche er gleich andern Professoren vom Katheder zu den Waffen aufgerufen hatte, führten vor ihm auch ein Gespräch eben über jenes Stück Sachsen, in dessen Hauptstadt wir drei eben saßen, wie schade es doch sei, daß man so zaudere: 15 000 bis 20 000 sächsische Jünglinge ausgehoben, dann geübt und mit den rechten Offizieren an der Spitze würden ebensogut für ihr deutsches Vaterland streiten als Pommern und Mecklenburger. Wir waren bei ihm zu Mittag eingeladen gewesen und wagten solches Gespräch nach der Tafel. Da erzürnte er sich, sprang auf und rief mit einer Gebärde und einem Ton, als wenn er uns zur Türe herauswerfen wollte: »Gehen Sie, meine Herren, so klug wie Sie bin ich auch, aber ich bin weder der Kaiser von Rußland noch der König von Preußen.« –

O von wievielen diplomatischen, bösen Künsten und andern schlimmsten Hemmketten hat sich dieser Löwe wohl häufig mit grimmem Schmerze gebunden gefühlt! Ja was würde dieser mutigste, stahlfesteste aller Männer nicht getan haben, wie würde er eingegriffen und durchgegriffen haben, wenn er die letzten Spitzen der deutschen und europäischen Zügel in den Händen gehalten hätte! Es war dies gewiß eine der schwersten Zeiten für ein solches Herz. Er wollte noch für Sachsen hoffen, er hoffte zuweilen selbst auf Metternich, über dessen feige Listen, wie er seine Zauderlichkeit schalt, er mit seinem treuen Hans Gagern oft heftiges Zweigespräch führte; auch über Englands langsame, diplomatische Hinundherzettelungen und Bedenklichkeiten, welches England nicht an Alexanders von Rußland Treue wie Stein glauben wollte, und welches auch auf Deutschland durch die ihm auf die englische Nase gesetzte hannoversche Brille manche kleinliche Hinblicke und Seitenblicke machte, gab's Klagen die Hülle die Fülle. Über seinen Kaiser Alexander, auf dessen Treue er damals wie auf Stein und Bein baute, duldete er in jenen Tagen der Begeisterung kaum den leisesten Wink, vollends keinen Gegenwink.

Das Hauptziel des Steinschen Unmuts war und blieb aber Metternich und, zunächst auf die sächsische Angelegenheit bezogen, der sächsische General Freiherr Langenau, der seinen König ins Ausland begleitet hatte, und von dem Stein meinte, er sei ein tätigstes Organ, das König Friedrich August in seiner unglücklichen napoleonischen Politik festhielt.

Hiebei erinnere ich mich einer kleinen Kabbelei, die er in Dresden nach Tisch einmal mit Schön hatte. In seinem Zorn rief er da über Langenau aus: »Ich hoffe, wir fangen den bösen, listigen Fuchs noch einmal, dann wollen wir ihn andern schlauen, feigen, deutschen Füchsen, wie brave Jäger seinen Vettern im Walde tun, als ein deutsches Zeichen der Gegenwart an der ersten besten Eiche aufhängen.« – »Gut das,« erwiderte Schön ruhig lächelnd, »ich will Ihnen beifallen, aber dann erlauben Sie mir auch, daß ich Ihre Nichte, die Gräfin Senfft, in das erste beste Spinnhaus stecke.« Und Stein darauf: »Auch das, und ich gebe Ihnen ihren Mann als Zugift noch obenein.« Man muß wissen, der General von Langenau war Schöns Schwager. Stein zürnte aber dem Grafen Senfft sehr, der als sächsischer Minister sehr napoleonisiert und in Hinsicht der Preußischen Verhältnisse und Forderungen zu und an das kleine Königreich Polen die schreiendsten Ungerechtigkeiten zum Vorteil der Franzosen und Polacken begangen hatte.

Steins Schwestertochter, eine geborne Freiin von Werthern, stand bei dem Oheim sehr schlecht angeschrieben, er schalt sie eine eitle Närrin und hoffärtige Verschwenderin, welche durch eitlen Prunk das eigne und des Mannes Vermögen bis zur tiefsten Neige heruntergebracht habe. Weise, altväterische Sitte und Sparsamkeit bei Großen und Kleinen galt ihm wie seinem Freunde Niebuhr für ein notwendigstes Stück aller Bürgertugend; er glaubte mit den alten Persern, daß ein verschuldeter Mann in ganz notwendiger Folge zuletzt ein Lügner und der Knecht von solchen werden müsse, die noch schlechter als er selbst seien.

Hier hatte er aber von der tollen Wirtschaft seiner verrückten Nichte die unwidersprechlichsten Proben erfahren; von diesen hier nur eine: Die Ministerin zur Zeit ihrer Glanzhöhe in Dresden und Warschau sandte alle ihre Leibwäsche, Hemden, Spitzen usw. allmonatlich mit eignen Kurieren nach Paris, als wo man dergleichen hochdamliche Feinheiten allein recht zu waschen, plätten und zurechtzufalten verstehe. Dies war so etwas von orientalischer Märchengeschichte, zum Beispiel von einem Könige von Babylonien, der sein Königreich in Pasteten von Pfauengehirn verzehrt hatte, oder von der Üppigkeit, worin die Günstlinge der großen Frau Katharina schwelgen durften, wie von dem allmächtigen Potemkin erzählt wird, der, als er mit seinem Heere in Yassy und Bukarest im Winterlager lag, jeden Mittag seinen Kurier empfing, der die frischesten Melonen und Ananas aus Nimes und Pezenas brachte, um auf seiner Feldmarschalltafel zu glänzen.

So hatte der Minister manchen Ärger und Umlauf und Anlauf von Schlechten aber auch manche Freude an Guten, die in Dresden zusammenflossen. Auch ich hatte hin und wieder mit Narren oder Abenteurern, die sich einbildeten, ich könne sie näher an den gewaltigen Mann heranbringen, oft meine reiche, liebe Not sie abzuschütteln; indessen es kamen auch viele Liebe und Getreue wie Steffens zum Beispiel, mit welchem ich in Dresden bei allen seinen vielen Bekannten, unter andern bei dem Maler Hartmann und bei meinem alten Greifswalder Bekannten, dem Maler Friedrich, rundlaufen mußte; auch erschienen einige Jünglinge der Heimat, welche der Zeit würdig dienen und für das Vaterland die Waffen ergreifen wollten. Unter diesen kam auch Ludwig von Mühlenfels, der Sohn eines Nachbarn meines Vaters, des Majors von Mühlenfels. Dieser, mit schwedischen Grafen und Baronen verwandt, hatte ein schwedisches Offizierpatent in der Tasche, aber weil er dem schwedischen Franzosen Bernadotte kein ehrliches Herz für Deutschland zutrauen konnte, hat der Siebenzehnjährige sich von der Hochschule Greifswald aufgemacht, auf des Vaters Kredit sich Roß und Waffen verschafft und ist von hier als Lützower Reiter ins Feld gezogen, wo er sich ehrlichste, schwerste Wunden verdient hat.

So gab's hier in Dresden manche Lust und Unlust auch für mich, in Geschäften meistens nur Kleines und Unwichtiges. Doch zeichne ich ein paar Kuriosa:

Ich habe schon erzählt, wie die Raben und Krähen, welche der Sonnenschein des Augenblickes herbeilockte, den Adler umschwärmen und umkrächzen wollten, wie er es aber verstand sie zurückzujagen. Indessen der kleinen Vögel sind viele in Büschen und Wäldern, sie flattern und singen auf die verschiedenste, mannigfaltigste Weise; von einigen mußte er sich zuzeiten wohl etwas gefallen lassen. Wer konnte aufzählen wie der Löwe nicht bloß von lustigen Gesängen sondern auch mehr als zuviel von krächzenden und wimmernden Tönen umklungen ward: Fragen, Klagen, Bitten, Anträge, Entwürfe und Pläne so viel, daß der alte Herr im Zorn oft ganze Haufen mir zu den Füßen warf, sprechend: »Lesen Sie, sehen Sie, ob etwas eine Antwort verdient und verlangt.« Am zornigsten konnte er natürlich über solche Narren werden, welche ihm mit irgend einem spezifischen Vorschläge und Entwurf zur Rettung des Vaterlandes kamen; da Pflegte er wohl zu rufen: »Zum Teufel mit den verfluchten Narren, die nicht ins Eisen beißen wollen und die deutschen Wunden mit Aktenstößen meinen heilen zu können!«

Solche Vaterlandretter waren nicht immer Fremde sondern auch wohl alte Freunde oder gar Verwandte. Von solchen liefen nun auch genug Bitten ein, die irgend einen Neffen oder Sohn bei ihm auf die glatte, diplomatische Glücksbahn aussetzen wollten, die bei ihm um irgend eine Anstellung und Beschäftigung bei dem Zentralausschuß baten, damit der Jüngling sich unter der Aufsicht und Leitung des großen Ministers und Meisters für die künftig zu ersteigenden höheren Grade ausbilden könne. Bei solchen Briefen und Bitten hätte man sehen sollen, wie der edle Ritter auffuhr und voll Unwillen mir gewöhnlich die Papiere zu lesen gab, auch wohl einige zu beantworten mit den Worten: »Die Narren! Meinen sie, ich soll ein Diplomatenschulmeister werden? Wir haben jetzt ganz andre Schulmeister nötig, die mit eisernen Federn schreiben lehren. Ich Diplomaten erziehen? Meinethalben mag man das auch eine Kunst nennen, die aber zu früh in solche Kunstschule kommen, werden meistens Schwächlinge und Leisetreter oder auch schleichende Blindschlangen und Schurken. Schreiben Sie nur, ich habe jetzt etwas anderes in der Welt zu tun als diplomatische Schule zu halten, habe solche Wissenschaft, als sie meinen, auch nimmer gelernt noch getrieben. Die jungen Leute haben jetzt etwas Besseres zu lernen; auf den Fechtboden, auf das Schlachtfeld mit ihnen! Das ist die Schule des Tages, sie sollen lernen fürs Vaterland streiten und sterben.«

Ein Professor Haugh von Olmütz, später als Professor der Mathematik zu Gent gestorben Gemeint ist Professor Hauff, s. Erinnerungen S. 174. (D. H.), hatte ihm einen Pack Schriften und Zeichnungen zugeschickt über den Bau einer ungeheuren magnetischen Batterie, welche an der Spitze des vaterländischen Heeres geführt werden und durch ihre allmächtige Weltkraft alle feindliche Kugeln unschädlich an sich und auf sich heranziehen und zerplatten und zersplittern sollte. Als Stein diese Bescherung durchschaut und durchlesen hatte, rief er: »Ein wohlmeinender Narr! Wenn Gott uns nur die gehörigen Beester geschaffen hätte, solchen fabelhaften Magnetberg zu bewegen: coelum ipsum petimus stultitia. Schreiben Sie dem Narren, er soll mal herkommen und sich als Kugel in eine Kanone laden und gegen seinen Magnetberg schießen lassen, damit wir sehen, ob das Ding die Probe aushält.« Einige solcher Briefe, die Stein oft gleich beim Empfange zu zerreißen pflegte, hätte ich mir zur Belustigung und künftigen Ergötzung allerdings gern aufgehoben und hatte mir von diesen Kuriosis auch einiges aufgehoben, aber es ist im Jahre 1817 mit einem größten Teil meiner Bücher und Papiere, die ich mir in vielen Jahren gesammelt hatte, auf der Seereise von Stralsund nach Rotterdam und Köln durch schlechte Versorgung des Schiffers so mit Seewasser durchtränkt worden, daß ich das meiste davon als faulen Moder bei seiner Ankunft in Bonn habe auf die Straße hinauswerfen müssen.

Hier könnte ich beinahe rufen: Gottlob! Über die Geheimnisse solcher wunderlichsten Papiere und Briefschaften und über die geheimen, politischen Umtriebe, worauf sie prächtig gedeutet werden konnten, hätte ich bei den demagogischen Umtrieben, womit ich viele besten Jahre meines Lebens umgetrieben worden bin, wahrhaftig zu Tode gequält werden können Ich gebe ein Beispiel, was mir dieser anzügliche Magnetberg mit seinen angelockten Schüssen hätte bedeuten können. In einem Briefe an meinen Freund Reimer in Berlin hatte ich geschrieben wegen in Leipzig oder Dessau zu druckender Manuskripte ( de dato Reichenbach, 17. Aug. 1813): » Denn wenn wir hier Land gewinnen, schieß' ich sogleich hin.« Wie bin ich über dies unschuldige Wörtlein schießen von meinem Untersuchungsrichter mehrmals gequält worden. Man witterte in dem Worte schießen einen mystischen Sinn eines Verschwornen. Ich antwortete endlich in Ungeduld: Hatte ich einen von Reichenbach bis Leipzig tragenden Schuß gehabt, ich wäre allein mit Napoleon fertig geworden. Das wollte man nicht zu Protokoll nehmen.. So scheint Gott auch da für uns zu sorgen, wo wir arme, blinde Sterbliche uns oft hart beschädigt glauben. Was hätte ein nichts als Verschwörung träumender Kamptzischer Untersuchungsrichter nicht aus dem Papierpack jenes Olmützer Magnetschützen machen können, wenn er ihn ohne ein Zeichen des Woher und Wohin bei mir gefunden hätte?

Von Dresden aus bin ich auch in unserm preußisch-russischen Hauptquartier gewesen Vom 16.-21. April. (D. H.). Stein schickte mich mit besondern Vertrauensbriefen an Scharnhorst. Ich sah den vortrefflichen Mann hier wieder, der und dessen Tochter mich vor einem Jahre in Breslau und Cudowa so freundlich und vertraulich empfangen hatten. Das Hauptquartier stand in Altenburg. Hier stehe unter dem Ernst wieder ein Spaß.

Es lag Stein und vielen anderen sehr daran, zu wissen, was gegen Süden jenseits des Thüringer Waldes am Main und Rhein sich bewege und rege, und wie es mit den Rüstungen, Märschen, Stellungen Napoleons und seiner Verbündeten in dem Augenblick eben stehe. Es ward für diesen Zweck ein rüstiger Jüngling gefunden, ein unter den Lützowern eingekleideter Jäger namens Fallenstein. Dieser kannte den Thüringer Wald und alle seine Umgebungen und das schöne Frankenland jenseits der Berge wie kein anderer, war in Meiningen erzogen und hatte in Jena studiert. Ich nahm ihn mit auf meinen Wagen, und von Altenburg lief er dann weiter über alle Berge. Er lief aus in der Rolle eines Küsters oder Landschulmeisters und zwar in von mir hergegebenem schwarzen Rock und gleicher Art Hosen, welche in Petersburg noch in Salons gebraucht, aber unterdessen genug abgetragen und abgeschabt waren, um für einen Schulmeister nicht zu fein zu sein. Er kam nach einigen Wochen glücklich wieder, ohne von den Franzosen ertappt und gehängt zu sein, brachte uns aber wenig Neues, was wir nicht schon aus andern Quellen wußten. Der kühne, lebensmutige Jäger stand nach glücklich und ruhmvoll vollbrachten Feldzügen, die er alle mitgemacht hatte, als Regierungsrat in Düsseldorf und Koblenz, später als Geheimer Finanzrat in Berlin, lebte mit seinem Gnadengehalt die letzten Jahre in Heidelberg, wo er vor zwei Jahren gestorben ist. Es sei zu seinen Ehren genug gesagt, daß Männer wie Schöff Souchay und Dr. Schlemmer in Frankfurt und Gervinus und Dahlmann und Präsident Bloch in Bonn und Maler Cornelius in Berlin seine Freunde waren.

Der Maimond des Jahres 1813 war gekommen, wir konnten den dritten Mai Die Schlacht bei Großgörschen fand am 2. Mai statt. (D. H.) im Felde vor Dresden dumpfe Schälle hören, die wir uns ganz richtig als Donner einer Hauptschlacht auslegten; bald kamen die Boten, die Schlacht war ehrenvoll geschlagen, aber von den Unsrigen verloren. Das hieß: Einstweilen von Dresden Abschied nehmen.

Der Minister zog mit dem über die Elbe zurückgehenden Heere wieder weiter gegen Osten, ich ward mit Briefen und Depeschen und mündlichen Aufträgen an seine Freunde nach Berlin geschickt und sollte von da einen Abstecher nach Stralsund machen, um zu sehen, ob der Schwede, nach welchem man so lange ausgesehen hatte, nicht endlich mit Macht übers Wasser komme. Nun war ich denn auch wieder acht Tage in meiner Insel Rügen, wo ich den lieben Bruder Fritz und meinen elfjährigen Sohn, der bei ihm weilte, nach zwei langen Jahren wieder sah Arndt kam am 10. Mai in Berlin an, reiste am 12. nach Pommern, Rügen und Mecklenburg und war am 22. Mai wieder in Berlin, wo er bis zum 8. Juli blieb. (Briefe an Johanna Motherby, S. 70f.) Seit seiner Flucht aus Pommern im Februar 1812 waren also erst wenige Monate über ein Jahr verflossen. (D. H.).

Bei dieser Fahrt und Rückfahrt von meiner Insel bin ich wieder einmal in echt schwedischer Weise erinnert und gerührt worden. Als ich von Rügen einen schönen Frühlingsabend im Mondschein über die Wogen nach Stralsund zurückfuhr, lagen eben sechs schwedische Schiffe auf der Reede, welche mit einigen Regimentern eben angekommen waren. Als nun von den Türmen der Stadt die achte Stunde eingeläutet ward, wirbelten mit einem Male auf allen Schiffen die Trommeln, und über der Tiefe ward nach schwedischer Sitte Paul Gerhards schönes Abendlied: Nun ruhen alle Wälder Nu hvilar hela verlden: Nun schläft die ganze Welt. abgesungen. Wohl ein stiller, menschlicher Ausdruck und Eindruck mitten im Wogengesause und Kriegslärm.

Ich verweilte hier nicht lange sondern flog nach Berlin zurück. Dort ruhte nun freilich alle Welt nicht, sondern alles war in mächtigster Kriegs- und Herzensbewegung. Ich hatte hier kleine Ausrichtungen und machte mir kleine Ausrichtungen, hatte aber meine Not mit der Berliner Zensurpolizei, die immer noch die Furcht vor, dem vollen Napoleon im Leibe hatte; bei treuen, gleichgesinnten Freunden, bei Rudolphi, Schleiermacher, Reil, Fichte, lebte ich doch frische, mutige Abende. Mein Freund Reimer war schon als Offizier der Berliner Landwehr ins Feld gezogen.

Hier überfiel uns nun die Nachricht von dem in Schlesien abgeschlossenen Waffenstillstande. Das war uns eine dunkelste Trauerbotschaft; die meisten fürchteten wieder einen jämmerlichen Frieden als den Schluß so unendlicher Hoffnungen und Freuden. Ich erinnere mich, ich stand mit Reil und seinem Freunde Dr. Meyer im Gespräch Unter den Linden, als uns diese Botschaft wie ein plötzlicher Blitzschlag, aus heiterer Luft kam; im vollsten Schmerz faßte mir Reil die Hand mit solcher Gewalt, als wenn er sie mir abdrücken wollte, und die hellen Tränen stürzten ihm aus den großen, trotzigen, ostfriesischen, blauen Augen. Gleich kam uns eine zweite Trauerbotschaft, welche die Herzen aller Guten und Tapfern hart schlug: Scharnhorst war an seiner in der Schlacht bei Großgörschen erhaltenen Wunde, die mir in Dresden, wo ich sie verbinden sah, eine ganz leichte Wunde schien, in Prag gestorben. Dieser Trauerfall schuf aus meinem Herzen ein Lied, das ich in Berlin drucken ließ und mit nach Reichenbach nahm, wo Stein, dem es sehr gefiel, es in einigen tausend Exemplaren abdrucken ließ und es an seine und unsre Freunde versandte und verteilte S. Gedichte II, S. 34. (D. H.). Mit diesem Liede erreichte ich ihn im Anfange Juli in Reichenbach wieder; ich meine, es war der vierte oder sechste Juli Es muß einige Tage später gewesen sein, da Arndt am 8. Juli noch in Berlin war, s. S. 127, Anm. . (D. H.).

Hier in und um Reichenbach in Schlesien war nun das Hauptfeldlager, wenigstens das diplomatische Feldlager. Die Kaiser, Könige und Feldmarschälle der verbündeten Heere wohnten in Schlesien und Böhmen in Abständen von zehn, zwölf Meilen ringsumher. Kaiser Franz von Österreich war endlich auch näher herangetreten, wenn auch dem russisch-preußischen Bündnis noch nicht beigetreten. Er machte seine Rüstungen, es sollte durch seine Vermittelung mit Napoleon unterhandelt und wenn möglich, Deutschland durch Unterhandlungen von dem bösen, französischen Joche losgerissen werden. Das war die Arbeit, das war die große Sorge des Augenblicks. Die Preußen wollten Österreich wenig, dem Kaiser Franz noch weniger, Metternich am allerwenigsten trauen. So hing gleichsam eine schwüle, dicke Gewitterwolke düster über allen Köpfen und Herzen der Menschen.

Hier fiel ich denn recht in ein wirres, dickes Gedränge hinein und hatte Not, in der Stadt noch irgendwo unterzukommen; denn alle Quartiere waren beschlagen und besetzt. Indessen es war Sommer, und ich fand endlich bei dem Nachtwächter der Stadt Quartier in einer langen, großen Stube auf der Stadtmauer, mit einer Art Britsche oder Bettstelle, halb zerbrochenen Tisch und ein paar fast durchgesessenen Rohrstühlen. Solches war damals schon Glück. Ich weiß in welch einem elenden Stübchen in einem kleinen Gasthause Niebuhr damals mit seiner Frau saß.

Da kam ein Niebuhrsfreund, Herr von Savigny, auch nach Reichenbach, sich die Dinge da ein wenig anzusehen und Stein kennen zu lernen. Er sah mich, meinte, ich müsse als ein einspänniger Junggesell ihm doch wohl in meinem Zimmer für ein paar Nächte Schlaf verschaffen können. Ich wies ihm meine Kabüse und ihr Gerät und erzählte ihm, wie ich auf meinen Fahrten durch Polen schon recht soldatisch schlafen gelernt hätte. Ich hatte doch die Morgensonne auf meinen zwei Fenstern, Finken und Sperlinge zwitscherten mir auf der Mauer das Morgenlied, und ein reiches, schönes Land lag rings vor mir.

Dies Quartier auf der Mauer war hier in Reichenbach der Anfang meiner ersten drei Wochen, dann ward ich in ein hübsches Grafenquartier hinübergeführt, zu Steins Freund, dem Grafen Geßler, der großes Wohlgefallen an mir gefunden hatte, welches sich in das fröhlichste Wohlwollen und in die sicherste Freundschaft verwandelt hat, so daß wir beide in meinen vier letzten Reichenbacher Wochen nicht nur in griechischen, italienischen, endlich gar in schwedischen Sprachübungen, sondern auch der Lust und Gesundheit wegen mit Stoßrappieren, die der freundliche Alte auf seinem Zimmer stehen hatte, in Fechtübungen uns miteinander versuchten und erlustigten.

Von diesem wackern Grafen habe ich an andern Stellen Erinnerungen S. 180-185. (D. H. genug erzählt; hier erzähle ich gleich von vornherein: er war Körners und Schillers Freund, seine Kenntnisse, seinen Geist, seinen Witz haben alle, die ihn kannten loben müssen, sein deutsches Herz und sein frommes, edles Gemüt sollte ich nach und nach kennen und bis an seinen Tod erproben lernen. Er war, wie gesagt, Steins Jugendfreund und verstand wie kein anderer mit Stein zu spielen, wie denn Stein auch keinen andern so mit sich hätte spielen lassen. Stein liebte und achtete ihn sehr, doch mußten sie sich im Gespräch immer streiten und kabbeln. Das ist wohl oft freilich nur eine äußerliche Art früherer Gewöhnung und Erinnerung solcher, die lustige Jugendtage miteinander verlebt haben. In dieser kleinen Neckerei und Kabbelei war Geßler als der Ruhigere und Witzigere meistens der Sieger, er wußte mit dem Löwen zu spielen wie die Bremse, die ihm in die Schnauze beißt, bis er brüllt; so ergötzte es ihn, den augenblicklichen Zorn des Titanen zu erregen, vor dessen Macht und Große er sich sonst aber gebührlich verneigte.

