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Pascha Tumanow.

I

Vor der geschlossenen gelben Tür zum Amtszimmer des Polizeimeisters, stand in einem schmutzigen Vorzimmer mit dem Rücken gegen den Kleiderständer gelehnt ein Polizeisoldat, dessen Uniform mit Federn und Kreide beschmutzt und an den Schultern zerrissen war.

Dieser Soldat hatte das demütigste und dümmste Aussehen, das es geben kann; es hinderte ihn aber nicht, auf seinem Gesichte obrigkeitliche Strenge zum Ausdruck zu bringen, als ein Unbefugter in das Vorzimmer eintrat.

Dieser Unbefugte, der in das Zimmer, zu dem Unbefugten der Zutritt außer in den angezeigten Stunden zwischen 12 und 3 Uhr streng verboten ist, kam, war ein junger Mann in abgeschabtem Gymnasiastenmantel und gleicher Mütze. Er war mittelgroß, hatte einen breiten Schädel, ein nicht schönes, aber sympathisches Gesicht; auf Wangen und Oberlippe war ungleichmäßiger Bartflaum schon deutlich zu sehen. Augenscheinlich befand er sich in starker Aufregung.

Er trat sehr schnell ein, als jagte jemand hinter ihm her; gleich beim Eintritt nahm er die Mütze ab.

»Ist hier das Amtszimmer des Polizeimeisters?« fragte er so laut, als hätte er sich diese Frage, und zwar gerade in dieser lauten und resoluten Form schon vorher zurechtgelegt.

»Hier,« antwortete der Soldat, während er sich mit augenscheinlicher Unlust vom Kleiderständer trennte.

»Wozu treiben die sich nur hier herum,« dachte er: »es heißt ja, von zwölf bis drei, also ist nichts zu wollen … Nur die Leute belästigen …«

»Ist hier der Eingang?« fragte der Gymnasiast ebenso laut, indem er eine Bewegung auf die geschlossene Tür des Bureaus zu machte.

»Hier. Aber sie empfangen nicht,« erwiderte der Soldat, der sich jetzt in den Weg zur Tür stellte.

»Ich muß.«

»Gefälligst von zwölf bis drei,« sagte gleichmütig der Soldat.

»Ich muß sofort.«

»Ist nicht angeordnet, durchzulassen.«

Der Gymnasiast war durch dieses geringfügige Hindernis, das ihn von der feierlichen, traurigen Vorstellung, die er sich gemacht hatte, ablenkte, völlig niedergeschmettert und entmutigt. Dieser gleichmütige, nachlässige Soldat ließ sich so wenig mit ihr vereinigen, daß er im Augenblick fast wieder aus dem Vorzimmer hinausgelaufen wäre. Aber in der Tür blieb er stehen, wurde dunkelrot und platzte heraus:

»Ich muß Anzeige machen: ich habe einen Menschen getötet!«

»Was?« fragte dumm der Soldat.

Der Gymnasiast schwieg und blickte auf den Soldaten, und der Soldat guckte, mit den Augen glotzend und blöde lächelnd auf ihn.

»Bitte …« sagte endlich der Soldat, mit zweifelndem Kopfschütteln, stieß die Tür nach dem Bureau auf und trat beiseite.

Der Gymnasiast setzte aus irgendwelchem Grunde die Mütze auf, nahm sie aber sofort wieder ab und trat ein. Der Soldat blickte stumpfsinnig auf seinen Rücken.


II

In dem großen hellen Zimmer, das mit den Bildnissen von Mitgliedern der zarischen Familie geschmückt war, befanden sich vier Menschen: der Polizeimeister selbst, ein stattlicher, repräsentabler Herr mit großem Schnurrbart und Ringen auf den Fingern; sein Gehilfe, Rangbezeichnung für Vize-Stellungen. D. Uebers. ein feister Mann mit großem Bauch und dunkelrotem Gesicht, das sich mit Mühe auf einem zu kurzen Halse hielt, und ein Pristaw, groß mager, schwindsüchtig, über dessen schmalen Schultern Uniform und Säbel wie an einem Kleiderhaken hingen. Der vierte war ein Herr in Interimsuniform mit vorschriftsmäßigen Knöpfen; er hatte einen langen roten Bart und auf der Spitze seiner dicken finnigen Nase eine blaue Brille. Er blätterte in Papieren vor einem Tisch dicht am Fenster stehend und hörte über die Achsel auf das, was der Polizeimeister sprach.

Der Polizeimeister aber, der mit dem Gesicht zur Eingangstür saß, beide Hände gegen den mit grünem Tuch bedeckten Tisch gestemmt, erzählte lachend, wie sich die Tochter eines Uhrmacher-Juden, die bei einer Razzia auf Prostituierte festgenommen worden war, trotz der Versicherungen des Vaters, sie sei »noch ganz ein Kindchen«, bereits als schwanger herausgestellt hatte.

»Ha–ha–ha, ganz ein Kindchen!« lachte der Polizeimeister sorglos, während seine gesunde Gestalt, fest eingeschnürt in der engen Uniform, nach allen Seiten schwankte.

Der Gehilfe, der außer seiner Dicke, überhaupt nichts empfand, litt unter der Hitze und Langeweile, obgleich er mit dem Polizeimeister mitlachte.

Der Pristaw stand kerzengerade vor ihnen und lächelte ebenfalls, wenn ihm auch das Stehen, da er ein schwacher und kranker Mann war, sauer wurde. Er blickte mit Haß und Neid auf den gesunden behäbig lachenden Polizeimeister, vor dem er stehen mußte, ohne daß er es wagen durfte, sein unnützes Geschwätz durch eine Erinnerung an das Schriftstück, welches er ihm vorzulegen hatte, zu unterbrechen.

Der Sekretär endlich, der den Polizeimeister seiner Grobheit wegen nicht ausstehen konnte, hörte ihm mit Hochgenuß zu, da er am selben Tag aus zuverlässiger Quelle erfahren hatte, daß die Karriere des Polizeimeisters ihrem Ende nahe sei. Man hatte ihm davon in der Kanzlei des Gouverneurs als einer feststehenden Tatsache Mitteilung gemacht, während der Polizeimeister selbst augenscheinlich nicht das geringste wußte.

»Du würdest nicht so lachen, wenn du eine Ahnung davon hättest!« dachte er schadenfroh.

Als der Gymnasiast eintrat, wandten sich ihm alle Köpfe zu; der Polizeimeister verstummte mitten im Satz.

Der Gymnasiast blieb sofort stehen, und zerrte eilig etwas aus der Tasche, was sich jedoch verhakte und anscheinend nicht an die Welt wollte.

Der Pristaw hielt es für seine Pflicht, näher zu treten und ihn auszufragen, doch da auch dem Sekretär derselbe Gedanke gekommen war, fragten sie beide gleichzeitig:

»Was wünschen Sie?«

Der Gymnasiast schwieg und blickte verwirrt einen nach dem andern an, während er weiter versuchte, etwas aus der Tasche zu holen. Doch nur ein paar Krumen, wahrscheinlich von Kuchen, fielen heraus. Der Gymnasiast atmete schwer und errötete, sein Gesicht wurde kläglich, hilflos, der Hals verschwitzt.

Den Kopf seitwärts geneigt, lugte der Pristaw mit einem Auge in die Tasche, aber im selben Augenblick zog der Gymnasiast, indem er sie ganz umdrehte, einen kleinen blanken Revolver heraus und reichte ihn, ohne zu wissen warum, gerade dem Polizeimeister. Der streckte unwillkürlich die Hand aus und nahm ihn ihm ab.

»Ich habe den Direktor getötet,« erklärte der Gymnasiast plötzlich mit stockender Stimme.

»Wie?« fragte der Polizeimeister, die Augenbrauen anziehend.

»Wen?« erkundigte sich auch der dicke Gehilfe, dessen feistes Gesicht Schrecken zeigte.

»Den Direktor … Wladimir Stepanowitsch …« wiederholte der Gymnasiast mit ganz gesunkener Stimme.

»Wosnessenskij? Wladimir Stepanowitsch?« rief der Polizeimeister.

»Ja,« flüsterte der Gymnasiast.

Alle gerieten in Bewegung, in Reden und Hasten. Der Polizeimeister begann sich den Säbel umzuhängen, wobei er das Gehänge verwickelte; der Pristaw lief im Trab, eine Droschke holen zu lassen; der Gehilfe war entsetzt und suchte nach seiner Mütze; jeder schrie etwas, dem andern ins Wort fallend und den Schuldigen des Ereignisses gänzlich vergessend. Erst beim Fortgehen erinnerte sich der Polizeimeister an ihn und wandte sich ihm in entrüstetem Ton zu:

»Wer sind Sie denn?«

Der Gymnasiast antwortete nicht. Er war sich augenscheinlich nicht sonderlich klar, was sich ereignet hatte, und drückte sinnlos die Mütze in den verschwitzten Händen.

Der Pristaw sprang auf ihn zu und zischte ihm fast ins Ohr:

»Wer sind Sie?«

»Pawel Tumanow … aus der sechsten Klasse …« Der Obersekunda entsprechend. D. Uebers. antwortete der Gymnasiast und wendete sich direkt an den Pristaw, was diesen sogar etwas verlegen machte und zu einer Geste veranlaßte, als lenkte er die Antwort ehrerbietig in der Richtung des Polizeimeisters ab.

»Wir müssen hinfahren,« sagte der Polizeimeister aufgeregt. »Welch ein Unglück Matwej Iwanowitsch,« wandte er sich an den Gehilfen: »Kommen Sie mit mir?«

»Ja, ja,« keuchte der Gehilfe, eilig zur Mütze greifend.

»Viktor Alexandrowitsch,« hielt der Pristaw ehrerbietig den Polizeimeister zurück: »und was ist mit dem …« er nickte zum Gymnasiasten hin.

»Ah, ja … hier festhalten, bis ich zurück bin.«

»Und das Revolverchen?«

»Ah ja … gewiß doch, gewiß doch … ein tatsächliches Beweismaterial … legen Sie es beiseite! Sie fahren mit mir, diesen aber … Andrej Ssemjonowitsch wird das Nötige veranlassen. Veranlassen Sie, Andrej Ssemjonowitsch! …« warf der Polizeimeister hin, in der Türe verschwindend.

