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Michail Petrowitsch Arzybaschew

Einleitung.

Der Roman Ssanin begegnete in Deutschland so starkem Interesse, daß es möglich war, im Laufe weniger Monate auch die Novellen Artzibaschews, von denen jetzt der zweite Band vorliegt, folgen zu lassen.

Zwischen dem ersten Novellenband »Millionen« Inhalt: »Millionen« und »Der Tod des Iwan Lande«. und dem »Ssanin« bestanden innere Aehnlichkeiten der Struktur; eine Kette artistischer Beziehungen vereinigt diese Werke zu einer ideellen Gruppe. Der psychologische Blick, mit dem Artzibaschew hier den Rohstoff betrachtet, ist auf einen Gesichtswinkel eingestellt, sein Interesse an dem inneren Aufbau der Handlung, an der Schichtung des Konflikts hat die gleiche künstlerische Form.

In beiden Erzählungen sowie im Roman gruppieren sich die gesamten Vorgänge um eine Person, die außerhalb ihrer Umgebung steht und es versucht, mit ihr in seelische Berührungen zu treten, ohne sich jedoch mit ihr ausgleichen zu können.

Ssanin, Mishujew und Iwan Lande sind allein sich nicht fremd; allen anderen bleiben sie Fremde. Ihre Seelen schwingen in intimen Kurven, ihre Sprache hat besondere Auftakte, Abklänge, ihre Diskretion besitzt eigene Nüancen, maskiert sie vor den anderen trotz der Offenkundigkeit ihrer Absichten. Denn sie sind nichts weniger als absichtslose Menschen.

Aber selbst in dieser Uebereinstimmung gibt es zwischen Ssanin und Mishujew, Ssanin und Iwan Lande, scharfe Trennungen.

Ssanin ist passiv – der echt russische Zug in ihm, der dem ausländischen Leser nicht eingehen will. Und doch ergibt sich daraus die interessante Tatsache, die Artzibaschews feinem Kunstempfinden ein gutes Zeugnis ausstellt, daß dieser Ssanin, wenn auch die Hauptperson des Romans, fast in den Hintergrund der Handlung tritt. Trotz seiner Passivität aber bleibt Ssanin, der Bewußtheitsmensch, niemals an den kleinlichen Mitmenschlichkeiten kleben und überwindet, – den anderen immer um ein Ergebnis voraus, – jedes Hindernis, das ihm der Zufall in den Weg stellt.

Mishujew und Iwan Lande dagegen gehen unnachsichtlich trotz ihrer Aktivität, trotz allen redlichen Strebens an den Mißhelligkeiten des Lebens zugrunde.

In diesen Gegensätzen zwischen der vorwärtsschreitenden Passivität Ssanins und der retardierenden, sich selbst zerfressenden Aktivität Mishujews und Iwan Landes liegt ein tiefer Sinn. Vielleicht der Sinn des slavisch-russischen Wesens, den Artzibaschew hier mit einem Griff aufdeckt. Bei dem Versuch, sich mit den äußeren Dingen in Einklang zu setzen, die Tatsächlichkeiten des Alltags zu alltäglichen Tatsachen seiner Persönlichkeit zu machen, zerbricht der Russe, – der natürlich niemals mit dem im Ausland einzig bekannten russischen oder polnischen Juden verwechselt werden darf – nur allzuleicht. Ihm fehlt eben die psychische Widerstandskraft des West-Europäers, die in der behäbigen Alltagslogik ihr Rückgrat besitzt, ihm fehlt der selbstzufriedene »gesunde Menschenverstand«, der seine sensible Reibungsfläche auf Kosten des Gefühlsmäßigen vor Abnutzung zu bewahren versteht.

Mit Recht nennt sich Artzibaschew einen Schüler Tolstois. Und ich glaube, im Gegensatz zu ihm selbst, dies nicht nur auf den künstlerischen Charakter seines Schaffens beziehen zu dürfen. Die Figur des Iwan Lande würde nicht darauf hindeuten, trotzdem Artzibaschew in ihr wohl, abgesehen von den literarischen Kunstwerken, die sich mit der Person Christi selbst beschäftigen, überhaupt zum ersten Mal einen Tolstoianer gezeichnet hat.