Hier stehe eine Szene, die allerdings etwas ernsthafter auslief als die gewöhnlichen Bremsenstiche und Ausstreckungen der Löwentatzen. Der berühmte Feind Napoleons, von der gemeinsamen Heimat her ein geschworner Feind, der Korse Pozzo di Borgo, war in Reichenbach angekommen. Das war bei Stein ein großer Name, ein echter, tüchtiger, sicherer Napoleonshaß war in jedermänniglich bei ihm ein hohes Verdienst. Offenbar hat er diesen Korsen teurer gehalten und höher gestellt, als er seiner Gesinnung nach verdient hat. Nur in diesem Napoleonshaß ist er ein völlig reiner und uneigennütziger Mann gewesen, den edleren, menschlichsten Haß jedes Bösen und Gemeinen hat er nimmer mit Stein geteilt. Man konnte mit einem italienischen, seit des Philosophen Seneca Zeit gültigen Sprichwort sagen: Wie hätte solches in die Seele eines Korsen kommen sollen?

Diesem Korsen zu Ehren gab Stein nun in Reichenbach ein großes Gastmahl, wozu Graf Geßler und meine Kleinigkeit auch eingeladen waren. Der Korse machte wirklich den Eindruck eines festen, stattlichen Mannes, ein starker gedrungener Leib mittleren Wuchses, darauf ein Kopf ausdruckvollsten Gesichts mit noch meist schwarzen Locken, in den dunkeln Augen ein Blick voll Verstand und Zuversicht. Geßler war dem Korsen, als wenn er ihn recht beschauen sollte, gerad gegenüber gesetzt. Als nun nach den ersten geleerten Flaschen die Münde der Männer auch etwas flüssiger und gesprächiger wurden und das Gespräch auf Korsika und manche korsikanische Verhältnisse und Erlebnisse kam, plagte den Korsen der Teufel der Eitelkeit, und er begann von dem Adel der uralten Herrlichkeit der korsischen Geschichte, von der Tugend und Tapferkeit der Männer, von frühesten Auswanderungen der Griechen aus Kolophon und Phocäa, von wo herrliche, schönste Genossenschaften auf Korsikas Küsten niedergelassen und angesiedelt hätten, ferner von Verpflanzungen und Übersiedelungen schöner Menschen von dem rechten Tiberufer Roms im Mittelalter wovon die Spuren noch in den prächtigen Gesichtern zu schauen seien – er fing zu seinem Unglück an davon so schon zu reden, als ob er prahlte. Ich sah es meinem kleinen Grafen an, daß das ihm ein bißchen zuviel ward, er setzte sein schelmisches, ironisches Lächeln auf, und als von den schönen Transteveranis ausgeredet war hieb er scharfen Tones ein: Ah, Signore, é questo, che si dice a Roma Faccia di Ponte Sisto, Faccia di Caracalla »Ah, mein Herr, das ist das, was man in Rom einen Ponte Sisto-Kopf, einen Karakalla-Kopf nennt.« Es wohnt in der Vorstadt jenseits der Tiber, zu welcher man über die Ponte Sistobrücke geht, unter andern viel Gesindel, Banditen, Huren usw., aber immer findet man dort noch schöne Römerköpfe..

Diese auf das geschwindeste und schärfste akzentuierten Worte störten selbst die Haltung des Korsen so, daß er schwieg und die Pfeife im Sack hielt; an Steins Nase sah ich aber in einem gewissen Erbleichen die volle Entrüstung über den Hieb, womit sein Freund dem berühmten Korsen gedient hatte. Man stand auf, trank im Garten Kaffee, der Korse ging. Ich hörte die beiden Jugendfreunde noch einige Minuten sehr laut miteinander reden und Stein den Geßler schelten; der aber antwortete ihm: »Ich kenne meine Italiener, soll ich von so einem hochnäsigen Korsen mir was einbilden lassen?« Die Freunde waren wirklich einige Tage miteinander verstimmt, und Stein sagte auch wohl einmal so leicht hin: »Der Graf Geßler ist ein sehr frommer, redlicher Mann, aber zuweilen hat er eine zu scharfe Zunge und kann seinen Witz nicht zügeln.«

Es war hier das große diplomatische Hauptquartier die Kaiser, Könige, Feldherren ringsumher in den schönen Schlössern am Fuß der karpathischen Berge. – In Reichenbach sah ich die Diplomaten kommen und gehen: Stein, Hardenberg, Graf Stadion, Castlereagh Lord Castlereagh war damals nicht in Reichenbach; der englische Bevollmächtigte war sein Bruder Sir Charles Stewart, der spätere Marquis von Londonderry. (D. H), Nesselrode, Anstett, von den unsrigen Wilhelm von Humboldt, Schön, Niebuhr Rhediger, Scharnweber, und auch einige halbdiplomatische Rundläufer, den sogenannten dicken MüllerKarl Müller, gest. 1847 als preuß. Hofrat. (Allg. Dtsche. Biogr., Bd. 22, S. 643.) (D. H.), einen gescheiten Sachsen, der an Breite und Höhe über alle hervorragte, ein Koloß, der für zehn essen und trinken konnte, und den später berüchtigten Dorow einen Königsberger, der sich als ein Lützower hatte einkleiden lassen, aber in allerlei geheimen Aufträgen in und um alle Feldläger und Kongresse herumgeschwänzelt hat. Für mich hatte er ein Cave hunc! auf der Stirn geschrieben; er merkte das wohl und hat mit seiner schmunzelnden und lächelnden Zudringlichkeit nach erster Erblickung mich nimmermehr angelaufen.

Scharnweber, der bei Hardenberg viel galt, ist von manchen auch so erblickt und dargestellt worden; ich mußte ihn aber mehr für einen phantastischen, aber dabei doch für einen offenen, geraden Kerl halten. Es erinnert mich, wir beide saßen einen Abend im schönsten Mondschein im Garten des protestantischen Oberpastors Tiede in Reichenbach, bei welchem Stein sein Quartier genommen hatte; da mochten wir über politische und finanzielle Fragen sehr lebhaft aneinander geraten sein. Den andern Morgen sagte mir Stein: »Sie haben mir mit dem Scharnweber, dem geschwätzigen Hardenbergischen Hannoveraner, gestern abend eine böse Nacht gemacht: das war ja ein Lärm durch die Tiedeschen Lauben, daß alle Sperlinge, die hier des Morgens des Teufels sind, zu früh wach werden könnten.«

Nun unsre guten Leute: Humboldt, Niebuhr, Schön, Rhediger. Wilhelm Humboldt, jüngst noch Gesandter in Wien, hatte durch seine einzige, seltenste Klarheit, Geistigkeit und Ruhigkeit über Stein gewonnen, daß er mit ihm wie mit einem Lamm umgehen konnte. – Niebuhr und Schön alte Freunde. – Schön hatte kurz vor Preußens Fall Niebuhrs Übertritt aus dänischem in preußischen Dienst veranlaßt. – Die beiden trefflichen Männer hielten zusammen, der eine der Besonnene, der andere der Heftige. Es war ja hier bei den schwebenden, ungewissen Zuständen der doppelten Verhandlungen und Verhältnisse, bei all dem wirklichen oder geträumten, diplomatischen Spiel ein rechtes Wespennest. Sie hielten auch oft zusammen in ihren Urteilen und Bemerkungen über Stein, die nicht immer mild ausfielen, aber die Steinschen über sie waren es auch nicht immer.

Nun begab sich, daß die beiden wirklich frommen Männer, Stein und Geßler, ein paarmal nach dem nahen Zinzendorfischen Gnadenfrei zum Sonntagsgottesdienst zur Kirche gefahren waren. Darüber glossierte Schön mit den Worten: »Die beiden alten Betväter meinen die Teufel Napoleon, Metternich und Hardenberg mit Bußpsalmen niederbeten zu können.« Dergleichen Gespräch hörte ich und erzählte es nicht wieder, aber Stein hatte vor Freunden Niebuhrs einmal das geschwinde Wort gesagt: »Der Niebuhr wäre ein ganz andrer Kerl, wenn er seine Frau nicht bei sich hätte, die hält ihn bis nenn, zehn Uhr im Bett und verpappelt und vertändelt ihn auf ihrem Schoß, als wenn sie ihr Enkelchen darauf wiegte.« Es war aber Niebuhrs Frau damals wirklich krank, und er war natürlich bei seiner großen Reizbarkeit doppelt krank an den Zuständen, woran wir alle mehr oder weniger krankten. Diese Worte Steins hatte einer jener Freunde ihm zu bestellsam wieder erzählt, und sie blieben wohl lange wie Dornen in seiner Erinnerung an die Reichenbacher Tage stecken.

Der dritte Diplomat, Mitglied des Zentralausschusses, Herr von Rhediger, war ein rüstiger, hochherziger, schlesischer Edelmann, ein Mann offen, tapfer und treuherzig, wie es wenige gibt. Er stand, ein sicherer, klarer Geist, unter den Heftigen und Unruhigen.

Ich kleinerer Mensch, der als ein niedrigerer Strauch unter den hohen Bäumen stand, ging durch diese oft recht verletzenden Bebungen und Stöße und Gegenstöße mit leidlichem Glück unbeschädigt hindurch. Ich genoß damals stärkster Gesundheit und eines hoffnungsvollen Mutes; in die schlimmsten Zettelungen und Geheimnisse des Tages war ich Hintermann glücklicherweise selten eingeweiht und erfuhr sie meistens später erst aus den Resultaten. Man wird mächtiger bewegt, wenn man vor einer Leiche steht als auf dem Grabe, das sie enthält und schon mit Moos und Blumen bewachsen ist.

Steins Ungestüm, zumal wenn er von seinen gichtischen und podagrischen Dornstacheln geprickelt war, zeigte sich jetzt selten hell und liebenswürdig, er brauste wirklich zuweilen wie ein Sturm auf, der alles niederwerfen wollte und der Besänftigung bedurfte, aber in der Mißstimmung vieler gegen ihn war noch etwas anderes. Stein war nicht allein ein lebhaftester, heftigster, zornigster Mann, sondern er hatte bei großer körperlicher Unscheinbarkeit doch, was die Salonsleute l'air d'un baron nennen. Er war von Gottes Gnaden der Unüberwindlichmutige, er war aber durch den Stammbaum seiner Ahnen ein reichsunmittelbarer Ritter gewesen und hatte davon auch ein Etwas, das aber in seiner Treuherzigkeit und Geradheit und seinem christlichen und deutschen, schönen Gemeinfühl mit allem Volk nimmer ganz unterging. Ich für mein Teil bin dadurch nie gestört worden, doch stießen die edlen Männer Schön und Niebuhr, beide homines novi oder novissirni, sich zuweilen daran und beschwerten sich oft bitter darüber.

Ich hatte vor und mit Stein jetzt ein ganz gerades, offenes Leben gewonnen; ich empfand wohl, daß er mich lieb gewonnen hatte. Trotzig genug von Natur und Gottes Gnaden war ich auch geboren, als daß ich mich leicht hätte verblüffen lassen. Stern ist gegen mich wie gegen andre zuweilen heftig gewesen, aber nur ein einziges Mal – und das war hier in Reichenbach – grob geworden. Ich kam eines Morgens früh um sechs Uhr – er stand sehr früh auf – mit einem Papier in der Hand, fand seinen Wagen mit zwei Pferden und einem Postillion vor dem Tor halten und ging ohne Umstände wie gewöhnlich die Treppe hinauf und reichte ihm das Papier. Und da: »Was kommen Sie mich so früh stören? Ich habe keine Zeit, gehen Sie, der Quark kann warten.« Und ich ging, antwortend: »E. Exz. hatten den Quark geschwind fertig befohlen. Sie sprachen: Machen Sie geschwind! geschwind!« So ging ich die Treppe hinunter; Niebuhr, den ich bei ihm fand, folgte mir sogleich mit rotesten Wangen, mich mit den Worten tröstend: »Er ist auch gegen mich grob gewesen.«

Stein aber war den Morgen nach Gitschin gefahren; als ich ihn nach einigen Tagen wiedersah, verlangte er jenen Quark, mit welchem er mich etwas schnöde abgewiesen hatte sprechend: »Sie kennen mich, ich war vorgestern vom Podagra von dem Übel geplagt, woran wir alle jetzt leiden. Ich sollte Kaiser und Könige und Hardenberg und Metternich sehen.« Dabei strich er mir freundlich über die Wangen. Das war so seine Art Liebkosung, wann die allerfreundlichste Freundlichkeit aus seinem Herzen quoll, küßte er einem, den Kopf herüberholend, auf die Stirn.

Ich lebte hier in Reichenbach nicht bloß ein unruhiges und kämpfevolles und arbeitsvolles Leben unter und zwischen den Diplomaten sondern freute mich in freien Stunden oft mit tapfern fröhlichen Jünglingen, die zwanzig, fünfundzwanzig Jahre jünger waren als ich. Da waren manche der fröhlichen Freiwilligen, auch einige Jünglinge, welche ich von Berlin aus schon gekannt hatte, unter andern mein tapfrer, ritterlicher Freund Karl Sack, damals Offizier in der königlichen Leibwache, später an der Bonner Hochschule mein Amtsgenoß; dann erschienen an Schön eng angeschlossen zuerst Max von Schenkendorf, der Preuße, und mein Dresdner Theodor Körner mit einer fürchterlichen Narbe im Gesicht. Er war bei dem schändlichen Überfall, den die Franzosen mit dem württembergischen Reiterregiment von Normann mitten im Waffenstillstand über die Lützowsche Freischar machten, vom Pferde gehauen und als Gefangner abgeführt Körner war nach seiner Verwundung nicht gefangen genommen sondern wurde von Freunden in Großzschocher bei Leipzig bis zu seiner Genesung verborgen gehalten. (D. H.), hatte sich jedoch zu befreien gewußt und kam jetzt nach Reichenbach, bei seinem Paten Geßler wohnen und seine Wunde ganz verharschen zu lassen. Unter solchen Jünglingen und Dichtern ward auch ich wieder jung, war vielleicht damals noch etwas jung.

Napoleon hatte gottlob! die Würfel des Krieges mit seinem im Zorn entflogenen Hute dem Metternich vor die Fuße geworfen; sie sollten weiter geschüttelt werden, und die Herrscher und Heere zogen nun von Osten des Weges gegen Westen. Stein folgte ihnen, ich blieb noch in Reichenbach bei meinem Grafen Geßler, mit welchem ich ein Leben wie ein freier Student leben durfte.

Es war das ein hochgebildeter Hochgeborener, bei welchem aber alles durch lebendigsten Geist und treueste Menschlichkeit in scheinloseste Geradheit und Einfältigkeit verwandelt ward. Wir lebten wirklich wie ein paar fleißige Studentenkameraden auf einer guten Hochschule und machten unter uns in Gesprächen gleichsam einen commentarius perpetuus zu dem, was sich in dem letzten Menschenalter in Europa und im deutschen Vaterlande begeben hatte. Auch da konnte ich von dem trefflichen Manne viel lernen, denn er hatte den schärfsten Blick des Spähers und Beobachters und ein königliches Gedächtnis. Er ist eine schönste Erinnerung meines Lebens, und wenn sich Geister auf einem andern bessern Stern wieder begegnen und wiedererkennen können, diesem würde ich mit Inbrunst ans Herz fallen müssen.

Jetzt erst, jetzt als der Krieg begonnen hatte, als die ersten gewaltigen Schlachten vor Dresden, an der Katzbach und bei Kulm geschlagen waren, lernte ich meinen christlichen und schlichten Grafen kennen, wie er in seiner ganzen, tüchtigen, treuen Persönlichkeit war. Es kamen nach der Schlacht an der Katzbach 18 000 französische Gefangene durch Reichenbach, von da weiter nach Oberschlesien geführt; es wurden hier für verwundete Preußen Lazarette angelegt – da war mein Graf das rechte Musterbild der Barmherzigkeit. Obgleich, gleich seinem Freunde Stein an Gicht und Podagra leidend – die Gicht zuckte ihm in laufender Zitterung immer über das Gesicht hin – war er Tag und Nacht tätig, besuchte die Verwundeten, tröstete die Kranken und ließ Braten und Fleischsuppen und Tabak und Starkbier hintragen. Ich selbst bin auf seinem Wurstwagen auf einen seiner naheliegenden Pachthöfe mit ihm gefahren, und wir haben Kälber und Hämmel als Trost für die Lazarette bei der Rückfahrt als Reisegesellen neben uns gehabt.

Aber Graf Geßler war nicht bloß Krankenpfleger und Lazarettwärter sondern führte jetzt wirklich einen Generalstab. Er hatte vor vielen andern redlich in den Arbeiten mitgewirkt, wodurch es Gneisenau gelungen war, in wenigen Monaten in Schlesien eine Landwehr von 60 000 Mann auf die Beine zu bringen; jetzt war er zum Generalissimus des schlesischen Landsturms ernannt. Hier werde denn auch eine der Taten erzählt, die er in dieser Eigenschaft vollbracht hat.

Wir waren einen guten Nachmittag nach unsrer Gewohnheit durch die Stadt und um die Stadt spazieren gegangen und sprachen auf dem Rückwege bei dem Oberpastor Tiede ein, wo uns ein gefangener französischer General mit seinem Adjutanten auf dem Hofe vorüberging, die bei dem Pastor einquartiert waren. Im Gespräch mit dem Grafen klagte der Pastor, wie diese Franzosen sich oft trotzig und übermütig gebärdeten und wohl durchblicken ließen (sie hatten gewiß von der Schlacht bei Dresden schon Wind bekommen, denn ihre Späher hatten sie allenthalben), der große Napoleon werde hier bald wieder aufmarschieren; ja der Küster habe ihm erzählt, der General sei gestern nachmittag mit einem andern Offizier schon auf den Kirchturm gestiegen, als wenn er nach den heranmarschierenden Franzosen aussehen wolle. Bei diesen Worten zog mein Graf seine zornige, sarkastisch-ironische Miene an, womit er einem durch die Seele bohren konnte, und rief: »Schämt Euch! Ihr dicker, starker Pommer solltet doch wissen, wie man unter solchen Umständen mit solchen Kerlen umgehen muß – das Hausrecht! Wofür wachsen denn Stöcke und Hanf?« Damit faßte er ihm gutmütig die Hand und schüttelte sie ihm herzlich. Er hielt sonst große Stücke auf diesen stattlichen, alten Pommerenken – Tiede war aus Pasewalk – der auch ein recht wackrer Prediger war, und besuchte seine Kirche fleißig. Sie wechselten nun noch einige Worte im Zweigespräch, und Tiede erwähnte, daß die Leute der Stadt über die einquartierten, gefangenen Offiziere viele Klage führten über Forderungen, die sie so trotzig machten, als wären sie eben als Sieger nach einer gewonnenen Schlacht hier eingerückt.

Wir gingen, uns begegnete der zurückkommende General und grüßte den Grafen, den er schon kannte, mit abgezogenem Hute, wogegen dieser kaum die Mütze rührte. Was geschieht? Kaum bin ich auf meinem Zimmer und schaue auf den Markt hinaus, so sehe ich meinen Grafen in seinem goldbesetzten, blauen Kammerherrnrock, einen dreieckigen Hut auf dem Kopf, geschwind über den Markt hinschreiten und ins Kommandantenhaus treten, wo ein alter, verschlissener Oberst Graf Lusi eben den Befehl führte, von Abkunft ein Piemontese. Ich dachte bei mir: Was Wetter gibt es? Dein Graf plötzlich in solchem ungewöhnlichen Staat? Ist etwa ein Prinz angekommen oder ein Feldmarschall, der den Alten so in die Sprünge bringt? Eine kurze Weile, und er kam zurück und sagte mit lustig lächelnder Miene: »Dem Italiener, dem Spazza camino, der sich auch vor seinen Welschen zu fürchten scheint, habe ich tüchtig die Ohren gewaschen; wäre er mir sträubig oder gar grob geworden, sehen Sie, dann hätten diese einmal wieder geklungen.« Er zog ein paar Pistolen aus der Tasche und legte sie vor mir auf den Tisch. –

Den folgenden Tag sah ich die Wirkung dieser gefährlichen Zornerschütterung; es fuhren auf dem Markt wohl vierzig, fünfzig Bauerwägen auf, und General und Korporal, Tambour und Trommelschläger, was von Gefangenen nur in der Stadt war, mit Ausnahme der Kranken und Verwundeten mußte weiter nach Oberschlesien hinauf. Auch für Lusi schaffte er bald einen andern Kommandanten.

Nachdem Geßler diese Großtat verrichtet hatte, kam er beim König mit der Bitte ein, er möge geruhen, ihn von der Oberbefehlshaberstelle des schlesischen Landsturms zu erlösen. Dies verkündigte er mir eines Morgens wie eine große Freudenbotschaft, indem er sagte: »Ich bin eben 60 Jahr alt geworden und habe mich vom Feldmarschall des schlesischen Landsturms losgemacht. Freilich haben sich unsre Jungen unter Yorck und Gneisenau an der Katzbach prächtig geschlagen, doch haben die Platzregen Gottes und alle zu Strömen und Seen gewordenen Bäche und Wiesen auch ihr Teil dazu getan. Was sollte ich, wenn es gelte, mit meinen Webergesellen von Reichenbach, Peterswalde und Langenbila wohl ausrichten? Diese feingliedrigen Kartoffelfresser würden ihren Feldmarschall bald in die schmählichste Flucht mit fortreißen. Ich darf solche Stinkblume nicht in den Kranz von Hohenfriedberg flechten.«

In solcher Art offenbarte sich des Großvaters Blut noch in dem Enkel. Sein Großvater, ein geborner Ostpreuße, war ein tapferster Haudegen gewesen und hatte an der Spitze des pommerschen Dragonerregiments Ansbach-Baireuth und einiger andern Reiterregimenter in der Schlacht bei Hohenfriedberg in Schlesien alle böhmischen und österreichischen Grenadiere durch und durch niedergeritten und zusammengehauen. Das hatte dem tapfern Regiment die Ehre silberner Pauken und prächtigster Fahnen, dem Obersten aber die Grafenwürde und das Geschenk bedeutender Güter von dem großen Könige eingetragen, von welchen dieser Enkel auch einen guten Anteil besaß.

Ich fragte den Grafen einmal nach meiner Weise um den Namen Geßler, ob der Name wohl auf eine mögliche Blutsverwandtschaft mit jenem fabelhaften Landvogt der Schweizer Tellsage Hinweise? Und er hat mir in seiner Weise ungefähr wie folgt geantwortet: »Nun, nun – nach Namen und Stamm soll ein kluger Mann nicht zuviel fragen. Sie wissen schon aus Vater Homers Zeit, wie bescheiden und unsicher seine Helden da immer sprechen, wenn, von der väterlichen Herkunft die Rede ist; toll und trotzig genug wären meine angeblichen Ahnherrn wohl gewesen, um mit dem fabelhaften Geßler aus demselben Stamm entsprossen zu sein; wir stammen der Familiensage nach wirklich aus dem alten Schwabenlande vom Bodensee her, die Geßler sollen mit andern Rittern in den Kreuzzügen gegen die Litauer Heiden nach Preußen gekommen sein. Mein Großvater war ein Preuße und hat einen frommen Bauer freilich keinen Apfel vom Hut seines Sohnes schießen lassen aber sonst tolle Jugendstreiche genug lausen lassen, ehe er bei Hohenfriedberg den tüchtigen Schwabenstreich seines Ursprungs gemacht hat.«

Mit diesem edelsten, trotzigsten Geßlerblute beging ich nun zuletzt noch mit edelstem Wein die Jubelfeier der Leipziger Schlacht, dann packte ich mein Bündel und fuhr auf einem großen, mit vier Pferden bespannten Wagen, auf den auch zurückgelassene Koffer und Gepäck des Ministers geladen wurden, den Weg, der nach Schweidnitz und Goldberg und von da immer weiter gegen Osten So! Muß natürlich Westen heißen. (D. H.) durch die Lausitz au die Elbe führt.