»Gut,« antwortete finster der Sekretär, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Der Pristaw nickte ihm einschmeichelnd zu und lief dem Polizeimeister nach. Eine Minute nachher rasselten unter den Fenstern nacheinander zwei Droschken fort, die die polizeilichen Behörden an den Ort des Verbrechens führten.


III

Im Bureau blieben der Sekretär an seinem Tisch und der Gymnasiast, der immer noch mit der umgedrehten Tasche mitten im Zimmer stand, zurück. Durch die offene Tür guckten Schreiber und Schutzleute, die von dem Vorfall bereits gehört hatten, neugierig auf den Gymnasiasten.

Der Sekretär fühlte sich davon peinlich berührt. Er ging aus irgendwelchem Grunde auf den Zehenspitzen durch das Zimmer, machte die Tür zu, drohte den Neugierigen mit dem Finger und murmelte, an seinen Platz zurückkommend:

»Setzen Sie sich … Warum stehen Sie denn …«

Der Gymnasiast trat mechanisch an die Wand und setzte sich auf einen Stuhl, ohne daß er aufhörte, seine Mütze in den verschwitzten Händen herumzudrücken.

Der Sekretär setzte sich still auf seinem Platze zurecht. Ihm tat der Knabe leid; er konnte kaum glauben, daß er einen Mörder vor sich habe. Er tat, als ob er ihn gar nicht beachte und begann eifrig mit den Papieren zu rascheln; nur selten warf er rasche Blicke auf den regungslos sitzenden Verbrecher.

Pascha Tumanow saß gerade unter dem Fenster, in einer unbequemen, gespannten Haltung und regte sich nicht, die Lippen fest zusammengepreßt und schwer durch die Nase atmend. Er starrte nur auf einen Punkt, auf die von ihm verschütteten Kuchenkrümelchen, und empfand das quälende Verlangen, sie wegzuräumen: ihm schien es, daß sie unerträglich scharf von dem gelben, sauber gewaschenen Fußboden abstachen und dabei in einem gewissen Verhältnis zu dem Geschehenen stehen müßten.

Aber es kam ihm nur so vor, daß gerade diese Krümel in ihm den schweren Druck hervorriefen, in Wirklichkeit quälte ihn der Wunsch, auf irgend eine Weise das Widerwärtige und Sinnlose wegzuräumen, das mit ihm an diesem Morgen vorgegangen war und nun wie ein scharfer Keil in seinem Leben steckte. Doch allmählich überkam ihn eine unbestimmte Abstumpfung. Er konnte sich selbst keine Rechenschaft mehr geben, wie »dies« begonnen, sich fortgesetzt und geendet hatte, wie er hierhergekommen war und wozu er in dem großen leeren Zimmer, in Gegenwart des großen bärtigen Herrn mit blauer Brille, der mit Papieren raschelt, an der Wand saß. Manchmal schien ihm, daß er nur aufzustehen und fortzugehen brauche, damit alles einfach enden und sich als pure Kleinigkeit herausstellen würde, sogar als etwas Komisches. Doch sofort zerriß dieser Gedanke und zerfloß in eine sinnlose Masse irgendwelcher Bilder, Wortfetzen, roter Flecken, die dann zu verschwimmen und sich zu erweitern begannen, bis sie schließlich alles mit purpurnem trübem Saft, in dem bekannte, aber grauenhafte Gesichter auftauchten, überschwemmten.

Dann raffte sich Pascha Tumanow zusammen und sah für einen Augenblick wieder die großen hellen Fenster, den Umriß eines bärtigen Kopfes und hörte das knappe Rascheln von Papier.

Mitten in dem formlosen Chaos, das schwerfällig auseinanderfloß, fühlte Pascha Tumanow, daß ihm etwas auffalle, was er sofort tun mußte: etwas sehr Wichtiges, von entscheidender Bedeutung, doch konnte er sich nicht klar werden, um was es sich handle. Es fing ihn so zu quälen an, daß die Krumen auf dem Fußboden dagegen zu einer Kleinigkeit wurden. Er machte eine gewaltsame Anstrengung und griff die Empfindung auf …

Wie sich herausstellte, war es die umgekehrte Tasche des Mantels gewesen, die ihn so gepeinigt hatte.

Pascha Tumanow legte den Hut neben sich auf den Stuhl und brachte die Tasche wieder sorgfältig in die richtige Lage, wobei ihm noch einige Stückchen des zerdrückten Kuchens, den er von Hause mitbekommen hatte, in die Finger kamen.

Mit einem Mal tat ihm etwas furchtbar leid; er begann zu weinen, zuerst still, dann immer lauter und lauter.

Der Sekretär erschrak. Er sprang auf, ließ die Feder fallen, goß Wasser aus der Karaffe, die auf dem Fenster stand, in ein Glas und reichte es Pascha. Aber Pascha Tumanow trank nicht und schluchzte nur, sich verschluckend und wie im Fieber zitternd.

»Na, na, genug, was machen Sie … Kleinigkeit … das ist nichts … trinken Sie doch Wasser …« murmelte der erschrockene Sekretär, und plötzlich, einer ihm selbst unbegreiflichen zarten Bewegung nachgebend, streichelte er ihm über den Kopf und murmelte:

»Armer Junge!«

Pascha hörte dieses mitleidige Wort, und sein Weinen ging in hysterisches Schluchzen über. Ihm kam es vor, daß es in der ganzen Welt keinen Menschen gäbe, der ihn bedauern würde, außer diesem Sekretär. Und er brach, den Kopf gegen die Weste des Sekretärs gedrückt und die Nase schmerzlich an den Uniformknöpfen scheuernd, in noch heftigeres Schluchzen aus.

Der Sekretär sah sich hilflos um.


IV

Am Vorabend dieses Tages hatte Pascha Tumanow auf einem alten schmalen Diwan, der ihm als Bett diente, gelegen und gespannt in die Lampe geschaut, die ihr Licht unter einem grünen Schirm gleichmäßig zart vom Tisch herabwarf. Auf dem Tische rückte sie Bücher und Hefte ins Helle, ein roter Federhalter steckte gerade aus dem Tintenfaß hervor; mehr zu Pascha hob sich schwarz der Schatten der Stuhllehne ab; neben ihm verwischte sich alles durch die grünliche Halbdämmerung ins Weiche.

Das Kissen, das heiß und unbequem war, hatte er zerknüllt unter den Kopf geschoben; nun starrte er stumpf auf einen Punkt hin, obwohl er wußte, daß jede Stunde teuer war. Er hatte sich aus Verzweiflung hingelegt, nachdem er sich klar geworden war, daß alle Anstrengungen, um das seit sieben Jahren Versäumte in zwei, drei Tagen nachzuholen, doch nichts nützen würden. Jetzt fühlte er keine Kraft mehr, sich von neuem ans Büffeln zu machen.

Weshalb er so viel, so unfaßbar viel versäumt hatte, konnte er sich nicht erklären. Zum Teil war seine Faulheit daran schuld, teils auch Umstände, die von ihm unabhängig waren. Vor allem aber kam es daher, daß das echte Leben mit seinen Interessen den lebenden Pascha Tumanow vollständig ergriff und daß gerade dieses Leben abseits von dem toten Gymnasium verlief.

Als sich Pascha von dem wahren Sachverhalt überzeugt hatte und sich nicht mehr über seine Hoffnungslosigkeit hinwegtäuschen konnte, packte ihn eine dumpfe Verzweiflung, die an Apathie grenzte. Er war vom Tisch zurückgetreten, ohne auch nur das Buch zuzuklappen, hatte sich auf den Diwan geworfen und mit seinem ganzen Wesen empfunden, daß er tief unglücklich sei. Neben dem Gefühl des Mitleids mit sich wallte in ihm auch wütende Erbitterung gegen die Menschen auf, die er für schuldig an seinem Unglück hielt – gegen den Direktor des Gymnasiums und den Lateinlehrer. Das war ein Irrtum: die Ursachen seines Unglücks lagen durchaus nicht an diesen beiden Beamten des Ministeriums für Volksaufklärung, nicht an ihren Vorzügen und Mängeln als Lehrer, Menschen und Staatsdiener, sondern an jenen naturwidrigen Verhältnissen, die einen zwanzigjährigen Jüngling, der nach dem Sinn des Lebens dürstet, zwingen, an Lehrbüchern, die jedes lebendigen Sinnes bar sind, zu ochsen, und die ihm gerade das entziehen, wonach er seine ganze Jugend durch hinstrebte. Trotzdem hielt Pascha Tumanow allein den Direktor und den Lehrer Alexandrowitsch für die Ursache alles Unglücks.

Das Gefühl der Erbitterung, viel zu schwer für sein weiches Herz, wurde immer stärker. In einigen Augenblicken steigerte es sich bis zu jenem Druck, in dem man sich mit dem qualvollen Genuß, der nur einem kranken Organismus eigentümlich ist, irgendwelche geringe Einzelheiten, wie etwa Gangart, Stimme, Sprechweise des Menschen, den man für seinen Feind hält, in Erinnerung ruft, dabei aber diese Einzelheiten so abstoßend findet, daß man sie in Gedanken zertreten und verhöhnen möchte.

Pascha begann an der würgenden Atmosphäre seiner Erbitterung fast zu ersticken. Ihm schien, daß selbst die Flamme der Lampe schwächer, ja schwer und unheimlich wurde; das Rauschen in seinen Ohren verwandelte sich bald in dumpfes Flüstern hinter der Wand, bald in ein schwermütig aus der Ferne dringendes zähes Lied des Hasses und Grauens. Pascha begriff, daß er diesen lästigen Zustand von sich abschütteln müsse, aber die dumpfe und welke Hoffnungslosigkeit war stärker, er blieb regungslos liegen und fuhr fort, moralisch und physisch zu leiden. –

Der Kopf begann ihm zu schmerzen.

Die Tür ins Zimmer wurde behutsam und leise geöffnet; lustiges Lachen und andere lebendige Töne drangen deutlich aus dem Nebenzimmer, in dem Paschas Schwestern saßen und das Dienstmädchen den Tisch deckte, herein.