Nein, wie die Weltanschauung Tolstois auf das innigste mit dem Gewebe der seelischen Veranlagung des Russen verknüpft ist, muß sie gerade dem echt Russenhaften in Ssanin nahekommen: Ssanin ist der Russe, der nicht mehr strebt, also nicht zum Propagandisten seiner Weltanschauung mit allen Kämpfen eines solchen wird, weil er sich längst über den Druck seiner Umgebung erhoben hat, genau wie Tolstoi rein slavisch ist in der Philosophie, nicht zu widerstreben, solange man sich unter dem Druck der Verhältnisse befindet.

Vielleicht machen es diese elliptischen Punkte ihrer Anschauung verständlich, daß gerade Tolstoi, – der alte Lew Nikolajewitsch, Christ und Eiferer von Beruf und Neigung – in den literarischen Kreisen Rußlands zu denen zählt, die (wie in der russischen Presse verschiedentlich berichtet wurde) Artzibaschews dichterische Arbeit mit besonderem Interesse verfolgen. Auch in seiner Korrespondenz mit bedeutenden russischen Kritikern hat er sich stark für Artzibaschew eingesetzt.

Trotz der völlig entgegenstehenden erotischen und sozialen Auffassung verbindet sie eine tiefgehende Wesensgleichheit.


Der vorliegende Novellenband »Revolutionsgeschichten« bringt neue Menschen; Menschen, für deren subjektiven Kreislauf von vornherein ein anderer Radius angelegt worden ist.

Sie führen auf das Gebiet der politischen Revolution, das die russische Literatur verhältnismäßig wenig behandelte. In der Auswahl berücksichtigten wir zunächst die Vorschläge des Autors selbst, der mir » Arbeiter Schewyrjow«, » Morgenschatten«, » Blutfleck«, als die Erzählungen bezeichnete, die ihm die liebsten sind.

Pascha Tumanow nahmen wir hinzu, weil es die erste dichterische Arbeit ist, die Artzibaschew veröffentlicht hat; es ist wohl interessant, von ihr aus seinen künstlerischen Entwicklungsgang betrachten zu können. Auch der Stoff, den sie zum Vorwurf hat, die Zustände an russischen Gymnasien, hängt aufs engste mit den revolutionären Stimmungen des Landes zusammen.

Das Grauen wieder knüpft an ein Ereignis an, das sich etwa 1902/03 in Südrußland unter fast noch empörenderen Zuständen, als hier geschildert, zutrug; gegen die Schuldigen – an ihrer Spitze der Untersuchungsrichter Pussep – wurde von seiten der Regierung niemals eingeschritten, obgleich Fürst Trubetzkoi in der konservativen »Petersburgskaja Wjedomosti« den Sachverhalt aufdeckte und ihre Bestrafung forderte. Der Vorfall trug damals eine Menge neuen Zündstoff in die gebildeten Schichten der Gesellschaft; er wurde auch in der ausländischen Presse viel besprochen.

Der Blutfleck schildert eine jener Episoden, die sich nach Niederwerfung des Moskauer Aufstandes Ende 1905, auf den von Moskau nach Süden gehenden Eisenbahnlinien von Station zu Station abspielten, und die dem Semjenowschen Garderegiment zu traurigem Ruhm verhalfen.

Jene eigentlich nachrevolutionäre Epoche, die mit dem Erlaß des Oktobermanifestes 1905 einsetzt und die in den zwei folgenden Jahren den Verfall der mit so vielen Hoffnungen begonnenen sozialen Umwälzung im Gefolge hat, bildet für den größten Teil der vorliegenden Erzählungen den Hintergrund.

Die ursprüngliche Geschlossenheit der Revolution ist aufgelöst, ihre gewaltige Energie zerfallen. An die Stelle der großen sozialistischen Parteien, die durch den Parlamentarismus abgelenkt wurden, drängen sich die Aktionen von Einzelorganisationen der Anarchisten und Maximalisten, die zum Teil untereinander in loser Verbindung standen, oft aber auch ganz gesondert arbeiteten und nur durch den Namen die Zugehörigkeit zu einer dieser Richtungen dokumentieren. Daneben laufen die Eingänger, die Gewaltmenschen, die auf nichts vertrauen, an nichts glauben, als an sich, die in einer Tat protestieren und untergehen wollen.

