Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel.

Ungefähr um vier Uhr am selben Nachmittag empfing Herr Benham einen Besucher.

Mein Name, begann er ohne Vorrede irgend welcher Art, ist Draper aus der Great Queen Street, und – er zeigte eine Nummer des »Daily Telegraph« vor – ich glaube etwas hierüber zu wissen. Und er zeigte auf Herrn Benhams Aufruf. Aber zuallererst möchte ich fragen, ob das Kästchen gestohlen wurde?

Ja, sagte Herr Benham.

Würde, im Falle, daß es gekauft oder in reeller Weise Geld darauf geliehen wurde, die Person, die das tat, verantwortlich sein?

Ueber diesen Punkt kann ich Sie gleich beruhigen, entgegnete der Anwalt lächelnd, die Person würde ohne Verantwortung sein, wir wünschen nichts weiter, als es wieder in Besitz zu bekommen.

In diesem Falle, fuhr Herr Draper fort, kann ich Ihnen vielleicht helfen; er zog einen Auktionskatalog aus der Tasche, und nachdem er die Seiten durchgeblättert hatte, sagte er: vor etwa fünf oder sechs Jahren lieh ich zehn Pfund auf ein Kästchen dieser Beschreibung, nachher wurde es von mir zu Debenham geschickt, um mit andern uneingelösten Pfändern verkauft zu werden. Sie sehen, ich habe den Gegenstand hier in diesem Katalog vermerkt.

Und er reichte ihn Herrn Benham. Hiermit als Leitfaden könnten Debenhams Leute, sollte ich meinen, es Ihnen leicht auffinden helfen.

In diesem Augenblick wurde Hubert Darrell angemeldet.

Lassen Sie ihn sofort hereinkommen, sagte Herr Benham. Dies, Herr Draper, fuhr er fort, als Hubert eingetreten war, ist Herr Darrell, der Eigentümer des verlorenen Kästchens, und er erklärte zugleich die Umstände des Falles, soweit er es für nötig hielt.

Herr Draper bat sofort, ihn recht verstehen zu wollen: er jage keiner Belohnung nach, sondern wolle, wie es wohl nur natürlich sei, nur gern die Grenzen seiner Verantwortlichkeit – wenn eine vorhanden sei – in der Sache kennen. Er würde auch froh sein, zu erfahren, ob die Auskunft, die er gern in ihren Dienst stellte, zu irgend einem Resultat führte. Damit ging er, indem er auch ihren Dank als etwas ganz Unnötiges ablehnte.

Das sieht sehr verheißend aus, sagte Herr Benham, und da Sie ja viel Zeit haben, so möchte ich raten, daß Sie diesen Katalog nehmen, Ihren Freund, den Advokaten im Temple, aufsuchen, und daß Sie beide sofort zu Debenham gehen.

Als Ergebnis dieses Ratschlags verhandelten Hubert und Jimmie Selhurst kurz darauf mit jemand von den Leitern des großen Etablissements in der Garrickstreet.

Der Katalog ergab sogleich die gewünschte Spur.

Eine ganz kurze Durchsuchung der Bücher ergab die Tatsache, daß »Los 537, ein antikes getriebenes Silberkästchen mit Emailverzierungen« von einem gewissen Herrn Bookmiddle gekauft worden sei.

Kennen Sie ihn? fragte Jimmie Selhurst.

Ja, vom Sehen; er kommt zu sehr vielen unserer Verkäufe, ist ein etwas exzentrischer kleiner Mann, der alle Arten von Seltenheiten und Kuriositäten aufspürt. Ich meine auch, er ist der Mann, der kürzlich die berühmte Spekulation in großen Alkeiern machte.

Das scheint ja ein ganz berühmter Mann zu sein, sagte Jimmie Selhurst, als sie wieder auf der Straße waren. Ich glaube, es wird uns gelingen, das Kästchen zu erjagen. Ich denke, wir gehen nach der Kaserne in Albany Street hinauf und graben Ogilvie aus – er ist heut im Dienst, wie ich zufällig weiß.

So stiegen sie denn in eine Droschke, die pfeilgeschwind in der Richtung nach Regents Park davonschoß.

Die Schildwache am Kasernentor meinte, Rittmeister Ogilvie sei in seinem Zimmer, und ein dienstfreier Kavallerist zeigte ihnen den Weg.

Ah, ihr Jungens! Nun, was gibt's Neues? sagte Sir Harry, als sie in seine Behausung eintraten.

Ja, sagte Jimmie. Wir sind dem verlorenen Kästchen nun endlich auf der Spur. Und er erzählte alle Einzelheiten ihres Streifzugs.