Paschas Mutter, eine Oberstenwitwe, die von ihrer Pension und einer besonderen Unterstützung zur Erziehung der Kinder lebte, kam zu ihm ins Zimmer. Sie war eine abgequälte, kraftlose Frau, mit stiller Stimme, einem großen Vorrat charakterloser Güte und einem welken, vorzeitig gealterten Gesicht. Sie ging leise durch das Zimmer, berührte Paschas Stirn mit weicher Hand und setzte sich an den Tisch.

»Komm zum Abendbrot. Bist du müde?«

Daran, daß sie sich setzte, als sie ihn zum Abendbrot rief, und an dem ein wenig kläglichen, furchtsamen Ausdruck ihrer Augen merkte Pascha, was sie eigentlich wolle. Doch er schwieg, da es ihm nicht möglich war, zu lügen, und er es auch nicht über sich brachte, die Wahrheit zu sagen. So nickte er nur auf die Frage der Mutter, ob er müde sei, mit dem Kopf.

Anna Iwanowna zupfte mit den Fingern an den Blättern eines Buches, den Kopf gesenkt, und dachte traurig darüber nach, wie herzlos Kinder sein könnten und wie unfähig, die Sorgen der Eltern zu verstehen. Ihr schien, daß Pascha nur zu begreifen brauchte, wie sie um ihn litt, und sofort anfangen würde, zu lernen und ein tüchtiger Mensch zu werden.

Pascha sah sie von der Seite an und hatte fast dieselben Gedanken: daß seine Mutter hart sei, unfähig, zu verstehen, wie schwer und langweilig das Lernen wäre und daß er auch ein guter Junge bliebe, wenn er selbst das Examen nicht machen könne. Er hätte der Mutter gern geklagt, wie schlecht er sich fühle und wie böse die Lehrer seien, die durchaus nichts verlören und niemanden schädigten, wenn sie ihm nicht eine Eins, Nach der Zensurwertung auf russischen Lehranstalten gilt die Eins als schlechteste, die Fünf als beste Zensur. D. Uebers. sondern eine Vier oder wenigstens eine Drei geben wollten. Doch Pascha fühlte, daß die Mutter nicht an eine Bosheit der Lehrer glauben würde. So schwieg er und schaute hartnäckig in die Lampe.

Endlich seufzte Anna Iwanowna traurig und stand auf.

»Na, komm, Abendbrot essen.«

Doch Pascha wußte, daß sie nicht so ohne weiteres fortginge und daß er doch noch lügen müsse.

»Wie steht's mit dir, Pascha … wirst du durchkommen?« fragte Anna Iwanowna furchtsam.

In Pascha loderte die Gereiztheit so heftig auf, daß er am liebsten geschrien hätte:

»So lassen Sie mich doch in Ruhe! Wie soll ich das wissen!«

Als er aber in die großen zärtlichen Augen mit dem Ausdruck von Unruhe und Liebe sah, fühlte er so viel Zärtlichkeit und Mitleid mit ihnen, daß er aufstand, die Mutter um die Taille faßte und in der Halbdämmerung errötend mit geheuchelt kecker Stimme sagte:

»Komme schon durch! Komm, Mama, Abendbrot essen … meine Gute …«

Und er schmiegte sich mit dem Gefühl unbegreiflicher Rührung an sie.

Anna Iwanowna sah ihn forschend an, seufzte und wurde für kurze Zeit ruhig.

Beim Abendbrot war Pascha aufgeregt, lachte viel und scherzte über die Schwestern; als er aber in sein Zimmer zurückkehrte, sich auszog und hinlegte, kehrten erst die Unruhe, dann auch die Erbitterung mit doppelter Kraft zurück und ließen ihn nicht einschlafen. Er blickte mit entzündeten Augen in die Finsternis, empfand Haß gegen alle Welt und Mitleid mit sich selbst.

Als er endlich einschlief, träumte er von Bäumen und Sonnenlicht, bekannten Gesichtern und allem möglichen Freudvollen.


V

Pascha Tumanow stand sehr früh auf, es fiel ihm sofort ein, daß er zum Examen gehen müsse. Es überschauerte ihn kalt; sein Herz zog sich trübe zusammen.

Lange, ruckweise, zog er sich an und wusch sich; verlor unnötig viel Zeit, und beeilte sich dann wieder. Im Eßzimmer, wo der Fußboden glänzte, stand ein blankgeputzter Ssamowar auf dem zum Frühstück gedeckten Tisch.

Die Schwestern schliefen noch, aber Anna Iwanowna saß bereits am Ssamowar und lächelte Pascha schüchtern, unruhig fragend zu.

Auch Pascha lächelte, konnte aber der Mutter nicht in die Augen sehen und vertiefte sich in sein Glas.

»Es ist schon spät, Pascha,« sagte Anna Iwanowna.

Pascha runzelte ärgerlich die Stirn.

»Es ist erst halb neun,« meinte er.

»Bis du hinkommst …« erwiderte kurz die Mutter, die Teekanne auf den Ssamowaraufsatz stellend.

Diese einfachen und gewöhnlichen Worte, die Pascha jeden Tag hörte, reizten ihn jetzt.

»Ich komme noch zurecht,« sagte er grob, »lassen Sie mich wenigstens den Tee austrinken!«

Anna Iwanowna sah ihn betrübt an.

»Trinke, trinke … ich habe es so …« sagte sie schuldbewußt.

Pascha schmerzte es, daß er die Mutter mit einem groben Wort gekränkt hatte, und er wollte sie um Entschuldigung bitten, aber, dem Druck der steigenden Unruhe nachgebend, tat er es nicht. Dagegen zog er die Augenbrauen zusammen, nahm eine beleidigte Miene an, stand auf, nahm den Ranzen, zog ein Buch heraus, das er brauchte, und setzte die Mütze auf.

Anna Iwanowna sah ihn hinter dem Ssamowar an; sie erwartete, daß er wie immer zum Kuß und zum Bekreuzigen, mit dem sie ihn stets beschirmte, kommen werde. Pascha sah es, aber das Gefühl der Erbitterung drückte ihn; er ging aus dem Zimmer, ohne zur Mutter heranzutreten.

Pascha Tumanow ging in gedrückter Stimmung durch die Straßen; er fürchtete das Examen, und es tat ihm leid, die Mutter gekränkt zu haben. Je näher er dem Gymnasium kam, um so langsamer wurden seine Schritte. Endlich blieb er auf einer Brücke stehen und guckte lange, ohne es zu bemerken, zu, wie ein alter Mann mit hochaufgerollten Hosen bis an die Knie im Wasser stand und angelte. Ein paar Stiefel mit rötlichen Schäften standen auf dem glatten Ufersand neben einem Schächtelchen voll Würmer und einem kleinen Eimer für die Fische.

Die Sonne leuchtete hell und fröhlich.

Der Alte sah Pascha und lächelte ihm einige Mal, wie einem guten Bekannten, zu. Endlich griff er an die Mütze und fragte:

»Sie gehen wohl ins Examen?«

Pascha Tumanow machte eine Anstrengung, um zu begreifen, wonach er gefragt wurde; erst nach einer Weile antwortete er:

»Ins Examen.«

Der Alte nickte mit dem Kopf.

»Latein? Ich weiß … Ein Söhnchen von mir … vielleicht kennen Sie ihn, Wassilij Kostrow, Waßjka … macht heute auch sein Examen.«

Pascha Tumanow lüftete ohne ein Wort die Mütze und ging weiter. Der Alte machte eine mißbilligende Kaubewegung mit den Lippen und zog eine silberige Plötze aus dem Wasser. Dann blickte er mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne und warf die Angel wieder aus.

Pascha Tumanow ging und dachte, daß Kostrow, Waßjka Kostrow, sicherlich ebenfalls durchs Examen fallen würde. Den Kostrow kannte er: das war ein aufgeschossener, magerer Kerl, der stets schlecht gekleidet war, schlecht lernte und sich im geheimen mit seinem Freunde, Anatolij Dachnewskij, einem flinken Polen, die Zeit im Billardzimmer vertrieb. Die beiden spielten meisterhaft und erwarben ihr Taschengeld fast ausschließlich auf dem Billard.

Pascha Tumanow dachte, daß auch Dachnewskij durchs Examen fallen würde; das stimmte ihn fröhlicher.

Als er ins Gymnasium kam, ging er durch den sauber gefegten breiten Korridor nach der sechsten Klasse und fand sofort mit den Augen Kostrow und Dachnewskij heraus, die auf dem Fensterbrett saßen und sich unterhielten. Pascha ging auf sie zu.

»Ich gebe ihm zwanzig Points vor,« sagte Kostrow ruhig mit seiner Baßstimme.

Als er Pascha Tumanow bemerkte, reichte er ihm die Hand und fragte lustig: »Fürchten Sie sich?« und lachte gutmütig.

Pascha wurde noch verstimmter. Kostrow mit seiner liederlichen Gleichgültigkeit und seinen ewigen Gesprächen über das Billardspiel, war ihm, wider Erwarten, in diesem Augenblick einfach widerlich.

Er konnte sich nicht zurückhalten und fragte, Kostrow übersehend, Dachnewskij:

»Und Sie, fürchten Sie sich?«

Dieser sah mit zerstreuter Verwunderung auf.

»Nein … das wäre …« erwiderte er unbestimmt und wandte sich wieder zu Kostrow:

»Siehst du, Maslow hat vielleicht einen schwächeren Stoß als du; aber dafür hat er eine diabolische Geduld; der macht's durch Ausdauer … Zwanzig kannst du ihm nicht vorgeben!« …

»Und ich gebe sie ihm,« erwiderte Waßjka Kostrow bestimmt, während er über Dachnewskij hinweg Pascha Tumanow anschaute und breit über etwas lächelte. Sein Lächeln war liebenswürdig, nur ein wenig spöttisch.

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten,« sagte er plötzlich; »kommen wir nicht durch, dann eben nicht, das Malheur ist nicht so groß! …«

Dachnewskij sah Pascha aufmerksam an.

»Auch ein Vergnügen, dem irgendwelche Bedeutung beizulegen!« er zuckte verächtlich die Achseln.