Auf dieser Fahrt schlief ich unter anderm auch eine Nacht in Görlitz, wo ich bei dem dortigen Landpfleger, dem Grafen Reisach, noch einen Steinschen Auftrag auszurichten hatte. Diesen Grafen hatte Stein jetzt zum Landpfleger oder Generalgouverneur, wie man das Amt jetzt mit einem welschen Namen nennt, in der eroberten Landschaft Lausitz ernannt. Dieser kleine, schwäbische Graf war schon im Frühlinge in Dresden bei uns erschienen, ein Mann guten Namens und des edelsten Adelstammes, der im Jahre 1809 während des Tiroler Aufstandes in den damaligen, südlichen Bayerbezirken, in Vorarlberg usw. der deutschen Sache gegen die Franzosen unter der Hand gute Dienste getan haben sollte. Unter dem Titel, von dem bayrischen Minister Montgelas verfolgt zu sein, war er bei Stein eingeführt und jetzt hier in diese hohe Stelle gesetzt. Ein kleines, freundliches, geschmeidiges, bewegliches Männchen, das aus den kleinsten Augen blinzelte und mit einer immer vornüber geneigten, immer gnädigst und demütigst zugleich lächelnden Gebärde wenigstens kein stolzes Herrengeschlecht verriet, obgleich sein Ururgroßvater Graf Reisach der erste Reichskammergerichtspräsident in Speier gewesen war. Unter den vielen Flüchtlingen und Herbeigekommenen in dem Gedränge und Getöse unsers Reichenbacher Hauptquartiers war er auch gewesen, wo er unten im Tale bei einem Wassermüller wohnte, der Kronprinzenlehrer Geheimer Rat Delbrück hart neben ihm. Ich habe ihn bei Stein und auch dort unten im Tal mehrmals gesehen, bin auch mit Savigny zu ihm hinabgestiegen, der den von Montgelas Verjagten sehen und sich über bayrische Dinge mit ihm besprechen wollte. Mir fiel sein ganzes Wesen und seine Dienerschaft als etwas Wunderliches auf; es waren wie er kleine Figürchen, die drei zusammen echte Liliputer – ein kleines, feines Herrchen, ein kleines Reisewägelchen, zwei kleine Pferdchen davor, ein kleiner, hübscher, jugendlicher, rosenwangiger Kutscher und dito ein ähnlicher Diener, nichts als Hübschheit und noch bartlose Jugend. Ich dachte bei mir: Nun in Schwaben müssen sie unter der Jugend so nach Soldaten getastet haben, daß ihnen nur solche Exemplare übrig geblieben sind. Ich hatte mir dies Völkchen schon in Reichenbach mit Verwunderung angesehen, in Görlitz, wo ich Mittag bei Reisach aß, kam ich dahinter, welche Verkappung und Verpuppung es unter diesen Liliputern gab. Der kleine Diener, als ich hereintrat, im Hemdärmel dastehend, zog auf der Flur eben seinen Überrock an; so unschuldig war ich nicht mehr, daß ich nicht gemerkt hätte, daß unter dem gebauschten Monturrock und der noch mehr aufgebauschten Weste ein Weiberbusen steckte. Jetzt sah ich mir den Kutscher auf Ähnliches an, und meine Augen konnten sich an der Kinnglätte und der Vollbusigkeit nicht mehr irren. Ich dachte bei mir: Wenn der Stein wüßte, daß sein leichtsinniger, lockerer Landpfleger solche verhüllte Hühner statt der Hähne mit sich führt, wohin würde der Strengsittliche mit ihm fahren? Und er ist endlich mit ihm durchgefahren oder vielmehr, er hat mit ihm durchfahren gemußt.

Der kleine deutsche Patriot Reisach hatte nicht bloß vor dem Haß des mächtigen Montgelas sondern vor bayrischen Richterstühlen die Flucht ergreifen müssen. Es waren Akten gegen ihn eingesandt worden, welche die schlimmsten Dinge bezeugten, nicht nur Anklagen sondern gerichtliche Erweisungen. Seine Auslieferung als eines Verbrechers war verlangt worden. Nun hatte er auch vor Steins Zorn die Flucht ergriffen, welcher als ein von ihm Getäuschter ihn wohl ohne viel Umstände dem bayrischen Minister ausgeliefert haben würde. Er war bis in unsern äußersten deutschen Westen, bis an die holländische Grenze geflohen, wo der wackre Oberpräsident von Vincke, der in Münster wieder den preußischen Regierungsstab in die Hände genommen, ihn in seinen Schutz genommen und gegen Montgelas' Rache gedeckt hatte.

Stein hat nun den Reisach auch so laufen gelassen. Ich weiß nicht, durch welche Gunst und welchen Wechsel der Dinge Reisach in den folgenden Jahren hier am Rhein nahe bei uns Bonnern festgeworden ist; genug er saß in Koblenz als preußischer Archivrat angestellt. Hier sollte das Steinsche Donnerwetter ihm doch noch einmal auf den Kopf herabfahren.

Es begab sich nämlich, daß Stein einmal zu einem Gastmahl bei dem General Borstel eingeladen war; als er nun da den Grafen Reisach mit andern Geladenen hereintreten sieht, ruft er mit seiner Jachheit aus: »Der Schurke hier muß heraus oder ich, wir beide können nimmer miteinander tafeln.« Natürlich machte sich nun Reisach auf geschwindesten Füßen wieder die Treppe hinunter.

Hier in Koblenz hat er denn als Archivrat doch fortgelebt und, wie man behauptete, als ein Späher und Berichterstatter im Wittgenstein-Kamptzischen Solde außer seinem Gehalt noch eine geheime Zulage genossen, bis ihn, beim Regierungsantritt Königs Friedrich Wilhelm IV. der Einfluß des Ministers von Bodelschwingh hat wegjagen geholfen. Da habe ich, der ihn seit Görlitz nimmer wieder gesehen hatte, wahrscheinlich aus Erinnerung vergangener Tage von Dresden und Reichenbach her von dem Unglücklichen ein Paar Briefe erhalten, mit der Bitte, ich möchte doch zu seiner Wiederherstellung wirksam sein. Ich deuchte ihm jetzt wohl in Gnaden zu stehen, weil ich von der neuen Regierung nach langer Stillstellung meines Amtes wieder in Tätigkeit gesetzt war. Was der Mann sich wohl von meinem Einflusse eingebildet hat? O wechselnde Schicksale und Gedanken der Menschen! Ich habe dem Elenden gar nicht geantwortet. – Ich einem Kamptzischen Schelm und Späher helfen, wenn ich Schwacher auch helfen gekonnt hätte? Ich weiß nicht einmal, wo er später gelebt hat, noch wo er begraben liegt.

Bei meiner weiteren Fahrt nach Leipzig kam ich endlich von Meißen über die Elbe; über Dresden ging es nicht: darin lag noch der französische Marschall St. Cyr mit 35 000 Franzosen, und die Russen unter Bennigsen lagen davor als Belagerer. Hier in einem kleinen Flecken unweit Mühlberg vernahm ich, dort in einem kleinen Wirtshause wohne mein lieber Körner mit den Seinigen, der sich vor der Belagerung aus Dresden weggemacht hatte. Ich sah die guten Menschen, wir freuten uns gegenseitig, und ihr Erstes zu mir waren Fragen wegen ihres Theodors, ob ich nichts Neues von den Lützowern zu erzählen wisse? Ich mußte nein antworten. Sie waren nämlich in Angst, hatten von Gefechten in Mecklenburg und von Verwundung des Sohnes Gerüchte vernommen. Sie gaben mir Briefe an ihre Freunde in Leipzig mit und die Bitte baldigster Meldung, wenn ich über den Sohn etwas erfahren könne. Ach! ich mußte ihnen nur zu bald die Trauerbotschaft schreiben: »Euer Sohn ist durch eine Kugel gefallen und liegt in Mecklenburg im Schatten einer deutschen Eiche begraben.« –

Leipzig näherkommend sah und erfuhr ich nun durch den eignen Augenschein an den greulich zerfahrenen Straßen, an eingeäscherten und in allen Zäunen und Gärten verwüsteten Dörfern und an hundert andern Zeichen der namenlosen Schrecken und Greuel, was Krieg heißt, besonders ein Krieg, wo mehr als eine halbe Million streitbarer Männer und mehr als tausend schwere Geschütze drei Tage zwischen Sieg und Tod miteinander gerungen haben.

Meine Ankunft war an einem der letzten Tage des Weinmonds. Ich fand jetzt meinen Minister wohlauf und frisch und doppelt freudigen Mutes, in den abendlichen Teestunden immer eine heitre, fröhliche Gesellschaft um ihn, unter dieser zwei liebste Freunde, Reil, den großen Arzt, und den Kammergerichtsrat, späteren Minister Eichhorn. Reil regierte hier in Leipzig jetzt als der ärztliche Feldmarschall über die Ärzte und Wächter der Spitäler. Wir fanden den herrlichen Ostfriesen in der Gesellschaft munter und frisch wie sonst, er sagte uns aber, er glaube sich durch einen Berliner Freund angesteckt, den er besucht, und der ihn einige Stunden vor seinem Todeskampfe in krampfhafter Zuckung umhalst und mit seinem Atem vergiftet habe: seit dem Tage fühle er den Tod wie ein schweres Blei in seinen Gebeinen. Wir nahmen das nicht so schwer, aber er hatte leider wahr geredet; einige Wochen darauf, als er zur Hochzeit seiner ältesten, schönsten Tochter mit meinem Freunde, dem Baron Friedrich Schele, von Leipzig nach Halle reiste, ward die Fiebertodesahnung an dem Vortrefflichen erfüllt.

Der Minister fuhr etwa acht Tage nach meiner Ankunft mit meinem Eichhorn, der jetzt sein diplomatischer Adjutant werden sollte, ins Hauptquartier der Monarchen nach Frankfurt am Main. Ich blieb zurück und trieb meine buchlichen Künste und pamphletierte dabei recht fleißig. So eine Leipziger Schlacht mußte ja wohl mein bißchen Lebenskraft verdoppeln. Einiges gelang mir daher doch ganz gut. Mein Büchlein über den Rhein als deutschen Strom, aber nicht als französischen Grenzstrom S. Kleine Schriften I, S. 145-197. (D. H.), wozu die Franzosen ihn stempelten und heute immer noch stempeln möchten, hatte Geßlers und Körners und Steins vollen Beifall gefunden und brachte mir auch einen Belobungsbrief von Hardenberg, den ich bisher nur von fern gesehen hatte.

Auch hier in Leipzig lebte ich hin und wieder mit lieben, gleichgesinnten Genossen; auch ein Freund aus meiner Heimat, aus Rügens äußerster Nordspitze, der brave Pastor Baier aus Altenkirchen auf Wittow, kam mit einem Beutel mit etwa 1500 Reichstalern an Rügens Landwehristen zu verteilen, wenn etwa Kranke oder Verwundete derselben hier in den Lazaretten lägen. Bernadotte hatte sein Schwedenhänschen, worin diese Rügenschen Jünglinge eingereiht waren, freilich nach der Möglichkeit zu schonen gesucht, indessen bei Leipzig hatte ihn der Blücher den dritten Tag der Schlacht doch etwas mit ins Feuer hineinzuzwingen gewußt; es waren doch einige schwedische Späne gehauen, unter ihnen ein Edelgefallner, ein Hauptmann der schwedischen Artillerie von Mühlenfels, älterer Bruder des oben genannten Lützowers Ludwig von Mühlenfels.

Hier in Leipzig lebte ich nun über zwei Monate; in rüstiger, lustiger Arbeit, ich kann wohl sagen in Ehren und Freuden, wie die Zeit sie gab, siegesfroh unter Siegesfrohen. Auch die meisten Leipziger mitten unter allen greulichsten Erscheinungen des Elends, Jammers und Grauens, mitten unter den Leichenkarren, die mit vielen verderblichem Pesthauch täglich durch die Gassen ihre fürchterlichen Umfahrten hielten, teilten doch mit uns aufrichtig die Freude, daß der große Reichsfeind auf diesen Gefilden alter Mordschlachten mit seiner besten Stärke sehr zusammengeschmettert war.

Bald nach Neujahr 1814 Am 5. Januar. (Briefe an Johanna Motherby, S. 144.) (D. H.) trat ich meine Fahrt gegen den Rhein an mitten durch Schnee und Eis im brennendsten Winter, besuchte Frau von Wolzogen Karoline von Wolzogen, geb. von Lengefeld, Schillers Schwägerin. (D. H.) in Weimar, mußte aber von der gewöhnlichen großen Straße vor Erfurt abbeugen, wo die Zitadelle noch von Franzosen besetzt und eben von den belagernden Preußen umdonnert war. Ich fuhr dann des Weges über Arnstadt auf Schmalkalden den Inselberg hinunter, wo auf der eisglatten Höhe dieses Gipfelberges des Thüringer Waldes meine Pferde mit Wagen und Gepäck den Berg herunterrollten. Ich war glücklich früher ausgestiegen und lief nebenher, aber das Glück war überhaupt mit mir: Pferde, Wagen, Gepäck, alles unbeschädigt unten wieder gesammelt, und jegliches in seine Ordnung gebracht.

Ich schlief in Schmalkalden, wo auch Tausende von Kranken und Verwundeten gehäuft gelegen und viele der Einwohner mit ins Grab gerissen hatten. Die kleine Stadt lag wirklich mitten an einem trübsten Wintertage wie eine in Schwarz gekleidete Trauerstadt. Die folgende Nacht schlief ich in Würzburg, von wo es über Aschaffenburg nach Frankfurt ging, wo ich den zwölften oder vierzehnten Januar Am 9. Januar, s. Meisner u. Geerds, E. M. Arndt, S. 104. (D. H.) anlangte. Von hier war das Hauptquartier der Kaiser und Könige und mit ihnen auch Stein weiter nach Süden gegen die Grenzen der Schweiz gezogen und bald darauf in Frankreich selbst eingezogen.

In dieser alten, heiligen Reichsstadt Frankfurt habe ich nun beinahe ein Jahr und später in verschiedenster Zeit wieder Jahre und Monate verlebt und, wie ich mir einbilde, viele Freunde und wenigste Feinde gewonnen. Ich bin – in jenen Tagen auch eine Kriegslast – bei der edlen, altburgundischen Familie Gontard, dann bei dem wackern patriotischen Deutschen, dem Buchhändler Eichenberg, auf gut soldatisch einquartiert gewesen und habe die Liebe und Freundschaft dieser trefflichen Menschen gewonnen, die mir bis in diese spätesten Jahre geblieben ist. Eichenberg war ein sehr gebildeter Mann, ein Zögling des Dessauer Philanthropins; sein Vater hatte Goethens erste Jünglingsproben verlegt; seine Witwe lebt als treueste Freundin mit mir noch ins höchste Alter hinein.

Was tat und schaffte oder schuf ich hier m Frankfurt? Ich antworte: Ungefähr dasselbe, was ich in Königsberg, Dresden und Leipzig getan hatte. Bei Gelegenheit hatte ich einzelne Ausrichtungen und Aufträge von dem Minister, die mich wohl auf einige Wochen oder Monate nach Koblenz, Mainz, Worms und andern Orten entführten, auch mir das Leben und Treiben der Hofhaltungen von Darmstadt und Baden-Karlsruhe zu betrachten. Hier in Frankfurt stand aber die deutsche Zentralverwaltung jetzt fest, obgleich ihr Haupt jetzt mit den Herrschern in Frankreich umherzog. Unter dem Schutz dieser Verwaltung hatte ich Recht und Macht in meiner Weise mit der Feder und durch eine freieste Presse zu wirken. Hier war von preußischer Seite jetzt besonders wirksam der Oberst Rühle von Lilienstern für den Krieg und für das allgemeine deutsche Bewaffnungswesen, und für das mehr Innerliche, vorzüglich für das Verpflegungs- und Lazarettwesen, war der edle, vortreffliche Graf Solms-Laubach berufen, mit welchem ich viel zu verkehren hatte; von Österreich waren ein Herr von Handel und Major Meyern, Verfasser der Diana Sora Dya-na-Sora oder die Wanderer. (D. H.), bestellt, mit welchem ich manche genialische Umzüge und Ausflüge an dem schönen Rhein umher gemacht habe; von andern deutschen Staaten waren andere Männer da; Rußland ward hier durch Nikolaus Durjeneff vertreten, dessen Bruder Alexis Die Brüder Nikolaus und Alexander Turgenieff sind beide als Historiker bekannt. (D. H. ich in Petersburg sehr gekannt hatte.

Dieser Nikolaus war einer kleiner, gescheiter, braver, hinkender Moskowiter von unverwüstlich fröhlicher Laune, mit dem ich auf einem sehr guten Fuß stand, und den auch Stein gern mochte. Er lebt jetzt seit einem Menschenalter an der Loire in Frankreich, seit der Zeit der großen russischen Verschwörung bei dem Regierungsantritt des Kaisers Nikolaus. Er war zu seinem Glücke eben damals auf Reisen im Auslande, sonst würde das Sprichwort Mitgefangen mitgehangen gewiß an ihm in Erfüllung gegangen sein. In despotischen Staaten bedarf es oft nur des Winkes, daß man mit einem Verschwörer weiland in Bekanntschaft, Brüderschaft oder Briefwechsel gestanden hat, um solche Verbindung später bei Gelegenheit durch einen gemeinsamen Strick auf das engste zu verknüpfen. Er hatte solche oft sehr zufällige Bekanntschaften und Jugendbrüderschaften mit einzelnen der Angeklagten gehabt und ist deswegen zum Tode verurteilt worden. Vor etwa zehn Jahren schickte er mir als Geschenk ein sehr lesenswertes Buch über die russischen Zustände seiner Zeit unter dem Titel La Russie et les Russes. III Tomes Paris 1847. Nun lese ich vor einigen Wochen in guten Zeitungen: Nikolaus Durjeneff sei von Kaiser Alexander begnadigt und werde nach Rußland zurückkehren. Ich glaube das nicht, ich glaube, mein gescheiter Nikolaus wird kein Narr sein; ich kann es nicht glauben, wenn ich einige Kapitel seiner Considérations wieder lese. O du lieber Gott! Da ist Stoff für mehr als einen russischen Strick, für mehr als eine russische Knute; wenn der Mann Feinde hat, so könnten sie daraus solche Stellen herausklauben, solche Deutungen aus diesen und jenen Winken und Andeutungen machen, die nicht allein in Rußland sondern in den meisten Ländern einem ehrlichen Mann einen Hochverratsprozeß an den Hals hängen könnten.

Nach geschlossenem Frieden kam Stein hier in Frankfurt an um die Mitte des Monats August 1814. Ich saß in meinem Wagen auf einer Fahrt von Frankfurt nach Mainz, da wollte er mir unweit Höchst mit Extrapostflügeln vorüberfliegen. Ich erkenne ihn sogleich, General Boyen sitzt neben ihm im Wagen; auch er erkennt mich, ruft: Gleich umgekehrt! Mit mir nach Frankfurt zurück! Ich tat so, und saß mit ihm und Boyen und dem braven General Kleist-Nollendorf im Römischen Kaiser bald am Mittagstisch Diese Begegnung fand nicht im August, sondern am 13. Juni statt. Auch kehrte Arndt nicht mit nach Frankfurt zurück, sondern setzte seine Fahrt nach Mainz fort. (Briefe an Johanna Motherby, S. 159.) (D. H.). Das ward uns allen wirklich ein rechtes, deutsches Freudenmahl. Er befahl vom besten Elfer, und wir tranken und ließen die Gläser zusammenklingen. Es wurden nun nach Verlauf von fast anderthalb Jahren Da sich Stein und Arndt im November 1813 in Leipzig getrennt hatten, so waren kaum 8 Monate seitdem verflossen. (D. H.) mit ihm in Frankfurt wieder mehrere recht fröhliche Wochen verlebt. Er war die ganze Zeit dieses seines dortigen Verweilens ungewöhnlich hell und heiter und auch seiner Weise nach sanft. Wenn vieles auch nicht nach seinem Wunsch geraten war, konnte er sich doch fast wie ein siegreicher Triumphator fühlen; er war auch dadurch glücklich, daß er sein altes Nassau mit eignem Weib und Kindern eben einige Tage wiedergesehen hatte.

Hier werden ein paar Geschichten Steinscher Art, teils von mir selbst miterlebte, teils von zuverlässigen Freunden erzählte Geschichten von mir wiedererzählt: Stein war ein großer, deutscher Name geworden, Berufene und Unberufene drängten sich zu ihm und fanden sich zuweilen abends um seinen Teetisch versammelt. Dieser Teetisch stand jetzt gewöhnlich in einem hübschen Garten an dem Wege nach Bornheim, wo er seine Sommerwohnung genommen hatte. Hier erschien auch der Kronprinz Ludwig von Bayern, gleich Stein von dem feurigsten Mut für ein neues, freies Deutschland entflammt und daheim ein erklärter Gegner des Premiers seines Vaters, des Ministers Grafen Montgelas. Der Prinz, feurig fürs deutsche Vaterland und freundlich und liebenswürdig wie er war, nahm auch mich wohl zuweilen an seinen Arm und durchwandelte geschwinden Schrittes mit mir die Laubgänge. Da tönten des Jünglings Worte, da er sehr taub war, denn über die Hecken des Gartens hinaus, vielleicht tönten auch die meinigen, da ich kein Flüsterer und Leisesprecher bin. Dies machte denn, daß die Leute, welche überdies den berühmten Stein und einen Kronprinzen gern sehen wollten, auf der Promenade am Garten sich häuften und stillestanden. Da rief Stein uns zu: »Kommen Sie, Königliche Hoheit, und kühlen den Eifer mit einer Tasse Tee. Sie sprechen so laut, daß die Leute stillstehen und glauben, ich halte hier einen Jakobinerklub.« Und der gute Kronprinz lächelte und setzte sich.

Einmal besuchte Professor Schlosser, jetzt in Heidelberg, damals Lehrer am Frankfurter Gymnasium, den Minister. Dieser fragte ihn: »Nun, lieber Schlosser, wie steht's denn daheim bei Ihren Friesen im Lande Jever?« – »O, Exzellenz, es geht ihnen auch schlecht wie im ganzen übrigen Deutschland, aber immer noch viel besser als anderswo; wir haben nur freie Bauern bei uns und gar keinen Edelmann.« Und Stein herzlich lachend: »Sie wollen sagen, die Bauern haben sie alle einmal weggejagt oder totgeschlagen, wir beide schlagen uns einander nicht tot.«

Ein Graf Waldbot-Bassenheim kommt Stein besuchen, mit feierlicher Hersagung aller seiner Titel, mit dem Oberburggrafen der Reichsfreiheit Friedberg beginnend, sich vor ihn stellend – und Stein nimmt geschwindest einen Stuhl und setzt ihn vor den Bassenheim hin, mit den Worten: »Setzen Sie sich, Herr Graf, ich habe für alle die Herren, die Sie mir nennen, nicht Stühle genug.«

Stein ist einen Tag zum Mittagsessen auf dem Landhause seines Bankers Metzler & Komp. Als sie eben beim Kaffeetisch sitzen, fährt ein prächtiger Wagen vor, und der bayrische Feldmarschall Graf Wrede läßt sich melden. Bei diesem Ton springt Stein auf, öffnet die Tür und ruft seinen Leuten sogleich anzuspannen. Metzlers wollen ihn halten, aber er eilt hinaus, sagend: »Mit einem solchen verfluchten Räuber sitze ich nicht in demselben Zimmer.« Er läßt den Bayer an sich vorübergehen und fährt fort. Dieser Zorn gegen Wreden hatte noch seinen besondern Haken. Von allen deutschen Truppen unter französischem Kommando hatten in Norddeutschland die Bayern und die Darmstädter durch Roheit, Zuchtlosigkeit und Plünderungssucht den schlechtesten Ruf hinter sich gelassen. Wrede ward wohl mit Recht beschuldigt, den Seinigen nicht nur vieles nachgesehen sondern ihnen auch selbst das böseste Beispiel gegeben zu haben. Bei einem solchen Beispiel hatte ihn nun Stein erfaßt und zwar recht tüchtig angefaßt. Wrede war in Schloß Öls in Schlesien einquartiert, im Schlosse des Herzogs von Braunschweig. Hier hatte er es ganz den gierig unverschämten, französischen Räubern nachgemacht, den Soult, Massena und ihresgleichen, welche das Silber (Löffel, Teller), womit sie von ihren Wirten bedient wurden, nach der Tafel gewöhnlich einpacken und mit ihrem Gepäck wandern ließen. So hatte Wrede in Öls ganz nach französischer Marschallsweise bei seinem Abzuge alles herzogliche Schloßsilber mit zu seinem Feldgepäck legen lassen. Der arme Schloßvogt hatte dem nicht wehren gekonnt, hatte aber, damit er selbst nicht für den Räuber und Dieb des herzoglichen Silberschatzes gehalten würde, den Marschall um einen Schein gebeten, daß er in Kraft des Kriegsbefehls es sich habe ausliefern lassen. Und wirklich hatte der Feldmarschall ihm den genau spezifizierten, vorgelegten Schein bei seinem Abmarsch in einfältiger, deutscher Überraschung unterschrieben. Dieses Papierchen war nun im Jahr 1813 Steins Händen übergeben, und Wrede hatte den Wert des Raubes im folgenden Jahre mit einer hübschen Summe Geld zurückzahlen müssen Diese Erzählung von dem Raub Wredes ist von Treitschke als unrichtig nachgewiesen, s. Einleitung des Herausgebers. (D. H.)..

Das Jahr 1814 lief schon gegen den Herbst abwärts, die Heere der Verbündeten zogen über den Rhein wieder gegen Osten; auch die Kanzlei der Zentralverwaltung und ihre Geschäfte wurden geschlossen und abgeschlossen. Von dem freilich, was Stein mit dem Entwurf und Anfang dieser Zentralverwaltung gemeint hatte, war zwar leider wenig erreicht worden, aber doch war viel Gutes durch sie getan und bewirkt. Das Beste, was sie bewirkt hat, war die Wirkung, die sie auf die Meinung und den Glauben des Volks gehabt hat; das Beste des Menschen ist ja immer sein Glauben und Denken. Es dämmerte nach einem fünf Jahrhunderte langen, traurig durchschnarchten, starren Schlaf bei den Deutschen allmählich der Morgentraum von der Wiederauferstehung eines deutschen Volkes und Reiches auf. Wir packten also in Frankfurt ein, und jeder einzelne ging nach Hause an seinen Ort. Stein zu den Seinigen nach Nassau, um von da später nach Wien zu gehen. Ich machte eine Lustreise – ich hatte sie durch heiße Sommerarbeit wohl verdient – nach Köln und Düsseldorf, von dort wieder nach Nassau, welches ich mir im verflossenen Jahre zuerst besehen hatte.