Die Studentenschaft, in früheren Jahren überwiegend für die revolutionäre Bewegung begeistert, wurde allmählich von anderen Gesichtspunkten abgezogen; sie wogte zwischen den verschiedensten Interessen hin und her. Teils unfähig, in den neuen Verhältnissen festen Fuß zu fassen, nicht gewohnt an ein reines, systematisches Studium, unbefriedigt von den Bedeutsamkeiten des Augenblicks, oft von der Selbstmordmanie, die eine Zeitlang sogar die russischen Soziologen beschäftigte, ergriffen, neigte sie zwar zu revolutionären Handlungen, ist aber nicht mit ihnen, wie einst, innerlich verwachsen.

In dieses Milieu führen die Morgenschatten, deren Stimmung nur aus der eigentümlichen, seelischen Bodenstandslosigkeit dieser Jahre zu verstehen ist. Es ist die Erzählung der »kleinen« russischen Studenten! Sie sind in irgend einem Provinznest, auf dem noch Staub und Dunst der Alexander-Zeiten liegen, aufgewachsen, – unfrei, gelangweilt, irgendwessen überdrüssig, ohne zu wissen wessen, vor den Augen die Scheuklappen veralteter Erziehungsmethoden, die sie innerlich längst überholt haben … Und da steht nun Petersburg wie eine leuchtende Fata Morgana vor der Zukunft. Dort ist Bildungsfreiheit, nach der so viele russische Gymnasiasten mit wirklichem Ernst streben, dort fließt das tiefe, rauschende Leben, das man sich in der toten Provinzstadt in prächtigen Träumen vorgestellt hat, dort gibt es die Konzentration und die Verausgabung der Kräfte, durch die man zum »Menschen« wird.

Das Wort Tschjelowjek (= Mensch) hat für den russischen Gymnasiasten der obersten Klassen, ob Knabe oder Mädchen, eine noch persönlichere, noch mystischere Bedeutung, als z. B. für eine deutsche Handarbeitslehrerin in 35jähriger Jungfräulichkeit der Begriff: Goethescher Mensch.

Und dann kommt man nach Petersburg und erkennt entsetzt, daß es in der Tat nichts anderes wie eine Fata Morgana war. Da folgen: Selbstmord, erotische Hingabe, und bei energischen Menschen oder solchen, die es sich einreden zu sein, das Attentat; in den meisten Fällen – der Untergang.

Es ist kein Wunder, daß Artzibaschew da mehr Untergänge als Aufstiege sieht!

Er bleibt der feine Lebensskeptiker, der nur ein Leben anerkennt, das von einer entwickelten Persönlichkeit getragen wird, das »Eigentum eines Eigenen« geworden ist, das sich allem übergeordnet fühlt und alles bejaht. Und weil das Leben, das er erhofft und für besten Hoffnung er sich in seiner künstlerischen Produktion einsetzt, ein Leben ist, das – man möchte im Sinne der Freudschen Theorie sprechen – alle Sozial-Empfindungen durch fortgesetzte Individual-Assoziationen abreagiert und sich so hemmungsfrei macht, ein Leben, das in den gesellschaftlichen Vorgängen, soweit es sie noch nicht beherrscht, nur ein Symbol seiner unbewußten Triebe findet – kann Artzibaschew in diesem Spiel der Zerfahrenheit und Veräußerlichung seine handelnden Menschen nur im Untergange, im Tode enden sehen.

So geht selbst Schewyrjow, der Revolutionär im Sinne Artzibaschews und – ganz unbewußt ebenfalls ein Typ der erwähnten Freudschen Theorie – in der Erzählung »Arbeiter Schewyrjow« scheinbar nutzlos zugrunde. Trotzdem er der starke Einzelne ist, der wie ein ungeheurer Schatten hinter den Bildern von Sorgen und Elend steht, die sich in seiner Wohnung, im vierten Stock einer echten Petersburger Mietskaserne abspielen. Er geht, wenn auch aus vollem Herzen tötend, nutzlos zugrunde, da er der Polizei lebend in die Hände fällt, ohne daß er seinen grandiosen, unbekannten Plan zur Ausführung bringen konnte.

Ueber diese Erzählung schrieb mir Artzibaschew: Diese Geschichte stellt einen Bestandteil meiner Weltanschauung und eine Predigt meiner teuersten Ideen dar.

Es ist wahrhaft eine Predigt; – doch eine der Tat, nicht der Worte! So wie es die Weltanschauung der Tat ist, die Artzibaschew vertritt: die des individualistischen Anarchismus.


