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Achtes Kapitel.

Ich habe Sir John Selhurst ein Telegramm geschickt, bemerkte Inspektor Beale, als er und Black am folgenden Morgen im Bahnhof Paddington den Zug bestiegen, und wirklich wartete, als die beiden in Addlehead ankamen, ein Wagen aus Windwhistle Hall auf sie.

Sie wurden sofort in Sir Johns Studierzimmer geführt.

Er stand von seinem Stuhle auf, als sie eintraten, streckte Inspektor Beale die Hand entgegen und sagte mit ungewohnter Kordialität zu ihm:

Freut mich, Sie so bald wiederzusehen, Herr Beale. Ich schließe aus Ihrem Telegramm, daß Sie einige gute Neuigkeiten für mich haben.

Ich glaube wohl, Sir John, entgegnete der Detektiv, mit einer Handbewegung auf Black deutend. Dies, fügte er hinzu, ist Herr Black, der wohlbekannte Londoner Juwelier.

Sir John gab Herrn Black die Hand und sagte, er kenne ihn natürlich sehr gut vom Hörensagen. Dann fuhr Beale fort:

Es steht so, Sir John: Herr Black hier kaufte gestern ein Päckchen oder vielmehr mehrere Päckchen von Steinen und auch ein Diamanthalsband, das Ihrer Beschreibung des gestohlenen bis aufs I-Tüpfel zu entsprechen scheint. Sie würden natürlich Ihr Eigentum wiedererkennen?

Sir John lächelte.

Es würde ganz unmöglich sein, jenes Halsband zu verwechseln, sagte er.

Daraufhin machte der Inspektor Herrn Black ein Zeichen, und der letztere brachte das fragliche Juwelenstück zum Vorschein. Sir John lächelte wieder.

Ich bin wirklich vom Glück begünstigt, sagte er. Dies, Herr Beale, ist wirklich hervorragend schnelle Arbeit, und es ist klar, daß wir uns gegenseitig beglückwünschen können. Lady Selhurst wird sehr froh sein. Ich denke doch, der Dieb ist bereits in Gewahrsam.

Nein, noch nicht, und als Sir John forschend seine Augen auf ihn richtete, fügte er hinzu: Aber natürlich kann er uns nun nicht mehr entrinnen.

Gut! gut! Und der Baronet lächelte wieder.

Sie begreifen, fuhr der Detektiv fort, zuerst mußte das Eigentum identifiziert werden.

Ich verstehe, und das ist auch ganz recht so; und darf ich fragen, fügte er hinzu, sich an Black wendend, ob Sie irgend einen Verlust in dieser Sache erleiden?

Glücklicherweise nein, erwiderte der Juwelier; ich kam grade zur rechten Zeit, um mein Geld heut morgen auf der Bank zu retten.

Das ist eine große Beruhigung für mich, kann ich Ihnen versichern, entgegnete Sir John. Obgleich es mein persönliches Eigentum ist, würde es doch ein unangenehmer Gedanke für mich sein, daß Sie Schaden gelitten hätten.

Sehr freundlich von Ihnen, sagte Herr Black. Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß nur wenige Leute unter ähnlichen Umständen so anständig denken.

Sir John verneigte sich.

Der Rest der gestohlenen Sachen, ich meine, so sagten Sie – oder war es Inspektor Beale? –, bestand aus –

Nur aus losen Steinen.

Die sicherlich, wie gebräuchlich, aus ihren Fassungen genommen waren.

So scheint es. Dies sind die verschiedenen Pakete, Black legte sie in ihrer Wertreihenfolge auf Sir Johns Schreibtisch und öffnete eins nach dem andern.

Natürlich, sagte Sir John, kann ich mir nicht anmaßen, diese zu identifizieren. Inspektor Beale hat eine Liste der fehlenden Juwelen, und vielleicht kommt Ihnen als Sachkundigem eine uns der Wahrheit näherbringende Idee, wenn Sie so freundlich sein möchten, die Steine mit Herrn Beales Aufzeichnung zu vergleichen.

Inspektor Beale, der diesem Gespräch aufmerksam zugehört hatte, brachte sofort die fragliche Liste zum Vorschein. Dann machte Black einen genauen und sehr gewissenhaften Vergleich der beiden.

Es sind allerdings einige Abweichungen da, sagte er, zuletzt aufsehend; zu viel Rubinen zum Beispiel und nicht genug Smaragde, dieselbe Zahl Saphirs in beiden Fällen, aber eine rosa Perle fehlt und zwei schwarze Diamanten, obgleich die Zahl der einfachen Brillanten genau stimmt. Alles in allem ist eine auffallende Uebereinstimmung vorhanden.

Dies, sagte Sir John, ist ja immerhin sehr befriedigend, aber es wäre mir lieb, wenn die Frage der Identität über jeden Zweifel hinaus bestätigt würde.

Könnte Lady Selhurst nicht einiges Licht in die Sache bringen? fragte Inspektor Beale.

Daran zweifle ich sehr. Die meisten dieser Juwelen – ich bitte um Vergebung, die meisten der gestohlenen Juwelen – sind seit langer Zeit im Besitz der Familie, und Lady Selhurst ist erst seit so kurzer Zeit Lady Selhurst, daß ich daran zweifle, ob sie eine ausschlaggebende Autorität über diesen Gegenstand sein würde.

Sie würde jedoch imstande sein, das Halsband wiederzuerkennen, meinte der Inspektor.

Oh, sofort.

Könnte ich sie dann hier vielleicht einen kleinen Augenblick sprechen?

Gewiß. Während Sir John die Klingel zog, nahm Beale eine Zeitung aus seiner Tasche und warf sie achtlos über die Juwelen.

Innerhalb fünf Minuten trat Lady Selhurst sehr bleich und sehr schön (wie Herr Black sofort bemerkte) ins Zimmer, sah zuerst ängstlich nach Inspektor Beales Richtung und warf dann einen schnellen argwöhnischen Blick auf Black.