»Große Alkeier!« rief Sir Harry aus. Ei, zum heiligen Donnerwetter! Die Bude mit den großen Alkeiern ist ja grade hier um die Ecke. Wißt ihr das nicht? Eine der bescheideneren Kuriositäten Londons. Aber eine wunderbare Bude! Ich habe nie etwas Aehnliches gesehen.

Was für ein Sündenpfuhl ist es denn? fragte Jimmie Selhurst.

Nun, 'ne Kneipe ist es freilich, aber eine, wie du sie nie gesehen hast. Setzt eure Hüte auf, wir gehen hin, trinken einen Brandy mit Soda und sehen uns alles an. Wahrscheinlich werden wir dein Kästchen zwischen Schlangen und Medaillen, römischen Töpferwaren und braunen Seewölfen und großen Alkeiern und Schmetterlingen und Keilschriftziegeln und Bartolozzischen Kupferstichen und –

Hör' auf, sagte Jimmie, das reicht für jetzt. Laß uns auf alle Fälle das Ding ansehen.

Es ist nicht einen Steinwurf weit von hier entfernt, sagte Sir Harry, als sie aus dem Tore heraus waren. Grade um die Ecke herum, am York und Albany vorbei und wird das Schloß Dingsda – ja richtig, das Schloß Edinburgh genannt. Ein paar Augenblicke später traten sie in die Gastwirtschaft, und, der Wahrheit die Ehre, sie war einzig in ihrer Art.

Ein kleiner Mann in Hemdärmeln und Schlapphut stand hinter dem Schenktisch der Bar, deren Wände mit Oelmalereien bedeckt waren.

Das ist der Bursche, flüsterte Sir Harry, laut aber sagte er: Bitte, drei Brandys und Soda. Als er bedient war, fügte er hinzu: Meine Freunde hier haben von Ihren großen Alkeiern und Ihrem Museum gehört. Sie möchten sich ein bißchen alles ansehen.

Der kleine Mann antwortete freundlich: Gewiß, meine Herren. Wenn Sie mit Ihrem Getränk zu Ende sind, so gehen Sie herum bis an die andre Tür. Es soll mich freuen, Ihnen das Museum zeigen zu können.

Nun, sagte Jimmie Selhurst ein paar Minuten später, ich habe einige kuriose Dinge in London gesehen, aber dies ist das Verdrehteste.

Es waren hier die Ideen zu vielen verschiedenen Museen unordentlich zusammengewürfelt, ein Amerikaner reiferen Alters hätte es eine Taschenausgabe von Barnums erstem berühmten New-Yorker Etablissement genannt; das Abgeschmackte Seite an Seite mit dem ganz Hervorragenden. Ein Mann aus dem 15. Jahrhundert in eingelegter Rüstung hält ohne Aufhören Wache über eine ungeheure Schlange in Spiritus. Seltene gothische Buchausgaben stoßen an des Giftmischers Palmers letzten gefälschten Tausendpfundwechsel, den er auf seine Mutter zog. Eine glänzende Sammlung von Medaillen und Münzen dicht neben Mumbo Jumbo aus dem dunkelsten Afrika. Seltene alte Waffen, Hellebarden, Keulen, Partisanen, Hakenbüchsen, Feldschlangen – und der Himmel mag wissen, was noch alles – in der sonderbarsten Gesellschaft von Schmetterlingen und Nistvögeln. Römische Krüge und Schüsseln, griechische Vasen Seite an Seite mit schwarzen Jacken und Cromwells Lederhut. Bronzen aus Benin und Reliquien von Gordon und Haydns Flöte in seltsamer Gesellschaft von Versteinerungen und Muscheln und Stückchen von Spat und japanischem Elfenbein. Große Alkeier im Werte von 300 Pfund das Stück, ein massives Silberservice Lord Nelsons, seine goldenen Knieschnallen; Koloradokäfer, Malereien, Radierungen, Tuschzeichnungen, seltene alte Theaterzettel und Zeitungen, Medaillons, Emaillen, Kameen, Gemmen, und wer weiß was nicht noch. Eine seltene, ungleichartige Sammlung mit dem Kaiser Konstantin in Marmor, der von seinem hohen Postament auf die sonderbare Gesellschaft unter ihm herabsah und sich, wie die Fliege im Bernstein, darüber wunderte, wie, zum Henker, er hierher gekommen war, sich aber damit ausgesöhnt hatte, wie er ja auch nicht gut anders konnte.

Komische Bude, was? Aber das Kästchen sehe ich nirgendwo, sagte Sir Harry, der in jedem Winkel und jeder Ecke des seltsamen Ortes herumgestöbert hatte.

Ich auch nicht, sagte Hubert. Meinst du nicht, daß man lieber danach fragen sollte?