Artzibaschew ist Stirnerianer.

Nur als solcher betrachtet, ist seine besondere Stellung im russischen Geistesleben und die Richtung, in der sich sein künstlerisches Schaffen bewegen will, zu verstehen. Man hat ihm vorgeworfen, daß sein Ssanin nichts »Neues« gäbe – ein Abklatsch Nietzschescher Phrasen sei. Auf diesen besonderen Einwurf gibt Artzibaschew selbst in seiner Biographie die Antwort. Daß er aber versuchte, einen »Helden unserer Zeit« fast impressionistisch mit den Strichen und Strichelchen des Stirnerschen Menschen zu zeichnen, war für Rußland von besonderer Bedeutung, diesem Lande der altruistischen Unmöglichkeiten, welches Stirner kaum dem Namen nach kennt. Zwar existiert in Petersburg ein kleiner Kreis anarchistischer Individualisten, tritt aber kaum in einigen Referaten ans Tageslicht, es existieren drei Uebersetzungen des »Eigenen und sein Eigentum«, von denen nur eine lesbar ist, werden aber auch kaum gelesen – in Wirklichkeit hat Artzibaschew Stirner zum ersten Mal lebend gemacht. Er begnügte sich nicht, im Ssanin den gebräuchlichen, vorstellungsreifen Typus des unpolitischen, selbstzufriedenen Stirnerianers hinzustellen; im Schewyrjow ergänzt er ihn zu dem revolutionären, politisch kämpfenden Individualisten. Erst dadurch tritt die Weltanschauung Artzibaschews geschlossen heraus: Entweder volle Abstinenz von allen sozialen Problemen und freie Entfaltung der Persönlichkeit; – das ist Ssanin, oder Schewyrjows Anteilnahme am Tageskampf mit dem ganzen Einsatz der Energie und des Willens, d. h. mit Bombe und Revolver, protestierend und untergehend.


Vor einiger Zeit bat ich Artzibaschew, mir einiges über sein Leben mitzuteilen. Ich füge seinen Brief der Einleitung an, da ich glaube, daß sein Entwicklungsgang um so mehr allgemein interessieren wird, als sich in ihm ein Ausschnitt jungrussischer Literaturgeschichte wiederspiegelt.

André Villard.


Verehrter Herr Villard! Sie bitten mich um meine Lebensbeschreibung.

Ich gestehe, Ihre Bitte bringt mich ein wenig in Verlegenheit. Eine Autobiographie im wahren Sinne des Wortes ist, wie ich sehe, ein schwieriges und kompliziertes Werk. Für Menschen, die mit dem genügenden Maß Selbstüberhebung ausgerüstet sind, ist sie leicht; jede Kleinigkeit ihres Lebens scheint ihnen ein wichtiges Ereignis. Mir geht diese löbliche Eigenschaft ab; so bitte ich Sie, bevor ich an die Erfüllung Ihres Wunsches gehe, im voraus um Entschuldigung. Die wenigen Worte über mich, die ich Ihnen mitteilen kann, sind knapp und trocken. Ich halte mich an die übliche Schablone.

Ich bin im Jahre 1878 in einer kleinen Stadt Südrußlands geboren. Herkunft und Namen nach bin ich Tatar, doch kein echter, da in meinen Adern russisches, französisches, georgisches und polnisches Blut fließt. Uebrigens habe ich unter meinen Vorfahren einen, mit dem ich zufrieden bin: Das ist der bekannte polnische Insurgentenführer Kosciusko, mein Urgroßvater mütterlicherseits. Mein Vater war ein wenig wohlhabender Gutsbesitzer, Offizier a. D.; meine Mutter starb, als ich drei Jahre alt war, an Schwindsucht und hinterließ mir die Tuberkulose als Erbschaft. Ernstlich erkrankte ich erst vor zwei Jahren, aber auch vorher ließ mir die Tuberkulose keine Ruhe, indem sie sich in verschiedenen Krankheitsformen äußerte. Jetzt lebe ich in der Krim und lasse mich ohne besondere Hoffnung auf Heilung behandeln.