Nun, sagte sie dann, sich zum ersteren wendend, haben Sie meine Juwelen gefunden?

Ich weiß es nicht, Sie müssen mir das sagen, Lady Selhurst. Dies ist Herr Black, ein Londoner Juwelier, Mylady, bei dem gestern ein sonderbarer Mensch vorsprach.

Sie bog sich eifrig vor. Was für ein Mensch? fragte sie.

Mit der Miene jemandes, der sehr genau sein möchte, entgegnete er: Ein kleiner dunkelhaariger Mann mit kahlem Kopf und kleinem Backenbartansatz – –.

Ja! Ja! Ja! stimmte sie eifrig bei, und ihre Augen fingen an, wie die Sterne zu leuchten.

Nun, fuhr der Inspektor fort, indem er sie wie ein Habicht beobachtete, als er plötzlich die Zeitung vom Tische wegnahm, er verkaufte Herrn Black dieses Halsband, und nun ist die Frage, ob Sie es wiedererkennen? Damit stand er auf und übergab es ihr.

Ob ich es wiedererkenne? rief sie freudig aus, natürlich tue ich das. Wie könnte das jemand verwechseln?

Genau, wie ich Ihnen sagte, meine Herren, bemerkte Sir John; ich wußte, daß Mylady es augenblicklich wiedererkennen würde.

O Himmel, natürlich, sagte sie. Ich bin so froh, so zufrieden.

Die ganze Art und Weise der Frau hatte sich plötzlich verändert. Man würde gedacht haben, daß ihr ganzes Leben von der Auffindung dieses Schmuckstückes abgehangen hätte. Black sah sie erstaunt an. Inspektor Beales Gedanken konnte man nicht in seinem Gesicht lesen, auch nicht Sir Johns; aber sie dachte so:

Gott sei Dank, daß es nur wenig blaue Diamanten auf der Welt gibt, aber dieser hier hat doch wenigstens des armen Huberts Rettung bewirkt.

Es ist ganz natürlich, Mylady, sagte Beale heiter, daß Sie sich freuen, ich tue das auch. Und nun, wie steht's mit den anderen Steinen?

Ach, sagte sie, ich könnte nicht wagen, sie genau zu identifizieren, hätte auch keine Lust dazu. Sir John kann es zweifellos. Dies Halsband genügt mir.

Recht so, entgegnete der Detektiv. Nun, die Dinge haben sich viel besser gewendet, als ich erwartete. Wir haben offenbar das Halsband und die Steine aufgefangen; und diesen Herrn Berry, den will ich innerhalb vierundzwanzig Stunden festnageln, sonst –

Sofort wich jeder Blutstropfen aus ihrem Gesicht.

Berry! sagte sie, Berry!

Ja, Mylady; grade Ihr Zeugnis brauchten wir, um die Sache gegen ihn zu beschließen.

Aber ich kenne ja gar keinen Berry.

So sagten Sie mir schon neulich abends, aber er ist der Dieb, das ist ganz sicher.

Aber Sie sagten doch, daß der Dieb klein und dunkel von Haaren sei.

Black unterbrach sie:

Nein, Mylady, Herr Beale gab leider nicht ganz meine Beschreibung von ihm wieder. Er war, das kann ich Ihnen sagen, ein eleganter, hochgewachsener, schöner junger Mann, der allerletzte, von dem man argwöhnen könnte, er sei ein Dieb.

Lady Selhurst wurde sehr mutlos. Sie sah ein, daß sie in eine Falle geraten und unwissentlich Huberts Hauptanklägerin geworden war. Darauf, wie es oft in solchen Fällen geschieht, tat sie etwas sehr Törichtes. Sie sagte:

Lassen Sie mich das Halsband noch einmal sehen.

Beale überreichte es ihr.

Sie besah es noch einmal mit zitternden Händen und stammelte:

Nein; wenn ich es genauer prüfe, meine ich doch nicht –

Sir John schritt böse lächelnd auf sie zu und nahm ihr das Halsband ab.

Meine Liebe, sagte er, dein erster Eindruck war ganz richtig. Dies Halsband, meine Herren, kaufte ich vor vielen Jahren bei Flamborough & Co. in der Bond Street. Wollen Sie vielleicht die Güte haben, es heut dorthin zu bringen und Herrn Flamborough selbst danach zu fragen, was er darüber weiß? Nehmen Sie nicht an, daß ich von Ihnen verlange, dies zu tun, nur einzig zu Ihrer eigenen Genugtuung sollen Sie danach fragen. Ich nehme an, Herr Black, daß Herrn Flamboroughs wohlbekannter Ruf –

Black machte eine ablehnende Bewegung, so etwa, als ob er sagen wollte: Kenne ich vielleicht die Rothschilds nicht? Und Sir John fuhr fort:

In der Zwischenzeit wird Herr Beale natürlich das gestohlene Eigentum an sich nehmen.

Durchaus nicht, entgegnete der Detektiv mit Nachdruck. Sie sagen, es gehöre Ihnen, und da Herr Black keinen weitern Anspruch mehr darauf hat, werde ich alles hier lassen, mit Ausnahme des Halsbandes. Wenn Herr Flamborough Ihre Aussage bestätigt, so werde ich es im Laufe des Nachmittags zurückbringen.

Damit stand er auf und sah auf seine Uhr. Black tat dasselbe.

Da tat Lady Selhurst etwas sehr Sonderbares. Sie streckte Inspektor Beale ihre Hand hin und sagte mit dem süßesten Lächeln:

Lassen Sie mich Ihnen noch einmal danken, Herr Beale. Solche Dinge passieren einem glücklicherweise nicht jeden Tag, und ich denke, Sie werden verzeihen, wenn ich vielleicht ein bißchen schroff gewesen bin. Was diesen Berry anbetrifft – und sie zuckte ihre schönen Schultern –, so müssen Diebe natürlich bestraft werden, und ich bin sicher, Sie werden einsehen, daß die Sache mit vollster Gerechtigkeit gehandhabt worden ist.