Gut. Hören Sie mal, Herr Brookmiddle, haben Sie vielleicht so ein Ding wie ein silbernes Kästchen in Ihrer Sammlung? Mein Freund hier verlor eins vor mehreren Jahren – oder vielmehr, es wurde ihm gestohlen – und er bezahlt gern 50 Pfund für seine Wiedererlangung.

Der kleine Mann dachte nach.

Ein silbernes Kästchen – ich muß mal nachdenken; ich habe so eine Art von Erinnerung. Aber, sehen Sie, ich habe so entsetzlich viel Gegenstände und nicht die Hälfte davon hier. Ist kein Raum dazu; in der Weise bin ich so schlecht daran, wie das Britische Museum. Wollen Sie heraufkommen, meine Herren?

Das taten sie und fanden, daß alles, auch Dachstuben und Dach, Museum war. Der Wirt ließ sie ein paar Minuten allein in einem Saal, der stark nach einem eben stattgehabten Rauchkonzert roch, und kehrte dann mit einer Silberschachtel zurück.

Ist dies die gesuchte, meine Herren? Ich hatte sie aus Versehen auf einen Kredenzschrank gestellt und fast ganz vergessen.

Da kein Zweifel an der Identität schien, weil der Buchstabe N und die Kaiserkrone deutlich genug auf dem Deckel zu sehen waren, sagte Hubert sofort:

Ja, das ist sie.

Gut, sagte Sir Harry und zeigte seine Karte vor. Wollen Sie so freundlich sein, Herr Brookmiddle, und 50 Pfund für diese Schachtel annehmen?

Herr Brookmiddle, der 12 Pfund dafür an Debenham bezahlt hatte, wie die Notiz im Katalog klarlegte, tat, als ob er zögerte.

Ja, natürlich, Herr, sagte er dann, es ist ja ein seltenes Kunstwerk, wie ich schon sagte, aber natürlich tue ich Ihnen gern einen Gefallen, und so mache ich es.

Sir Harry brachte sofort eine Fünfzigpfundnote zum Vorschein.

Ich lege es für dich aus, Darrell, sagte er, und eine Viertelstunde später, als das Geschäft beendet war, prüften die drei in der Sicherheit des Privatzimmers in der Kaserne den Kauf. Es war ein schönes Meisterstück der Silberschmiedearbeit, fast eines Cellini würdig, und mit gepolsterter blauer Seide gefüttert; aber es enthielt nichts, und kein Zeichen deutete auf irgend welches Geheimnis hin.

Kann es wohl das Kästchen sein, das du suchtest? fragte Sir Harry.

Ich weiß es nicht. Ich sah es niemals, sagte Hubert.

Wer hat es denn gesehen und kann es wiedererkennen?

Ein rascher Gedanke blitzte durch Huberts Hirn.

Nun, Simpson natürlich, unser alter Haushofmeister.

Ist er immer noch in der Upper Wimpole Street?

Ja.

Gut, ich werde meinen Burschen in einer Droschke hinschicken und ihn gleich mitbringen lassen.

Als Simpson bald darauf ins Zimmer trat, fielen seine Augen sogleich auf das Kästchen.

Also haben Sie es wirklich gefunden, Herr Darrell? sagte er. Ach, ich bin so froh darüber, Herr.

Erkennen Sie es wieder? Sind Sie sicher, daß es das richtige ist?

Sicher, Herr? So sicher, wie ich Sie da stehen sehe!

Gut denn, ich danke Ihnen vielmals, Simpson. Und der alte Mann ging mit einem Goldstück als Belohnung ab.

Natürlich ist es das richtige, sagte Jimmie Selhurst. Das ist eine verteufelte Schachtel, verlaßt euch darauf. Sollen wir sie vielleicht auseinandernehmen?

Einverstanden, antwortete Hubert, aber nichts daran verderben.

Jimmie führte vorsichtig sein Messer ein und hob ein kleines gepolstertes Seidenkissen auf. Dann fuhr er mit seinem Finger vorsichtig über den Boden, und dieser sprang auf.

Ha! sagte er, das dachte ich mir. Und damit händigte er Hubert einige eng zusammengefaltete und an ihn adressierte Papiere ein, die, wie er sofort erkannte, seiner Mutter Handschrift trugen.

Sie sahen einander stillschweigend an, und Hubert öffnete mit wildklopfendem Herzen das erste der Papiere und begann zu lesen.

Plötzlich entfuhr ein Schrei des Schreckens seinen Lippen; er fuhr mit aschfahlem Gesicht empor, das Papier eng in der Faust zusammengeballt, und schwankte auf und ab wie ein Trunkener.

Mein Gott! sagte Sir Harry, so habe ich ihn schon einmal gesehen. Bringt etwas Kognak dort vom Tisch, während ich ihn aufrecht halte, und indem er Huberts schwankende Gestalt stützte, sagte er zu ihm: Komm, komm, alter Junge, du hast deine alten Nerven noch nicht wieder. Hoch! Kopf hoch, und gieß diesen Kognak hinunter!