Aber Waßjka Kostrow schob ihn mit der Hand beiseite und sagte: »Laß … jeder hat mit sich zu tun.«

Ein Schuldiener kam angelaufen, ein schüchterner, hastiger Mensch mit grauem, rundgeschnittenem Kinnbärtchen und einem guten nichtssagenden Gesicht. Er steckte rasch den Kopf in die Tür und rief: »Meine Herren, zum Examen!« und verschwand, noch einmal eilig mit der Hand schwenkend.

»Nun, meine Herren,« lächelte Waßjka Kostrow, aufstehend und sich reckend, »gehen wir!«

Alle wälzten sich in den Korridor und gingen nach dem entgegengesetzten Ende, in die Aula, wo die Examina stattfanden.

Wieder bemächtigte sich Pascha Tumanows so stark das drückende Gefühl der Angst, daß ihm die Knie zu zittern begannen. Ohne jeden Grund blieb er am Tisch mit Wasser stehen und trank Wasser, das ihm erstaunlich unschmackhaft vorkam.

»Schneller, schneller, meine Herren!« trieb der plötzlich auftauchende Schuldiener die Gymnasiasten an, wobei er vorwurfsvoll den Kopf schüttelte und eilig die mageren Finger rieb.

In diesem Moment erschienen in den Türen am anderen Ende des Korridors die Gestalten der Examinatoren, die aus dem Konferenzzimmer kamen. Auf dem Hintergrund des beleuchteten Fensters und des glänzenden Fußbodens traten sie nur als dunkle Schatten auf; die Schöße ihrer Uniformröcke flogen. Pascha Tumanow hatte kaum noch Zeit, in den Saal zu kommen und sich auf den ersten freien Platz, der ihm unter die Augen kam, zu setzen, als die Lehrer schon eintraten, und einer hinter dem anderen an dem großen Tisch Platz zu nehmen begannen, dessen Tuch mit goldenen Fransen und Quasten behängt war.


VI

Das Examen begann.

Es war das gewöhnliche Examen der russischen höheren Lehranstalten – eine Gewohnheit, von der sogar Menschen, die ihre Sinnlosigkeit zugeben, nicht lassen können. Lehrer riefen Schüler, deren Kenntnisse und Begabung sie ganz genau kannten, an den Tisch und stellten ihnen, nach dem vom Tisch auf gut Glück genommenen Zettel ein paar geringfügige Fragen. Dann gaben sie sich den Anschein, als ob sie ihre Noten tatsächlich nach den Antworten der Schüler richteten und nicht auf Grund der längst gebildeten Meinungen, die nicht nur den einzelnen von ihnen, sondern dem ganzen Lehrerkollegium bekannt waren.

Während die anderen aufgerufen wurden, abwechselnd vom Anfang und Ende des Alphabets, schaute Pascha Tumanow, gespannt und unbequem sitzend, auf die Lehrer. Manchmal schien es ihm, daß er noch etwas überlesen, eine schwache Stelle durchsehen müsse. Aber wenn er krampfhaft im Buche blätterte und nach der schwachen Stelle suchte, sprangen ihm Hunderte von Zeilen, die ihm gänzlich unbekannt vorkamen, in die Augen. Pascha warf das Buch ohnmächtig beiseite, von kaltem Schweiß übergossen, suchte aber eine Sekunde später wieder nach irgend einer Stelle.

Endlich wurde vom Ende Uchin und vom Anfang Kostrow aufgerufen.

»Wassilij Kostrow,« las ziemlich leise der Direktor.

»Kostrow Wassilij,« wiederholte laut, deutlich der Lehrer.

Irgendwo hinter dem Rücken Pascha Tumanows schob sich die Gestalt Waßjka Kostrows hervor und trat an den Tisch.

Pascha Tumanow seufzte, er wurde innerlich durchschüttelt. Als nächster mußte er kommen.

»Pawel Tumanow,« sagte die Stimme des Direktors.

»Tumanow Pawel,« wiederholte ebenso laut der Lehrer.

Pascha Tumanow erhob sich mechanisch, ließ das Buch fallen, wollte es aufheben, doch verwirrt und ohne es getan zu haben, ging er mit hölzernen Schritten auf den Tisch zu. Unterwegs stieß er mit dem auf seinen Platz zurückkehrenden Waßjka Kostrow zusammen. Er war rot, blickte aber Pascha ohne die geringste Verlegenheit ins Gesicht und lächelte. Er war mit Triumph durchgerasselt.

Nun kam eine Periode von einigen Minuten, in der Pascha Tumanow nach irgendetwas gefragt wurde und etwas antwortete und selber fühlte, daß er Unsinn zusammenredete, schlimmer sogar, als er es konnte. Aber er hatte schon jede Hoffnung aufgegeben, fühlte sich wie in einem luftleeren Raum und rückte mit dem ersten besten Wort heraus, in der einzigen Bemühung, die zitternden Kniee durchzudrücken. Erst am Ende klärten sich seine Gedanken ein wenig auf und auf die Frage nach einer Redewendung antwortete er vollkommen richtig:

» Ablativus absolutus.«

»Das ist alles, was Sie uns sagen können,« meinte kalt der Lehrer und schrieb vor Pascha Tumanows Augen eine Eins hin.

Alles sank in Paschas Seele zusammen; beinahe hätte er gerufen:

»Das darf nicht …«

Der Lehrer sah fragend den Direktor an; der aber machte eine hoffnungslose Geste, blickte Pascha Tumanow über die blaue Brille hinweg ins Gesicht und nickte leise mit dem Kopf.

»Sie können gehen,« sagte der Lehrer und rief, ohne Pascha anzublicken:

»Polonskij Mitrophan.«

Eine scharfe Aufwallung schrecklichen Grolls schnürte Pascha die Kehle zusammen. Er drehte sich mechanisch um und ging aus dem Saal, wobei er sich bemühte, die Kameraden, die ihn mit erschrockenen Blicken begleiteten, nicht anzusehen.

Im Korridor begegnete er Kostrow und Dachnewskij, die schon die Mützen aufgesetzt hatten. Waßjka Kostrow hielt ihn an.

»Nun, wie?« fragte er, ihn freundlich mit seinen dunklen Augen anblickend.

Pascha Tumanow wollte etwas antworten; aber seine Unterkiefer zitterten und er machte nur eine wegwerfende Handbewegung.

»S–so–o!« sagte Waßjka Kostrow.

Pascha Tumanow ging vorüber.

»Hören Sie, Tumanow!« rief ihm Waßjka Kostrow nach.

Pascha blieb stehen.

»Wenn Sie meinen Pater sehen sollten – er angelt da an der Brücke, so sagen Sie ihm, daß ich …«

Er sprach nicht zu Ende, sondern schwenkte die Hand, Pascha nachahmend, gab aber dieser Geste einen komischen Zug und lachte auf.

Auch Dachnewskij lachte.

»Und Sie selber … was?« fragte Pascha.

»Wir werden aus Kummer ein Partiechen Billard spielen gehen,« antwortete Waßjka Kostrow lächelnd und ging fort.

Pascha Tumanow fand seine Mütze, erinnerte sich, daß er das Buch in der Aula liegen gelassen hatte, machte aber nur eine wegwerfende Geste und ging auf die Straße hinunter.


VII

Das grelle Sonnenlicht, das Rasseln auf dem Fahrdamm vermischt mit den lebenden Stimmen und dem lustigen Zwitschern der Sperlinge, betäubte ihn zuerst und munterte ihn dann scheinbar auf. Doch war das eine Täuschung: sofort ergriff ihn wieder der trostlose Kummer. Er kam sich ganz leblos, klein und nichtig vor; vorgebeugt ging er im Schatten längs der Zäune. Ihm schien, seinem Gesicht müßten alle ansehen, daß er durchgefallen war.

Er kam über die Brücke und bemerkte sofort den alten Kostrow.

Kostrow saß am Ufer und zog den rötlichen Stiefel an der Lasche hoch, den Fuß angehoben; dabei blickte er scharf auf die Brücke. Er bemerkte Pascha Tumanow und nickte ihm lustig mit dem Kopfe zu.

Pascha Tumanow blieb stehen und sagte, schadenfroh, als ob er an ihm Rache nehmen wollte:

»Waßja ist durchgefallen.«

Der Alte ließ den Fuß rasch auf den Sand fallen, überlegte und lachte plötzlich hell auf, wodurch sich sein großer zahnloser Mund verzerrte. Verwundert schaute ihn Pascha Tumanow an.

»Sagte ich ihm doch,« rief Kostrow mit lustigem Aerger: »sagte ich doch: wirst noch durchfallen mit deinem Billard … Also durchgefallen?« fragte er neugierig wieder.

»Durchgefallen,« bejahte Pascha und ging von der Brücke zum Ufer hinunter. Er warf einen Blick in den kleinen Eimer: dort schnellten sich fünf Plötze und ein flinker rotflossiger Barsch gegen die Wände.

»Beißt wenig an,« erklärte Kostrow. »Und mit Triumph durchgerasselt?«

»Mit Triumph.«

»Na, sieh mal an …«

Er wickelte den Fuß in den Fußlappen, drehte die Hose um und begann, den anderen Stiefel aufzuziehen.

»Nun, und Sie?« fragte er.

Pascha errötete tief.

»Ebenfalls? Hm …«

Kostrow stand auf, nahm den Eimer, hob die Angel auf und sagte:

»Wollen wir gehen … Wohin müssen Sie?«

Pascha hatte geradeaus zu gehen, aber es war ihm unmöglich, sich von Kostrow zu trennen. In der Gegenwart dieses alten Mannes, der sich einer Angelegenheit gegenüber, die alle anderen Menschen in Erregung brachte, so leicht und einfach verhielt, fühlte er sich freier.

»Ich werde mit Ihnen gehen.«

»Gehen wir,« willigte Kostrow ein, nahm die Mütze ab, sah den Fluß entlang, der wie Gold in der Sonne blinkte, strich sich über die Glatze, setzte die Mütze wieder auf und wiederholte:

»Nun, gehen wir …«

Sie gingen den Fluß entlang über feinen feuchten Sand, auf dem kleine runde Steinchen und Muschelsplitter von ausgetrockneten Wasserpflanzen umstrickt, umherlagen. Ab und zu trafen sie auf alte Boote, die mit ihren schwarzen Böden massig auf dem Ufer festsaßen.