Damit verneigte sie sich vor Herrn Black und entschwebte aus dem Zimmer.

Was, zum Henker, stellt sie wohl jetzt an? dachte der bestürzte Inspektor.

Seiner wartete jedoch noch eine andre Ueberraschung.

Auf seinem Wege durch den Vorsaal tippte ihm François, der Kammerdiener, vertraulich auf die Schulter.

Nun, Herr Beale, haben Sie den Dieb erwischt? sagte er.

Der Detektiv faßte ihn scharf ins Auge, bevor er antwortete, und bemerkte, daß er jetzt Stiefel trug.

Nein, sagte er; aber ich bin ihm auf der Fährte.

François zuckte mit keiner Wimper. Ah! sagte er, das ist ja fast dasselbe.

Ja. Haben Sie noch mehr Gläser zerbrochen?

François hob seinen verletzten Finger in die Höhe und sah ihn an.

Nein, sagte er. Eins genügt zur Zeit.

Hm! sagte Beale. Ich bemerke, Sie tragen heut keine Pantoffeln.

Ein Grinsen von einem Ohr zum andern verbreitete sich über François' Gesicht – ein Grinsen, dessen sich der Inspektor bis zu seinem letzten Lebenstage erinnerte; und er sagte:

Nein, ich trage keine, weil irgend jemand einen von ihnen »geklaut« hat.

Dieser Ausdruck gab dem Inspektor einen richtigen Stoß, wie er es nachher beschrieb.

Oh! sagte er. Sie sprechen ja sehr gut Englisch für einen Franzosen.

Natürlich, – meine Mutter war aus Devonshire gebürtig. Und François grinste wieder.

All dies gab Herrn Beale reichlichen Stoff zum Nachdenken, als er nach Addlehead fuhr.

Nachdem sie eine lange Zeit schweigend nebeneinander gesessen waren, wandte sich Black an ihn und sagte:

Ich werde aus all dem nicht klug.

Warum? fragte Mister Beale.

Erst erkannte sie das Halsband wieder und dann nicht mehr.

Leicht erklärlich. Ein kleiner, dunkelhaariger Mann mit einer Glatze war nicht Darrell.

Stimmt. Ich war höchlichst erstaunt über Ihre Beschreibung von ihm.

Ei, ei! entgegnete der Inspektor. Herr Black, ich hielt Sie für einen Weltmann.

Uh! sagte der Juwelier. Damit wollen Sie doch nicht etwa sagen –

Nein. Es kommt dem aber nahe. Das ist alles.

Es verspricht ein sehr interessanter Fall zu werden, Herr Beale.

Das stimmt.

Ich glaube nicht, daß der junge Mann die Sachen stahl.

Auch ich nicht. Aber es wird leichter zu beweisen sein, daß er es tat, als daß er's nicht tat. Es ist ein verteufeltes Geheimnis, Herr, aber ich werde schon irgendwie auf den Grund davon kommen.

In diesem Augenblick fuhren sie vor der Polizeiwache in Addlehead vor, und Beale sandte den Wagen zurück.

Sie haben hier wohl was zu tun, vermute ich? sagte Mister Black.

Ja, es hängt mit diesem Fall zusammen.

Gut! Man kann hier sehr gut im »Bären« essen; vielleicht können Sie mich dort in etwa einer halben Stunde treffen.

Mit Vergnügen, sagte Inspektor Beale, und einen Augenblick später hatte er eine geheime Verhandlung mit dem Ortskommissar.

Guten Morgen! sagte er. Was Neues für mich?

Ja doch, ja. Wir sind nicht müßig gewesen, entgegnete der Kommissar mit selbstzufriedener Miene. Zuallererst spürte ich den nägelbeschlagenen Schuhen bis zu den Sträuchen nach und dann wieder zurück. Diese Schuhe gehören einem von Sir John Selhursts Stallknechten, und er war im Gasthofe, als jener Berry zu seinem Wagen zurückkam. Der Wirt ist nicht ganz sicher, aber er meint, er sah sie zusammen flüstern.

Es ist gut, daß wir so weit sind. Und Beale schrieb sich alles in sein Notizbuch. Natürlich, sagte er, werden Sie diesen Stallknecht genau beobachten?

Natürlich, Herr Inspektor.

Und nun, was hat Ihr fixer junger Mann ausgerichtet?

Der Kommissar fletschte all seine Zähne. Ich sagte Ihnen ja, er würde es fertig kriegen, Herr Inspektor. Er hat den Pantoffel.

Das weiß ich, brummte der Detektiv und fügte fast unhörbar hinzu: Und der französische Lump weiß auch, daß ich es weiß.

Ach, wirklich? sagte der Kommissar mit einem Blick der Ueberraschung. Ich bemerkte es nicht –.

Natürlich nicht. Und?

Er hat auch mit diesem Kammerdiener gesprochen.

Zum Henker. Warum denn?

Er ist grade hereingekommen. Ich denke, Sie sprechen lieber selbst mit ihm, Herr.

Ja, das meine ich auch.

Der Kommissar ging zur Tür und rief, und es trat sogleich ein hübscher junger Mann ein von großem Selbstvertrauen, wie der erste Blick auf ihn lehrte.

Sie haben den Pantoffel, wie ich höre? sagte Beale.

Ja, Herr Inspektor. Das Stückchen war für mich 'ne Kleinigkeit. Ich kenne zufällig Lady Selhursts Kammerzofe, Bessie heißt sie – und die tat es sofort für mich, Herr Inspektor.

Bemerkte François es?

Herr des Himmels – nein, Herr, nicht das geringste.

Beale ließ eine Art verächtliches Schnaufen hören und fuhr fort: Nun, und Sie haben auch mit François gesprochen, wie es scheint. Erzählen Sie mir alles.