Ich ward dort im Schlosse von dem Minister und den Seinigen auf das allerfreundlichste empfangen. Er war außerordentlich heiter und munter und lief mit mir und seinen beiden Töchtern, von welchen Henriette schon erwachsen, Therese ein kleiner, mutwilliger Aufschößling war, gleich die ersten Tage auf allen Wegen und Stegen durch Wald und Feld und über Berg und Tal herum. Da mußte ich das schöne, mutwillige Thereschen, welches immer Übersprünge machen wollte, und über dessen unschuldige Wildheit der Papa sich herzlich freute, denn oft über kleine Bäche und Gräben auf meinen Armen mit mir fortschnellen, wobei es sich wohl begab, daß sie ihre eigenfüßige Macht zeigen wollte und zu Papas Ergötzung ein Stiefelchen im Schlamm stecken ließ.

Hier war nun auch Steins Schwester Marianne, Dechantin des adligen Fräuleinstifts Wallenstein zu Homburg Damenstift Wallenstein, ehemals in Homberg, seit 1832 in Fulda. (D. H.) in Oberhessen, im kleinen Duodezformat an Leib und Geist ein echtestes Ebenbild des Bruders. Aber sie war ein Weib, alles in ihr besonnener und milder, in der Rede dieselbe Kürze und Geschwindigkeit, derselbe unbewußte schlagende Witz, ihr Wuchs klein, und auch darin Verkürzung und Verkleinerung, der Kopf schon mit dem Schnee des Alters bedeckt, aber daraus leuchteten ein paar prächtige, wie Sterne funkelnde Augen. Sie war eine gelehrte Dechantin, die mit ihren Fräulein wohl hätte Schule halten und ein Examinatorium und Disputatorium über die alte, deutsche Reichsverfassung hätte anstellen gekonnt. Sie kannte die alten, deutschen Ordnungen und Verfassungen nicht bloß auf dem Nagel, sondern trug sie im lebendigsten Herzen. Rührend stand sie neben dem Bruder, dessen gewaltige Lebendigkeit vor ihr oft in stilleren Ufern dahinfloß. Sie war um beinahe zehn Jahre älter als er, hatte in ihrer Jugend, als er noch als Knabe dahinsprang, mit der Mutter Haus und Hof verwalten und, wie er erzählte, auch ihn erziehen und seinen feurigen Mut bändigen geholfen. Er hing auch mit einer Art Verehrung an ihr, und ich hörte ihn, wenn er wohl mal über seine Feurigkeit und seinen zu reizbaren Jachzorn klagte, wenn er in einer Anklage seiner selbst klagte, sagen: »Ohne meine fromme Mutter und meine ebenso fromme und gute Schwester Marianne hätte ein Erzbösewicht aus mir werden können.« In solchen Superlativen sich auszusprechen lag einmal in seiner Art.

Diese kleine Frau Dechantin war wie ihr Bruder von einer napoleonischen Ächtung getroffen und als eine Aufruhrstifterin nach Frankreich abgeführt und nur durch die Verwendung ihres Neffen, des polnisch-sächsischen Ministers Senfft von Pilsach, wieder losgelassen. Bei dem hessischen Dörnbergaufstande des Jahres 1809 gegen König Hieronymus war eine Fahne der Aufständer erbeutet, welche eine Kanonissin des Stiftes Wallerstein mit Blumen und Zeichen deutschen Anspiels und Vorspiels schön ausgeblümt und gestickt hatte S. Erinnerungen S. 200, Anm. (D. H.). Da hatte man nun gleich nach dem geächteten Namen Stein gegriffen; ihren Bruder freilich würde Napoleon, wenn er ihn einmal in seinen Klauen gehabt hätte, nimmer lebendig losgelassen haben.

In dem glücklichen, nun wieder versammelten Steinschen Hause flutete nun fast tagtäglich eine Flut besuchender Freunde und auch vieler Fremden herein, besonders viele russische Generale und liebe Bekannte von dem Petersburger Sommer her. Mit mir saß gleich den ersten Tag der alte, schlaue, graue Hetman Platow mit andern Moskowitern zu Tische. Nach dem Essen ging die Gesellschaft die Burg Stein besuchen. Hier hatte ein alter Maurermeister in Nassau, der vor vielen langen Jahren des Ministers Spielkamerad gewesen war und sich immer als Allergetreuester zum reichsfreiherrlichen Hause Stein gehalten hatte, den Einfall gehabt, an den Grenzen, welche auf der Höhe des Bergkegels und an den Wiesen der Lahn hinlaufen und das Steinsche und herzogliche Gebiet scheiden, durch die mühevollste und künstlichste Zusammensetzung von Steinen, Moosen, Blumen und Zweigen die Taten und Leiden der jüngsten Feldzüge, die Einäscherung Moskaus, den Rückzug und die Flucht der Franzosen, die Leipziger Schlacht usw. usw. bildlich darzustellen. Es war die Arbeit wie einer natürlichsten, kindlichen Dankbarkeit. Da war denn auch Steins Namen und Wappen und mehrere wohlverdiente Kränze an verschiedenen Stellen von dem treuen, alten Meister angefügt. Stein hatte schon von dieser seiner Verherrlichung gehört und finster dazu gesehen. Nun als er sie wirklich erblickte, geriet er in Zorn und wollte alles sogleich wegschaffen lassen, alle die schöne, mühevolle und kunstreiche Arbeit, worauf der fromme Meister vielleicht die Feierstunden einiger Wochen verwandt hatte. Die gute Dechantin war außer sich, wagte aber nicht, sich gegen zu legen, seufzte nur: »Ach der arme, alte Mann!« Sie sprach zu mir, eine Fürbitte zu wagen; bald kamen andre Gäste, welche vorstellen und bitten helfen mußten – und wir brachten es dahin, daß Stein freilich verdrießlich wegging mit den Worten: »Die Leute könnten glauben, ich sei ein alter kindischer Narr geworden und bilde mir ein, die Welt erobert zu haben,« aber er erlaubte endlich doch, daß Wind und Wetter das Werk des alten Maurers langsamer zerstören durften.

Dies war ein Bildchen aus dem Hausleben. Hier noch ein Paar Bilder, worauf bedeutende Menschen als die Hauptfiguren stehen.

Im Sommer des Jahres 1815 kam Stein nicht lange vor seiner zweiten Fahrt nach Paris in Köln an, wo ich damals saß. Er schickte einen Bedienten, ich möge nach dem Dom kommen, wo ich ihn finden werde. Da kam auch sein Adjutant Eichhorn eben frisch aus Berlin auf einen Morgengruß zu mir, im Begriff nach Paris weiter zu gehen, wo er als des preußischen Ministers Freiherrn Altenstein Adjutant wirken sollte. Altenstein nämlich war als ein sehr wissenschaftlicher Mann dem Staatskanzler besonders empfohlen, um aus der großen französisch-napoleonischen Löwenhöhle Paris den Raub deutscher Denkmäler, Bibliotheken, Urkunden usw. wieder herauszuholen, ein Diebsraub, welchen das erste, gebildetste Volk Europas, wie es sich immer betitelt, mit der schamlosesten Habgier aus allen Ländern zusammengeschleppt hatte. Ich sagte ihm: Stein ist da, wir finden ihn im Dom – und wir gingen flugs dahin. Er begrüßte uns auf das allerfreundlichste – und wen erblickten wir nicht weit von ihm? Da stand der neben ihm größte Deutsche des neunzehnten Jahrhunderts, Wolfgang Goethe, sich das Dombild betrachtend. Und Stein zu uns: »Lieben Kinder, still! still! nur nichts Politisches! Das mag er nicht; wir können ihn da freilich nicht loben, aber er ist doch zu groß.« Wunderbar gingen die beiden deutschen Großen hier nebeneinander her wie mit einer gegenseitigen Ehrfurcht; so war es auch im Gasthause am Teetisch, wo Goethe sich meistens sehr schweigsam hielt und sich früh auf sein Zimmer zurückzog.

Wie waren die beiden zusammengekommen? Wie dann miteinander nach Köln gekommen? Goethe hatte seine Vaterstadt und einige alte Genossenschaft und Freundschaft einmal wieder besucht. Da hatte ihn sein Herz gefaßt, und er hatte sich wieder das Herz gefaßt, die Pfade, auf welchen seine lustige, genialische Jugend sich ergangen und getummelt hatte, die Pfade, welche bei Wetzlar an der Lahn und durch ihre schönen Täler nach Nassau, Koblenz, Ehrenbreitstein und Valendar hinlaufen, noch einmal wieder zu durchwandeln. Da vernimmt Stein in seinem Schlosse die Nachricht, Goethe ist in Nassau im Löwen abgestiegen. Er flugs in den Löwen und holt und zwingt den Sträubigen in sein Schloß hinauf. Da nun Goethe einen Ausflug nach Köln vorhat, so läßt Stein seinen Wurstwagen vorspannen, und sie rollen zusammen den Rhein bis nach Köln hinunter. Ich kann mir denken, wie die beiden Reisegefährten jeden Zusammenstoß vermieden; es war gewiß die äsopische Reise des steinernen und irdenen Topfes. So gingen sie auch in Köln nebeneinander hin mit einem zarten Noli me tangere. Nimmer habe ich Steins Rede in Gesellschaft stiller tönen gehört S. Erinnerungen S. 215-217. (D. H.).

Hier konnte ich mir unsern Heros Goethe ein paar Tage recht ruhig betrachten, mich seines herrlichen Angesichts erfreuen: die stolze, breite Stirn und die schönsten, braunen Augen, die immer wie in einem Betrachten und Schauen begriffen offen und sicher feststanden und auf jeden Gegenstehenden und Gegenschauenden trafen; aber doch gewahrte ich, was mir in seiner Haltung früher schon aufgefallen war, ein kleines Mißverhältnis in der Gestalt des schönen Greises. Wann er stand, gewahrte, wer überhaupt dergleichen sehen kann daß sein Leib eine gewisse Steifheit und gleichsam Unbeholfenheit hatte: seine Beine waren um sechs, sieben Zoll zu kurz. Ich habe mir das Wesen der Zukurzbeinigen im Leben genug betrachtet. Sie entbehren immer einer leichten, natürlichen Beweglichkeit und Schwunghaftigkeit des Leibes, und ich glaube daher, daß der junge Goethe, von seinem achtzehnte bis fünfunddreißigsten Jahr gerechnet, als Reiter, Fechter, Tänzer, Schlittschuhläufer nimmer ein Leichtfliegender hat sein gekonnt. Es gab ihm dieser leibliche Mangel wohl etwas von einer natürlichen Steifheit; anderes mochte in Art und Gewohnheit liegen.

Goethe war ja Minister und Exzellenz und in Wahrheit eine der exzellentesten Exzellenzen des Vaterlandes; aber hier in Köln, wie? wie? Es kamen von den jungen Offizieren, die in Köln standen, einige, sich vor ihm zu verneigen, solche, deren Väter oder Vettern er kannte, Thüringer und andere, Ministersöhne, Baronensöhne, unter ihnen Wilhelm Humboldts Erstgeborner, Jungen, vor welchen Stein, ja nicht einmal unsereiner, nicht die Mütze abgezogen hätte – und Goethe stand vor ihnen in einer Stellung, als sei er der Untere. Eine solche Ungefügigkeit des Leibes, eine solche fast dienerliche Haltung einem Altadligen gegenüber, vielleicht aus Jugendgewohnheit, womit eine gewisse Steifheit verknüpft war, ist dem sonst zwar stolzen, aber sehr großmütigen, liebenswürdigen Manne von den Unkundigen wohl oft als Hoffart ausgelegt worden. Aus dem Gefühl eines gewissen körperlichen Mangels hat er in Beschreibungen und Schilderungen seiner sogenannten ritterlichen Männer (ein Jarno und Konsorten) auf jene körperliche Beweglichkeit und Gewandtheit, welche jeder Jagdjunker und Kammerjunker von Kind auf leicht und umsonst gewinnt, wie mir deucht, im kleinen einen zu großen Wert gelegt.

Im Sommer des Jahres 1817 Das Zusammentreffen Steins mit dem Großherzog von Sachsen-Weimar fand Anfang Oktober 1815 statt. (Erinnerungen S. 217.) (D. H.) kam Stein auf vier Tage mit Goethens Herrn, dem Herzog von Weimar, nach Köln. Sie wollten in der alten, heiligen Stadt allerlei Raritäten beschauen, der Herzog hat dort auch eine ganze Reihe schöner, gemalter Glasfenster des Mittelalters eingekauft und eine schönste, silberne Schüssel, welche Friedrich Barbarossa seinem Paten, dem Sohn des Grafen von Kappenberg, wo Stein jetzt wohnte, als Taufgeschenk verehrt hatte; so besagte die Inschrift. Ich konnte hier in der Stadt nun schon den Cicerone machen und war viel mit ihnen auf den Beinen. Die abendliche Teestunde war immer die allgemeine Versammlungsstunde. Stein war gesund und von der köstlichsten Laune, der Herzog nach seiner gewöhnlichen, alten, sehr soldatischen Weise: der geborne Fürst über jeden Zwang hinaus und immer der helle, frische Mann von Mut und Geist. Er hatte von seiner welfischen Mutter Amalia wohl das Beste in seinem Naturerbteil bekommen; der Eindruck, den er auch dem nur oberflächlich Betrachtenden machte und hinterließ höchst liebenswürdig: er blieb der Herr in der Gesellschaft und machte doch jeden frei.

Die beiden hohen Herren gingen höchst ungezwungen mit einander um, fast wie alte Jugendgenossen; der hochgeborne Reichsfreiherr schien dem höhergebornen Fürsten auch keinen Augenblick unterlegen. Das war aber das Besondere, daß, wo von ernsten Gegenständen gesprochen, ja wo nur, wie im leichten Gespräch geschieht, darüber hingewinkt oder nur gelächelt ward, Stein immer als der Fürst und der andere oft nicht viel über dem Diener zu stehen schien. Da empfand man klar, dies war ein Gebiet, auf welchem der Herzog sich fremd fühlte, oder vielmehr, wo er sich mit allen Sitten und Gewohnheiten auf sein gemeines Feld verlief und verlor. Hier erschien er nur als der leichtfertige Hohnlächler und Spötter oder als der krittelnde und zweifelnde Noten- und Glossenmacher, als ein Mephistopheles, der vielleicht auch Goethen oft mehr herabgezogen als gehoben hat. Hierbei war auch das wunderlich, daß ihn immer der Kitzel stachelte, Stein zum Zorn zu reizen und sich an seiner Heftigkeit gleichsam zu ergötzen; denn er selbst blieb bei allen geschwindesten Einhieben und Gegenhieben des Freiherrn in fürstlicher Gleichmütigkeit trotz einem Gotte Epikurs.

Einen Abend ward es vorzüglich lebendig. Der Herzog war eben von Stuttgart gekommen von seinem allerdicksten Herrn Vetter; warm von den Eindrücken der nächstverflossenen Wochen begann er auf die Württemberger Stände zu schelten und daß der dicke Herr recht habe, ihnen solche Forderungen als sie machten, nicht zugestehen zu wollen – und dies in den herkömmlichen Ausdrücken von spitzköpfigen Schreibern und Advokaten. Da nahm Stein das Wort: »E. Königl. Hoheit mögen in einigen Stücken recht haben, ich will auch alle Künste und Kniffe der Schreiber und Advokaten in der Welt nicht vertreten, aber E. H. sprechen und empfinden hier wie ein Fürst; der König von Württemberg darf aber nicht vergessen, daß Napoleon ihm nicht schenken konnte, was nicht sein war; die Württemberger, die Städte und ihre Bürgermeister und Schreiber, haben den kleinen Grafen von Teck zum Herzog gemacht, indem sie den Reichsadel und die Reichsunmittelbaren ausgekauft und weggekauft und das Gebiet erworben und abgeründet haben. Sie hatten ihre ständischen Rechte und Freiheiten, und die verlangen und fordern sie nur wieder.«

Da liefen denn auch die politischen Gespräche hin und her, zum Teil nur über Gerüchte, wie die Tagesblätter sie ausstreuen. Die Hamburger Zeitung unter anderm hatte gemeldet, »die Engländer fangen wieder an, bei ihnen für ihre westindischen Kolonien die Werbetrommel zu rühren,« und der Herzog meinte, das sei so recht gut, Deutschland werde dadurch manchen Wildfang und Taugenichts und auch wohl manchen tollen, jakobinischen Wirrkopf los, wovon es jetzt wimmle. Da fiel ihm der Ritter ein: »E. H. mögen recht darin haben, daß es nicht schadet, daß mancher tolle Bursch sich in der Fremde den Wind um die Ohren sausen läßt, aber auch manches unschuldige Blut wird von solchen Werbern verführt und eingefangen, um in den Sümpfen und in den Reisfeldern der heißen Weltteile jämmerlich umzukommen und sein Vaterland nimmer wiederzusehen. Es ist aber noch ein Ehrenpunkt dabei, und der ist es, worauf ich Sie hinweise, und welchen unsre deutschen Fürsten in diesen Tagen doch endlich einmal anfangen sollten, von den Fremden zu lernen. Wer in England und Frankreich seine Werbetrommel rühren wollte, der würde sogleich gefaßt und an Leib und Geld gestraft, auch wohl zwei, drei Jahre in ein Loch gesteckt werden, wo weder Sonne noch Mond hineinscheint.« Der Herzog kam nach manchen andern leichtfertigen Scherzen auch auf den Königsberger Zacharias Werner zu sprechen, den damals vielgenannten Dichter der Weihe der Kraft. Mir war dieser Zacharias durch den eignen Augenschein in Frankfurt sehr merkwürdig geworden. Ich war dort mit einem Grafen Dohna-Wundlaken, damals Offizier bei den Lützowern, früher als Regierungsreferendar Königsberger Genossen des Zacharias, bei dem ältesten der Gebrüder Brentano einen Abend auf seine Ehre eingeladen worden. Er hatte den Tag vorher in Aschaffenburg von dem Weihbischof Kolbörn die Priesterweihe empfangen; auf solchen Weg war der Verherrlicher der Lutherskraft geraten. Nun hatten die Frauen der Brentanoschen Häuser mit mehreren hübschen Gesellinnen dem jungen Priester schönste Ehrengeschenke bereitet, Kränze und Bänder und ein kostbares, mittelalterliches Missale mit allerliebsten Bilderchen. Da war denn mein Zacharias immer herumgesprungen mit albernen, bunten Schwänzeleien wie ein beweglicher, gezwickter, abgelebter Kater, der in seiner ganzen geschlungenen und gewundenen Gliederung nichts als eitel Wipperlichkeit ist. Er hat in Wien wohl beinahe zwei Jahrzehnte, ein zweiter Abraham a Sancta Clara, Furore gemacht.

Der Herzog erzählte eine Menge anstößlicher Geschichtchen von dem Dichter, welcher eine Zeitlang unter seinen Augen in Weimar gelebt hatte, alles in seiner leichtfertigen, lockern Weise, so daß dem Freiherrn der Kamm schwoll: »Der arme, dünnschälige Kerl,« sagte der Herzog, »hatte sich eingebildet, er könne und müsse in einer Art körperlicher Seelenwanderung durch alle möglichen weiblichen Naturen den Durchgang machen, bis er die finde, welche Gott recht eigentlich für ihn geschaffen habe. Das war so seine poetische Naturlehre.« Stein fiel ihm hier ein: »Sie sollten sagen, es war eine fürstliche.« Der Herzog schloß mit der Nutzanwendung, daß eigentlich jeder Mann Ähnliches durchgemacht habe, »und Sie« – wendete er sich zu Stein – »haben auch wohl nicht immer wie Joseph gelebt.« – »Wenn das wäre,« erwiderte Stein, »so ginge das niemand etwas an, aber immer habe ich Abscheu vor schmutzigen Gesprächen gehabt und halte es nicht für passend, daß ein deutscher Fürst dergleichen vor jungen Offizieren – es saßen mehrere solche neben älteren Männern da, so ausführe.« Der Herzog verstummte, und es erfolgte eine Totenstille. Nach einigen Minuten fuhr der Herzog mit der Hand über das Gesicht und setzte, als sei nichts vorgefallen, die Unterhaltung fort; den Anwesenden aber war heiß und kalt geworden.

Der Oberst von Ende, jüngst noch in herzoglich weimarschen Diensten, jetzt Kommandant der Stadt Köln, gestand beim Nachhausegehen seinem Begleiter, er wolle lieber das Feuer von zwei Batterien als solche Reden lange aushalten; und Graf Solms-Laubach, Oberpräsident der preußischen Rheinlande, rief doch auch im Gefühl des alten Reichsgrafen und früheren Reichshofratsmitglieds in Wien aus:, »Nein, wie der mit Fürsten umgeht! Mir ist noch ganz heiß davon; ich zitterte immer, es würde Szenen geben.« Und es hatte, mein' ich, eine ganz bunte, muntre Szene gegeben.

Stein war jetzt allerdings wieder in seinem Vaterlande, hatte die Freude des Siegs über den alten Reichsfeind, den Franzosen, gekostet, konnte im Hausschatten und Hausfrieden seines Ahnenschlosses in Nassau sitzen und wieder nach Mainz, Köln und Aachen fahren, ohne daß ihm französische Schildwachen ihr Qui vive? zuriefen, aber die Siegesfreude? die Siegesfreude? – wie sie in ihrer Fülle, wie sie nach Schlachten wie die an der Katzbach, bei Leipzig und bei Waterloo ihm und allen Guten und Tapfern im hellen Sonnenschein erschienen war, so hatte er sie doch nicht kosten gedurft. Zwar die Hauptsache war gewonnen, der Alp Napoleon war abgeschüttelt und konnte in St. Helena wie ein Gefesselter seinen Franzosen und Europa seine letzten Testamentlügen diktieren; aber weder das alte Deutschland von 1600 mit dem Elsaß und Lothringen und dem burgundischen Kreise war nicht wiedergewonnen, und auch in schlimmen Abreißungen, Zerstückelungen und Zerteilungen der Lande, welche alle Redlichen verletzten, war nur zuviel gesündigt. Auch das Verfassungswerk, wie es in Wien hin und her zum Teil von den bösesten, tückischesten Schmieden auf dem Amboß geklopft und doch wenig ausgeschmiedet war, entsprach den Hoffnungen nicht, welche durch die Verkündigungen von Kalisch und Paris erregt waren. Wenn man den Ritter nun nach den Kongressen von Paris, Wien und Aachen in Nassau in seinem Garten unter einem Apfelbaum oder auf den Höhen der beiden Burgen unter irgend einer Tanne oder Lärche, die er vor einem Menschenalter gepflanzt hatte, so stillsitzen und mit seinem Krückstock mit den welken Blättern spielen sah, drückte sich auf seinem Angesicht oft ein tief verschlossener Schmerz aus, wie es viele Schmerzen gibt, worüber man mit keinem Sterblichen sondern nur mit Gott sprechen kann. Stein sprach aber alles mit Gott ab. Breite, politische Gespräche über das, was werden konnte oder einmal gewesen war, liebte der Mann überhaupt nicht; er war gemacht, zuzugreifen und fortzutreiben und fortzustoßen, was ihm als Arbeit eben vor den Füßen lag, alles andre legte er still geduldig auf die Knie Gottes, der es zu seiner Zeit abschütteln und zurechtschütteln werde.

Zu diesem liefen Schmerz, den er wohl vor keinem ausgesprochen hat, gehörte zuvörderst wohl sein Kaiser Alexander. Dieser, von Steins Geist angeweht und gehoben und getragen, hatte in ihm die feste Meinung von einer Treue und Stärke des Charakters gegründet, welche in Königsberg und Dresden von Stein auch in Beziehung auf unser Deutschland in bester Überzeugung aller Welt verkündigt worden war. Alexander hatte in Frankreich noch festgehalten, als die andern Verkehrtes oder gar Schlechtes wollten und das wenigste hofften. Ihm und Stein und den beiden preußischen Helden Gneisenau und Blücher verdankte Europa allein Napoleons Fall und daß trotz Österreichs matter und listiger Zauderhaftigkeit die Krieger der Verbündeten endlich vor den Toren der Tuilerien ihr Werda rufen konnten. Aber nur bis Paris war Kaiser Alexander ganz und heil gekommen, in Paris ward der Steinsche Alexander ungesund und zerrissen; es trat leider aus den listigen und blanken, russischen und französischen Elementen seiner Natur und seiner Erziehung jetzt etwas hervor, was von Steins Willen und Charakter am fernsten lag. Immer, auch nach Paris und Wien noch, war zwischen ihm und Stein die äußerliche Achtung und Achtungsbezeugung geblieben, aber das Beste der früheren, geistigen, gegenseitigen Verbindung war erkaltet. Stein sprach nun nimmermehr mit der warmen Liebe, ja mit dem Entzücken von Alexander, wie ich es in Petersburg und Königsberg wohl zuweilen gehört hatte.