Von oben kam ein Dampfer den Fluß herunter, und sein Rauch, der in der Sonne schneeweiß schimmerte, wurde kaum nach der Seite abgelenkt. Die Wellen, klein und durchsichtig, plätscherten schwach auf das abgespülte Sandufer. Hin und wieder klatschte in dem Eimer Kostrows einer der gefangenen Fische.

Pascha Tumanow schaute auf den Fluß und fand, daß alles das des Lebens entbehre; das Licht der Sonne erschien ihm trübe und schwer. Kostrow dachte anders: mit behaglich eingekniffenen Augen blickte er über den Fluß, manchmal die Hand wie einen Schirm anlegend, verfolgte den Dampfer, und betrachtete mit seligem Lächeln einen diamantnen Wasserstreif, der an einer flachen Stelle hinauflief und in Stücke brach. Er seufzte leicht und frei und sagte endlich:

»Eine Wonne!«

Pascha schwieg. Kostrow sah ihn bedauernd an.

»Schön ist's, sagte ich!« wiederholte er. »Allein schon die Schwalben da … sieh mal, sieh mal! … Aber Sie, was ist Ihnen in die Krone gefahren?«

Pascha Tumanow wurde erbittert: ihm schien, daß ihn der Alte necken wolle … So antwortete er gar nicht.

Kostrow seufzte und lächelte breit.

»Weil Sie ihr ›Hexamen‹ nicht gemacht haben? Spucken Sie doch auf die Geschichte!«

Pascha Tumanow sah ihn wütend an.

»Warum sind Sie denn böse?« fragte Kostrow gutmütig.

»Ich bin nicht böse,« murmelte Pascha.

»Nein? Ich glaubte, daß Sie beleidigt sind. Wenn ich aber sage – spucken Sie drauf, so sage ich das Richtige. Nun, Sie haben das Hexamen nicht gemacht … Mein Waßjka auch nicht? Na, ja … Und, da haben Sie's, er, ganz gewiß, er pfeift darauf. Haben Sie ihn gesehen?«

»Er ist Billard spielen gegangen,« sagte Pascha.

Kostrow schien ganz erfreut.

»Na also … Weshalb aber? Deshalb, weil er darauf spuckt.«

»Wie soll man denn darauf spucken?« erwiderte Pascha auf seine Füße schauend.

»Weshalb nicht. – Natürlich, Sie bekämen dadurch ein Zeugnis, um in eine Stellung zu kommen … das ist gut … Aber nicht nur darauf kommt es an! …«

»Worauf denn?«

»Meinen Sie, mein Waßjka hätte das Gymnasium nicht beenden können? Mumpitz! Nicht dies eine lumpige Gymnasium nur, nein, hundert solcher Gymnasien hätte er beenden können, wenn er nur Lust gehabt hätte … Auch Sie könnten es beenden. Ich habe einen Freund da … ein kleines Menschchen, wie ich selber, dazu noch verwachsen … Da erzählte er mir – wir angeln beide oft zusammen – von diesem Ihrem Gymnasium und dieser Universität … Wswintow – das ist sein Name. Also dieser Wswintow – Nachhilfestunden gibt er, – sagt, daß die allereinfachsten Schafsköpfe am allerbesten lernen … so ist die Geschichte nun mal augenscheinlich eingerichtet! Und all das weiß ich doch von mir selbst: ich habe genau so gelernt und bin herausgeflogen … gehört denn viel Grütze dazu, um lateinische Deklinationen und Geometrie mit Geschichte zu ochsen? Sitze und ochse … sitze und ochse, und fertig … Und nötig hat's keiner, – das ist nur so, damit man nachher auf ein fetteres Plätzchen kriechen kann. Aber da kommt's doch auch noch auf denjenigen welchen an! Der eine hat nichts als 'n Plätzchen nötig, nun der ochst denn auch und gibt sich Mühe … aber ein anderer wieder hier diesen Fluß und die Luft, was hat der fürs Ochsen übrig? Der ochst eben nicht. Und ist er wirklich deshalb schlechter, weil er sich nicht wegen des warmen Plätzchens abmüht? Das ist so … ja.«

Kostrow kniff die Augen zusammen, schaute auf den Fluß und blieb stehen.

»Nun, also, – wir trennen uns … ich muß hier in das Gäßchen.«

Pascha Tumanow streckte ihm schweigend die Hand hin.

»Ja, junger Mann, sonst sind Sie so … Na, sind durchgefallen … natürlich ist's unangenehm, aber Sie sind dadurch weder schlechter geworden, noch besser … so wie Sie waren, sind Sie geblieben. Wahrlich! … Das ist so … Dem Waßjka das Billard, mir Fluß und Fische, Ihnen … find't sich auch noch was. Wir können nicht ochsen, aber doch sind wir nicht schlimmer als alle anderen und ebenso gute Kinder unseres Schöpfers. Jedem das Seine … Nun, auf Wiedersehen … Die Schwalben, die Schwalben … sieh mal! …«

Kostrow lachte, lüftete die Mütze und schlenderte das Ufer hinauf, zwischen halbzerfallenden Zäunen der Vorstadt zu den kleinen hölzernen Häuschen, die schmutzig am Ufer zerstreut lagen.

Pascha Tumanow blieb allein.

Er schaute lange auf das Wasser und dachte über das, was Kostrow gesagt hatte, nach. Obgleich er den tiefen Sinn, den der alte Angler in jedes Wort gelegt hatte, nicht verstehen konnte, fühlte er sich doch freier. Augenblicklich wurde das Himmelsgewölbe weiter, das Wasser durchsichtiger; es plätscherte klangvoller und die Wasserstreifen begannen lustig gegen den glatten Sand zu klirren, die Sonne schien heller und wärmer und viele neue Töne, die er bis dahin nicht bemerkt hatte, tönten lebendig und kühn.

Er hörte die Stimmen der Arbeiter auf den Kähnen, ihre lauten Zurufe und ihr gegenseitiges Schimpfen; ein kleiner Dampfer pfiff flott und sorgenfrei; die Schwalben zwitscherten, durch ein Meer von Luft und Licht in dem blauen Raum schimmernd.

Pascha Tumanow sah alles mit weit geöffneten Augen an und glaubte sich selber nicht: hatte er sich wirklich wegen irgend einer Eins so ärgern können? Nun, nicht bestanden … was wird daraus? Er ist noch immer derselbe Pascha Tumanow, der er war: er hört und fühlt ganz ebenso … liebt ebenso Mutter und die Schwestern und … trotzdem er den Direktor und diesen … wen doch gleich – haßt, aber hol sie der Teufel! Sind sie es wert, daß sich der gesunde, fröhliche Pascha Tumanow ihretwegen herumquält …


VIII

Diese Stimmung dauerte nicht lange an, sie wurde bald wieder von einem peinlichen Gefühl verdrängt, das sich Pascha Tumanow anfangs so auszulegen versuchte, es wäre immerhin unangenehm, der Mutter das Unerwartete mitzuteilen.

Im übrigen, das ist gleich! Er wird ihr Wort für Wort wiederholen, was Kostrow gesagt hatte … Dieser famose Alte … dieser Philosoph! Er wird ihr erzählen, wie leicht sich Waßjka Kostrow und Dachnewskij über ihren Durchfall hinwegsetzten. Was für eine sympathische Gesellschaft das ist! Man muß sich mit ihnen anfreunden …

Je näher aber Pascha Tumanow dem Hause kam, um so unruhiger fühlte er sich. Und als er in den Hof trat, sank ihm wieder das Herz und seine Knie zitterten, wie beim Examen.

Die Schwestern saßen im Vorgärtchen. Die ältere, Sina, kochte Eingemachtes, und die jüngere, Lydotschka, las in einem Buch und kaute an einem langen Mohrrübenschwänzchen.

»Pascha kommt!« rief sie, als sie den Bruder erblickte, warf sofort das Buch beiseite und kam auf ihn zu, Neugierde in den lustigen Augen.

Auch Sina kam heran, den Löffel mit Eingemachtem in der Hand.

Die beiden hatten gute, fröhliche Gesichter, aber Pascha wußte, daß sie traurig werden würden, sobald sie die Wahrheit hörten.

»Warum so schnell? Bestanden?« fragten die Schwestern überstürzend.

Alles, was Kostrow gesagt hatte, flimmerte in Paschas Kopfe durcheinander; unerwartet für sich selbst, platzte er heraus:

»Bestanden … Wo ist Mama?«

»Braver Kerl, hier hast du auch einen Löffel Eingemachtes!« sagte Sina.

Lydotschka tanzte auf der Stelle und klatschte in die Hände.

Pascha Tumanow leckte mit geheuchelter freudiger Erregung den Löffel ab, ohne aber im geringsten zu bemerken, was für Eingemachtes es war.

»Wo ist Mama?« wiederholte er.

»In die Kirche gegangen … kommt gleich, hat schon ausgeläutet,« sagte Lydotschka.

»Was hast du gekriegt?«

»So … Kleinigkeit. Ich gehe, das Buch reintragen,« sagte Pascha, ganz vergessend, daß er das Buch nicht bei sich hatte.

»Du bist ja vor Freude ganz konfus!« sagte Sina lachend.

Pascha wurde rot und verlegen.

»Nanu! Habe das Buch vergessen. Na, ich gehe mich waschen … bin müde.«

»Der Siebenklassler!« rief ihm Lydotschka lustig nach.

Pascha lächelte trübselig und beeilte sich, fortzukommen.

Jetzt begriff er schon, daß nicht daran zu denken wäre, der Mutter Kostrows Reden zu wiederholen. Er war selbst erstaunt, wie albern ihm jetzt seine Gedanken von vorher vorkamen! Kostrow, der alte trunksüchtige Bettler in den braunroten Stiefeln, die zwei Billardstammgäste, sein Sohn und Dachnewskij.

Jetzt konnte sich Pascha gar nicht vorstellen, wie er das dumme Gewäsch irgend eines Trunkenboldes beachten konnte!

Natürlich würde dieses Gesindel nichts dadurch verlieren, daß es kein Diplom hätte, etwas anderes war Pascha Tumanow!