Ja, Herr Inspektor, es war so: Ich sah ihn gestern aus dem Park schleichen und folgte ihm. Er ging nicht die Addleheader Straße, sondern gegen die Windsorlandstraße zu hinunter und bog da hinein. Als ich an die Ecke der Straße kam, sah ich ihn mit einem Manne in einer kleinen Chaise sprechen.

Was für eine Art von Mensch?

Das könnte ich nicht sagen, Herr Inspektor; als ich um die Ecke bog, fuhr er ab, nach Windsor zu.

Wie war er gekleidet?

Hm, ja ... lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken, Herr Inspektor. Er trug einen runden Hut, das ist schon mal sicher.

Zum Teufel auch! sagte Inspektor Beale.

Ich bitte um Entschuldigung, Herr Inspektor.

Ach, nichts da. Und indem er sich zum Kommissar wandte, fügte er hinzu: Haben Sie wegen dieser Chaise in Windsor nachgefragt?

Nein, Herr Beale.

Wieder murmelte der Detektiv etwas, das nach einem Fluch klang, zwischen den Zähnen.

Nun, sagte er dann zu dem jungen Mann, so fahren Sie fort.

Sie begreifen, Herr Inspektor, ich ließ diesen Kammerdiener meinen Instruktionen gemäß nicht aus den Augen. So war es, und es versetzte mir einen kleinen Stoß, das versichere ich Ihnen, als er so freundlich wie nur möglich auf mich zukommt und sagt: »Hallo, Polizist! Ich habe Sie schon den ganzen Tag hier herumstreifen sehen, und ich kann mir schon denken, was los ist.«

Inspektor Beale stöhnte.

Nun, weiter, sagte er.

»Ach wirklich?« sage ich. »Ja, es ist die Juwelenaffäre, vermute ich,« sagt er, »und Sie wollen vermutlich die fünfhundert Pfund Belohnung einzuheimsen versuchen?« »Ich werde mir alle Mühe geben,« sagte ich und sah ihn scharf an – denn inzwischen hatte ich schon den Pantoffel erwischt –, »ja, das will ich wirklich tun,« sage ich. Dabei lachte er und sagte – muß ich genau wiederholen, was er sagte, Herr?

Ich brauche seine genauen Worte.

Nun, er sagte also genau, Herr Inspektor: »Sie haben verteufelt bessere Aussicht, jene fünfhundert Pfund zu gewinnen,« sagte er, »als der alte Narr von Scotland Yard.«

Inspektor Beale fuhr auf seinem Stuhl in die Höhe. Er sah aus, als sollte ihn der Schlag treffen.

Das sagte er?

Der junge Mann faßte an seinen Helm. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Inspektor, aber Sie verlangten von mir, ich sollte genau sein.

Schon gut, schon gut! Sehr verbunden. Das genügt für heut. Und diesen hier nannten Sie einen fixen jungen Mann, nicht wahr, Herr Kommissar? fügte er hinzu, als sich die Tür hinter jenem unternehmenden Individuum geschlossen hatte. Ich werde morgen jemand von Scotland Yard hinunterschicken und ihm das Abc beibringen lassen. Und nun, fuhr er fort, ohne eine Erwiderung abzuwarten, zu diesem Mann in der Chaise! Wollen Sie sich mit der Windsorpolizei in Verbindung setzen und ihm, wenn möglich, nachspüren? Aber zuallererst sofort an das Postamt dort telegraphieren und anfragen, ob ein Brief oder ein Telegramm gestern nach Paris abgeschickt worden ist. Sollte es ein Telegramm sein, so lassen Sie sich den Text wiederholen und schicken es in den »Bären«, wo ich frühstücke. Jedenfalls werde ich warten, bis ich von Ihnen höre.

Es soll sogleich danach gefragt werden, sagte der Kommissar.

Das Frühstück war beinahe zu Ende, als ein Mann in Uniform in das Speisezimmer im »Bären« eintrat und Inspektor Beale ein Telegramm einhändigte. Er öffnete es und las:

Vaillant, Rue Montmartre 26, Paris. – Le jeu est fait; noir gagne.

Der Detektiv kratzte sich den Kopf; daß er ernstlich bestürzt war, würde ein Kind bemerkt haben. Dann sah er über den Tisch hinüber auf Herrn Black und sagte:

Verstehen Sie Französisch?

Ja.

Nun, was soll das heißen? Und er gab ihm das Telegramm.

Dies, sagte Black, ist eine Phrase, die an den Spieltischen von Monte Carlo üblich ist und etwas frei übersetzt lautet: »Das Spiel hat angefangen, Schwarz gewinnt.«

Verdammt! sagte Inspektor Beale zum sechsten Male an diesem Tage.

Was ist los? fragte Black, mit einem Blick der Ueberraschung.

Nun, Herr, entgegnete der Inspektor, ich meine, ich bin jetzt an die härteste Nuß geraten, die je meinen Zähnen zugemutet wurde, aufzuknacken; und das erinnert mich daran, daß wir Herrn Flamborough befragen müssen, der Zug geht in fünfzehn Minuten ab.

Es war auf den Schlag drei Uhr, als die beiden in das berühmte Geschäft in der Bond Street eintraten und eine Privatbesprechung mit dem Hauptteilhaber der Firma verlangten. Sie wurden sogleich in Flamboroughs Bureau gewiesen.

Freut mich, Sie zu sehen, Herr Black, sagte der schlanke, grauhaarige, leicht gebeugte Herr mit einer goldenen Brille, und deutete auf einen Stuhl.

Dies, sagte Black, ist Inspektor Beale von der Kriminaluntersuchungsabteilung von Scotland Yard.

Freut mich! Und er verbeugte sich nach dem Detektiv hin.

Ja, sagte der letztere und brachte das Halsband zum Vorschein. Möchten Sie vielleicht so freundlich sein und dies in Augenschein nehmen, Herr Flamborough?