Das war es, das war die Verwandlung – in Paris war die französische Gewandtheit und Listigkeit, welche mit unendlicher Geduld und Kunst alle Maschinen und Geräte des Trugs für ihre Vorteile aufzuspannen und zu benutzen versteht, sogleich über ihn gekommen. Die Franzosen hatten sich sogleich den waadtländischen Schweizer General Laharpe, der Alexanders Jugend erzogen hatte, zu solchem Gebrauch verschrieben; noch mehr sollten hier die himmelanstöhnenden Gebete und Seufzer frömmelnder alter Weiber helfen. Laharpe mußte den moskowitischen Kaiser bei seiner Eitelkeit angreifen, mit dem französischen Ruhmgeklingel, das durch alle Welt und in alle Ewigkeit hineintöne; ungefähr in folgenden Tönen wird der Anfang und Schluß seiner Reden des Kaisers Ohren umsäuselt haben: »Erhabener Herr, Gott hat ein großes, hohes Werk durch Dich vollbracht, Du mußt ihm jetzt Deinen Schlußkranz aufsetzen, damit Dein Name für alle Zeiten unsterblich in der Geschichte glänze. Dies wird allein gelingen durch Dein Lob aus dem Munde und in der Sprache des Volkes, welches für Kunst, Wissenschaft und jegliche Bildung und Gesittung in Europa mit Recht die erste Stelle einnimmt. Und wie könntest Du anders? Wie dürftest Du anders? Wie dürftest Du gegen die Ersten und Gebildetsten Deinen Sieg mit der grausamen Härte eines barbarischen Überwinders ausbeuten?« – Und die Weiber? Die faßten den Weichen, Empfindsamen und Großmütigen von der Seite des himmlischen, göttlichen Ruhms an, sie flüsterten, seufzten und beteten etwa also: »Großer Kaiser, die Welt ist böse und verrucht, die Welt ist sehr verrucht, das unglückliche, französische Volk, dieses große, edle Volk, sonst so treu und seinen König liebend, ist durch die abscheulichen, gottlosen Lehren des Tages bis an die äußersten Grenzen des Bösen fortgerissen. Jetzt gilt es, dasselbe auf alle Weise zu beruhigen und zu befrieden und den verruchten Trotz und Stolz desselben durch den harten Gebrauch oder gar durch den grausamen Mißbrauch des Sieges, nachdem man ihm seinen König wiedergegeben hat, es nicht zu neuen Getümmeln und Aufruhren zu reizen. Denn für das, was man Ruhm und Ehre nennt, hat kein Volk auf Erden ein so zartes und leicht verletzliches Gefühl als die Franzosen; sie würden es nun und nimmermehr dulden, wenn von dem alten Frankreich des Jahres 1790 eine Stadt, ja nur ein Dorf oder eine Hütte abgerissen würde. Darum, weiser und frommer Kaiser, in welchem Gott so mächtig gewesen ist, schreite fort auf dem göttlichen Wege, der da eitel Gnade und Liebe ist, verbinde mit Gott und der göttlichen Gnade Deine kaiserliche Gnade; zeige, daß Du nicht als Strafer und Rächer sondern als Helfer und Friedensfürst gekommen bist; weise in Deiner Weisheit und Großmut das deutsche und preußische Geschrei zurück, welches auf eine unverschämte Weise die Geschichte von zwei Jahrhunderten verrücken und sein Burgund, Elsaß und Lothringen wieder zurückhaben will. Gehst Du mit solchem Geschrei, mit solchen wahnsinnigen Ansprüchen und Forderungen der deutschen Mächte, wahrlich die Franzosen werden ihren Ludwig XVIII., den Du wieder auf den Thron seiner Väter gesetzt hast, nicht einen Monat nach dem Abzuge Deiner Heere darauf dulden sondern zum neuen Verderben der Welt sich und uns von einem Aufruhr in den andern stürzen.«

So etwa sprachen, seufzeten und stöhnten sie vor Alexander, und er, welcher vor der ersten, gebildetsten Nation Europas nicht als ein grausamer Barbar und Verwüster stehen noch mit solchen Namen durch die Geschichte fortleben wollte, ward durch sie niedergeschmeichelt. So kam der schlechte Pariser Frieden, so die Heilige Allianz, so der Name Champ de Vertus S. Erinnerungen S. 219. (D. H.) zustande. Hiervon kann ich Bericht abstatten. Ich habe nicht zufällig oder gelegentlich sondern recht absichtlich mich in die Kreise dieser Weiber, soll ich sagen in die Alexandrische Weiberei, mich verlaufen; ich wollte es; ich fand dazu im Sommer 1814 die Gelegenheit. In Frankfurt hatte ich genug und übergenug von diesem Heiligenbundfelde gehört; ich fuhr auf ein paar Wochen zu meinem Freunde von Schenkendorf, der als eine Art Steinscher Resident in Karlsruhe und Baden lebte. Ich sah die Feldmarschallin dieser Alexandrischen Weiberei in Karlsruhe und am meisten in Baden und Heidelberg.

Wer war diese Feldmarschallin, die den andern das Feldgeschrei austeilte? Es war eine weiland schönste und berühmteste Nachtigall diplomatischer Salons, Frau von Krüdener, welche in ihrer Jugend alle Süßigkeiten und Gefährlichkeiten des Salonslebens genossen und mitbestanden hatte und jetzt als Sündenbüßerin, als welche sie sich immer jedermänniglich bekannte, sich und alle Welt zu bekehren den Beruf fühlte und predigte. Sie war, obgleich schon welkend, doch noch mächtig mit den Augen und mit einem schönen, schlanken, polnisch-kurländisch gewundenen und geschlungenen Wuchs. Sie war nämlich eine geborne Kurländerin. Als ich sie in Baden bei Schenkendorf und dem alten Geisterseher Jung-Stilling öfter sah, hatte sie einen russischen Reitergeneral, einen Grafen Pahlen, welchen ich vor einem Vierteljahr in Koblenz mit ganz andern Trieben kennen gelernt hatte, in ihren sanften Zügeln als einen büßenden Himmelsucher hinter sich.

Ihre Gehilfin oder vielmehr ihre Generaladjutantin war eine hübsche Französin, die auf jeden den Eindruck machte, daß es mit ihrer Frömmigkeit ehrlich und treu gemeint sei. Sie war reizend und durch ihre schwarzen Witwenkleider mit ihren unschuldig sehnsüchtigen Augen noch reizender. Sie war auch dadurch für den empfindsamen Kaiser noch interessanter geworden, daß sie mit dem schwarzen Trauerkleide zugleich auf eine recht monarchische Begebenheit hinwies, freilich nicht mit einem ganz fröhlichen, glückweissagenden Vorzeichen der Herrschaft. Ihr Mann, Herr Lezay-Marnesia, war weiland hier bei uns am Niederrhein, wo er einen guten, ehrlichen Namen hinterlassen hat, französischer Präfekt gewesen, war jetzt im Elsaß am Oberrhein in gleichem Amt, im Wintermond dieses Jahres 1814 dem über den Rhein einziehenden Comte d'Artois entgegen gefahren, mit dem Wagen umgeworfen und hatte den Hals gebrochen.

Diese Weiber schwänzelten und fächelten diesen Sommer viel um und bei dem alten Jung-Stilling herum, und ich habe sie mit ihm und Schenkendorf öfter beisammen gesehen. Sie hatten diesen feinen, liebenswürdigen Alten, einen gebornen Schwärmer und Geisterseher, auch in ihre mystischen und Alexandrischen Kreise mit hineingezogen. Er war wohl gemacht, den apokalyptischen Appollyon zum Napoleon umzudeuten und die Höhen und Breiten der Mauern und Türme des himmlischen Jerusalems auszumessen, nicht aber um Frankreichs und Deutschlands künftige Grenzen und Verfassungen bestimmen und ordnen zu helfen. Die Weiber aber, welche den Kaiser bei seiner empfindsamen Weichheit und Schwäche gefaßt hatten, waren auch mit dem alten, frommen Grübler und Schwärmer Jung als mit einem Propheten und Weissager des Himmels und als mit einem frommen Deuter und Erklärer der Zeit an Alexander herangetreten. Alexander hatte den hübschen, frommen, immer begeisterten Greis zwei-, dreimal am Rhein gesehen und sich mit ihm über die himmlischen Dinge besprochen und für seine übrigen Tage ihm ein jährliches Gnadengeld ausgesetzt.

Auf diese Weise und mit solchen Künsten und Hilfen und Geräten war in Paris und am Rhein und auf dem Champ de Vertus, welches von Spöttern le Champ des Vertus genannt worden ist, um Alexander und mit Alexander viel gespielt worden. Gegen solche Künste und Spiele besaß Stein freilich keine Geheimkunst.

Stein war also oft mit dem Schatten eines verschlossenen Schmerzes, einer unerklärten Traurigkeit beschattet und verdunkelt, welches der edle Mann als ein stilles Geheimnis mit sich herumtragen mußte. Auch von dem, was Stein in Paris und Wien hat wirken gewollt oder wirklich gewirkt hat, steht vieles freilich auf dem Papier, das meiste ist aber unerklärt geblieben. Seit der Verkündigung von Kalisch und der Errichtung der Zentralverwaltung steht er allerdings immer an der Spitze der deutschen Angelegenheiten und äußerlich auch gleichsam an der Spitze der russischen Dinge, selbst mit der gehässigen, von seinen Feinden ausgesprengten Beschuldigung, als wenn er zu sehr moskowitisiert hätte, besonders hinsichtlich der Verhältnisse und Beziehungen des unglücklichen Polens zu den preußischen und deutschen Grenzen, daß er da in Wien und an andern Stellen gleichsam mit den Russen gegen Deutschland gestanden und gewirkt habe. Wie war das? Wie stand das?

Ja ich frage: Wie war das? Wie stand das? Und wie wurden solche politische Schwingungen und Neigungen des damaligen politischen Steinschen Lebenslaufs bestimmt? Sie wurden – daß ich es mit kurzen Worten sage – durch die Liebe Steins zu Preußen bestimmt. Als der große deutsche Krieg im Frühling 1813 begann, bemerkte ich nicht zu meiner Lust, daß Stein von den, preußischen Kriegern viel weniger erwartete als von seinen Österreichern und Böhmen des Jahres 1809; er war mit einem gewissen Ekel und Abgeschmack gegen gewisse, kleinliche Umtriebe und Zettelungen kleinlichster und kümmerlichster Junkerei von Brandenburg und Hinterpommern im Jahr 1809 aus Preußen geschieden. Als nun aber im Herbst 1813 von den Preußen die blutigen, gewaltigen Schlachten geschlagen wurden, als alles preußische Volk auf Leben und Tod gewaffnet und siegreich dastand, da war der alte Stein seiner Jünglingsjahre wieder ganz da, der nur dem großen Könige Fritz hatte dienen gewollt, weil durch seine Taten der deutsche Name wieder über alle Welt hinausklang, da ward er wieder vom Kopf bis zum Fuß ein Preuße und sah in Preußens Erhebung und Vergrößerung nur die künftige Größe und Stärke des deutschen Vaterlandes. Und eben weil er in Preußen die beste deutsche Zukunft sah, stand er auch in der verzwickten, polnisch-russischen Sache für Preußen und mußte diese schiefen, politischen Wendungen, Neigungen und Schwingungen mitmachen. Denn so stand Preußen nach allen Siegen Blüchers und Bülows, daß es keinen einzigen Bundesgenossen hatte, woran es sich lehnen konnte und den Umständen nach lehnen mußte als Rußland und Alexander, freilich keine sichere, zuverlässige Lehne, aber doch für den Augenblick eine Lehne.

Staaten, woran man sich hätte lehnen, mit welchen man zusammen hätte gehen und wirken können:

a) Österreich. Was das wollte, hatte man in den Feldzügen wie in Paris gesehen. Es wollte in alter Verblendung gern ganz Italien verschlingen und ließ im ganzen Deutschland liegen und laufen, wie es eben lag und lief; vollends zu Deutschlands Erhebung und Preußens Stärkung und Mehrung mitgehen. ¦– O! O! O!

b) Frankreich. Unmöglich.

c) England. War jetzt Preußens allerschlimmster Gegner. Da saßen Münster und Castlereagh, da war die ganze hannoversche Junkerei lebendig geschäftig – sie wollten für Deutschlands Zersplitterung und Preußens Schwächung uns ein fünftes, sechstes Königreich Hannover in Norddeutschland an der Westsee stiften und Preußen schönste Lande (Ostfriesland, Osnabrück, Hildesheim) abzwingen. Ebenso stiftete England mit traurigster Unwissenheit und Unkenntnis der Länder und Völker angesichts Preußens und mit Wegdrängung Preußens von seinen gebührlichen Grenzen am Niederrhein und an der Maas ein neues Königreich der Niederlande, wohinein viel schönstes, deutsches Reichsland geworfen ward. Hierüber haderte Stein zuweilen mit seinem Hans Gagern, er habe in den Jahren 1814 und 1815 zu laut Oranje boven! gerufen und die Holländer gern bis zur Mosel hinaufbringen gewollt.

d) Die deutschen Fürsten. Aber Preußen hätte, so sagt man, statt sich auf das scharfe, ägyptische (russisch-polnische) Rohr zu stützen, sich ja in den Herrschern der bedeutendsten, deutschen Mittelstaaten gegen undeutsche oder moskowitische Strebungen und Eroberungsgelüste eine Stütze suchen und finden gekonnt. – Wie? In denjenigen, die eben nur fast alle wider Willen durch Preußens tapfre Krieger aus den französischen Fesseln, die mehrere so gern getragen hatten, losgerissen waren – in diesen eine Lehne und Stütze finden? Hier war ja nichts als Furcht, Argwohn und bei manchen bitterster Haß. Diese Fürsten hatten nicht ohne Grauen und Grausen gesehen, wie aus ihren eignen Landen der Geist und die Liebe zu den Preußen entwichen war, wie die edelste, geistigste Kraft in den deutschen Jünglingen von allen Hochschulen den preußischen Fahnen zugeeilt war, wie die Jünglinge unter diesen Fahnen ein einiges, mächtiges Deutschland als Weissagung vorangesungen hatten. Aus diesem Feldlager, aus diesem Herrenlager klang nun auch ringsum, so weit als die deutsche Zunge schallt, Anklage von Preußens undeutscher, russischer Gesinnung und von seinen ungeheuerlichen Hinterlisten und gefährlichen Entwürfen, und welche Gefahren die alte, deutsche Freiheit von solchen Listen und Entwürfen zu befahren habe. Man möchte hierbei sagen: Hole der Teufel solches Geschrei von gefährdeter deutscher Freiheit, von solchen erhoben, die diese libertas germanica eben dick an die Franzosen verfeilscht und jetzt in ihrem Talleyrand in Wien einen Anführer gefunden hatten! Hier war also ein Grauen und Schauder vor Preußen, und leider so groß war die einseitige Spaltung deutscher Geister, so groß die Angst, daß in Deutschland wenigstens nichts Herrliches hervorragen sollte, daß selbst manche wohlmeinende deutsche Gimpel in dieses welschelnde Geschrei eingestimmt haben: Hütet euch! Preußen ist auf dem Wege, der Mörder der deutschen Freiheit zu werden. – Wie? möchte man solche Schreier im Talleyrandischen Konzert fragen: War Napoleon etwa nur ein Freiheitsmörderchen?

Hier muß ich endlich auch von Hardenberg sprechen. Wir finden bei Pertz in Steins Leben kein anmutiges Bild von dem Mann. Es ist wahr, Niebuhr glaubte sich einmal sehr von ihm verletzt; er haßte ihn, er gebärdet sich, als ob er ihn verachte. Stein war zuletzt mit Hardenberg zerfallen und mochte ihn nicht mehr. Pertz mußte Hardenberg schildern nach den Zeichnungen, die ihm vorlagen, meistens plötzliche Ausbrüche und Ausrufungen des augenblicklichen Zorns und Urteils wie es in Briefen gewöhnlich nur Ausdruck des Gefühls des Augenblicks ist, worin eben ein Brief geschrieben wird. Fast alle die harten Urteile über Hardenberg sind eben aus Briefen genommen, Briefe von zweien der leidenschaftlichsten Männer auf Erden. Niebuhr war das noch viel mehr als Stein; einer, der ihn sehr kannte und verehrte, hat ihn wegen seiner Überschwenglichkeit in Liebe und Haß einen echt antiken Charakter genannt. Man sollte, wenn man diese plötzlichen Ausbrüche des augenblicklichen Eindrucks und Unwillens liest, glauben, Hardenberg sei einer der verderblichsten Minister und liederlichsten Haushalter auf Erden gewesen und habe alles Gute, was Stein in seinem kurzen Ministerium gewollt und gegründet hatte, von Grund aus wieder verderben und untergehen lassen. Es hat sich aber begeben, daß, nachdem Hardenberg tot war und die Vosse, Lottum, Rochow oben standen, selbst viele Redlichste Hardenberg zurückgesehnt haben. Ich habe Stein in seiner Ungeduld zwar oft auf Hardenberg schelten gehört, aber einmal – und zwar zur Zeit entscheidendster Momente – auch ein gerechtes und billiges Urteil über ihn fällen, ja sogar ihn loben gehört.

Im Sommer 1814, als der Staatskanzler aus Paris nach Frankfurt kam und dort mehrere Tage verweilte, war ich ihm von Stein vorgestellt und mit demselben zur Tafel geladen worden. Stein wußte ja vollkommen, wie die Dinge in Paris verhandelt worden, wie Hardenbergs Stellung in Berlin mit hundert und tausend großen und kleinen Fäden durchflochten und von manchen dieser Fäden wie von einem eisernen Strick gehemmt und gefesselt war. Er lobte, als wir zu Hause gingen, Hardenberg zum erstenmal. Er hatte ihn nach seiner napoleonischen Achtserklärung den: Könige zum ersten Minister empfohlen, er hatte als er in Böhmen im Elende lebte, über die Fortsetzung der von ihm entworfenen und gemachten Einleitung einer neuen preußischen Verfassung mit Hardenberg mündliche Beratung darüber gepflogen, auch in Paris mit ihm und mit Gneisenau für Preußen und Deutschland in gleichem Sinn zu wirken gesucht. Jetzt sagte er: »Hardenberg muß in dem Urteil, welches viele über ihn fällen, für seinen König büßen. Alle wälzen die Schuld auf ihn, daß Preußen nach den außerordentlichsten Taten nicht energischer und kühner in Paris aufgetreten ist, daß man sovieles in Paris unabgemacht und unbesiegelt hat hängen und schweben und auf das Glück und den Zufall von Verhandlungen künftiger Kongresse hat verschieben lassen. Kaiser Franz, der listige und hinterlistige Italiener, der sich mit österreichischer und Tiroler Gutmütigkeit und Treuherzigkeit vermummte, der leichte, geistreiche und tätige Alexander, auch die Engländer – alle, alle hatten ihre Angelegenheiten und Vorteile, wie sie werden und stehen sollten, unter sich durchgehandelt und gefertigt und gegenseitig bebrieft, nur Preußen wird mit einem blanken Papier allgemeiner Verheißungen und Voraussetzungen zu dem Kongreß in Wien kommen. Ach, so ist es! Wie oft hat Hardenberg mir in Paris geklagt, daß er durch alle Bitten und Vorstellungen seinen König nimmer zu einer mündlichen, königlichen Besprechung und Verhandlung mit seinen Brüdern Franz und Alexander und zu einer sichern Bereitung und Abmachung seiner Angelegenheiten habe bringen gekonnt. Der gute König ist für solche feineren Verhandlungen und Besprechungen der Dinge viel zu blöd und scheu und durch das lange Unglück so in sich zusammengedrückt und verschlossen worden, daß ihm schwer Rede abzugewinnen ist. Gewiß hätte er es mit seinen lieben beiden Brüdern, ihrer Schlauheit und Gewandtheit und ihren Listen und Künsten gegenüber mit seiner schweigsamen, stillen Geradheit nicht leicht gehabt.«

So sprach Stein im Jahr 1814 über Hardenberg und den König von Preußen. Und wer war und wie war dieser König?

Friedrich Wilhelm III., von Gott und Natur zu einem schönen, stattlichen Mann geschaffen, war nach der Sage der Menschen in seiner frühesten Jugend durch eine verkehrte Erziehung unterdrückt worden, wodurch in mancher Beziehung eine gewisse Blödigkeit und Schüchternheit entstanden war, welche der festen, zuversichtlichen Haltung der Höchstgebornen, die zur Herrschaft berufen sind, immer schadet. Es fehlte dem Herrn bei vielen schönen Eigenschaften an Selbstvertrauen. Wie gesagt, er war von Gottes Gnaden schön von Gestalt, hatte ein gerades, mutiges, festes, echt hohenzollersches Herz und war ein frommer Christ ohne Alfanz und Heuchelei. Er hatte noch ein Großes. Er hatte nicht bloß das Paradespiel als Schauspiel spielen gelernt – nein, er hatte einen wirklichen Kriegsblick, einen Feldherrnblick gewonnen. Wir wissen, die drei großen Herrscher zogen mit den Heeren auf den großen Kriegsstraßen durch Deutschland und Frankreich; im ganzen haben sie durch ihre Anwesenheit nach der Klage und dem Urteil der Feldherren, die vor und unter ihnen wirken sollten, durch ihre Anwesenheit wohl viel mehr geschadet als genutzt, doch dem preußischen Friedrich Wilhelm verdankte man in dem Augenblick, wo im Herbst 1813 das Letzte auf der Spitze stand, vor allen die große Entscheidung. Bei Kulm in Böhmen sah sein Blick, diesmal ein rechter preußischer Adlerblick, dem Heere des französischen Marschalls Vandamme gegenüber den Punkt, wovon der Sieg abhing, und führte auf eine Höhe, deren die Franzosen sich bemächtigen wollten, zwei russische Garderegimenter und ein österreichisches Kürassierregiment, welche die welschen Reihen durchbrachen und zusammenhieben. So ward nach zwei blutigen Tagen Vandammes Heer vernichtet oder gefangen. Was wäre es geworden nach der Niederlage bei Dresden, wenn auch hier Napoleons Entwürfe gelungen wären? O vielleicht der allerjämmerlichste Friede.

Der König hatte demnach die schönen Gaben der Redlichkeit, Frömmigkeit und Tapferkeit, aber doch war er in sich selbst sehr erstarrt und verschlossen. In seiner stillen, schlichten Erscheinung und Gebärde lag der Ausdruck einer eigenen Traurigkeit: er war der trauernde Ritter, der seine verlorne Geliebte nimmer vergessen konnte. Nie hat ihn der Gedanke verlassen können, seine Königin, seine geliebte Luise, sei durch die Wut und den Jammer der Zeit in der Blüte ihrer Schönheit hingerafft worden, sie sei durch den Gram über das Unglück getötet worden. Seit jenem Jahr 1810, wo sie in ihrer Mecklenburger Heimat starb, hat Freude nimmer sein Gesicht mehr überstrahlt, er hat sich selbst des Glückes und der Siege der Jahre 1813, 1814, 1815 kaum mit seinem Volke freuen können sondern in der stillen Einsamkeit des Schmerzes sich in das eigne Herz zurückgezogen.

So war seine Lebenslust zerknickt, vieles von seiner Schnellkraft zerbrochen, und er hat in einer gewissen gleichgültigen Erstarrung seitdem in seiner Umgebung vieles geduldet, was er als König hätte von sich stoßen sollen, hat Menschen um sich und mit sich wirken und handeln lassen, die er im Herzen nicht achtete, und die einem so geraden und treuen Charakter nimmer hätten nahe kommen sollen. Das ist das Schicksal der Menschen überhaupt, das ist doppelt und dreifach das Schicksal der Könige. Man hat die Fabel von der Ritterburg Schlangenburg. Jeder Hof eines Königs und Fürsten ist eine Schlangenburg; viele große und kleine Schlangen und Schlängelein mit geschwindesten, geschmeidigsten, lustigsten und listigsten Windungen und schimmerndstem, buntestem Farbenspiel schlingen sich darum, und es gehört wahrlich eine Riesenfaust dazu, sie herabzureißen. Diese Riesenfaust hatte nun Friedrich Wilhelm nicht, auch nicht den Zornblick, wodurch solches Schlangengezücht und andres unverschämtes, garstiges Hofgewürm in ihr Unkraut und ihre Dornbüsche zurückgescheucht werden. Es lebt noch in fester Erinnerung, wie Menschen wie der listige, feige, lächelnde Fürst Wittgenstein, der gleißende Graf von Schlieben und die Gräfin Goltz, die ehrsüchtigen Graf Vos; und Herr von Nagler, der bissige, allen höheren Ideen abholde von Schuckmann und der unbedeutende, nichtige Graf Lottum usw. dort haben mitregieren gedurft. Stein hat in seinem Ärger und Unmut wohl oft gerufen: »Aber solches Schlangengeschmeiß hätte Hardenberg sich nicht festschlingen lassen sollen, die hätte er vom Hofe wegschleudern sollen.« Leicht gesagt; auch ein Stein hätte das zuletzt nicht mehr gekonnt.