Im Zimmer Paschas war es dunkel, unaufgeräumt; auf dem Fußboden lagen Bücher herum und sahen äußerst kläglich aus. Pascha stand mitten im Zimmer und dachte an die dumme Lage, in die ihn seine Lüge den Schwestern gegenüber gebracht hatte; es schien ihm nicht zu lohnen, noch zu leben.

In seinem Kopfe tauchten Pläne auf, einer phantastischer als der andere, zerfielen aber in Stücke und verschwanden spurlos, sobald sie einen Punkt erreichten: den Gedanken an die Mutter. Pascha Tumanow söhnte sich allmählich mit all den Unannehmlichkeiten wegen des nicht bestandenen Examen, aus; nur der Gedanke, daß er es der Mutter mitteilen und auf ihrem Gesicht den vorwurfsvollen Ausdruck hilfloser Verzweiflung erblicken solle, erfüllte seine Seele mit Grauen und Kälte. Pascha begriff nicht, daß sein Glück nicht in dem Zeugnisse läge, sondern in dem aufrichtigen Verkehr mit dem Menschen, der ihm in der ganzen Welt am nächsten stand, – mit der Mutter; darin, sie zu lieben und für sie zu sorgen, damit sie an einem gesunden und glücklichen Sohn glücklich werden könne. Das begriff er deshalb nicht, weil es alle um ihn nicht begriffen. Sie glaubten statt dessen, daß es das Glück und die einfache Pflicht des Menschen sei, sich sein gutes Zeugnis und mit ihm das Recht zu holen, mehr Geld verdienen zu können. Da Paschas Mutter ganz ebenso dachte, mußte sie, anstatt ihren Sohn zu trösten, weinen und ihn dadurch mehr als alles andere quälen. Und Pascha Tumanow, der von allen Hohn und Vorwürfe ertragen hätte, verlor bei dem bloßen Gedanken an die Tränen der Mutter den Mut, weil sie ihm näher stand als alle die anderen zusammengenommen.

Daraus entstand in ihm die Ueberzeugung, daß es unmöglich sei, weiter zu leben. Hätte Pascha Tumanow einen starken Charakter gehabt, würde er sich sofort getötet haben. Aber er fürchtete sich; – weniger vor dem Tode, als vor einer endgültigen Entscheidung überhaupt. So sträubte er sich auch gegen das Bewußtsein, daß alles zu Ende sei, trotzdem es ihm gleichzeitig ganz klar war, daß er als einer, der für zwei Jahre sitzen geblieben ist, aus dem Gymnasium herausgejagt würde.

Plötzlich kam ihm die Idee, zum Direktor zu gehen und ihn anzuflehen, er möge ihn nach der siebenten Klasse versetzen. Pascha Tumanow hielt es für ausgeschlossen, daß er ihn nicht umstimmen sollte. Ein lebendiger Mensch, der niemanden zu Schaden kommen läßt, wenn er Pascha versetzt, konnte nicht so viel unbegründete Brutalität haben, ihm einer Vorschrift, einer Form zuliebe, das ganze Leben zu verderben. Pascha überlegte.

»Na, mag sein, daß ich schlecht gelernt habe, aber im Grunde genommen geht es doch außer mir, Mama, Sina und Lydia niemanden etwas an, ob ich versetzt bin! Mir aber und Mama, Sina und Lyda ist es sehr, ungeheuer wichtig! Folglich muß jeder, der nur ein halbwegs anständiger Mensch ist, das einsehen und mich versetzen.«

Pascha schien das alles durchaus klar und folgerichtig. Er beschloß sofort, noch bevor die Mutter nach Hause gekommen wäre, zum Direktor zu gehen.

Pascha wußte, daß die Schwestern, wenn er ohne die Mutter zu erwarten, bei ihnen vorüberging, sofort die Wahrheit erraten würden; so beschloß er, durch das Fenster zu verschwinden und über den Zaun zu klettern.

Er warf Mütze und Mantel zum Fenster hinaus und begann es behutsam weiter aufzumachen, um durchkommen zu können. Für gewöhnlich machte er das Fenster ganz rücksichtslos mit Gepolter auf, und niemand beachtete es; jetzt schien ihm, daß es nur einmal zu knarren brauchte, damit alle gleich zu ihm hereinstürzten. So dauerte es fünf Minuten, bis er durchgekrochen war.

Als er sich auf der Straße befand, hörte er vom Hofe her Lydotschkas Stimme:

»Mama, Pascha ist hier … ist durchgekommen.«

Da fühlte er, daß alles zu Ende sei und daß es kein Zurück mehr gäbe.

Es betäubte ihn im Augenblick, flößte ihm dann aber Mut ein. Er lief leise auf den Zehenspitzen den schmalen Weg herunter und hielt den Kopf tief gebeugt, als er durch den Zaun mußte, obgleich der bedeutend höher war als er.


IX

Als Pascha Tumanow wieder ins Gymnasium kam, hatte seine Klasse ihr Examen bereits beendet und das einer anderen hatte begonnen. Der Direktor war beschäftigt. Pascha Tumanow blickte durch die Glastür in die Aula und erkannte denselben roten Tisch und die bekannten Gestalten der Lehrer. Der Lehrer der lateinischen Sprache, Alexandrowitsch, der Pascha die Eins gegeben hatte, war nicht da. Pascha wußte, daß er im Lehrerzimmer sitze, und entschloß sich, zuerst den Versuch zu machen, mit ihm zu sprechen.

Als er an das Lehrerzimmer kam, bat er mit klopfendem Herzen und glühenden Backen den gerade vorbeigehenden Schönschreiblehrer, Alexander Iwanowitsch herausrufen zu lassen.

»Was wollen Sie von ihm?« fragte der Schönschreiblehrer, aber da es ihn nichts anging, machte er, ohne auf die Antwort zu warten, die Tür zum Lehrerzimmer auf und rief laut:

»Alexander Iwanowitsch!«

Durch die offene Tür sah Pascha zwei große Fenster, eine Tischecke, und blaue Streifen Tabakrauches, in dem sich wie in einem Nebel, jemandes bläulicher Schatten bewegte. Aus dem Qualm schob sich die kleine, hölzerne Gestalt Alexandrowitschs mit spitzem Bärtchen und langen geraden Haaren hervor. Er kam zur Tür und schaute heraus.

»Hier … zu Ihnen,« sagte der Schönschreiblehrer und ging fort.

Alexandrowitsch betrachtete Pascha Tumanow sehr kühl, kam aber doch auf den Korridor.

»Was haben Sie?« fragte er, die Hände unter die Hinterschöße des Uniformrockes steckend.

»Alexander Iwanowitsch, Sie haben mir eine Eins gegeben, und es ist schon das zweite Mal … und ich werde ausgeschlossen …«

Pascha sprach stotternd, bemühte sich aber zu lächeln. Alexandrowitsch sah mit starren, apathischen Augen irgendwohin an ihm vorüber; als Pascha geendet hatte, begann er in zähem Ton, mit Genuß die Silben und Betonungen abtrennend, während er sich von den Zehen auf die Absätze und zurück wiegte:

»Sie sind kein Knabe und wissen, wohin Faulheit führt. Das dürfte Ihnen schon aus der Fibel bekannt sein. Dem angemessen, wie Sie es verdienten, habe ich Sie beurteilt. Das Kollegium hat sich mit meiner Bemessung Ihrer Fortschritte durchaus einverstanden erklärt … An Ihnen lag es, zu lernen! …«

Alexandrowitsch sah Pascha ins Gesicht und wandte sich der Tür zu.

»Alexander Iwanowitsch!« rief Pascha mit klirrender Stimme.

»Nein, nein …« antwortete entschlossen Alexandrowitsch und drückte hinter sich die Tür ins Schloß.

Pascha Tumanow knirschte vor Wut. Er hätte sich mit Hochgenuß auf den Lehrer gestürzt, trat aber statt dessen unschlüssig ans Fenster und starrte stumpf auf die Straße hinab.

Ein Schuldiener kam auf ihn zu; dasselbe hastige, demütige Menschlein, das sie an diesem Morgen zum Examen geführt hatte.

»Sie sind nicht durchgekommen, Tumanow?« fragte er.

»Nein,« antwortete Pascha mit eingeschnürter Stimme.

Der Schuldiener schüttelte traurig den Kopf und seufzte. »Welche Unannehmlichkeit für Anna Iwanowna.«

»Was denken Sie nun zu tun?« fragte er weiter.

»Ich werde den Direktor bitten,« antwortete Pascha Tumanow, fragend auf den Schuldiener schauend.

»Wohl kaum … Immerhin, versuchen Sie es … Aber da kommen sie schon!« fügte er flüsternd hinzu, den Uniformrock zuknöpfend.

Aus den Türen des Examensaales kamen in einem Haufen die Lehrer heraus, und wieder waren auf dem Hintergrund des beleuchteten Fensters nur ihre mienenlosen, bläulichen Schatten mit den schwankenden Hinterschößen der Uniformröcke sichtbar. Allen voran ging, das Klassenbuch in der Hand, der Direktor Wladimir Sstepanowitsch Wosnessjenskij, ein großer, stark gebauter Mann mit langem Bart und einem einzelnen Haarbüschel auf der Stirn.

Durch seine blaue Brille sah er Pascha Tumanow und ging auf ihn zu.

»Sie werden ausgeschlossen,« sagte er, während er über ihn wegschaute.

Er war ein sehr guter Kerl, und hatte auch gütige Augen, aber er war Formelmensch bis zum äußersten und seine Augen versteckten sich hinter der blauen Brille.

Pascha Tumanow wußte ganz gut, daß er ausgeschlossen werden mußte, trotzdem aber wehte ihm aus diesen ruhigen Worten des Menschen, der von seinem Ausschluß wie von einer vollzogenen Tatsache sprach, eisige Kälte entgegen.

»Wladimir Sstepanowitsch,« sagte er mit der gleichen klirrenden Stimme, mit der er zu dem Lehrer gesprochen hatte.

Der Direktor tat, als höre er nicht.

»Wir werden Ihnen ein Zeugnis über die Beendigung von sechs Klassen geben, aber ohne die Reife für die Siebente … Sie hätten lernen sollen!« fügte er hinzu.