Flamborough besah es von allen Seiten und prüfte es genau, dann sagte er in bestimmtem Ton:

Ich erkenne dies Halsband ganz genau. Es ist auch meine Privatmarke darauf. Ich vermute aber, Sie möchten nähere Einzelheiten erfahren. Und er zog eine Glocke.

Ein Schreiber trat ein, und Flamborough übergab ihm das Halsband.

Sehen Sie gleich in den Büchern nach, wann und an wen wir dies Halsband verkauften.

Der Schreiber besah es von allen Seiten, prüfte es, ganz wie es sein Chef getan hatte, und verließ das Zimmer.

Ein außerordentlich schöner Tag für diese Jahreszeit! bemerkte Flamborough.

Sowohl Inspektor Beale als auch Herr Black hielten den Tag in der Tat für einen sehr schönen. Dann kam der Schreiber mit einem aufgeschlagenen Hauptbuch zurück, legte es vor seinen Prinzipal hin, deutete auf einen gewissen Posten und zog sich dann zurück.

Ja, sagte Flamborough, es ist, wie ich dachte. Ich verkaufte dies Halsband am 25. Februar 1866 an Sir John Selhurst. Er war damals noch nicht Baronet, und ich erinnere mich, daß er eine Vorliebe für diese seltne Art Juwelen hatte. Er bezahlte mir für dies Halsband die Summe von 2000 Pfund. Damit schloß er das Hauptbuch. Natürlich, fügte er hinzu, indem er zu Mister Black aufsah, wissen Sie, daß jeder einen Stein von dieser Art wiedererkennen müßte. Und er zeigte auf den blauen Diamanten.

Natürlich, sagte Mister Black, aber ich kaufte gestern dies Halsband, obgleich ich nicht ganz 2000 Pfund dafür bezahlte. Und er lächelte.

Das kann ich mir denken. Und Flamborough lächelte ebenfalls. Eins der gestohlenen Juwelenstücke, vermute ich? fügte er leicht hinzu, indem er sich zu Inspektor Beale wendete.

Ja, Herr Flamborough.

Nun, so beglückwünsche ich Sie, und desgleichen Sir John. Die Identität dieses wenigstens steht außer Frage.

Ich danke Ihnen, sagte der Detektiv, sich erhebend. Sie werden natürlich damit einverstanden sein, Zeugnis ablegen zu müssen?

Natürlich, es wird mich sogar sehr freuen. Sir John ist ein alter Kunde von mir. Haben Sie Ihren Mann schon gefaßt?

Noch nicht, aber ich weiß, wo ich ihn erwischen kann.

Gut! sagte Flamborough; dann geleitete er mit Verbeugungen seine Besucher aus seinem Bureau.

Ich werde diesen Fall mit sehr großem Interesse verfolgen, Herr Beale, sagte Mister Black beim Fortgehen.

Das meine ich auch, entgegnete der Inspektor; dies ist ein »Treffer«, wie er im Buch steht, mein Wort darauf.

Und ein »Treffer« war es auch für ihn. Alles schien auf Hubert Darrell als auf den Dieb hinzudeuten. Die Tatsachenkette konnte nicht vollständiger sein, die Schuldbeweise waren überwältigend, die Schuldigerklärung schien absolut sicher. Und doch hatte Inspektor Beale seine Zweifel – ernste Zweifel. Lady Selhursts Vorgehen ließ sich nur mit des Mannes Unschuld erklären, aber dann war auch der höllische Franzose da, der mit Grinsen in das Geheimnis hineinstapfte und ihn auslachte – daran war nicht der leiseste Zweifel –, mit der Ortspolizei seinen Spaß trieb, auf Seitenwegen Leute in Chaisen traf und geheimnisvolle Telegramme in französischer Sprache nach Paris sandte. Die Worte: »Das Spiel hat begonnen, Schwarz gewinnt« tönten ihm noch immer in den Ohren. Was für ein Spiel? Nun, natürlich das Stehlen. Aber was bedeutete schwarz ( noir)? Sicherlich bezog sich das nicht auf den Juwelier. Zweifellos hatte er gewonnen, als er sein Geld wiederbekam, aber mit »schwarz« war jemand gemeint. Vielleicht François, und rot war vielleicht Inspektor Beale. Konnte das stimmen? Und sollte es ein Spiel wie Rouge et Noir zwischen ihm und diesem grinsenden Franzosen werden?

Inspektor Beale saß in seinem Zimmer in Scotland Yard, hatte den Kopf in seine Hände vergraben und versuchte, ins Innerste dieses Geheimnisses einzudringen, als es an die Tür klopfte und ein Polizeidiener eintrat.

Eine Dame möchte Sie sprechen, Herr.

Eine Dame? Was für eine?

Eine wirkliche Dame, Herr.

Jung?

Ja, und sehr schön dazu.

Ah! Beale richtete sich auf. Sagte sie, was sie wollte?

Nein, Herr.

Gut! Führen Sie sie herauf!

Einen Augenblick später tauchte eine liebliche Erscheinung auf der Schwelle auf. Es war Kitty, Lady Selhurst, und man konnte auf den ersten Blick sehen, daß sie das Steinherz des Inspektors Beale zu erobern oder wenigstens zu erweichen gekommen war. Sie war ein liebliches Geschöpf, wie sie so dastand; die süßen roten Lippen lächelten heiter, die großen schwarzen Augen glänzten ihm fast zärtlich entgegen. Den Kopf trug sie hoch und stolz über einem Nacken und einem Busen, deren vollkommene Konturen selbst Herr Beale trotz seiner Amtsstrenge aufrichtig anerkennen mußte.

Sie sind zweifellos überrascht, mich hier zu sehen, Herr Beale; aber ich möchte Ihnen gewisse Dinge anvertrauen, die ich Ihnen heut morgen in meines Mannes Gegenwart nicht sagen konnte; deshalb bin ich auf ein paar Worte im Vertrauen hergekommen, falls es Ihnen nicht unangenehm ist.