Hubert richtete sich mit mächtiger Kraftanstrengung auf, trank ihn aus, reichte dann Sir Harry den zerknüllten Brief und sagte:

Lies es laut –. Dann sank er schwer in einen Stuhl.

Soll ich? fragte Sir Harry.

Ja, du mußt, dann wirst du alles verstehen. Oh mein Gott, mein Gott!

Und er vergrub sein Gesicht in den Händen, sah aber einen Augenblick später wieder auf und sagte ungeduldig:

Warum tust du denn nicht, was ich will?

Gut also, sagte Sir Harry und fing an zu lesen:

Mein geliebtester Sohn!

Ich schreibe dies, um mich in Deinen Augen zu rechtfertigen, falls die Gelegenheit kommen und es nötig machen sollte, und auch deshalb, damit Du, wenn Du älter wirst, Schritte (die Dir Dein Verstand eingeben wird) tun kannst, um Deine zu fordernden Rechte von Deinem Vater zu erlangen.

Mein Stolz verbietet mir, irgend etwas von ihm zu verlangen. Es ist viel Zeit seitdem vergangen. Er wollte mein Wort nicht annehmen, und nun verschmähe ich es, ihm Beweise beizubringen, daß ich nur die lautere Wahrheit sprach. Meine Rechtfertigung lege ich darum in Deine Hände, damit Du sie gebrauchen kannst, wie Du für gut hältst. Ich will mich bemühen, Dir alles, was zu sagen ist, so kurz wie möglich zu sagen:

Von meiner früheren Laufbahn habe ich Dir nie erzählt. Sie war glänzend, solange sie dauerte; aber sie dauerte nicht lange. Sie ist jetzt nur noch eine Erinnerung für mich, der ich kaum nachtrauere. Ich bin mit allen Dingen zu Ende.

Es war nur natürlich, meine ich, daß ich viele Bewunderer gehabt habe. Sie kamen und gingen mit leeren Händen, aber mein böser Geist verführte mich zuletzt, den charakterlosesten Schurken, der jemals lebte, zu erwählen.

Am 15. September 1867 wurde ich in der Kirche von Wiscombe in aller Stille mit Sir John Selhurst verheiratet.

Sir Harry legte den Brief nieder und tauschte einen Blick der Bestürzung mit Jimmie aus.

Ja, stöhnte Hubert, so ist es. Geht damit nicht die letzte Hoffnung dahin? Was kann ich weiter tun, als meinem erbärmlichen Leben ein Ende machen?

Na, na! sagte Jimmie Selhurst, dessen Auge in jenem Moment auf einer Stelle des Briefes, den er hastig vom Tisch nahm, geruht hatte. Ihr seid alle beide Schafsköpfe! Du möchtest dich ums Leben bringen? Höre einmal zu, was nun folgt. Und er las:

Aber dank dem Himmel erkannte ich zur rechten Zeit seine Bosheit, und er war nie, auch nur im entferntesten Sinne, mein Gatte.

Da hast du's! sagte Jimmie. Ihr Soldaten seid alle so verteufelt ungestüm. Bitte, laß mich diesen Brief lesen. Aber erst diesen Kognak hinunter. Er wird dir wenigstens ein bißchen Farbe auf die Wangen bringen; denn ich für mein Teil hasse es, Familiendokumente einem Kadaver vorzulesen.

Hubert gehorchte, und ein geisterhaftes Lächeln flackerte über sein Gesicht.

Wir wollen jetzt auf ein bißchen Sonnenschein hoffen, sagte er. Es kann nicht schwärzer kommen, die tiefste Tiefe habe ich erreicht.

Da hast du recht, sagte Jimmie, dessen Augen die geschriebene Seite überflogen hatten. Es ist besser, als ich dachte. Kopf hoch, alter Geselle! Und er fing wieder an zu lesen:

Er war nicht einmal dem Namen nach mein Gatte, wie Du gleich sehen wirst.

Na, was sagst du dazu, du Selbstmordkandidat?

Wir drei, Sir John (damals war er aber noch kein Baronet), mein Kammermädchen Barbara Selcombe und ich, fuhren am selben Abend nach Paris ab. Wir kamen morgens dort an und fuhren nach dem Hotel Mirabeau. Während Sir John im Bureau zu tun hatte, ging ich in ein kleines Zimmer, das auf den Hof hinausging. Es folgte mir ein junger Mann, der in ausgezeichnetem Englisch mir zuflüsterte: »Ist es wahr, daß Sie mit Herrn Selhurst verheiratet sind?« Ich erwiderte, daß dem so wäre, und er fuhr fort: »Das fürchtete ich. Er hat eine Frau, die in Paris lebt, ich kann das beweisen. Ich stehe mit der Detektivpolizei hier in Verbindung und werde Ihnen für die nächsten zwei Stunden auf der Präfektur zur Verfügung stehen.« Damit verschwand er, indem er eine Visitenkarte in meine Hand gleiten ließ.