»Ich werde lernen,« sagte Pascha zitternd wie ein kleiner Junge.

»Das ist jetzt zu spät,« erwiderte der Direktor, der in seinem Leben viel Knaben entlassen hatte, ruhig: »Sie hätten früher an die Folgen denken sollen! Das Entlassungszeugnis …«

»Wladimir Sstepanowitsch, – Mama …« flüsterte Pascha Tumanow.

»… Werden Sie in der Kanzlei in Empfang nehmen,« sprach der Direktor, die Stirn runzelnd, zu Ende und ging weiter.

Pascha lief hinter ihm her.

Als er an den Direktor herangetreten war, glaubte er ihm in drei Worten seine Lage schildern und ihn überzeugen zu können. Aber die Worte kamen nicht über seine Lippen; er versuchte nur, ohnmächtige Tränen in den Augen, zu stammeln:

»Wla…dimir Sstepanowitsch …«

Der Direktor, dessen gutem Herzen es, trotz der langjährigen Gewohnheit weh tat, fand, da er nicht den leisesten Gedanken an eine Erfüllung der »ungesetzlichen« Bitte des Knaben zulassen konnte, einen Ausweg aus der unangenehmen Situation, indem er sich wieder den Anschein gab, als höre er nichts und sich beeilte, in dem Lehrerzimmer zu verschwinden.

Pascha Tumanow blieb, von furchtbarer Wut erfüllt, im Korridor allein zurück. Doch um eine Unterhaltung mit dem Schuldiener, dessen fruchtlose Beileidsbezeugungen, seinen Kummer und Groll, wie er fühlte, nur gesteigert hätten, zu vermeiden, ging er rasch den Korridor entlang, griff nach Mantel und Mütze und trat mit der festen und völlig klaren Absicht, an den Menschen, die seine Bitten und Tränen nicht beachteten, Rache zu nehmen, auf die Straße.

Der Direktor war von der Angelegenheit so unangenehm berührt, daß er in der schlechtesten Laune nach seiner Wohnung ging; innerlich bedauerte er das Reglement.


X

An der Hauptstraße, an der sich auch das Gymnasium befand, nur am entgegengesetzten Ende, war an einer Ecke eine große Waffenhandlung. In zwei hohen Schaufenstern standen Pyramiden von Gewehren aller Systeme; auf den schön mit grauem Tuch beschlagenen Auslagebrettchen lagen in symmetrischer Ordnung Pistolen, Revolver, Jagdmesser und Patronenschachteln, dazwischen waren ausgestopfte Vögel und Säugetiere, die gegen die Vorübergehenden die Zähne fletschten, ausgestellt.

Nach Schulschluß blieben die Gymnasiasten stets haufenweise vor diesen Schaufenstern stehen, um von Waffen und Jagden, die sie noch niemals in der Nähe gesehen hatten, zu träumen.

Pascha Tumanow pflegte ebenfalls mitunter lange vor den Schaufenstern zu stehen und die Büchsen und Pistolen mit einem Gefühl unbestimmten Neides zu betrachten. Er hatte hier sein Lieblingsstück, eine Doppelflinte, zu deren Erwerb er schon längst Geld aufgehoben hatte. Die Doppelflinte kostete fünfundzwanzig Rubel; aber Pascha Tumanow hatte bisher nur zwölf gespart. Er war stets, wenn er zum Geschäft kam, um ihr Schicksal besorgt und beruhigte sich immer erst, sobald er die noch unverkaufte Doppelflinte an Ort und Stelle fand.

Pascha Tumanow ging geradewegs nach dem Geschäft und blieb vor dem Schaufenster der Lieblingsbüchse gegenüber stehen. Trotz der schweren Stimmung empfand er ein freudiges Gefühl, als er ihren glatten, geraden Lauf und die schön geformten hakenartigen Hähne erkannte. Doch sofort ertappte er sich bei diesem Gefühl und schämte sich, daß er, nachdem er sich zu einer solchen Tat entschlossen hatte, noch Interesse an einer Doppelflinte haben konnte.

»Gleichviel …« dachte er, »kaufen werde ich sie doch nie mehr …«

Ein wehes Gefühl schnürte ihm das Herz zu.

Gewaltsam rüttelte er sich auf und die Augenbrauen übertrieben zusammenziehend, stieß er die Tür auf und trat in den Laden.

Es war nur der Verkäufer und das Fräulein an der Kasse anwesend. Den Verkäufer kannte Pascha sehr gut, da er ihn oft im Schaufenster gesehen hatte, wenn er die ausgestellten Waffen mit Sämischleder abrieb. Das Fräulein an der Kasse aber sah er zum ersten Mal. Er hatte ein peinliches Gefühl. Um es zu vertuschen, trat er mit übertriebener Unbefangenheit an den Ladentisch. Der Verkäufer sah ihn ernst und wie es ihm vorkam, mißtrauisch über die Brillenränder an.

»Was wünschen Sie?« fragte er.

Pascha durchzuckte der Gedanke, daß ihm, als Gymnasiasten, keine Waffen verkauft werden würden; er wurde blaß.

»Ich brauche eine Pistole,« sagte Pascha mit gespannter Stimme.

Der Verkäufer wandte sich schweigend nach den Fächern um. In diesem Augenblick kam Pascha Tumanow sehr klar und deutlich die Ueberlegung, daß er außer dem Direktor auch den Lateinlehrer töten müsse, daß es daher besser sei, statt einer Pistole einen Revolver zu kaufen.

»Außerdem kann sie versagen,« dachte Pascha ganz ruhig und vernünftig, »und dann mache ich mich lächerlich.«

Bei der Vorstellung, was kommen könnte, wenn die Pistole versagen würde, errötete er glühend und verbesserte sich eilig:

»Oder nein, zeigen Sie mir lieber einen Revolver.«

Der Verkäufer ließ ebenso gleichgültig die Kiste mit den Pistolen stehen und nahm eine andere mit Revolvern.

»In welcher Preislage wünschen Sie ihn?« fragte er.

»So gegen zehn Rubel.« Pascha wurde verlegen, da er noch nie Waffen gekauft hatte.

Der Verkäufer legte drei oder vier Revolver auf das Glas des Ladentisches.

Pascha nahm einen von diesen und blickte mit Kennermiene in den Lauf. Da war nur ein rundes schwarzes Loch; weiter nichts. Pascha schauerte aus irgendwelchen Gründen zusammen und nahm einen anderen.

»Aber sind sie auch fehlerfrei?« fragte er.

»Wir verkaufen nur erstklassige Ware,« erwiderte gleichgültig der Verkäufer.

»Und wie … hat der hier starken Durchschlag?« fragte Pascha mit kindlicher Neugierde. Er hätte den Verkäufer gern redseliger gemacht.

»Wird auf sechzig Schritte einen Menschen durchbohren,« sagte der Verkäufer gleichgültig gedehnt.

Hätte er jetzt Paschas Gesicht beobachtet, so wäre es ihm aufgefallen, daß die Sache nicht in Ordnung sei; aber er war ein alter Waffenhändler, fand mehr als einmal, nachdem er einen Revolver verkauft hatte, am nächsten Tage in den Zeitungen Notizen über Selbstmorde oder bestialische Bluttaten; er war schon längst gewöhnt, die todbringenden Eigenschaften seiner Ware anzupreisen und dachte beim Verkauf eines neuen Revolvers nur an die Provision, die er von jedem über den Wert losgeschlagenen Stück erhielt. Er war ein sehr guter Familienvater, der seine Frau und seine Kinder liebte, und gerade deshalb war für ihn der verkaufte Revolver und nicht der Kunde die Hauptsache. Der Erregung Pascha Tumanows schenkte er nicht die geringste Aufmerksamkeit.

»Ich nehme diesen,« sagte Pascha mit zitternden Lippen.

Der Verkäufer neigte den Kopf, nahm die anderen fort und legte sie in die Kiste.

»Belieben Sie ihn eingepackt?« fragte er.

»Ja … nein,« Pascha wurde verwirrt.

»Wie beliebt. Belieben Sie Patronen?«

»Ja, ja … gewiß doch …« es fiel Pascha erst jetzt ein. »Unbedingt.«

»Belieben Sie geladen oder nehmen Sie eine Schachtel?«

»Laden Sie lieber gleich,« sagte Pascha, der daran dachte, daß er nicht wisse, wie geladen wird.

Der Verkäufer nahm den Revolver, schüttelte die niedlichen gelben Patronen aus der Schachtel auf das Glas heraus und lud ihn, gewandt mit dem Schloß klappernd. Während er Pascha den Revolver reichte, fragte er:

»Belieben Sie weiter nichts?«

Pascha schüttelte verneinend den Kopf.

»Zehn Rubel zwölf Kopeken,« sagte der Verkäufer, auf die Kasse zeigend.

Pascha steckte den Revolver in die Tasche seines Mantels und ging zur Kasse.

Das junge Kassenfräulein mit blutlosem Gesicht nahm das Geld entgegen, gab ihm achtunddreißig Kopeken heraus und sah ihm aufmerksam nach.

Sie war noch sehr jung und daher mitfühlender als der Verkäufer. Als Pascha Tumanow heraus war, sagte sie:

»Welch sonderbares Gesicht dieser Gymnasiast macht. Der erschießt sich noch.«

»Wer kennt die,« erwiderte gleichgültig der Verkäufer. »Wieviel Uhr ist's, Marja Alexandrowna?«

»Auf eins,« antwortete das Kassenfräulein, nachdem sie ihre kleine Uhr hinter dem Gurt hervorgezogen hatte.

Der Verkäufer ging hinter den Ladentisch und begann die von Pascha durcheinander geworfenen Stücke zurechtzulegen.

»Warum verkauft man ihnen Waffen,« meinte das Kassenfräulein, noch immer an Pascha denkend, »der Knabe wird noch Unheil anrichten … was für ein Gesicht er hatte. Man dürfte solchen Menschen nichts verkaufen.«

»Solche Vorschriften gibt es nicht,« meinte Der Verkäufer trocken.


XI

»Wo ist der Direktor?« fragte Pascha Tumanow, in den Vorraum des Gymnasiums tretend.

»Bei sich in der Wohnung. Sind eben vom Examen gekommen. Wahrscheinlich im Arbeitszimmer,« antwortete gähnend der alte pockennarbige Pedell, ein ehemaliger Soldat.