Unangenehm! Aber gnädige Frau! Es ist mir außerordentlich angenehm, das versichere ich Ihnen. Und er zog ziemlich nahe an den seinen einen Sessel für sie heran.

Sie scheinen so gutmütig, so gutherzig, fuhr sie fort, dem grimmigen Detektiv meiner Vorstellung so unähnlich, daß ich sicher fühlte, ich würde nicht umsonst kommen.

Der Inspektor errötete wie ein Knabe, obgleich ihm sein Berufsinstinkt sagte: Sei auf der Hut! Angeborene Galanterie jedoch trieb ihn, zu antworten:

Ich fürchte, ich könnte Ihnen nichts abschlagen, Lady Selhurst.

Sie lächelte zum Dank und fuhr fort: Nun, Herr Beale, zuallererst muß ich Ihnen sagen, daß Herr Darrell nicht meine Diamanten stahl. Das weiß ich.

Einen Augenblick! unterbrach der Inspektor freundlich. Ich sehe, ich soll Ihnen helfen.

Ja, ja, antwortete sie eifrig.

Dann, sagte er, dürfen Sie mir auch nichts verheimlichen, Ausflüchte irgend welcher Art machen; ich bitte um Vergebung, wenn ich das verlangen muß.

Bitte, bitte, ich werde nichts der Art tun.

Nun denn, Sie erkannten heut morgen dies Halsband offen als Ihr Eigentum an, nicht wahr?

Ach, sagte sie, mit einem Blick des Vorwurfs, es war gar nicht freundlich von Ihnen, mich mit der Beschreibung des kleinen dunkelhaarigen Mannes so irrezuführen.

Vielleicht war es das nicht, sagte er; aber es war doch meine Pflicht, wenn möglich, die Wahrheit herauszubekommen, und es gelang mir eben. Sie gestanden zu, daß es das gestohlene Halsband sei.

Das ist wahr, und ich meinte es auch, aber sofort danach wußte ich, daß es ein Irrtum war. Es ist absolut unmöglich, daß es dasselbe ist.

Herr Flamborough erkannte es sofort wieder, entgegnete der Inspektor; und er legte seine Bücher vor, die ergaben, daß er es im Jahre 1866 an Sir John für zweitausend Pfund verkaufte. Wie kommen Sie darüber hinweg?

Ich weiß nichts davon, ich habe keine Ahnung. Es ist alles ein fürchterliches Geheimnis für mich, das ein kluger Mann wie Sie ergründen muß. Ich weiß nur, daß Herr Darrell mir nie Juwelen stahl, daß das, was er verkaufte, sein eigen war, und daß jedweder, der es ihm jetzt entreißen mag, ein Dieb ist.

Sie müssen gewichtige Gründe für einen so starken Glauben haben, Lady Selhurst.

Die habe ich auch, und ich bin heut abend hierher gekommen, um Ihnen deutlicher zu erklären, was Ihnen Sir Johns Neffe sicher schon in den Umrissen angegeben hat.

Er kam gestern abend zu mir, sagte Beale, und berichtete, daß Sie und Herr Darrell zur Zeit des Diebstahls zusammen im Treibhause waren, daß er beim Verlassen des Hauses den Weg verfehlte und gegen den Haushofmeister anrannte, dem er einen falschen Namen angab – Berry.

Das stimmt; es sind die Umrisse. Nun will ich aber die Einzelheiten vollständig machen, ohne irgend welchen Rückhalt. Wenn es Ihr Zweck ist, die Wahrheit zu ergründen, so ist es zehnfach mehr meine Pflicht, dasselbe zu tun, und wenn ich Sie um Ihre Hilfe bitte, wie ich hiermit von ganzem Herzen tue, so müßte ich ja närrisch sein, wenn ich Sie nur im allergeringsten täuschen würde. Ich will Ihnen mein Herz öffnen, und Sie sollen Richter sein. Ich habe Herrn Darrell schon gekannt, als ich noch ein Kind war. Ich glaube, ich trug noch Lätzchen, als ich ihm zuerst versprach, seine Frau zu werden; ich dachte nie daran, das Weib eines andern zu werden. Wir waren stets voll warmer Zuneigung füreinander. Er ging vor mehr als zwei Jahren mit seinem Regiment weg von hier, und wir hätten bei seiner Rückkehr aus dem ausländischen Dienst geheiratet. Unglücklicherweise für ihn, für uns beide, wurde ein schmachvolles Gerücht über ihn verbreitet. Viele Londoner Zeitungen brachten es in Form einer unumstößlichen Tatsache, und jeder glaubte, daß er unter sehr skandalösen Umständen mit seines Obersten Frau weggelaufen wäre. In einem bösen Augenblick glaubte ich das auch, Gott verzeihe mir's, aber ich war gegen all meine bessere Instinkte davon überzeugt. Dann geriet mein Vater durch Spekulationen in ernstliche finanzielle Schwierigkeiten, und Sir John Selhurst trat mit gewissen Vorschlägen ins Treffen, die ich in einem Augenblick des Wahnsinns auch annahm. Ich war tief betrübt, mit Kränkung und Scham erfüllt, und voll bittern Grolles gegen den Mann, den ich liebte, und so heiratete ich einen, für den ich nie auch nur das allergeringste empfand. Bin ich offen, Inspektor Beale?

Das sind Sie wahrhaftig, gnädige Frau, und ich fange an, zu verstehen.

Nun denn, fuhr sie fort, in der Nacht vor dem Diebstahl erfuhr ich, daß Herr Darrell zurückgekommen und im tiefsten Herzen über das, was er für meine Treulosigkeit hielt, verwundert war, daß die Anklagen gegen ihn absolut falsch waren, und daß, um allem noch die Krone aufzusetzen, mein Mann von Anfang an von allem unterrichtet war. Im Augenblick sah ich ein, daß ich betrogen, getäuscht, verkauft war an einen Mann, den ich verabscheute, und Sie können sich die Szene vorstellen, die nun folgte.