O was würde Preußen noch erlebt haben bei der Jagd der demagogischen Umtriebe, wem; der König einen Fürsten Wittgenstein und Herrn von Kamptz und deren böseste Schlange, Herrn Tschoppe Tschoppe, ein Jüngling von Talent und Kenntnissen, war dem Staatskanzler durch seinen Schwiegersohn, den berühmten Grafen Pückler, zu Hand und Herzen als vertrauter Sekretär empfohlen, hatte sich bald von Wittgenstein kaufen lassen, seines Herrn geheime Gedanken und Papiere auszuliefern. Er hat die Rolle eines gefürchteten Bösewichts gespielt, endlich im Wahnsinn ein Ende mit Schrecken genommen. der seinen Wohltäter Hardenberg an Wittgenstein verkauft und verraten hatte, hätte gewähren lassen, wie sie wohl gewollt hätten! Sie haben Unheil genug angerichtet, unschuldige Unglückliche genug gemacht, aber zu einem bösesten, schlimmsten Äußersten haben sie ihren König nie bringen können, durch keine Vorspiegelungen und Lügen haben sie sein gerades, mutiges Herz in Schrecken jagen können. Wenn sie bei dem mächtigen Demagogenlärm, der sich in Deutschland erhoben hatte, etwa sehr Durchgreifendes und Gewaltiges anrieten, antwortete der treue, mutige König: »Dergleichen mag in Österreich oder anderswo gelten, aber bei uns geht es nicht.« Soweit hatte er doch den Sinn seines Volkes und das deutsche Gefühl seiner Zeit herausgefühlt. So darf von diesem Könige doch als Endreim seines Lebens gesagt werden, was, wenn ich nicht irre, in der Historia augusta ein Geschichtschreiber von Septimins Severus sagt: Timeri meruit, quia non timuit.

Hardenberg mußte also neben und gegen und oft auch mit solchen Schlangenbürglern, die sich auch um die besten Hofburgen schlingen und flechten, durch solches Hofgeklinge und Hofgeklüngel Eine Klinge, altdeutsch: ein mit Dornen und Disteln verworrener, unzugänglicher Bergschlucht. – Klüngel! Knaul, englisch clew, ein hier am Rhein sehr gewöhnliches Wort, ein Festzusammengeschlossenes, eine abgeschlossene Genossenschaft mit ihrer Art und Abart und mehr noch mit ihrer herkömmlichen Unart zu bezeichnen. seinen Weg durchzuwinden suchen. Wie war er, wie war die Gestalt seines Leides und Lebens?

Er war ein Mann etwas über Mittelgröße, mit runden und festen Gliedern, einem prächtigen Kopf und herrlich leuchtenden, blauen Augen als ein Sechzigjähriger noch aufrecht, fest und schön, von der Natur mit einem hellen, lichten Geist ausgerüstet, Leichtigkeit, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit in seinem ganzen Wesen; Geschwindigkeit in der Auffassung, mit vielen Kenntnissen verbunden und mit leichter Darstellung auf dein Papier. Sein Auftritt war offen und leicht, adlig und vornehm im besten Sinn des Wortes, so frei und ungezwungen wie unser Reichsfreiherr von Stein. Er war ein edler, wirklich großherziger Edelmann, ohne kleinlichen Neid und Groll, so daß er auch auf seiner Höhe nicht den Stachel gefühlt hat, sich an seinen Feinden zu rächen. Er war, was man einen edlen Kavalier nennen konnte; aber in andern Stücken, namentlich in in puncto puncti, war er leider auch ein ganzer, voller Kavalier; er war nicht allein ein vir uxorius sondern auch ein vir muliebrius. Weiber hatten eine zu mächtige Gewalt über diesen schönen, edlen Alaun. Dadurch ist er denn auch, wie es durch die Macht eitler und lügenhafter Weiber und lügenhafter, mit Buhlerei verstrickter Verhältnisse unvermeidlich immer geschieht, wohl auch mit einigen schlechten Männern behängt und umhängt worden. Dieser Leichtsinn war es, was Steins Unwillen und zuletzt Widerwillen erregte; er nannte ihn schlechthin den Liederlichen. »Dieser alte, eitle, entnervte Sünder, was gibt er dein sittlichen, edlen Hofe gegenüber für ein Beispiel! Und bei so einem alten Kerl mit schneeweißem Kopf, der hurt und buhlt, wie kann bei dem ein Funke von Kraft und Stärke übrig bleiben? Wo bleibt da die Klemme De Klemm. Dies hübsche, niederdeutsche, holländische Wort hatte Stein sich angeeignet. des Willens, der Charakter?«

Stein trat jetzt nicht wieder in die große, weite, bunte Öffentlichkeit des Gebens hinaus; er blieb zu Hause. Aber er blieb nicht zu Hause, um den Rest seiner Tage im Genuß gemeinen Müßiggangs zu verleben. Ihm waren für eine fernere Wirksamkeit höchste Ehren angetragen worden. Metternich wollte ihn zum Präsidenten des deutschen Bundestags machen, Preußen zu seinem Sprecher und Vertreter bei demselben; er lehnte das ab. Er war mit der ganzen Zusammensetzung des Bundestages nicht zufrieden, auch traute er denen, welche ihm solche hohe Ehren anboten, denen, welche in Wien und Berlin die höchsten Stellen der Regierung und Verwaltung inne hatten, nicht Redlichkeit und Tapferkeit des Willens genug zu, um glauben zu können, daß er auf so hoher Stelle mit offenen, freien Ehren stehen und wirken könne. Dem Vaterlande aber ist dieser Mann nie auch keinen Augenblick fremd geworden, für sein Vaterland, für Deutschland, für seinen König und Herrn von Preußen und dessen Ruhm und Macht hat er bis ans Ende das warme, glühende Herz bewahrt und bewährt.

Stillsitzen, im stillsitzenden Genuß eines reichen Schloßherrn, der sich mit Reiten und Jagen, mit Schmausen und Festgelagen zu Hause und bei den Nachbarn der guten Tage genug machen gekonnt hätte – das konnte dieser Mann nicht. Da er keine große, ministerliche oder diplomatische Tat mehr tun konnte noch tun wollte, so sann er sogleich, als ihm ein erster Ruhetag des getümmelvollen Lebens erschienen war, doch wieder auf eine recht tüchtige, deutsche Tat: auf die Sammlung und Herausgabe der Urkunden und Schriftdenkmäler der deutschen Geschichte des Mittelalters Das große Werk der Monumenta Germaniae historica verdankt Stein seine Entstehung. (D. H.) Da habe ich den Mann gesehen in seinem nassauischen Siegesturm, auf dem Stuhl Mea parvitas hat diesen rechten Großvaterstuhl von der Gräfin Henriette Giech nach seinem Tode zum Ehrengeschenk erhalten. sitzend, worauf meine Kleinigkeit zuweilen ruht – aber der arme Elisa hat damit auch nicht Elias Mantel geerbt – die alten, deutschen Tröster seiner Bibliotheca selecta vor sich aufgeschlagen und Noten machend oder aus ihnen herausziehend, auch in Literargeschichten und Katalogen mühsam hin und her suchend, einen mannigfaltigsten, weitläufigsten Briefwechsel mit Hinz und Kunz führend und durch Bitten, Anträge, Anfragen und Umhertastungen an Geld und Wissenschaft reiche und ausgezeichnete Förderer und Gehilfen seines schönen Unternehmens suchend. Endlich hat er in Doktor Pertz in Hannover den tüchtigsten Gehilfen gefunden, der als Anführer und Feldmarschall dieses kühnen Unternehmens seine schöne Tat noch heute treu und rüstig fortsetzt. Gebe Gott ihm höchstes frischestes Alter, daß er sie meist vollenden könne!

Hier etwas über Pertz. Ich hatte den feinen, hübschen Mann in Bonn bei Niebuhr gesehen; nicht lange darauf traf bei Stein in Nassau aus Paris von Pertz die Meldung ein, er habe sich dort mit einer Engländerin verlobt. Da rief Stein, den Brief auf den Tisch werfend, in seinem Eifer aus: »Der Pertz ist nun auch für uns verloren, ein englischer Blaustrumpf hat ihn in Paris gefangen. Gelehrte, die etwas schaffen wollen, sollten nicht heiraten, sondern wie die Pères de St. Maure zusammen arbeiten; sitzen sie erst den Weibern auf dem Schoß, dann ist es aus mit ihnen.« Und bei diesen Worten sah er mit einem Seitenblick auf mich, den er mit Weib und Kindern gehörig belastet wußte. Als aber Pertz mit seinem hübschen, englischen Blaustrumpf, der aber kein Blaustrumpf gewesen, sich ihm in Nassau vorgestellt hatte, hat er beide auf das allerfreundlichste empfangen und die Engländerin, welche ihm seinen Liebling abgefangen hatte, als« eine schöne, liebenswürdige Frau vor jedermänniglich gerühmt.

Dieses Unternehmen war nun sein Geschäft und seine Sorge vieler Jahre und ist es bis ans Ende seines Lebens geblieben; aber auch sonst und nach allen Seiten hin hat er mit seiner ruhelosen, geistigen Tätigkeit, mit seinem für alles Gute und Lebendige wärmsten Herzen nimmer rasten gekonnt. Als großer Gutsherr und Schloßherr, als Ältester der protestantischen Gemeinde, als Volksvertreter und Landmarschall der Stände des preußischen Westfalens – immer und allenthalben ist er bei allem, was dem Vaterlande frommen konnte, der Vorderste, Frischeste und Blutigste gewesen.

Er hatte trotz mancher Vorurteile aus der alten Zeit, die auch ihm gelegentlich als Kletten anklebten, und mitten in allen bösen und schlimmen, verrosteten Vorurteilen jener alten Zeit aus dem Laufe, den die menschlichen Dinge seit einem halben Jahrhundert genommen hatten, begriffen, daß vieles im Staate anders gestaltet, befestigt und vorgestählt werden müsse, wenn er die Stürme der Zeit bestehen und von ihren Fluten nicht fortgerissen werden wolle. Er hatte mehr als irgend ein andrer seit unsrer Befreiung auf Gründung einer freieren, edleren, zeitgemäßen Verfassung gedrungen. Wenn nun die preußischen Provinzialstände, wie sie fast zu junkerlich mehr für den Edelmann als für den Bürger zugeschnitten waren, keineswegs in vielen Punkten seinen Beifall hatten, wenn er namentlich in der Bestimmung Wer in den Städten für den Bürgerstand wählbar sei darin einen Mißstand, eine hinterlistige, junkerische Berechnung fand, daß nur die Gewerbtreibenden (etwa ein Krämer, Bäcker, Schlosser) und etwa einer aus dem Magistrat, aber keine wissenschaftlich gebildeten und wirklich unterrichteten Männer gewählt werden durften, zum Beispiel Ärzte, Sachwälte, Professoren (ein natürlicher Junkergreuel), so glaubte er doch hier mitgehen und an dem Unvollkommnen oder Schlechtgemeinten bessern und berichtigen helfen zu müssen. Also ist er auf den westfälischen Landtagen ein lebendigstes Mitglied und ein trefflichster Beweger, Erreger, Beleber und Treiber des öffentlichen Geistes gewesen und hat in solcher edlen Arbeit fest und treu bis ans Ende ausgehalten. Hier ein Letztes über seine Wirksamkeit, wie die treue Begleiterin und Pflegerin seines Alters, die tapfre Hamburgerin, Fräulein Schröder (jetzt auch bei den Seligen) mir erzählt hat:

Die westfälischen Stände, Stein an ihrer Spitze, wünschten und baten die Erfüllung des königlichen Versprechens, endlich alle kleinen Provinzialversammlungen zusammenzuwerfen und mit dem allgemeinen Reichstag einen Anfang zu machen. Stein hat diese westfälische Bitte, ja diese durch ein ganzes Vierteljahrhundert gesäumtes und hingehaltenes, königliches Versprechen gerechte Forderung an den Prinzen Wilhelm von Preußen geschickt, der damals als königlicher Statthalter für Rheinland und Westfalen in Köln wohnte. Er hatte bald, ich weiß nicht auf welchem Wege, erfahren, daß diese gerechte Bitte von dem Prinzen nicht mit genug dringlichen und feurigen Worten, wie die Not und die Stimmung der Zeit sie befahl, an den König eingesandt worden war. Nun war bald nach der Einsendung jener Bitte wenige Wochen vor Steins Tode der Prinz mit Gemahlin und Kindern nach Schloß Kappenberg zu Stein zum Besuch gekommen. Da nimmt Stein, ehe man sich an die Mittagstafel setzt, den Prinzen und seinen Begleiter, den Grafen Anton Stolberg, in ein Nebenzimmer und kanzelt beide mit gewaltigen Worten ab: »Die Zeit sei nicht so süß und so sanft, daß sie so tüchtige und mächtige Dinge, so gerechte und gebotene Wünsche und Forderungen, als die treuesten Stände hätten aussprechen und machen gemußt, mit so süßen und sanften Verblümungen und Verzierungen der königlichen Majestät hätten darlegen gesollt, sondern sie hätten den vollen Ernst und die ganze Furchtbarkeit, welche die Zeit in ihren Eingeweiden trage, und wie ihr nur mit starken und heroischen Mitteln zu begegnen sei, dem Könige mit ehrlichster, geradester Offenheit schildern und darstellen müssen.« Kurz, er hatte beide so gescholten, daß die Prinzessin, die im Saal alles hatte vernehmen können, vor Schrecken erblaßt war – denn donnern konnte er bei solcher Gelegenheit – dann hatte er mit den Worten geschlossen: »Jetzt sind wir miteinander fertig, Königliche Hoheit, kommen Sie, lassen Sie uns jetzt ein Glas Wein darauf trinken Prinz Wilhelm Halle die Vermittlung in dieser Angelegenheit überhaupt abgelehnt, weil die Provinzialstände dadurch ihre Befugnisse überschritten hätten. Die geschilderte Szene dürfte aber kaum stattgefunden haben, denn Stein schrieb am 8. Juni 1831 von Kappenberg an den Erzbischof Spiegel von Köln: »Ihre Königlichen Hoheiten waren so gnädig, hier den 20. Mai das Mittagsmahl einzunehmen, Höchstdieselben bewiesen sich sehr wohlwollend und zuvorkommend, von der ständischen Angelegenheit war durchaus keine Rede.« (Pertz, Stein, Bd. 6, S. 1199.) (D. H.)

Ich bin mit meinem edlen Ritter bisher mehr auf der breiten, ja auf der breitesten Landstraße des Lebens, mehr im politischen, verfänglichen als im häuslichen, menschlichen Leben hin und her gewandert, auch wohl in einzelnen kleinen Absprüngen seitweges viel hin und her gesprungen; jetzt will ich mit ihm in den engen Kreis eingehen, in das liebe Haus und in alles, was in und um das Haus sich zu legen pflegt. Er war mir bei unsern früheren Wanderungen so Freund geworden, daß er sich in den Verhältnissen, welche ich in den vier Jahren 1812-1815 bei und unter ihm gewonnen hatte, durch nichts stören ließ, auch nicht durch die Anklagen des Hochverrats und Jakobinismus, welche Kamptz und Genossen mit lautestem, bösestem Geschrei gegen mich erhoben hatten. Wie sehr es ihm bei seiner Heftigkeit, ich möchte sagen, bei seiner Plötzlichkeit, auch zuweilen begegnet ist, daß er selbst ganz wackre Männer, welche mit uns beiden derselben Meinung waren und denselben Weg gehen wollten, in seiner plötzlichen Aufwallung oder auf Berichte von Leuten, die er für ehrliche Leute hielt, oft in harten und ungerechten Urteilen und Äußerungen aus der Ferne her falsch angesehen und verletzt hat, an mir ist seine Treue und Liebe nimmer wankend geworden, wenn wir in kleinen Kabbelungen und Streiten über den deutschen Adel und Bauer und über die Ursprünge des kleinen und mittleren deutschen Adels auch häufig sehr verschiedener Meinung waren; er hat mich für einen ehrlichen Mann gehalten, als die Wittgensteinianer und Kamptzianer in Berlin mich gern an dem höchsten Galgen baumeln gesehen hätten. Ich bin in seinem Hause der willkommene Gast geblieben und habe alljährlich, meistens in Nassau, zuweilen in Kappenberg, einige Wochen, oft fast ein paar Monate verlebt. So freundlich war er, daß er mir – was ein großes Zeichen der Gunst war weil er es bei wenigen tat – oft seinen Wagen mit dem Leibkutscher zur Abholung von Koblenz nach Ehrenbreitstein schickte. Eine ähnliche Ehreneinholung habe ich auch bei seiner Nachfolgerin auf Schloß Nassau, seiner Tochter Gräfin Henriette von Giech gehabt, und manches Jahr, als sein verweslicher Teil schon in der Totenhalle zu Frücht stand, mit ihr und ihrem trefflichen Gemahl, dem zu früh erblindeten Grafen von Giech, selbst in den Tagen seiner verkümmernden Blindheit, wo aber sein reger Geist ungeblendet blieb, manche fröhliche Stunde die Erinnerungen glücklicherer Vergangenheit »nieder durchgelebt.

Ich habe die beiden Schlösser genannt, wo ich bei ihm gelebt habe, Nassau und Kappenberg, das erste an einem Städtchen, von welchem ein Graf, der jetzt Herzog heißt, den Namen bekommen hat, das zweite auch ein ältester Grafensitz, von seinem letzten Grafen, dem Taufpaten Friedrich Rotbarts, in ein Prämonstratenserstift verwandelt, seit der französischen Umwälzung verweltlicht und unter preußische Hoheit gekommen, von Stein im Jahr 1814 für andre Besitzungen in Westpreußen eingetauscht. Auf diesen seinen Schlössern lebte er nun die ersten Jahre der Wiederherstellung in mannigfaltiger Unruhe des großen Schloßherrn: neue Einrichtungen, Veränderungen und Bauten und Wiederherstellungen, wie sie auch seine lange Abwesenheit von der Heimat notwendig machte; dazu manche ganz neue Verhältnisse und Beziehungen zu den Herrschern und auch zu den Verfassungsveränderungen der Herrscher, unter welchen diese Schlösser jetzt standen. Dies alles gab ihm reiche Sorge und Arbeit, auch wohl Ärger, doch auch viele Freude des wiedergewonnenen Lebens und Wirkens als König auf dem eigenen Stück Erdboden. Hier war in dem alten, lieben Herrn eine mir immer auffallende, wundersame Erscheinung. Cicero erzählt uns, Ennius habe von sich gesagt, er habe drei Seelen Se tres animas habere, quia tres linguas calleret. , weil er drei Sprachen verstehe. So mochte man von Stein sagen, er habe zwei (verschiedene) Seelen, weil er zwei Herrn diente. Notabene: dem einen Herrn diente er gern, dem zweiten diente er fast nur mit Verwünschungen. Der unter den unmittelbaren Flügeln des Reichsadlers freiest geborne Reichsfreiherr vom Stein konnte es diesem seinem vormaligen Nebenmann, dem Reichsgrafen von Nassau, nimmer vergeben, daß er jetzt sein Oberherr sein wollte. Mit den zwei verschiedenen Seelen Steins stand es denn wirklich so, wie ich jetzt erzählen will:

In Nassau stand das alte, jetzt in seinen Trümmern begrabene und verschüttete Reich mit Kaiser, Kurfürsten, Fürsten, Rittern und Städten mit allen ältesten Erinnerungen immer lebendigst vor ihm. Da ward auch meistens nur aus der alten Reichsgeschichte heraus im Sinn der Vergangenheit und oft mit rührender Sehnsucht auch nach vielem Guten, was jetzt auch vergangen war, gesprochen und gestritten. Dies ward begreiflicherweise besonders lebendig, wenn Freunde und Gefreundete vom Süden und vom Oberrhein heraufkamen, wo denn auch die jüngsten Kapitel der jetzigen, vielen, souveränen Könige und Großherzöge, die sich aus diesen Trümmern herausgebaut haben, abgehandelt und glossiert wurden. Aber nicht allein die alten und ältesten Geschichten und Verhältnisse des Deutschen Reiches und seiner verschiedenen Stände wurden hier viel besprochen und erörtert, was für mich oft recht lehrreich war, sondern hier ward fast immer nach dem Süden, namentlich nach Italien und Frankreich, viel hingeschaut.

Gar anders war das Gespräch und die Stimmung Steins und die Folgerungen, welche aus dieser Stimmung hervorgingen, in Kappenberg, im Lande der alten Sachsen. Für dieses Land Westfalia hatte Stein eine ganz besondere Zärtlichkeit; er hatte dort ja die rüstigsten, kräftigsten Jahre seiner Jugend verlebt. Aber sein deutsches Gemüt fand in dem Lande und in den Menschen desselben, den echtesten Enkeln des gewaltigen Sachsenstammes, so vieles übrig, was in den meisten Landen des Vaterlandes ausgelöscht oder verlebt war, so vieles von echtesten, ältesten, deutschen Sitten und Gebräuchen und Rechten in der Gemeinde wie im Hauswesen, in der Tagelöhnerhütte wie in den Schlössern und Palästen der Reichen und Adligen, was ihn anheimelte. Er war mit diesem Lande der Roten Erde in innigster Liebe verwachsen; vor allem lobte er das westfälische Bauerwesen mit den festgeschlossenen Höfen, eine Art eigentümlichen Majorats, wodurch des ältesten Urgroßvaters Hof immer sicher auf einen seiner Ururenkel hinabkam.

Auch ich bin in dergleichen verliebt, obgleich ich keines Urahns Schloß zu erben hoffen darf. Wir beide hatten oft miteinander beklagt, daß die Geister der Ahnen, die vielleicht ein Jahrtausend und länger über den Häusern und Gräbern der Enkel mit Wohlgefallen geschwebt hatten, bei der allgemeinen großen Wandelung der menschlichen Dinge, vorzüglich der jetzigen Staats- und Verfassungswandelung der Völker wohl künftig über andern Sitzen oder über gar keinen Sitzen sondern über Bettlerhütten werden schweben müssen, daß bei den ungeheuren Umwälzungen der Zeit und bei den jüngsten Strebungen, Ergebnissen und Entwickelungen und Erfindungen des Menschengeschlechts solches und ähnliches, liebenswürdiges und menschlichstes Altertum sich aus der wogenden Flut der Geister, die von allen Seiten anstürme, schwerlich werde retten lassen. Indem er so neben dem ältesten, deutschen Alten doch das unvermeidlich und unüberwindlich hereinbrechende Junge und Jüngste sah und wohl begriff, daß es weltgeschichtliche Entwickelungen und allmächtige Stöße solcher Entwickelungen gebe, welchen auch der Tapferste und Weiseste weichen und gehorchen müsse, blickte er aus diesem Jüngsten doch auch mit fröhlicher Hoffnung und mutiger Freude von hier immer nur gegen Norden. Seit den gewaltigen Tagen an der Katzbach und bei Dennewitz und Leipzig war sein Blick nur nach dem Norden gerichtet, nach dem Volke, was zwischen der Weser, Elbe, Weichsel bis zum Pregel wohnt, nach dem glorreichen Stamm, der dieses Volk beherrscht, nach den Hohenzollern. Der Geist und Mut seiner Jugend, die mir dem großen Friedrich von Preußen hatte dienen gewollt, war in dem Greise frisch wieder erwacht. Hier sah er Deutschlands Zukunft aufdämmern, hier die Macht und Herrlichkeit, wovon wir schon in den Jahren 1813 und 1815 geträumt hatten – ach, nur geträumt! Wo ist ein menschliches Glück oder Geschick ohne einen Seufzer?