Ich habe ein Provinz-Gymnasium besucht; aber da ich von Kindheit an für die Malerei schwärmte, verließ ich es mit sechzehn Jahren und trat in eine Malschule ein. Es ging mir sehr ärmlich; ich mußte in schmutzigen Winkeln wohnen und hungern und was das Wichtigste ist: mir fehlte das Geld für die Hauptsache – für Farben und Leinwand. Maler zu werden war mir daher nicht beschieden; ich mußte, um etwas zu verdienen, Karikaturen zeichnen und für allerlei billige Zeitschriften kleine Aufsätze und humoristische Erzählungen schreiben.

Im Jahre 1901 habe ich ganz zufällig meine erste Erzählung geschrieben »Pascha Tumanow«. Im vorliegenden Novellenband. Auf dieses Thema hatte mich ein tatsächlicher Vorfall und mein eigener Haß gegen das veraltete Gymnasium gebracht. Ihr Deutsche, habt gar keinen Begriff davon, was das heißt, – ein russisches Gymnasium. Die endlose Reihe von Schülerselbstmorden, die bis auf den heutigen Tag nicht aufhören wollen, legt Zeugnis ab von seinem erzieherischen Wert für die russische Jugend. »Pascha Tumanow« war von einer der angesehensten russischen Revuen zur Veröffentlichung angenommen worden, konnte aber trotzdem nicht erscheinen, weil die damalige Zensur alle Aeußerungen, die das Leben der Lehranstalten nicht in rosigem Lichte zeigten, kategorisch verbot. So war es für die Erzählung unmöglich, rechtzeitig das Licht der Öffentlichkeit zu erblicken und sie erschien erst einige Jahre später in Buchform. Das ist übrigens, wie Sie sehen werden, das Schicksal vieler meiner Sachen. Trotzdem blieb diese Erzählung für mich nicht ohne günstige Wirkung; sie lenkte die Aufmerksamkeit der Redaktion auf mich und spornte mich zur weiteren Arbeit an. Ich entsagte dem Traum, Maler zu werden, und schwenkte ganz zur Literatur ab. Das war sehr schwer; auch heute noch kann ich Gemälde nicht ohne innere Erregung sehen; ich liebe Farben mehr als Worte.

»Pascha Tumanow« folgten noch zwei oder drei Erzählungen, die das Interesse des Herausgebers einer kleinen Revue, eines gewissen Miroljubow, erregten. Durch ihn entstanden meine ersten Beziehungen zu literarischen Kreisen. Bis dahin war ich nie auf Redaktionen gewesen, sondern hatte meine Erzählungen stets per Post eingeschickt. Es geschah, weil ich in der Literatur das Höchste, in den Redaktionen Tempel sah. Jetzt sind in Rußland andere Zeiten und andere Sitten; Reklame und Cliquenwirtschaft dominieren in der literarischen Welt. Miroljubows Name aber wird in der russischen Literaturgeschichte seinen Platz behaupten, obgleich er selbst nicht Schriftsteller war. Er war der letzte Mohikaner der alten, von Idealen durchdrungenen, opferfreudigen Literatur, die heutzutage bei uns genau so wie im Westen durch Geschäftsmacherei verdrängt worden ist. Seine kleine Zeitschrift, die nur einen Rubel pro Jahr kostete, wurde durch seine Energie, Klugheit, seine rührende Liebe zu seinem Werk und die wunderbare Faszinationsgabe seiner Persönlichkeit zu einer der angesehensten, und überragte damals in ihrer Bedeutung für die schöne Literatur alle anderen teueren und großen Revuen. Die bedeutendsten Vertreter unserer modernen Belletristik – Maxim Gorki, Leonid Andrejew, Kuprin u. a. – gaben ihre Beiträge der »Zeitschrift für Alle«. Jetzt ist sie untergegangen, sie mußte der Reaktion weichen, denn Miroljubow wollte auch in den Tagen des düstersten Zerfalls unserer Revolution nicht den Ton herabsetzen, wie es die anderen Alle getan haben. Miroljubow selbst mußte sich vor den Verfolgungen der Regierung ins Ausland flüchten.