Das kann ich, sagte Beale, als er ihre heißen Wangen und blitzenden Augen ansah.

Darum, fuhr sie fort, blieb ich den ganzen folgenden Tag in meinen Zimmern. Ich schrieb sogleich an Herrn Darrell und forderte ihn auf, falls er mir vergeben könnte, zu mir zu kommen, und meiner Anweisung gemäß war er um sieben Uhr an der Treibhaustür. Ich selbst ließ ihn ein. Er bat mich ernstlich, Sir John zu verlassen und mit ihm zu entfliehen. Sie sehen, wie rückhaltlos offen ich zu Ihnen bin, Inspektor Beale?

Ja.

Er erzählte mir, daß seine Mutter ihm die vergangene Nacht auf ihrem Sterbelager verschiedene wertvolle Juwelen gegeben hätte, die er am folgenden Tag verkaufen wollte. »Hier in meiner Tasche sind sie,« sagte er.

Sahen Sie sie? fragte der Detektiv.

Nein, hätte ich es nur getan – aber in der Dunkelheit wäre es wohl unmöglich gewesen. Nun, um es kurz zu machen, er drängte immer wieder, mit ihm zu entfliehen, und ich, so schwer in Versuchung geführt und so wütend auf Sir John, versprach, ihm den nächsten Tag Bescheid zu geben. Dann hörten wir beide dicht bei uns leise Fußtritte und plötzlich ein Krachen von zerbrochenem Glase. Da bat ich ihn, zu gehen, und bezeichnete ihm einen verborgenen Weg zu der Terrasse; ich selbst entfloh die Treppe hinauf in mein Zimmer. Vom Augenblick an, wo ich ihn verließ, bis zum Erreichen meines Zimmers, waren nicht fünfzehn Sekunden vergangen. Wie wäre es ihm also möglich gewesen, meine Diamanten stehlen zu können? Die ganze Geschichte ist seltsam absurd, Herr Beale.

Entdeckten Sie den Diebstahl sofort? fragte er.

Erst als ich wegen eines Armbandes an mein Juwelenetui ging. Ich hatte mich zum Abendessen angezogen.

Der Detektiv sann einen Augenblick nach. Die Sache machte ihn jetzt stutziger als je. Plötzlich fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf, und er blickte auf.

Eins, Lady Selhurst, sagte er, muß aber noch erklärt werden. Wie konnte, wenn Herr Darrell nicht in Ihrem Schlafzimmer war, sein Eisenbahnbillett zwischen den leeren Juwelenetuis auf dem Fußboden liegen?

Sein Eisenbahnbillett! Ich verstehe Sie nicht.

Ja, ich selbst nahm es auf, und es ist vom Stationsvorsteher als die Hälfte desjenigen, mit dem er von London kam, identifiziert worden.

Inspektor Beale, sagte sie nun ganz blaß und ernsten Tones, der sofort Herz und Hirn überzeugen mußte, wenn ich auf meinem Sterbebett läge und mein ewiges Seelenheil von der Beantwortung Ihrer Frage abhinge, so könnte ich sie nicht beantworten. Ich weiß nur, daß Herr Darrell nicht den millionsten Teil einer Sekunde in meinem Schlafzimmer oder nahe dabei gewesen ist. Genügt das?

Gewiß, sagte er ungewöhnlich ernst, aber es ist ein schrecklicher Tatbeweis gegen ihn. Ich weiß nicht, mit was für Augen es die Obrigkeit ansehen wird, aber es macht mir Sorge.

Die Obrigkeit! rief sie aus. Soll das vielleicht heißen, daß er festgenommen werden wird?

Sicher, gnädige Frau. Der Befehl ist heut nachmittag ausgefertigt worden.

Und Sie wollen mein Freund sein? Sie stand rasch und hastig auf, ihre Züge lächelten jetzt nicht gewinnend.

Ich möchte es sein, und ich bin es auch, sagte der Inspektor, sich ebenfalls erhebend, aber ich habe in dieser Sache keine Vollmacht. Ihr Gatte hat die Behörden angewiesen, Herrn Darrell festzunehmen. Er ist der Ankläger in der Sache, ich habe keine Stimme, aber doch kann ich Herrn Darrell und Ihnen ein wenig helfen, wenn Sie mir Ihr Vertrauen auch weiterhin bewahren wollen.

Dies wurde im Ton so offenbarer Freundlichkeit gesprochen, daß Lady Selhurst sich wieder auf ihren Stuhl setzte und sagte:

Bitte, verzeihen Sie mir, Herr Beale.

Keine Ursache, gnädige Frau, sagte er. Es gehört nicht zu meinem Amt, zu sagen, was ich gesagt habe. Es ist nicht berufsgemäß, aber ich will einmal Ihr Freund sein. In dem Fall, den wir irgendwie enträtseln müssen, liegt etwas sehr Seltsames und Unerklärliches. Inzwischen will ich zusehen, daß die Sache so wenig Aufsehen macht, wie nur möglich. Ich werde Vertagung und Freilassung gegen Bürgschaft beantragen, und so werden wir Gelegenheit haben, zusammen wirken zu können.

Aber ich kenne Sir John zu gut, sagte sie. Er wird nicht zulassen, daß es geheim gehalten wird. Ich will selbst vor die Obrigkeit treten und die reine Wahrheit erzählen. Es kümmert mich kein bißchen, was die Leute dazu sagen. Eher, als Herrn Darrell ins Gefängnis wandern sehen, würde ich –

Alles gut, aber Sie würden ihn damit gradewegs hineinschicken, mein Wort darauf, Lady Selhurst. Sie wissen nicht, was für Narren einige von diesen ländlichen Beamten sind. Sehr wahrscheinlich würden sie Ihnen auch eine Anklage auf Mitschuld aufhalsen. Wie können Sie außerdem als Zeugin gegen Ihren eignen anklagenden Gatten auftreten? Es würde zu einem Skandal führen und Herrn Darrell mehr Schaden als Nutzen bringen. Nehmen Sie mein Wort darauf – als Freund –, und denken Sie nicht mehr daran.