Man versetze sich in das Gefühl eines adligen, ritterlichen Geschlechts, welches unter den Geistern seiner Ahnen in den alten Schlössern wohnt, im Schatten hundertjähriger Eichen sitzt und mit stiller, liebender Zärtlichkeit träumt, wie die Urenkel in denselben Sälen ihre Feste begehen, unter denselben Bäumen das Gedächtnis des Urgroßvaters mit einer frommen Andacht der Ehre und des Glücks feiern werden, man bedenke, daß ihn ein gewisser Schauder ergreifen muß nicht bloß bei den demokratischen Verkündigungen und Ausrufungen von glückseliger Schleifung aller Burgen und Schlösser und Vernichtung eines privilegierten Erbrechts, welches die Geister der Ahnen immer über denselben Gräbern wie über geweihten Stätten schweben lassen wolle. Stein liebte und pries den altbehaupteten Familienbesitz nicht allein als eine Befestigung des Glücks sondern noch mehr als eine Befestigung der Tugend; er jammerte, daß mit der allgemeinen Wandelbarkeit des Grundbesitzes auch eine Wandelbarkeit und Verflüchtigung der Gemüter, eine Auflockerung der Sitten verbunden sein werde. Er schloß die Augen halb zu gegen das, was er in der Zeit und in ihren Entwickelungen als eine unvermeidliche und fast unbesiegliche Gewalt hereinbrechen sah, wodurch auch viel Gutes und Schönes der Sitten und Weisen der alten Zeit werde mit wie ausgelöscht und weggeblasen werden.

Aber dieser Ritter war kein Junker, der nur um sich greifen und auf Kosten der Bauern und Kleinen das Gebiet seiner Schlösser und Forsten fein und schön schließen und abrunden wollte. – Nein! Das war sein Sinn und seine Liebe des festen Landbauers, das war sein Wunsch, daß die Familien der kleinen und großen Bauern ebenso im Besitz der Häuser und Felder ihrer Väter geschützt und befestigt würden als die Söhne und Enkel der Grafen und Freiherren. Weil solches in den Gesetzen und Gebräuchen Westfalens noch bestanden hatte, deswegen hatte er dieses Land der Roten Erde so lieb und fühlte sich auf diesem Boden wie auf einem recht heimischen, altdeutschen Boden besonders glücklich. Er war hier wirklich der treue, freundliche Freund und Nachbar der freien Bauern, die zum Teil nur eine Viertelstunde von seinem Schlosse wohnten, und zwar für seine Wirtschaft gar nicht bequem mitten in oder an seinen Wäldern und Feldern. Wie unausstehlich würden solche Nachbarn einem mecklenburgischen Junker gewöhnlichen Schlages oder dort gewöhnlicher Ansicht gewesen sein! Wie würde er darüber hin- und hergesonnen haben, ein solches Bauernfreigut durch alle möglichen Mittel und Künste in sein großes Gut mit hinein zu verschlingen! Wie gar anders Stein, dieser Ritter Stein, den einige deutsche Schriftsteller sich doch nicht gescheut haben, in seinen Ansichten und Strebungen einen Ultraaristokraten, einen Baron und nichts weiter zu schelten!

Ich bin ein lebendiger Zeuge, wie traulich und freundlich dieser allerdings große Baron mit seinen Bauernachbarn gelebt und verkehrt hat. Wie oft bin ich mit ihm auf unsern Spaziergängen in die Häuser dieser guten Bauern gegangen wo wir uns nach Landessitte haben bewirten lassen. Dies geschah öfters beim Schulzen Wechmar nicht weit von Kappenberg. Da hatte er mir, als wir das erstemal hingingen denn gesagt: Da werden Sie wohl dem guten Nachbar zu Ehren einen oder zwei Schnaps trinken müssen.« – »O, das werd' ich schon vollbringen,« hab' ich ihm geantwortet, »ich habe noch einige schwedische Übung in meiner Kehle, aber wie E. E. es gutmachen werden, soll mich wundern.« Und wir sind hereingetreten, Schulze Wechmar hat Butter, Brot, Käse und Schinken auftragen lassen, jedem von uns ein Glas Branntwein eingeschenkt und uns das Willkommen zugetrunken – und der Minister, der sonst den Branntwein verabscheute hat doch sein Glas halb geleert, ich meines ganz. – So war er, war und fühlte sich glücklich, solche freie, reiche Bauern um sich zu haben, wie er denn von Natur und aus Christengefühl der Freund und Beschützer aller Kleineren und der stille, verschwiegne Wohltäter der Armen war.

Eben wegen der Neuheit vieler Verhältnisse und auch wegen der Neuheit seiner westfälischen Besitzungen in den ersten Jahren nach unsern Siegen gab es für ihn mancherlei Unruhe, die ihm teils gemacht wurde, teils er sich selbst machte. Da fiel ein Unfall, ein schwerer Unfall auf das Glück seines Hauses seine Frau starb un Sommer 1819 noch in der Kraft ihrer Jahre und selbst noch in der Blüte von Anmut und Schönheit; si war von einer stolzen, königlichen Gestalt, dabei voll Treue und Mut, womit sie des Gatten schwerste Jahre tapfer mit durchgetragen hatte. Schönheit und Mut gehörte dem ganzen Geschlechte der Wallmoden an. Dies versenkte ihn in lange Traurigkeit und bekümmerte ihn sehr um seine Töchter, die eben von lustigen Dirnchen zu Jungfrauen heranblühen wollten. Da machte er zu seiner Tröstung und Belehrung und zur Erlustigung seiner Kinder eine Reise in die Schweiz und Italien, wobei er auch seine Bestrebungen für die Monumenta historiae germanicae immer frisch im Auge behielt.

Nach Jahr und Tag, in der Tat vielfach erquickt und gestärkt, kehrte er mit seinen Töchtern zurück; aber doch waren seine nächsten Jahre die Jahre vielfacher Hausunruhen. Aufblühende Töchter sind für jeden rechtschaffenen Vater, der keine Frau zur Helferin und Hüterin der flügge werdenden Vögel hat, eine natürliche Sorge und Plage; ihn beunruhigten sie sehr. Es mochten wohl hin und wieder Anfrager und Anklopfer, kurz, auch solche Vogelsteller kommen, die ihm nicht gefielen; genug, er ließ sich seine Unruhe deutlich merken und einmal, wie er denn selbst im Unmut ironisch zuweilen in Scherzen und Fabeln anzuspielen pflegte, sagte er: »Die alte, deutsche Fabel hat gewußt, daß die ersten Menschen auf den Bäumen gewachsen sind. Zuweilen könnte man wünschen, daß die Kinder auf den Bäumen wüchsen.« Der Abschluß solcher Hausunruhe schloß sich denn in einigen Jahren auch glücklich ab: er sah seine Töchter mit zwei würdigen, ritterlichen Jünglingen vermählt und sich von der Angst vor listigen Vogelstellern befreit. Henriette, die Älteste, gab einem Grafen von Giech aus dem Herzen von Franken die Hand, und Therese ward die schöne Beute des Grafen Ludwig von Kielmannsegge von der Niederelbe, Majoratserbe im Herzogtum Lauenburg, durch seine Geburt schon ein Verwandter des Hauses. Graf Giech und seine Gemahlin sind in Nassau seine Nachfolger geworden, und ich habe nach seinem Abschied von der Erde dort manchen Sommer noch freundliche, fröhliche Tage verlebt.

Es war eilte wahre Lust zu sehen und zu hören, wie der alte Ritter diese Jünglinge in seine edlen, freien Grundsätze einzuweihen suchte, immer von dem Satz als von dem Hauptsatz ausgehend, daß der Schloßherr nichts besseres sein solle als der erste, freie, germanische Bauer, der an altem ritterlichem Rechte festhalten, der Verteidiger, Führer und Beschützer der Geringeren sein und durch Barmherzigkeit und Treue allen und besonders den Armen sich immer bereit und hilfreich zeigen müsse. Der Schlußvers der Lehre war immer: Ein Edelmann sei nicht geboren, auf seinen Schlössern und Gütern bloß wie ein blanker Herr mit den Rittersporen zu prunken und zu prassen und mit Jägern und Stallknechten sein Leben abzuspielen, sondern sein Beruf sei, in Arbeit und Sorge für alles Volk, im Kriege und im Frieden, in Rat und in Tat der Vorderste zu sein. Das war er gewesen. Das klang nun etwas wundersam auf die jungen Männer herab, zumal auf den Grafen Giech von ältestem fränkischen Geschlecht, das Bischöfe und Domherrn und Genossen des großen Reiterfeldhauptmanns und Reichsgeneralfeldmarschalls Albert Achilles in seinen Fehden und Feldzügen zählte, zumal da unser Graf Giech schon über dreißig Jahre zählte und auf bayrischen Gesandtschaftsposten in London und Paris mitgestanden und als beredter Landstand in den Kammern zu München mitgesessen hatte. Der um zehn Jahre jüngere Kielmannsegge konnte sich solchen Lehren eher in Gehorsam verneigen. Er hat sie gottlob! nicht vergessen und ist jetzt als lauenburgischer Schloßherr ein sehr tätiges und wirksames Organ im Kampfe gegen die tückischen und nach deutschem Gut und Blut gierigen Dänen.

Bei diesen Vermahnungen und Lehren geborner Ritterschaft und ritterlicher Pflichten ward ich denn oft unvermeidlich mit hineingezogen, und wie ich des edlen Ritters Gesetzen einen vollen Beifall zollen mußte, machte ich auch meine Noten zu seinem Text aus der Zeit und aus den Erfahrungen meines Lebens heraus, wobei er mir denn gelegentlich wohl einen kleinen Hieb gab, daß ich im Grunde auch ein geschworner Adelsfeind sei, wogegen ich denn wieder antworten mußte, ich hätte die Edelleute nur beschrieben, wie ich sie in meiner Heimat gekannt habe. Da hieb er denn wieder ein: »Ja, Sie meinen die in Mecklenburg und Hinterpommern und in den brandenburgischen Sanddünen, die nichts als hinterliche und hinderliche Gedanken und Ansichten haben können; da weht schon zuviele polnische und russische Luft herüber. Das ist aber kein ritterlicher Reichsadel, kaum ein halbdeutscher Adel zu nennen, es ist ein genus hybridum, in welchem noch ein Stück von einem wilden, längst ausgestorbenen, vorsündflutlichen Tier steckt. Ich verbitte mir die Anwendung für uns andere, die man Edelleute aus dem Reiche zu nennen pflegt;« (bei solchen Worten pflegte er hell aufzulachen) »bei uns am Rhein und in Westfalen haben die Bauern solches Geschlecht nicht aufkommen lassen.«

Wie war denn Stein der große Landedelmann, der Schloßherr der erste, freieste Bauer, wie er ihn meinte? Seine Güter im großen und kleinen waren meistens verpachtet, den eigentlichen Ackerbau, obgleich er die edle, hohe Kunst sehr lobte, hatte er in der Jugend und in den Tagen seiner vollen Mannskraft nicht Zeit gehabt weder zu lernen noch zu üben, aber den Baum, den Wald – den liebte, den pflegte er und beschaute ihn wenigstens tagtäglich mit liebenden Augen und besprach seinen Bau und seine Verpflegung und Verschönerung mit seinen Jägern und Förstern; die Bäume, hohe, stattliche Bäume, auch die jugendlichen, erst vor zehn oder zwanzig Jahren gepflanzten – die umhalste, herzte und streichelte er wie seine Lieblinge und bewahrheitete in der eignen Person gleichsam die von ihm angespielte Fabelsage, daß die ersten Menschen auf und aus den Bäumen gewachsen seien. Wie oft sind wir an einem Apfelbaum, an einer Lärche oder Tanne unter solchen Zärtlichkeitsanwandlungen seßhaft geworden! Wobei er denn zu erzählen pflegte wie er als ein kleiner Knabe dabei gewesen, als die selige Mutter und Schwester Marianne sie haben pflanzen lassen.

So trägt der fromme Mensch das Leben der Liebe allenthalben mit sich herum, und in diesen Stücken Liebesleben ist es allerdings etwas Schönes, auf altväterlichen Schlössern unverrückt wohnen zu bleiben. Wo wird bei allen den Dünsten und Dämpfen und Eisenbahnen und ihren et ceteras von den höheren Schätzen auf Erden und von den unverwelklichen Erinnerungen und Gedenkzeichen der Menschen endlich noch etwas Festes übrigbleiben? Wohin wird die Poesie der Vergangenheit fahren?

Unsre Abendspaziergänge gingen meistens in den von dem Abendrot beleuchteten Wald oder unter schattigen Bäumen auf Feldern und Wiesen hin, wo er seine einzelnen Lieblingsruheposten hatte. Mich erinnert's, wir gingen einen Abend nicht weit unter seiner alten Burg durch Lahnwiesen hin, wo von einem Dutzend eigentlichster Holzapfelbäume die Äpfel gesammelt und geschüttelt wurden. Ich fragte: »Liebe Exzellenz wozu brauchen Sie diese Wilden?« Und er: »O, die geben den herrlichsten Essig; das sind die agrestia poma unsrer Germanen des Tacitus.« Dabei lachte er und fuhr fort: »Nun, so dumm werden die alten, deutschen Bauern auch nicht gewesen sein, daß sie sich an sauern Holzäpfeln die Zähne stumpf gebissen haben; es wird eben gemeines Bauernobst gewesen sein, wie sie heute meist nur pflanzen und essen. Wir wollen unsre Vorfahren mit vielen verrückten Adelungen und andern gelehrten Auslegern, die oft kaum einen Holzapfel von einem Borsdorfer unterscheiden können, uns nicht zu barbarisch machen lassen. Die Cherusci und Chatti, welche die besten römischen Heere unter einem Germanikus schlagen konnten, waren gewiß Kerle, die bessere Dinge zu säen und zu pflegen verstanden als bloße Holzapfelbäume. Wir sehen aus Tacitus selbst, wenn wir gute Augen zum Sehen haben, es mußte damals gewiß ein tüchtiges Chattia und Westfalia schon bestehen, ungefähr wie wir es heute noch im Walde und Felde sehen.«

Von dem Landwirt und Gutsherrn und Waldströmer komme ich auf den deutschen Schloßherrn und Landherrn oder vielmehr auf den guten, freundlichen Landedelmann, auf den englischen landlord, den schottischen laird, den alten, nordischen, husbonde, wie er in den nordischen Landen in manchen Überresten ursprünglicher Gastlichkeit heute noch besteht, daß der Landbauer, kleiner und großer, immer ein Gastgeber sein soll, daß für jeden Fremden, der in irgend einem Geschäft um die Mittagszeit ins Haus kommt, am Tische ein Platz bereit sein soll. Daher die englische Bedeutung des landlord, wodurch zugleich der Landherr und der Landgastwirt bezeichnet wird. So ist es auch bis auf den heutigen Tag in Schweden, wo bei dem Grafen und Freiherrn guter Art der Pfarrer und sein Küster, der Steuervogt und sein Schreiber, der Student und der Handwerker und jeder ordentliche Mann, der zur Tischzeit in einem Geschäft oder zum Besuche kommt, seinen Platz am Familientische wie bestellt findet. So war Steins gastliches Haus für die Nachbarn, für die Freunde, für die Männer in Geschäften, die mit ihm irgend zu tun hatten. So lebte er nicht bloß mit den unterhabenden Pfarrern seines Patronats, deren er vier, fünf hatte, mit seinen Rentmeistern, Förstern usw. und den Beamten, Bürgermeistern und Schöffen von Nassau und andern umliegenden Städtchen sondern mit Brückenbauern, Schlossern, Zimmerleuten, die in ihrem Handwerk vorzüglich waren; sie saßen gelegentlich mit Exzellenzen und Grafen an demselben Tisch. Das war auch echt altdeutsch.

Am meisten hatte er nun freilich seine Freude, wenn tüchtige Kriegsmänner, die in unsern Schlachten tapfer gefochten hatten, wenn Borstell, Thielmann, Pfuel aus Koblenz ihn besuchten, oder wenn sein treuer, politischer Freund und Mitstreiter und Gegenstreiter, wie er ihn im Scherz wohl nannte, wenn Hans von Gagern auf einige Wochen bei ihm vorfuhr. Das war eine Freude und Erlustigung und für unsereinen auch ein sehr unterhaltendes und belehrendes Leben. Gagern war der Vielbelesene und Wissende, Stein aber hatte das Seinige immer fest und klar auf dem Nagel und seine wohl geschliffene Klinge immer sogleich zum Einhieb bereit. Manche schöne Woche habe ich mit dem liebenswürdigen und freundlichen Hans im Flügel des Steinschen Schlosses Stube an Stube gewohnt und Morgengespräch und Morgenwanderung mit ihm halten gekonnt. Ich habe den wackern Greis in unserm großen Wirrsahl von 1848–49 in Hornau im Kreise von Kindern und Enkeln, ich habe ihn bei unserm Sprecher und Reichsminister, seinem Sohn Heinrich, und an andern Stellen in Frankfurt öfter gesprochen. Das war auch ein echter Mensch, der mit aller Welt in Freundlichkeit leben gekonnt hat. So war es eben bei Stein: jeder fühlte in seiner Gegenwart, wo er war, und mit wem er zu Tische saß, aber jeder, der nur das Herz auf dem rechten Flecke hatte, fühlte sich bei und vor ihm frei. Stein hatte nichts von jener falschen, nichtigen Art Freundlichkeit, von jener jämmerlichen Vornehmigkeit, welche unwillkürlich jeden Anwesenden zu falschen und lügenhaften Verneigungen und Zierlichkeiten nötigt und falsche, knechtische Kräuselungen und Krünkelungen haben will. Hier war auch keine kleinste Spur von einem vornehmen Junker, sondern es war in Tat und Wahrheit der alte, freiherzige, freigeborne, deutsche Ritter.

Dieser deutsche Ritter hielt einen recht anständigen, ritterlichen Tisch, man möchte fast sagen, einen echt deutschen, ritterlichen Tisch; denn fast immer war des Wildbrets und Geflügels die Fülle da. Seine weiten Forsten und Wiesen und Felder gaben ihm der Rehe, Hasen, Schnepfen, Rebhühner genug; in Kappenberg hatte er sich auch einen Fasanengarten angelegt. Edelster Wein stand immer reichlich auf dem Tische und zwar vom Gewächs guter Jahre aus eignem Weinberge. Er besaß ein Weingut bei Lorch hart an Asmannshausen. In Lorch hatte nämlich im Mittelalter eine sogenannte Ritterschule bestanden, dies Wort in der byzantinischen Bedeutung Schule genommen, die nichts anders heißt als eine geschlossene Genossenschaft. Bei der Auflösung dieser rheinischen Rittergenossenschaft hatte der Ritter vom Stein seinen besondern Anteil von Feld und Weinberg bekommen, mit dessen Ertrag er seinen Keller füllte. Unser Freiherr war ein ziemlich rüstiger und lustiger Esser; er nahm auch nur einmal des Tages (um 3 oder 4 Uhr) eine volle Mahlzeit ein. Von seinem Wein trank er gewöhnlich nur drei bis vier Gläser, munterte aber seine Gäste immer auf, ihm im wenigen Trinken nicht nachzuahmen. Der Nachmittag, aber vorzüglich der Abend war für die Steinschen Gäste die glücklichste Zeit. Da offenbarte er die alte, deutsche Natur, die gegen den Abend und um die Nacht meistens ihr bestes, vollstes Leben hat und zeigt. Freilich war niemand der deutschen Schwelgerei fremder als unser Freiherr. Er zündete sein Licht und Leben nicht an überflüssig geleerten Pokalen an, um gegen die Nacht ihre Funken auszusprühen, aber sein geistiges Leben war vorzüglich ein abendliches. Das mag auch altdeutsch sein. Nach dem Mittagsessen in seiner Bibliothek und auf Spaziergängen im Abendschimmer durch Wald und Feld und Wiesen, dann an dem fröhlichen, lebendigen Teetisch mit seinen Kindern und Gästen, da blühte, leuchtete und blitzte er in seinen gesunden Tagen, da war selbst seine ernste Stille, wenn er nur so heiter und fromm unter uns saß, mit einer wundersamen Klarheit und Heiterkeit übergossen: seine freundlich blitzenden Augen, seine breite, hoch zurückgewölbte, leuchtende Stirn, worauf Macht und Geist gelagert waren. Noch heute steht dies Bild des hohen Greises hell vor mir. Aus dieser Stirn sprach nichts als Macht, Mut und Verstand nebst Redlichkeit, Wahrheit und Treue; dies sprach sich so gewaltig aus, daß man sich vor solchem hohen Geist in Ehrfurcht verneigen mußte. Hier leuchtete wirklich eine olympische Größe, von welcher unwillkürlich und unbefohlen der Befehl ausging. Selbst wenn Unmut und Zorn in ihm aufstiegen, hier oben, auf diesem Olymp, trat keine Verdunkelung ein; die Nebeldünste und Donnerwolken mußten sich tiefer nach unten hinabsenken, wo um den scharfgeschlossenen Mund und das etwas zu spitze Kinn die niederen, irdischen Kräfte und Leidenschaften in leicht beweglichen Zuckungen spielen konnten; denn jachzornig war er zuweilen, und dann bebte und zuckte in seinem unteren Antlitz die Erde, während oben der Himmel kaum leicht überzogen war.

Zu den Sommergästen von Nassau und Kappenberg, zu welchen Hans von Gagern und ich fast regelmäßig gezählt werden konnten, gesellte sich zuweilen noch ein dritter, der eben wie Gagern oft Zimmer an Zimmer neben mir gewohnt und auch wohl einen Morgenspaziergang mit mir gemacht hat, ehe der alte Herr erschien. Das war der katholische Pastor Fey aus Bodendorf an der Ahr. Stein hatte den Mann sehr lieb, und es war ein wackrer, gescheiter und ehrenwerter Landpastor, wie er sein muß. Er war in gewisser Hinsicht Steins Lehnsmann, so weit ein katholischer Pfarrer eines protestantischen Patrons Lehnsmann sein kann. Stein besaß als Andenken an altahnherrliche Besitzungen der weiland großen Freiherrschaft Landskron das alte Schloß Landskron in Trümmern nebst einer dazu gehörigen katholischen Kaplanei, wozu die Pfründe einiger Hebungen und vorzüglicher Weinberge gehörte. Fey war von Stein mit dieser Pfründe beliehen. Die beiden Alten standen in einem hübschen Wechselverhältnis: Stein neckte gern, was er lieb hatte, und der frohherzige, freimütige Pastor Fey wußte ganz frisch zu erwidern.