Ich sah die Karte an und las darauf den Namen Richard Le Noir.

Einen Augenblick lang war ich völlig bestürzt, aber ich erlangte meine Selbstbeherrschung wieder, ehe Sir John eintrat. Ich sagte zu ihm:

»Ich bekam eben ein Billett von Madame Bartet, Boulevard Poissonnière, die eine alte Opernkollegin von mir ist und mich gleich sehen möchte. Ich muß fort. Läßt du mir, bitte, eine Droschke holen?

Er schien überrascht, sagte aber doch: »Natürlich!« Er befahl meinem Kammermädchen, mich zu begleiten, und half uns beiden einen Augenblick später in den Wagen. Ich habe ihn seitdem nie wiedergesehen.

Beim Himmel! sagte Jimmie, da steckt ein bißchen Romantik drin; und du solltest dein einfältiges altes Gehirn auf Ogilvies Teppich verspritzen?

Um Himmels willen, weiter, weiter! drängte Hubert ungeduldig.

Jimmie rückte sein Augenglas zurecht und fuhr fort:

Nun, ich war noch nicht sehr weit gefahren, als ich Herrn Le Noir den Boulevard entlangschlendern sah. Er lüftete den Hut, und ich ließ den Wagen halten. »Kommen Sie,« sagte ich, »in einer halben Stunde nach Boulevard Poissonnière Nummer 40, ins Entresol. Fragen Sie nach Madame Bartet.« »Ich werde dort sein,« antwortete er, »und Sie werden mir verzeihen, daß ich Sie im Hotel anredete. Ich kannte Sie gut. Wer in Paris kennt nicht die große Primadonna?« Und er nannte mich bei meinem Theaternamen.

Madame Bartet war wie vom Donner gerührt, als ich ihr den Zweck meines Besuches sagte, sie befahl sofort ihren Wagen, um nötigenfalls schnell bereit sein zu können. Pünktlich in einer halben Stunde kam Herr Le Noir an. Er war ein sehr junger Mann, schien aber sehr scharfsinnig zu sein, und sein Englisch war erstaunlich gut.

Er erklärte, daß er zufällig am Tage vorher im Hotel Mirabeau jemand hätte sagen hören, daß Herr Selhurst und seine junge Frau am folgenden Morgen erwartet würden und daß sie auf der Hochzeitsreise wären. »Das machte mich stutzig,« sagte er, »denn ich wußte, daß Herr Selhurst vor zwei Jahren Marguerite Duclos vom Odeontheater geheiratet hatte – Sie erinnern sich wohl ihrer?«

»Sehr gut,« sagte ich. »Sie war eine berühmte Schauspielerin und gehörte, glaube ich, einer sehr guten Familie an.«

»Nun,« sagte er, »sie ist jetzt in einem Privatirrenhaus in St. Mandé. Sie waren im geheimen vor dem englischen Konsulat in Havre verheiratet worden, und nur die Angehörigen ihrer eignen Familie wußten davon. Ich kann Sie sofort zu ihr führen, falls Sie es wünschen.«

Madame Bartets Wagen wartete unten, und wir – das heißt Madame Bartet selbst, Herr Le Noir, Barbara, mein Mädchen (die ich als Zeugin alles Vorkommenden wünschte), und ich – fuhren nach St. Mandé. Was Herr Le Noir mir gesagt hatte, war vollkommen wahr. Ich erkannte sofort die Frau wieder – eine sehr schöne Frau – und sah mit meinen eignen Augen das Register, in dem ihr Name als Marguerite Selhurst, geborene Duclos eingetragen war.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit Madame Bartet, die ich bat, mein Gepäck nachzusenden, und am selben Abend fuhr ich mit Barbara nach London ab. Wie ich schon sagte, habe ich von diesem Tage an bis heute Sir John Selhurst niemals wiedergesehen. Ich hoffe, mein Sohn, daß er Deine Pfade niemals kreuzen wird, denn einen Schurken von schwärzerem Herzen, als er, gab es nie, und ich fühle es deutlich, daß er mit seinen Rachegefühlen gegen mich zehntausend Meilen weit reisen würde, um ein Kind von mir tödlich zu kränken, falls er es könnte.

Hubert stöhnte.

Das hat er getan, das hat er getan, der Hund! Ach, meine arme Kitty!