Für mich persönlich hatte die Bekanntschaft mit Miroljubow die größte Bedeutung: ihm habe ich vieles in meiner Entwicklung als Schriftsteller zu danken; er hat mir auch den Weg dadurch geebnet, daß er mich zum zweiten Redakteur seiner Zeitschrift machte, obgleich ich damals noch völlig unbekannt und sehr jung war. Miroljubow war der geborene Redakteur und lehrte auch mich diese Tätigkeit lieben. An ihr hielt ich auch nach Untergang seiner Revue fest, bald diese, bald jene Zeitschrift redigierend; ich rechne es mir als ein großes Verdienst an, sehr vielen von den jungen Schriftstellern, die jetzt bei uns bekannt werden, den Weg geöffnet zu haben.

In dieser Zeit, d. i. im Jahre 1903, schrieb ich den »Ssanin«. Diese Tatsache wird von der russischen Kritik geflissentlich verschwiegen; dem Publikum wird vielmehr eingeredet, daß »Ssanin« einen Ausfluß der Reaktion des Jahres 1907 darstelle und daß ich den modischen Strömungen der zeitgenössischen russischen Literatur nachgegangen sei. In Wirklichkeit aber war der Roman schon 1903 von den Redaktionen zweier Revuen und von vielen namhaften Schriftstellern gelesen worden. Daß er damals nicht veröffentlicht wurde, habe ich wiederum der Zensur und der Schüchternheit der Verleger zu danken. Interessant ist die Tatsache, daß der Roman wegen seiner Ideen von der Redaktion derselben Monatsschrift »Ssowremjonny Mios« abgelehnt wurde, die ihn sich einige Jahre später von mir zur Veröffentlichung ausbat. Auf diese Weise verspätete sich »Ssanin« um fünf Jahre. Für ihn wieder ein großer Schaden: bei seinem Erscheinen war die Literatur durch eine ganze Flut von pornographischen und sogar homosexuellen Schmutzwerken überschwemmt und dieser Schmutz spritzte auch auf meinen Roman.

Die Jugend begrüßte den Roman mit ungeheurem Interesse, die Kritik protestierte vielfach dagegen. Teils mag das durch den Ideengang des Romanes erklärt werden: eine große Rolle spielte aber sicher der Umstand, daß ich unseren literarischen Nachwuchs protegierte und mich gleichzeitig von den »kommandierenden Generälen der Literatur« fernhielt, so daß ich mich allmählich in Opposition zu allen einflußreichen literarischen Kreisen stellte. Ich bin ein überzeugter Realist, Anhänger der Schule Tolstois und Dostojewskis, während in Rußland in dieser Zeit die sogen. Dekadenten, die mir tief fremd und sogar widerlich sind, die Oberhand gewannen.

Später als den »Ssanin«, aber vor seiner Veröffentlichung, d. h. im Jahre 1904, habe ich eine Reihe von Erzählungen, wie »Fähnrich Gololobow«, »Der Wahnsinnige«, »Die Frau«, »Der Tod des Iwan Lande« Im Novellenband »Millionen«. geschrieben. Die letztgenannte Novelle brachte mir das, was man Berühmtheit nennt.

Im Jahre 1905 setzte die blutige Revolution ein und lenkte mich für lange Zeit von dem ab, was ich für das »Meine« halte, – der Predigt des anarchistischen Individualismus. Ich habe eine Reihe Sachen geschrieben, die die Psychologie und die Typen der Revolution behandeln. Die liebsten von ihnen sind mir »Morgenschatten« und »Der Blutfleck« Im vorliegenden Bande..

Ich muß bemerken, daß ich auch in diesen »Revolutionsgeschichten« das sagte, was ich für meinen Glauben halte, und deshalb von rechts wie links angegriffen wurde: während die Schwarzen Banden mich zu den geistigen Urhebern der Revolution zählten und eine mich sogar zum Tode verurteilte, griff mich die fortschrittliche Presse an, weil ich keine durch die Partei gestellten Schranken anerkennen und in den revolutionären Politikern keine Götzen erblicken wollte. Die späteren Ereignisse haben gezeigt, daß ich vielfach recht hatte, wenn ich es bei aller Begeisterung für die Sache der Freiheit dennoch nicht für angebracht hielt, in allen Führern der Bewegung Heilige zu sehen und an die revolutionäre Bereitschaft des Volkes zu glauben.

In dieser Zeit verfielen mehrere meiner Sachen, die zu Agitationszwecken geschrieben wurden, der Konfiskation, ich selber wurde unter Anklage gestellt, aber der zeitweilige Erfolg der Revolution Ende 1905 rettete mich vor der Strafe.