»Geh hin, Iwanitsch, melde mich an,« bat Pascha.

»Aber sie sind wahrscheinlich beschäftigt,« meinte der Soldat.

»Macht nichts … ich habe sehr notwendig …«

»Ich weiß nicht … Sie hätten den Schuldiener fragen sollen …«

Pascha Tumanow erschrak.

»Nein. Ich komme heimlich … zu bitten …«

»Durchgefallen?« fragte der Soldat, der solche Bitten mehr als einmal zu hören bekam.

»Na, ja …«

»Meinetwegen, ich werde anmelden,« sagte er und ging, schwer auftrampelnd, nach der Direktorswohnung.

Pascha Tumanow blieb im Vorraum. Er zitterte am ganzen Körper vor Frost, hatte aber eigentümlicherweise ganz an den Revolver vergessen und wollte nur noch einmal den Direktor bitten, gleichzeitig die sichere Absage erwartend.

Der Soldat kam zurück.

»Bitte in das Arbeitszimmer,« sagte er.

Pascha legte Mütze und Gummischuhe ab und trat in das dunkle Vorzimmer der Direktorswohnung, aus dem eine Tür in das Studierzimmer führte. Pascha kannte dieses Zimmer und auch das Arbeitszimmer gut; es war nicht besonders möbliert, mit zwei großen Fenstern nach der Straße und einem breiten Schreibtisch, auf dem ein bronzener Briefbeschwerer, ein wilder Eber, stand und immer Papiere in blauen Umschlägen mit angeklebten weißen Zetteln herumlagen.

Wladimir Sstepanowitsch Wosnessjenskij saß seitwärts am Tisch, mit dem Rücken zur Tür, und schrieb etwas, den Kopf zur Seite geneigt, mit der Pascha bekannten steilen, schwungvollen Handschrift. Neben ihm lag am Rande des Tisches eine rauchende Zigarette.

Beim Eintritt Paschas schaute Wladimir Sstepanowitsch über die Schulter; sein Gesicht verfinsterte sich. Zwar tat ihm der Knabe leid, aber er konnte auch gleichzeitig wieder nicht begreifen, daß dieser Pawel Tumanow nicht einsehen solle, was durchaus klar war: die Unmöglichkeit, ihn gegen die Vorschrift zu versetzen. Und trotz seiner Gutmütigkeit wurde er sofort ärgerlich, trocken, weil er meinte, daß dieser Pawel Tumanow ein lästiger Faulpelz sei, der mit gutem Willen hätte lernen können.

»Was wollen Sie mir sagen?« fragte er scharf, ohne Pascha anzublicken.

»Wladimir Sstepanowitsch, versetzen Sie mich …« bat Pascha Tumanow.

»Das kann ich nicht.« Der Direktor zuckte die Schultern.

»Ich werde lernen, Wladimir Sstepanowitsch,« sagte Pascha traurig.

… Wenn ich weine, wird es besser sein …, dachte er, während er fühlte, daß ihm Tränen an die Kehle stiegen. Trotzdem strengte er sich aus Leibeskräften an, nicht zu weinen.

»Ach, mein Gott!« sagte der Direktor, dem er aufrichtig leid tat; er machte aber sein strengstes und gelangweiltstes Gesicht.

»Wladimir Sstepanowitsch, wenn ich das Gymnasium nicht absolviere, werde ich nicht auf die Universität können.«

»Selbstverständlich.« Unwillkürlich lächelte der Direktor.

… Ich rede nicht das Richtige …, ging es durch Paschas Kopf.

Der Direktor nahm die Zigarette, ließ sie ein paarmal aufglimmen, machte einen tiefen Zug, hob die Brauen hoch, und, sie sorgfältig am Rande des Tisches zurechtlegend, sprach er entschieden und scharf:

»Hören Sie, Tumanow, ich weiß sehr gut, daß Ihre Lage und noch mehr die Ihrer Eltern, eine sehr unangenehme ist, sobald Sie ausgeschlossen werden … Ich persönlich habe nichts gegen Sie, wie auch die Herren Lehrer nichts gegen Sie haben. Aber Sie haben Ihre Pflichten, und wir – die unsren: Sie waren verpflichtet zu lernen … Sie haben es nicht getan, nun, und dafür werden Sie aus dem Gymnasium entlassen. Entlassen werden Sie nicht durch uns, da wir nur die Vollzieher, die Beamten sind; wären wir nicht da, so hätten andere Sie entlassen. Mir persönlich tun Sie leid, und wäre es von mir abhängig, so hätte ich Ihnen das Zeugnis gegeben, auch ohne Ihre Kenntnisse zu prüfen. Aber wir haben die Pflicht, nur diejenigen zu versetzen, die gelernt haben; die, welche nichts wissen, sind wir verpflichtet, zu entlassen; auf die Gefahr entsprechender Strafe bei Nichterfüllung unserer Pflicht hin. Nun, entlassen wir Sie, und Sie haben kein Recht, sich zu beklagen und uns zu verurteilen, und … ich kann nichts tun. Das ist klar, glaube ich?«

Der Direktor sah Pascha durch die Brille an.

»Um Gotteswillen, Wladimir Sstepanowitsch …« brachte Pascha Tumanow mit Mühe heraus, fühlend, daß in ihm alles in einen Abgrund stürzte.

Der Direktor wandte sich gereizt zu ihm.

»Was wollen Sie denn von mir? Ich kann es nicht … begreifen Sie – ich kann es nicht!«

»Was soll ich nun anfangen?« fragte Pascha Tumanow mechanisch.

Hätte sich der Direktor zu seiner Not mitfühlend verhalten, ihm irgend einen kleinen Rat gegeben, so wäre Pascha Tumanow wahrscheinlich nach Hause gegangen. Aber der Direktor dachte nicht daran, daß es seine wichtigste Aufgabe sei, Kinder glücklich zu machen, sondern nur, daß er seine Dienstpflicht zu erfüllen und nur diejenigen Schüler zu versetzen, die die festgesetzte Durchschnittsnote erreichten. Er war durchaus kein engherziger Mensch; aber das Ideal der modernen Erziehung wird nun einmal nicht darin gesehen, aus Kindern glückliche und gute Menschen zu machen; sie sollen nur geeignet sein, nach dem vorgeschriebenen Schema im Kampfe um die beste Stellung fähige Rekruten der bürgerlichen Armee zu werden.

Da aber Pascha Tumanow davon nichts verstand und hinter den Worten des Direktors nicht den abstrakten Plan erblickte, sondern nur die Personen der Lehrer, erwachte in ihm sofort wieder der Haß gegen den Direktor, der durch den offiziellen Ton nur verstärkt wurde.

Pascha Tumanow erinnerte sich an den Revolver. Augenblicklich erschien ihm alles klar und einfach und dieser Schluß ganz unvermeidlich. Er steckte die Hand in die Tasche, seine Augen brannten in trockner Erregung, und er sagte in einem unwillkürlich drohenden Tone:

»Versetzen Sie mich, Wladimir Sstepanowitsch, sonst …«

Der Direktor sah ihn erstaunt an, erblaßte und stand langsam auf, sich vom Tisch zurückschiebend.

»Was … was wollen Sie …?«

Erst da bemerkte Pascha, daß er den Revolver in der Hand hielt. Im Gesicht des Direktors sah er den Ausdruck furchtbaren Schreckens; urplötzlich bemächtigte sich seiner eine unbestimmte lustige Tollheit; er streckte die Hand mit dem Revolver aus und begann mit stumpfem Lächeln gerade auf den Direktor zu zielen.

»Ach, mein Gott! …« rief der Direktor, weiter zurückweichend und sich mit den Händen vor dem auf ihn gerichteten Lauf schützend. Doch mit einer plötzlichen Drehung huschte er an Pascha vorbei und versuchte unter halb schluchzendem Geschrei: »Oi, Oi, Oi … Hilfe!« aus dem Arbeitszimmer zu rennen. Bei diesem Schreien kam sich Pascha selbst grauenhaft, ungeheuerlich vor. Das neue Gefühl durchkostend, sprang er hinter dem Direktor her und schoß noch auf der Schwelle, auf seinen Rücken zielend, einmal und noch einmal. Durch den Rauch, der, wie ihm vorkam, furchtbar stark war, sah er, wie der Direktor mit dem ganzen Körper stumpf gegen die Wand stieß, die Hände hochschwang und sich dann massig mit dem Kopf zu Paschas Füßen zurücksinken ließ. Seine Brille fiel herunter, und seine guten kurzsichtigen Augen blickten, im Tode verzerrt, an Pascha vorbei nach der Decke.

Aber Pascha sah und hörte nichts mehr. In einem Rausche, der einer Hysterie der Wut ähnlich war, sprang er auf den Korridor hinaus und lief nach dem Lehrerzimmer hinauf, den Revolver noch immer vor sich ausgestreckt.

Die Tür zum Lehrerzimmer stand offen. Wie vorhin schwebte dort blauer Qualm in der Luft, in dem sich die Schatten der Lehrer bewegten. Als Pascha Tumanow in der Tür erschien, wandten sich ihm alle auf einmal zu und begriffen, daß etwas Entsetzliches geschehen wäre.

Pascha sah, wie alle vor ihm nach den Seiten stürzten, und wuchs in seinen eignen Augen in diesem Wutanfall zu gigantischer Größe. Er fand mit einem Blick Alexandrowitsch und schoß. Den Schall des Schusses hörte er kaum; er sah nur durch den Rauch, daß der Lehrer fiel oder sich von selbst unter den Tisch warf. Ohne Herrschaft über sich drehte er sich um und lief kopfüber die Treppe herunter, wobei er, wie es ihm schien, jedesmal mit einem Satz zehn Stufen nahm.

Als er durch das Vestibül rannte, sah er noch flüchtig das blasse Gesicht des Soldaten Iwanowitsch, der vor ihm erschrocken auf die Seite sprang.

Wie Pascha in die Droschke gestiegen und ins Bureau des Polizeimeisters gekommen war, konnte er sich nicht klar machen. Erst dann kam er zu sich, als der Sekretär zu ihm sagte:

»Armer Junge.«



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