Mut! sagte Sir Harry; es ist eine verteufelt unglückselige Sache, natürlich, aber es kommen schlimmere Dinge vor. Diese französische Schauspielerin kann noch am Leben sein, und wer ist dann Lady Selhurst? Siehst du!

Ja, sagte Hubert, daran hatte ich auch gedacht; aber wieviele Jahre sind seitdem dahingegangen? Ei, bester Freund! all dies passierte, ehe ich geboren wurde. Die Frau ist zweifellos seit Jahren und abermals Jahren tot und begraben.

Ja, es ist möglich; aber – –

Höre, ich will mich nicht an einen so dünnen Strohhalm klammern! Fahr fort, Jimmie, laß uns das Ende hören. Ich muß wissen, was für eine Rolle mein Vater in dieser Tragödie gespielt hat.

Jimmie fuhr fort:

Nun, ich wurde dann sehr krank und verlor noch dazu meine Stimme. Meine Theaterlaufbahn war zu Ende, und ich schien mich kaum darum zu kümmern. Zwei Jahre lang führte ich ein zurückgezogenes Landleben, und da traf ich Deinen Vater. Bald danach bat er mich um meine Hand. Warum ich einwilligte, weiß ich nicht. Ich war einsam und unglücklich, und er schien liebenswert, und – nur Gott weiß, warum Frauen solche Dinge tun – die Frauen selbst können es nicht erklären. Natürlich mußte ich, wieder echt weiblich, die Tatsache meiner früheren Heirat vor ihm verbergen. Aber, dachte ich, was hat's für einen Zweck? Ich war ja nie verheiratet. Es war eine leere Formalität mit dem Gatten einer andern Frau an mir vollzogen worden, das war alles. Warum sollte ich gestehen, daß ich derart gedemütigt und beschimpft worden war, daß ich um ein Haar breit zur Maitresse eines Schurken herabgesunken wäre? Ich sah keine Sünde darin, etwas zu verschweigen, was Deinem Vater nie Leid bereiten konnte.

Nun, grade nach Deiner Geburt, erfuhr er durch den herkömmlichen Zufall davon. Seitdem behauptete er, ich sei nicht sein Weib, weil Sir John noch lebe, und mit seiner beleidigten Würde und seinen unbeugsamen Moralprinzipien konnte er ein Zusammenleben mit mir nicht mehr ertragen.

Vergeblich erklärte ich ihm die Umstände. Er wollte nicht hören. Er verlangte sofort Beweise, daß ich der Bigamie unschuldig sei. Beweise schüttelt man nicht aus dem Aermel, wie Du wissen wirst. Barbara, mein Mädchen, war verheiratet und lebte in Neuseeland. Ich ging nach Paris und hörte, daß Madame Bartet als »Star« nach Südamerika gegangen, daß Herr Le Noir in Rußland war. In der Petite Maison in St. Mandé wurde ich vergewissert, daß Madame Selhurst von ihrem Gatten fortgebracht worden sei und daß man von ihrem Aufenthalt nicht die allergeringste Kenntnis hätte.

Daraufhin kehrte ich nach London zurück und machte einen letzten Appell an Deinen Vater. Ich könnte ebensogut die Felsen von Gibraltar angerufen haben. Dann beschloß ich, mich nicht mehr darum zu bemühen. Er willigte ein, unter gewissen Bedingungen getrennt zu leben. Er ließ mich Haus und Mobiliar in der Upper Wimpole Street benutzen, dazu gab er mir ein sicheres Einkommen von 1000 Pfund jährlich, wovon ich Deinen Unterhalt und Deine Erziehung bestreiten sollte.

Ich habe ihn nie wiedergesehen, seit in Herrn Benhams Bureau dieser Vertrag unterzeichnet wurde; hierbei will ich noch erwähnen, daß ich einen gütigeren, gefälligeren und sympathischeren Freund als Herrn Benham niemals auf dieser Welt gefunden habe.

Jimmie sah auf.

Alter Junge, ist das nicht prächtig?

Weiter, weiter, sagte Sir Harry, der heiße Tränen Huberts Wangen hinunterrinnen sah. Wir wissen alle, daß Benham ein famoser Mensch ist. Wir können ihm das morgen auch noch sagen. Laß uns jetzt das Ende hören.

Jimmie fühlte einige Gewissensbisse, als er Huberts nasse Wangen sah, und fuhr in gedämpfterem Tone fort:

Ich halte es jedoch für meine Pflicht, mein liebes Kind, Dich mit allen Tatsachen, die meine traurige Geschichte betreffen, bekannt zu machen, und habe nun auch für alles reichliche Beweise zur Hand, dank vor allem der außerordentlichen Güte des Herrn Le Noir, dem Du, falls Du ihn je treffen solltest, bitte, meinen tiefstgefühlten Dank aussprechen mußt. Ich fand Barbaras Wohnort auf Neuseeland heraus, und ihr beschworenes Zeugnis schließe ich hiermit – mit andern amtlichen Dokumenten, die ich von Herrn Le Noir empfing – in ein Kästchen ein, das mir der Kaiser und die Kaiserin gaben, als ich war, was ich, ach! – nicht mehr bin. Das Kästchen enthielt ein prächtiges weiß und blaues Diamantenhalsband, das eines Tages das Deine sein wird.