Dann erlosch die Revolution. Die Gesellschaft stürzte sich auf die Literatur, die quantitativ, wenn auch nicht qualitativ einen nie dagewesenen Aufschwung erlebte. Die Redaktion der Monatsrevue, die meinen Roman schon einmal abgelehnt hatte, erinnerte sich an ihn und brachte den »Ssanin« an die Oeffentlichkeit. Er hat bei uns eine fast beispiellose Spaltung in der Gesellschaft hervorgerufen, die an die Geschichten von Turgenjews »Väter und Söhne« erinnert: Die einen loben den Roman weit mehr, als er es verdient, die anderen brüllen von Verleumdung der Jugend. Ich darf aber ohne Uebertreibung behaupten, daß sich niemand in Rußland der Mühe, die Ideen des Romans richtig zu erfassen, unterzogen hat. Die Lobpreisungen wie die Tadelsurteile sind gleich einseitig.

Falls es Sie interessiert zu wissen, wie ich selbst über den »Ssanin« denke, will ich Ihnen sagen, daß ich ihn weder für einen Sittenroman, noch für eine Schmähschrift auf die Jugend halte. »Ssanin« ist die Apologie des Individualismus; der Held des Romans – ein Typus. In seiner reinen Form ist dieser Typus noch neu und selten, aber sein Geist lebt in jedem frischeren, kühnen und starken Vertreter des neuen Rußlands. Eine Masse von Nachahmern, die meine Ideen nicht erfaßt haben, beeilten sich, den Erfolg des Ssanin für ihre Zwecke auszubeuten; sie haben mir viel geschadet, indem sie die Literatur mit pornographischen, bewußt unzüchtigen Schriften überfluteten und in den Augen der Leser das trivialisierten, was ich im »Ssanin« zum Ausdruck kommen lassen wollte.

Die Kritik reihte mich hartnäckig in die Menge der am »Ssanin« klebenden »Kleinen« ein, die die »gangbare Ware« voll allerhand Entblößung und Widerwärtigkeit auf den Markt brachte. Und erst in der letzten Zeit, als »Ssanin« die Grenzen überschritten hatte und in Deutschland, Frankreich, Italien, England, Böhmen, Bulgarien, Ungarn, Dänemark und teilweise in Japan übersetzt erschienen war, ertönten in der Kritik andere Stimmen. Die ewige russische Kriecherei vor dem Auslande!

Was noch?

Ja. Meine Entwicklung war sehr stark von Tolstoi beeinflußt, obgleich ich nie seine Ansichten über das »dem Uebel nicht widerstreben sollen« geteilt habe. Er überwältigte mich nur als Künstler, und es war mir schwer, seinem Einfluß auf die Form meiner Werke zu entgehen. Fast die gleiche Rolle spielten für mich Dostojewski und zum Teil Tschechow. Victor Hugo und Goethe standen mir ebenfalls stets vor Augen. Diese fünf Namen sind die Namen meiner Lehrer und meiner literarischen Meister.

Es wurde bei uns viel davon geschrieben, daß ich unter Nietzsches Einfluß stände. Das kam mir sonderbar vor, aus dem einfachen Grunde, weil ich Nietzsche nicht gelesen habe. Dieser glänzende Denker ist mir sowohl den Ideen wie auch der hochtrabenden Form seiner Werke nach fremd und ich bin in seinen Büchern nie über den Anfang hinaus gekommen. Viel näher und verständlicher ist mir Max Stirner.

Das ist alles, was ich Ihnen über mich mitteilen kann. Verzeihen Sie, wenn es Ihnen zu wenig ist. Aber eine echte Autobiographie ist eine Beichte und dazu ist jetzt nicht die rechte Zeit. Allein private Einzelfälle meines Lebens ausführlicher aufzuzählen, habe ich weder Lust noch Muße.

Ich kann mich nicht genau erinnern, glaube aber, daß Sie mich um mein Bild baten. Ich schicke Ihnen die Photographie, die mir nach Meinung meiner Freunde am ähnlichsten sieht.

Ich bitte Sie sehr, mir mitzuteilen, ob Sie von diesen Aufzeichnungen, sowie von meinem Bilde Gebrauch machen wollen. Es interessiert mich sehr: Wir Russen sind unserer Natur nach sehr neugierig!

Ich drücke Ihre Hand

M. Artzibaschew.




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