Wie gesagt, Stein packte gern an, was er lieb hatte, und zuweilen sogar von kurzer, übermütiger Laune ergriffen, wenn er eben nicht vom Podagra ergriffen war – denn dann konnte er auch wohl launisch statt launig werden. So fragte er unter anderm, in scherzhafter Laune mit dem leichten Heiligendienst beginnend, nach der neuen Verehrung und Anbetung seines nicht verehrten Ahnherrn des Quaden von Landskron und Sintzig, der jetzt der heilige Mann von Sintzig Dieser Heilige war ein zur Mumie gewordener Quade von Landskron, von den Franzosen nach Paris entführt und nach unsern Siegen wieder genommen und von Köln wie in einem Heiligenzuge von Tausenden Begleitern zu seiner Ruhestätte zurückgebracht. Landskron war im Mittelalter eine große Herrschaft, die Quaden waren die kaiserlichen Reichsrichter über acht bis zehn umliegende Ritterschlösser, die alle in Sintzig ihre Winterpaläste hatten. heißt. »O da geht's lustig her,« sagte der Pastor, »seitdem er von den Franzosen nach Paris entführt und so feierlich in heiliger Prozession von Paris und Köln zurückgeführt ist. Jetzt glauben die Leute in ihm einen rechten nachbarlichen Fürbitter im Himmel zu besitzen.« – »Ja einen prächtigen Fürbitter,« rief Stein einfallend, »der mag noch wohl im Fegfeuer schwitzen; ein paar Jahrhunderte sind da eine kurze Zeit, und er wird es wahrhaftig bei Sankt Peter und den andern Rhadamanthen des Himmels nicht leicht haben – ich wäre gewiß ein reichster Mann am Rhein, wenn ich alle die Wälder und Felder hätte, die der heillose Trunkenbold in seinen Tagen verkauft und verpfändet und durchgegurgelt hat.«

Bei dem Scherz über den heiligen Mann und über den Volksglauben, daß in den Leibern, die wie unverweslich als Mumien fortdauern, ein vorzüglich frommer Geist gewohnt haben müsse, kamen sie denn auch auf den Dienst und die Verehrung der Heiligen, wo Stein denn dem Pastor allerdings soweit recht gab, daß es besser sei, viele kleine Götzchen und Pförtner des Himmels zu verehren als gar keine, wessen die Katholiken die Protestanten immer beschuldigen. Da sagte dann Stein: »Kommt nur heraus mit euern Soldaten! Die mit und nach Luther und Calvin beten, haben eure Vielbeter in allen Schlachten, wo sie sie getroffen, geschlagen, und so wird und muß es immer bleiben. Die Einheit des himmlischen Kommandos schafft doch ganz andre Helden, als wo sich die Herrschaft zersplittert. Ein Gott und immer wieder ein Gott und Gott allein! Immer zu dem Einen, zu dem Höchsten das Herz und die Hände erhoben – das gibt auch einen Mut, den rechten Mut. Wir Protestanten sind Soldaten, die im Frieden mit schwerem Gepäck ihre Übungen machen, haben also besser geübten Atem für den Krieg, ihr Katholiken habt in euren Heiligen die Menge Diener und Troßbuben, die euch das Gepäck abnehmen und ein gutes Stück Weges tragen helfen; ihr habt aber nur halben Atem für die Arbeit des vollen Kampfes.«

Der gute Fey wußte in Nassau, daß er keine gefährlichen Horcher um sich hatte, und wir beide verliefen uns wohl zuweilen auf das bedenkliche und verfängliche Gebiet, wohin das Philosophieren über Religion sich so leicht verläuft. Das war etwas, was Stein wenig leiden konnte, bei uns aber leidlich duldete. Da sagte er denn einmal zum Fey: »Nehmen Sie sich in acht vor dem ketzerischen Professor, der meint mit vielen Berlinern, es werde für ihren König gar eine Kleinigkeit sein, wenn er nur wolle, alle Rheinländer, die in religiöser Beziehung von den Franzosen schon sehr zermürbt und aufgelockert seien, calvinisch oder lutherisch zu machen. Armer Fey, wie wird's Euch gehen, wenn Ihr nicht mit wollt? Wie wird's da mit Eurer hübschen Kaplanei und den schönen Weinbergen? Ich sage Euch, hütet Euch vor dem Schelm! Jene Berliner übrigens, die da sprechen: » Wenn der König nur wollte,« wissen aber nicht, was der Papst und Ihr Priesterrock noch in der Welt bedeuten. Es ist, als wenn der König von Preußen bei der päpstlichen Heiligkeit bloß mit einem hübschen Gruß anzufragen hätte, und daß man dann Kappen und Kragen leicht wechseln und den katholischen Priesterrock in die Nesseln werfen könnte. Es ist gerade, wie vor dreihundert Jahren ein alter Ritter meinte, der mit dem Steinschen Blute verwandt gewesen sein soll. Er hieß Hartmut von Kronenberg, wohnte zu Kronenberg im Taunus, wo, die herrlichen Kirschen- und Kastanienwälder sind, und war Feldhauptmann der freien Reichsstadt Frankfurt. Der hatte ungefähr mit unsern klugen Berlinern denselben Gedanken; er schrieb an den jungen Kaiser Karl V., er möge die Gnade haben, an den Papst Leo X. einen recht christlich-gemütlichen Brief schreiben und ihn in aller Freundlichkeit und Gütigkeit ermahnen, er möge sich bekehren, erkennen, daß er der wirkliche, rechte Antichrist sei, seine dreitürmige Krone dem Kaiser zu Füßen legen und wieder ein demütiger, kleiner Bischof werden, der er auch nur sein dürfe.«

Ich aber und Fey hatten trotz aller dieser kleinen Sprünge und Einhiebe des edlen Ritters recht schöne Stunden mit ihm und mit uns und vertrugen uns. Ich habe den wackern Mann in Bodendorf öfter besucht und von seinen vortrefflichen Ahrweinen gekauft und freundlichste Gastlichkeit bei ihm genossen. Er hat seiner Vaterstadt Bonn noch eine Stiftung von einigen tausend Talern vermacht. Wir werden uns trotz des heiligen Mannes und aller kleinen, heiligen Götzen mit Stein mit einem fröhlichen Anhauch der Wiedererkennung gewiß auf einem besseren Stern einmal wieder begegnen.

Unsre Gespräche rollten mit Stein auch zuweilen über die Jesuiten hin. Fey hatte sie als Knabe noch in Bonn gesehen, freute sich, daß sie jetzt sich kuschen und ducken müßten; sie seien eine arge Landplage für die Weltgeistlichkeit gewesen, der arme Pfarrer sei verloren gewesen, auf dessen Rücken sich so ein Jesuitenalp aufgehuckt habe, der habe sich in Ängsten und Ärger damit zu Tode schleppen müssen. Stein brachte den Fey auf das Wort, welches ihr Ordensmeister zur Zeit ihrer Auflösung in den 1770 er Jahren zum Papst gesprochen habe: Sint, ut sunt, aut non sint, und fuhr sogleich mit heftigerer Rede fort: »Sie hatten recht, aber unser König hat auch recht, der eine so giftige, natterische Gesellschaft, welche unser Deutschland beinahe ein Jahrhundert mit Aufruhr, Krieg und Mord gefüllt und verwüstet hat, in seinem Lande nicht hausen lassen will. Denn das soll jeder glauben, der nur ein wenig in die Geschichte dieses Ordens hineingeblickt hat: Erunt, ut fuerunt. Dies offenbaren sie jetzt wieder durch ihre Hetzereien in Frankreich und werden sie allenthalben zeigen, wohin man sie den Fuß setzen läßt. Unser Deutschland kann von ihnen nachsagen, noch sind an vielen Stellen die Wunden nicht vernarbt, die sie ihm zwischen den Jahren 1570 und 1650 geschlagen haben. Sie verstehen die Natternschlingungen und Umschlingungen und haben Natternzähne.«

Ich habe von dem wackern, frommen Pastor erzählt, von Steins und von unsern Gesprächen über die Jesuiten, über Gott und über die Götzchen und Heiligen, über Mumien und über den heiligen Mann und von andern leichten Scherzen und Späßen. Wo soll der Mensch oft bleiben vor Scherz und Spaß, den Gott ihm gottlob! auch in die tiefe Brust und in den tiefen Ernst des Lebens gelegt hat? Er will und muß ihn auch zuweilen zum Spielen auslassen. Stein war ein wahrhaftig frommer Mann, wie er ganz ein tapfrer und redlicher Mann war, aber selbst in ernsten Gesprächen führte er Gott selten im Munde, niemals im Maule. Nichts war ihm verhaßter als Maulchristen, ja selbst Mundchristen wurden ihm leicht verdächtig als Gleisner und Scheinheilige. Er nannte sich einen frommen Christen, und er war es; er pries sich auch darin glücklich, daß er durch seine Eltern ein Lutheraner war. Seine Ahnen hatten im Dreißigjährigen Kriege genug für ihren Doktor Martin gelitten und waren von Schlössern und Gütern verjagt und im Jahr 1650 wiederhergestellt worden. Er pflegte so in seiner kurzen Weise zu sagen: »Doktor Luther hat uns den Weg und Eintritt in den Himmel gottlob! etwas kürzer gemacht, da er die vielen Hofmarschälle, Zeremonienmeister und Türhüter des Himmelspalastes weggeschafft hat. Sie wissen, ich liebe das Kurze, wenn der Weg auch oft etwas abschüssig und gefährlich ist.« – Er glaubte das Erlösungswerk des Lutherschen Katechismus, aber die Mundchristen mochte er nicht, welche den Namen Heiland und Erlöser oder der süße Jesus leicht im Munde führen; schwer und ernst führte er ihn auch bei Gelegenheit im Munde. »Das ist ein Geheimnis, wobei einem verworrener wird, jemehr man darüber schwatzt und klügelt; vor einem Geheimnis steh' ich still, daran glaube ich, aber von Gott weiß und fühle ich was.« Gott und nur Gott war immer nur sein einfaches Wort.

Rührend und wahrhaft erbaulich ist mir der Mann gewesen, als ihm sein Gemahl heimgegangen war und er da unter seinen Töchtern einsam saß mit dem Gefühl, daß er nun allein ihr irdischer und himmlischer Führer und Wegweiser durchs Leben sein solle, wie er da mild und freundlich und still wie ein Kind von himmlischen Dingen zuweilen ein Wörtchen mit ihnen sprach und seine gewaltige Natur bändigte und sänftigte. Wie er Gott, den gewaltigen Gott, den furchtbaren, allmächtigen, in den rauhen Stürmen seines Lebens und in dem siegreichen Donner der blutigen Schlachten erkannt und geglaubt hatte, so war der stille, freundliche Gott des Friedens in der stilleren Zeit auch immer um ihn, wandelte mit ihm durch das Rauschen seiner Wälder, brauste in seinen Strömen und Bächen und säuselte im Laube der Büsche auf die Bänke herunter, worauf er im Abendrot im Walde oder Garten auf Gottes Stimmen zu lauschen schien – da immer so ganz still, wie ein stiller Sommerabend selbst ist; mit dem Sitzen verstummte gewöhnlich das Gespräch. Wie oft habe ich ihn da mit gefalteten Händen gesehen, mit stillen, sanften Zügen, selbst wenn er von der Zeit und von ihren großen Wechseln sprach, die wir miteinander erlebt hatten, wobei sonst auch wohl Namen genannt zu werden pflegten, wobei neben oder nach Erinnerung an die Leitung der Vorsehung auch wohl häufig Verwünschungen und Ausspeiungen folgten. In Sehnsucht nach dem Verlornen oder durch Dummheit, Feigheit, Hinterlist Verspielten und Verschwendeten von den sieghaften Gaben Gottes, in dem Gedanken, was gewonnen gewesen und durch die Schlechtigkeit der Menschen nicht festgehalten war, sprach er doch in Erinnerung des Elends und der Schande, woraus wir erlöst waren, und in dem Gefühl, daß wir wieder im Schatten eigner Bäume sitzen und beten konnten: »Lieber Freund, wir haben doch viel gewonnen, Gott wird ja weiter helfen,« dann auch wohl wieder in einem andern Sinn und nach einer andern Seite hingewandt: »Diese Welt ist einmal eine böse Welt, wo die Schelme oft oben schwimmen; man sehnt sich oft dahin, wo es besser ist; ich hoffe doch dahin zu kommen, wo man immer in Gesellschaft von ehrlichen Leuten lebt und einem nicht soviele Schelme und feige Schurken begegnen, als einem hier oft den Weg versperren wollen.«

Ja, er sah und glaubte Gott in allem, und wann das erste Ungestüm seines Herzens gestillt war, dann ergab, besänftigte und erheiterte er sich. Es ist gewiß, dieser sehr ernst und stark geborne Mensch hat wie sein großer Schulmeister Doktor Martin Luther wohl von Jugend auf Gott als einen Gewaltigen und Gottes Geschicke als gewaltige Dinge gefühlt. Ich sage: Das ist gewiß, denn er hat mir hundertmal die augenscheinlichen und handgreiflichen Zeichen davon gegeben. Wann wir auf unsern Spaziergängen einem armen, gebückten Alten, einem unglücklichen Krüppel oder irgend einem jammerlichen Bettler begegneten, der nach dem gnädigen Freiherrn die Hände ausstreckte, so holte dieser Freiherr, der für solche Fälle fast immer etwas bei sich hatte, ihm die Gabe aus der Tasche und gab sie still hin. Nie sprach er dabei ein Wort sondern verlor vielmehr das Wort, wenn der Unglückliche nicht eben ein Bekannter war; es zog dann meistens eine sehr ernste Wolke über sein Gesicht, und er stand wohl mehrere Minuten still; es war, als sei das Menschengeschick an uns vorübergegangen, der alte Spruch: res sacra miser.

Also gar kein Maulchristentum, Allerwenigstes von Mundchristentum bei ihm; breites Gespräch über Religion mochte er überhaupt nicht und ward gegen Mundchristen leicht ungerecht. Ich meine hier gute, fromme Menschen, die sich eine gewisse Art, über das Himmelreich und die Erlösung zu reden, oft als eine Gewohnheit zugelegt haben und dabei doch keinen Schalk im Herzen tragen sondern wirklich fromm und ehrlich sind, aber gewiß nicht fromm sind mit der Steinschen Felsenstärke des Glaubens an Gott und an die Führung der menschlichen und irdischen Dinge durch Gott. Ich habe Stein im Hause und in der Familie nicht beten gesehen; wenn mau zuweilen in der Frühe in sein Studiolo kam, wo unter den weltlichen Büchern etwa die Bibel, ein Gesangbuch usw. aufgeschlagen lag, flugs machte er es zu und legte es weg. Er haßte und verachtete in allen Dingen den Schein, wie vielmehr den Schein des Scheins.

Sonntags ward von ihm, seinen Kindern und Hausgenossen immer in den Vormittags-Hauptgottesdienst gegangen. Da sagte er: »Man geht oft in die Kirche ohne Herzensbedürfnis, aber ein alter Mann und ein Hausherr ist der Jugend ein Beispiel schuldig, und oft nimmt man doch etwas mit zu Hause, was man nicht gehofft hatte.« Er hatte in Nassau einige Jahre einen Prediger, den er nicht mochte, einen geborenen Braunschweiger, freilich einen Mann, der ein zu mattes, zuweilen, wenn er recht scharf und christlich zu treffen glaubte, ein langweiliges Evangelium predigte. Da sprach der Ritter dann wohl, wann wir zu Hause gingen: »Wir müssen Geduld lernen, wir haben hier des Himmels wegen auch oft unsre Langeweile; ich hoffe, im Himmel wird's frischer und lustiger sein.« – Oder auch ein anderes Mal: »Die dummen Kerle haben die Kapitel vergessen, die im Allerheiligsten der Bundeslade in Gold eingewickelt liegen, vor welchen sie anbeten sollen; sie wissen vielmehr zu schwatzen und Glossen über die Ochsen und Esel zu machen, welche die Bundeslade ziehen sollen. Das Herz empor! Und den Hut ab in Ehrfurcht! Das empfinden sie nicht. Je nun, wir können uns doch trösten, ist die Predigt schlecht, so klingt doch noch mitunter ein Lied von Doktor Luther oder Paul Gerhard, und wenn man fromm sein will, so geht's doch.«

Wenn er so nach der Kirche sonntäglich oder auch wohl alltäglich bei unsern Spaziergängen im Gefühl der Verarmung der Zeit und der Vergänglichkeit der irdischen Dinge oft ein kurzes, scharfes Wort der Wehmut oder der Sehnsucht aus diesem Wirrwarr heraus ausstieß, gerieten wir auch wohl zuweilen in ein kleines Zwiegespräch über die unbekannten ewigen Dinge. Da begab es sich nun einmal, daß ich unter den Gründen für die Unsterblichkeit unserer Geister und für die Hoffnung einer bessern Welt den Grund als meinen Hauptgrund voransetzte, daß bei mir aller Glaube wanken würde, wenn nicht gottbegeisterte, tugendhafte Menschen vor mir gelebt hätten, wenn ich nicht wüßte, daß von allen Geschöpfen Gottes der Mensch das einzige Geschöpf sei, das auch in Not und Elend, auf der Folter und auf der Henkerbühne mit kaltem, stillem Mute, ohne Zorn oder Wut und Mut der Leidenschaft dieses Leben im Bewußtsein eines Höheren und Ewigen hingeben könne.

Da fielen mir einige Verse aus Cicero de senectute ein, die ich vor ein paar Menschenaltern als Sekundaner in der Stralsunder Schule für sogenannte Deklamierübungen auswendig gelernt hatte, und die in meinem Gedächtnisse stecken geblieben waren. Ich sagte sie ihm her, aber er jagte mich damit weg mit den Worten: »Gehen Sie mir mit Ihren alten Heiden! Ich habe an meinem Katechismus genug und, wenn ich mehr haben will, an meinem St. Johannes und St. Paulus! Sie kommen mir auch mit den Heiden wie Gagern mit seinem Seneca und Tacitus.« Da hatte ich meine Abfertigung. Aber die Verse schienen ihm doch gefallen zu haben, den andern Morgen beim Frühstück um zehn Uhr mußte ich sie ihm wieder hersagen. Da antwortete ich ihm auf die Bitte, ich möge sie ihm abschreiben, er wolle sie seiner Tochter Henriette schicken: »Ich weiß nicht, ob sie ganz genau von mir behalten sind. Haben E. E. nicht etwa einen Cicero?« Und er wies mich hin, in seiner Bibliothek nachzusuchen, und ich schrieb aus einer alten Ausgabe des sechzehnten Jahrhunderts die Worte ab, wie sie hier folgen: Nolite arbitrari, o mei carissimi filii, me, quum a vobis discessero, nusquam aut nullum fore, neque enim, quum eram vobiscum, animum meum videbatis, sed eum esse in hoc corpore ex iis rebus, quas gero, intelligebatis. Igitur esse creditote, etiamsi nullum videbitis Diese Worte sind von Cicero aus Xenophons Buche: »Die Jugendjahre des Cyrus« genommen, eine Art Heldenroman, welchem der fromme Erzbischof Fenelon von Cambray seinen berühmten Roman Telemach nachgebildet hat. Ich gebe Ciceros Worte hier in deutscher Übersetzung:
»O bildet euch doch nicht ein, meine teuersten Söhne, daß ich nach meinem Abscheiden von euch nirgends oder nichts mehr sein werde. Denn auch, als ich bei euch war, sähet ihr meinen Geist nicht, sondern vernahmet aus den Taten, die ich verrichtete, sein Dasein in diesem Leibe. Ihr müsset also an dieses Dasein glauben, wenn ihr ihn auch nimmer sehen werdet.«
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Weil ich hier aus dem Cicero und dem Sokratischen Xenophon vom Geist rede, so spreche ich auch von den Totenwohnungen, über welchen die Geister der Sterblichen schwebend gedacht werden. Da Stein wohl zehn Jahre und länger volle Arbeit hatte, seine Schlösser und Häuser nach langer Abwesenheit wiederherzustellen oder umzubauen, so ging er auch dran, die Gruft seiner Väter, worin auch sein Staub niedergelegt werden sollte, anständig und würdig zu verjüngen und zu schmücken. Da bin ich oft mit ihm zu der Familiengruft des alten Steinschen Dorfes Frücht gefahren, welches eine gute Stunde von Nassau an der Lahn ziemlich hoch an einer großen Forst, dem Hauptwalde der Familie, liegt. Da hat er mir ganz in seiner gewöhnlichen Stimmung die Särge seiner Ahnen gezeigt, den Sarg seines jüngst verstorbenen Gemahls und die Stelle, wo seine Leiche einst neben der ihrigen stehen sollte; ferner die Pflanzung schönster, junger Bäume, die Einteilung des Bodens ringsum zu grünen Rasenstücken und Blumenbeeten und Büschen, worin die Vögel im Morgen- und Abendrot zwitschern und singen und am befriedeten Ort ihre friedlichen Nester bauen könnten.

Er wandelte da still und ernst aber ohne Rührung und besondere Gebärdung umher und vollbrachte mit Gärtnern, Maurern und Schreinern sein Werk wie ein andres gewöhnliches Tagewerk. Ich fand auch das schön und tapfer. Wir andern Plebejer, welche keine besondere Mausoleen und Marmorgrüfte besitzen und in dem alten Meder- und Perserglauben, welche die Leichen an einsamen Stellen im Felde und Walde, auf Steinen und Hecken den Tieren und Vögeln allenfalls zur Verspeisung hinlegten, ziemlich gleichgültig sind, wo unsre Gebeine neben andern Christengebeinen auf dem stillen Friedhöfe einst ruhen werden, haben natürlicherweise gar keine Vorstellung von dem, was von den Geistern der Ahnen aus den altväterlichen Schlössern und Grüften derselben in die Herzen der Hochgebornen, die darin und darum unverrücklich wohnen bleiben, herniederschwebt; wir wissen nicht, was vorgeht, wo nach dem Ausdruck des größten schwedischen Dichters Bellmann: hvar bakom gylne galler förnäma skuggor samman bo. »hinter goldnen Gittern vornehme Geister zusammen wohnen«; wir können nur sagen: Laßt jeden nach seiner Weise glauben, leben und sterben.

Wir nahen hier auch dem Schlusse und dem Grabe. Das Jahr 1830 war gekommen mit neuen Aufruhren und Umwälzungen, welche Stein wohl beunruhigten aber nicht erschütterten: durch ein einzelnes Schrecken konnte der starke Mann nicht sterben. Aber der starke Mann war alt geworden, hatte sein Siebenzigstes schon um einige Jahre überschritten; Gicht und Podagra war ein altes Erbübel von Vätern her; außer diesem fühlte er beim Bergsteigen schon kürzeren Atem, auch Schwindel hatte sich ein paarmal bis zur Ohnmacht gezeigt, sowie Schwäche seines Augenlichts. Nicht bloß die Bürde des Alters, deren Druck er oft schwer fühlte, sondern eine tiefe Wehmut über den Lauf unsrer deutschen Dinge hatten ihn schon seit Jahren oft ausrufen lassen: »Fort! fort von hier! Ich tauge nichts mehr auf Erden.« Solches Gefühl ergreift auch wohl im kräftigsten Alter die Kühnsten, wann sie gewahr werden, wie ihre hohen und großen Gedanken und Entwürfe oft an dem Niedrigsten und Kleinsten, wie es die Erde bringt, hängen und stecken bleiben müssen. Dies war gewiß schon in seinen Dreißigen und Vierzigen ein natürliches Steinsches Gefühl gewesen. Da klang denn aus seinem Fort! fort von hier! auch der Vers eines alten Liedes, den er herzusagen pflegte:

Macht mir ein Bett, gar weich und schön.
Denn ich bin müde und will schlafen gehn.

Solche Klänge der Wehmut nahmen wir eben wie Anwandelungen des Augenblicks, zumal da seine geistigen Blitze selbst aus dunkelsten Alterswolken oft noch recht hell leuchteten, und da der Zorn über die jüngste Welterschütterung auch ihn frisch aufzuschütteln und zu beleben schien, und da er eben in jenem Jahr 1830 den Wunsch und den Plan aussprach, in der Nähe von Bonn und von Trier manche schöne Rhein-, Ahr- und Moseltäler, die er noch nicht kenne, zu besuchen; aber Gott hatte über seine Reise anders verfügt: sie sollte nicht an Mosel und Ahr sondern himmelauf gehen. Gegen Ende des Brachmonds 1831 ist er im Schlosse Kappenberg im vierundsiebzigsten Lebensjahre gestorben, glücklich und selig der nahen Heimfahrt, indem sein Geist mit völlig klarem, ruhigem Bewußtsein bis ans Ende zwischen Himmel und Erde schwebte Dies nach der Erzählung von Fräulein Schröder, seiner treuen Begleiterin und Vorleserin., und mit voller Klarheit und Wahrheit den Seinigen Von seinen Kindern war keins anwesend und allen, die sein Bett umstanden, seinen Dank, seine Aufträge und Bitten und Ermahnungen zusprach. Besonders rührend ist es gewesen, als er seinem jungen Jäger die Hand gegeben und im Gefühl der Gefahren des Augenblicks, als wenn wieder gegen Napoleon der Aufmarsch ausgerufen würde, ihn also ermahnt hat: »Mein Sohn, du bist bisher nur gegen Rehe und Hasen tapfer gewesen, bald kann es geschehen, daß dein König dich gegen die Reichsfeinde aufruft; dann wirst du deine Büchse tapfer für dein Vaterland gebrauchen.« So schwebte der Geist des Tapfern und Treuen mit letzter Sorge und Gebet noch über seinem Deutschland.

Stein starb den 29. Juni 1831. Seine Leiche ward durch Köln und Bonn zur Gruft seiner Väter nach Frücht abgeführt. Ich bin ein halbes Stündchen auf der Straße nach Godesberg hin hinter ihr hergegangen. Mögen alle Deutsche nicht seiner Leiche sondern seinem Geiste nachfolgen! Tacitus erzählt uns, Arminius sei, als der Sieger und Retter seines Volks nach seinem Tode in Liedern gefeiert worden; wir wissen, wie des germanischen Helden, des großen Ostgoten Theodorich, Taten in allen Landen auf den Schild des unsterblichen Ruhms gehoben worden sind, wie sie noch heute in den äußersten Inseln des Weltmeers, auf den Schafinseln, in Liedern erklingen. Stein ist unser zweiter Arminius gewesen, von Gott geschaffen, der Beweger, Lenker und Begeisterer großer Taten und Siege zu werden. Sein Gedächtnis wird unsterblich leben. Er war Deutschlands politischer Martin Luther, er war dies auch seiner ganzen Natürlichkeit nach, an Leib und Geist, auch mit denselben Tugenden und Fehlern. So wenig Luther in seinen Tagen sein großes, deutsches Werk der Kirchenbesserung und durch diese die hohe Kräftigung und Einigung seines Volks nicht vollbringen gekonnt hat, so wenig ist auch Steins großer Gedanke der Einheit, Macht und Majestät des edelsten, größten Volks der neuen Geschichte nicht vollbracht worden. Aber Stein und sein erhabener Gedanke soll leben und wird leben in den Enkeln und Urenkeln, und sie werden seinen Gedanken festhalten, sie werden vollbringen und einigen und zusammenbinden, was als ein stolzer, politischer Traum vor dem Geiste des treuesten, tapfersten, unüberwindlichsten, deutschen Ritters gestanden hat. Amen! Amen!

Bonn
im Wintermond 1858.

 


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