Ich lege die Sache ganz in Deine Hände, Du kannst die Schritte, die Du für geeignet hältst, unternehmen, um meinen guten Namen zu rächen, auf dem weder Flecken noch Makel ist, und um Deine Ansprüche an einen Vater rechtsgültig zu machen, der das Glück, das er hätte mit mir teilen sollen, nicht verdient: einen so guten Sohn zu besitzen, wie Du es bist. Möge Gott Dich stets segnen und beschützen, mein teuerstes Kind, das ist das inbrünstigste Gebet

Deiner Dich stets liebenden
Mutter.

Jimmie, der sich bemüht hatte, mit fester Stimme zu beenden, stand auf und sah aus dem Fenster hinaus auf den Kasernenhof. Sir Harry murmelte etwas von »Zigarren« und verschwand in eine entgegengesetzte Zimmerecke, wo ein Büfett stand. Hubert saß in seinem Stuhle, den Kopf auf seine starke breite Brust geneigt. Alle drei verharrten eine Zeitlang in Stillschweigen. Dann kehrte Jimmie zum Tische zurück und sagte:

Hier sind noch andre Dokumente. Ich meine, wir müssen die ebensogut durchsehen.

Das brach die Spannung.

Hubert raffte sich zusammen, und Sir Harry kam mit seinen Zigarren zum Vorschein.

Dann breitete Jimmie die Dokumente auf dem Tische aus und begann wieder zu lesen.

Diese Dokumente waren: 1. Eine amtliche gestempelte Bestätigung von Sir Johns Verheiratung mit Marguerite Duclos auf dem Britischen Konsulat in Havre. 2. Ein andres amtliches und gestempeltes Papier, welches bewies, daß die besagte Marguerite Selhurst eine gewisse angegebene Zeitlang Insassin eines gewissen Privatirrenhauses in St. Mandé war. 3. Eine genaue Bestätigung von Richard Le Noir, über das, was im Hotel Mirabeau und andern Orten am 16. September 1867 vorgefallen war, wie es aus Frau Darrells Brief an ihren Sohn Hubert Darrell hervorging. 4. Eine beschworene Erklärung von Barbara Jones – geborene Selcombe – in Auckland auf Neuseeland abgegeben, welche besagte, daß ihrem eignen Wissen nach die vorhergehenden Tatsachen in jeder Hinsicht durchaus wahr seien und daß sie mit Freuden daraufhin einen Eid abgelegt habe.

Bei Gott! sagte Jimmie Selhurst, die Wolken verziehen sich. Wirst du hier essen, Harry?

Ich habe die Absicht.

Laß es; wir wollen diese Papiere zu Inspektor Beale bringen. Danach können wir im Café Royal essen. Ich denke, wir leisten uns heute abend ein paar große Flaschen Champagner!

Da kann ich nicht widerstehen! sagte Sir Harry. Komm, Darrell, laß uns gehen.

Sie waren einigermaßen überrascht, bei ihrer Ankunft in Scotland Yard Inspektor Beale in außerordentlich guter Laune zu finden.

Ah! sagte er. Sie sehen so froh aus. Haben Sie gute Nachrichten, was?

Sie erzählten ihm die Geschichte von der Jagd nach dem Kästchen und gaben ihm die Papiere zu lesen. Als er damit zu Ende war, strahlte sein Gesicht vor vollkommenster Befriedigung.

Dies, meine Herren, sagte er, ist die hübscheste Sache, mit der ich je zu tun hatte, nun kommen wir sehr schnell der Wahrheit auf den Grund! Um Sie davon zu überzeugen, sehen Sie, bitte, dies hier an, und er zeigte Lady Selhursts Brief. Vielleicht, fügte er hinzu, sollte ihn lieber jemand von Ihnen laut lesen.

Jimmie wurde sofort gebeten, dies zu tun. Als er zu Ende war, sagte Herr Beale:

Das ist eine hübsch verwickelte Geschichte, wie? Nun, ich war gestern in Paris, bin heut morgen zurückgekommen. Und er erzählte – mit gewissem Vorbehalt – die ganze Geschichte. Es sind zwei blaue Diamanten vorhanden, das ist die Sache – und der Kerl, den François sah, wer er auch gewesen sein mag, hat das andere genommen und den ganzen Schurkenstreich begangen.

Aber, sagte Hubert, ich dachte, Sie hätten kein Vertrauen zu diesem François?

Oh Sapperment! Ich nehme das alles zurück. Ich habe mich nie in meinem Leben so in einem Menschen geirrt. Er ist heut hier gewesen und hilft mir unendlich viel in der Sache – wahrhaftig. Ich war überrascht, mein Wort darauf! Er erwartet morgen irgendwelche Beweise aus Paris. Aber eins steht fest, Herr Darrell, auf alle Fälle haben Sie nichts mit der Sache zu tun. Gegenüber meinem Zeugnis und diesen hier – und er zeigte auf die Dokumente vor sich – muß Sir John die Anklage zurückziehen. Dagegen kann er nichts machen, und er muß Ihnen daher auch das Halsband und die andern Sachen zurückgeben.

Hubert hatte eine plötzliche Eingebung. Nein, sagte er, er soll sie behalten. Ich habe immer behauptet, daß er fordert, was ihm nicht zukommt.

Donnerwetter, ja! sagte der Inspektor, Sie haben recht. Mag er sie denn behalten, wie Sie sagen, und ich werde auch das der Behörde melden und sie diese Papiere lesen lassen, falls Sie erlauben, sie mitzunehmen.

Natürlich, auf alle Fälle. Laßt uns alles tun, um jenen verdammten Schurken zu überlisten, sagte Hubert.

Ich würde ganz andre Worte brauchen, als bloß die, Herr, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, sagte der Inspektor mit ehrlicher Entrüstung. Ja, das täte ich; ich bin mit Herz und Seele der Ihre, Herr. Hier in diesem Zimmer sagte ich das auch Lady Selhurst!

Und nun? sagte Hubert.

Es ist alles in Ordnung, sorgen Sie sich nicht darum. Vertrauen Sie auf mich, ich bringe alles zu Ende.

Nur eine Frage, Herr Beale, unterbrach Jimmie. Wissen Sir John oder Lady Selhurst, daß François dem wirklichen Täter auf der Spur ist?

Nein, um Himmels willen nicht! Es wird beiden eine Ueberraschung sein, meine ich. vielleicht wird es Sie überraschen, Herr, zu erfahren, daß der Verdächtige ein Verwandter von Sir John ist?

Beim Himmel, ja. Also auch ein Verwandter von mir? Sie meinen doch nicht etwa meinen Vetter Tom Selhurst? Er ist ein liederlicher Hund, das weiß ich, aber ich bin sicher, daß er doch nicht bis zum Juwelenstehlen herabsinken wird.

Nun, sagte Inspektor Beale orakelhaft, sei dem, wie ihm wolle. Es hängt alles davon ab, daß François imstande ist, den Mann wiederzuerkennen. Er fühlt sich sehr sicher, daß er's kann, und er hat wahrhaftig recht scharfe Augen, dieser François.

Ich hoffe zu Gott, daß es nicht der arme alte Tom ist. Natürlich kennt der das Haus vom Keller bis zum Boden. Wenn ich abschöbe, so wäre er, wie Sie wissen, der nächste Erbe.

Ich verstehe. Nun, alles, was ich sagen kann, ist, daß die Zeit es ans Licht bringen muß, und weiter, meine Herren, kommen wir heut abend nicht mit der Sache.

In diesem Augenblick trat ein Gerichtsdiener ein und übergab ihm einen Brief. Die drei blieben stehen.

Nur einen Augenblick, meine Herren. Es ist nicht wahrscheinlich – aber da kommt zufällig dieser Brief – entschuldigen Sie – und er öffnete und las ihn. Nun, Gott sei Dank! Sehen Sie dies an! Und er händigte ihn Hubert ein. Sie haben wahrhaftig Glück, Herr Darrell.

Was Hubert las, lautete so:

Mein Herr!

Da ich Ihren Namen in Verbindung mit einem kürzlich stattgehabten Juwelendiebstahl gebracht sehe, teile ich mit, daß vor etwa einem Jahre eine alte Kundin von mir, Frau Darrell aus der Upper Wimpole Street Nummer 36, mir eine sehr beträchtliche Menge von Schmuckstücken brachte und mich bat, alle Steine aus denselben herauszunehmen. Sie gab mir keinen Grund dafür an, und ich fragte auch nicht danach. Die Fassungen wurden von mir als altes Gold gekauft, und die Steine, deren genaue Beschreibung Ihnen zu Diensten steht, wurden ihr ordnungsgemäß zurückerstattet.

Ihr
ergebener
Samuel Fairweather.

904, Cornhill, E. C.

Die Wolken verziehen sich, alter Junge, sagte Sir Harry Ogilvie, als sie nach dem Café Royal gingen.


 << zurück weiter >>