Herr Beale, sagte sie fast demütig, ich glaube, daß Sie in diesem großen Wirrnis mein Freund sein wollen, und ich will mich von Ihrem Rat leiten lassen. Und sie stand zum Fortgehen auf.

Ich freue mich, daß Sie so sprechen, Lady Selhurst, sagte er, denn ich sage es, wie ich es meine, und habe allerlei Gedanken über diese Sache, auf die ich jetzt zu sprechen kommen will. Was wissen Sie von François, Sir Johns Kammerdiener?

Nichts.

Wie lange ist er schon in seinem Dienst?

Etwa zwei Monate. Haben Sie ihn im Verdacht?

Lady Selhurst, ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen kann. Ja, es waren seine Fußtritte, die Sie im Treibhause hörten, und er zerbrach auch das Glas. Er trug zu der Zeit Pantoffeln, und ich bemerkte deren Eindrücke auf den Steinen am Morgen nach dem Diebstahl. Folgen Sie mir?

Ja, ja, sagte sie eifrig.

Er sandte gestern ein geheimnisvolles Telegramm, von dem ich eine Abschrift habe, nach Paris. Ich schicke heut einen unserer tüchtigsten Leute auf seine Beobachtung aus. Können Sie veranlassen, daß all sein Tun im Hause scharf beobachtet wird?

Gewiß.

Und könnten mir privatim alles mitteilen?

Gewiß.

Nun, dann regen Sie sich um Herrn Darrell nicht auf. Wir werden ihn schon irgendwie zusammen aus der Klemme ziehen. Ich glaube nicht, daß ein Franzose, wie der, mich schlagen sollte!

Das meine ich auch nicht! Und sie drückte ihm die Hand mit einer aufrichtigen Herzlichkeit, deren er sich immer mit Genugtuung erinnerte. Dann geleitete er sie grade mit Verneigungen hinunter zum Ausgang, wo sie ein von ihm bestellter Wagen erwartete, als plötzlich Jimmie Selhurst auftauchte.

Schau, wahrhaftig Lady Selhurst! sagte er.

Ja, entgegnete sie. Danken Sie Inspektor Beale dafür, daß er so freundlich und rücksichtsvoll zu mir gewesen ist, und kommen Sie dann mit mir. Ich muß Ihnen vieles, vieles erzählen. Aber zuallererst lassen Sie den Ausdruck des Erstaunens aus Ihrem Gesicht verschwinden.

Jimmie tat, wie ihm geheißen war. Beale lachte und sagte: Das ist famos. Dann fuhren Tante und Neffe in einer Droschke ab.

Eine Stunde später hielten diese beiden, durch Sir Harry Ogilvie verstärkt, bei einem kleinen leckern Mahl im »Savoy« eine ernste Beratung ab, deren Resultat folgendes Telegramm nach Brighton war:

Darrell, »Old Ship«, Brighton.

Jimmie und seine Tante hier, raten ernstlich noch ein paar Tage Ruhe und Stille an.

Ogilvie, Savoy Hotel.

Innerhalb einer Stunde erhielten sie folgende Antwort:

Ogilvie, Savoy Hotel London.

Unmöglich. Komme mit Frühzug zu meiner Mutter Begräbnis morgen um 11 Uhr.

Das Telegramm machte die Runde und wurde mehrmals von jedem gelesen. Einen Augenblick herrschte Stillschweigen zwischen ihnen, dann ergriff Sir Harry das Wort:

Er hat recht. Wie kann er anders handeln? Ich gehe auch zum Begräbnis.

Ich auch, sagte Jimmie.

Und ich desgleichen, sagte Lady Selhurst, mit noch größerem Nachdruck als die andern.

Beim Himmel, sagte Sir Harry im Tone aufrichtiger Bewunderung. Ich freue mich, daß Sie so sprechen. Es wird den armen alten Jungen mehr in seinem Leid trösten, als irgend etwas anderes es könnte. Und, nebenbei gesagt, wir alle sollten Kränze schicken. Und, da dem lebhaft beigestimmt wurde, fügte er hinzu: Es sollte sofort alles besorgt werden. Wenn ihr beiden eure Karten fertig machen wollt, so will ich sofort die Sache vorbereiten und in Ordnung bringen.

Dann entschuldigte er sich und suchte den Geschäftsführer auf, mit dem er eine geflüsterte Beratung abhielt. Als dies geschehen war, kehrte er zurück und sagte:

Gebt mir eure Karten. Dann verschwand er aufs neue und kehrte zuletzt mit einem herzlichen »Ist alles in Ordnung« wieder zurück.

Würden Sie mir einen Gefallen tun? sagte Lady Selhurst.

Eine Million, wenn ich kann.

Vorläufig einen. Würden Sie ein Telegramm an den Kapitän Clare, The Limes, East Finchley, senden, daß ich zur Nacht dorthin komme?

Ich fürchte, es ist zu spät. Diese Vorstadtämter schließen um acht.

Wie lange Zeit wird nötig sein, um dorthin zu fahren?

Lassen Sie mich nachdenken. Der gradeste Weg ginge über Kentish Town und Parliament Hill; aber es ist ein saures Stück Arbeit für die Pferde, über Holly Lodge hinaufzukommen; nach Old Gate House in Highgate geht es ganz leicht. Mit einem guten Pferde, meine ich, könnte es in einer Stunde getan sein.

Gut, gut. Wer kommt mit mir?

Ei, natürlich wir beide, sagte Sir Harry lachend. Mit Ihnen allein ist es mir zu gefährlich, mit einem Neffen dabei ist es sicherer. Ich will sofort einen Wagen herbestellen.

Vor zehn Uhr waren sie in »The Limes«, East Finchley. In mehreren Fenstern war Licht.

Ich möchte Sie nicht hineinnötigen, sagte sie, denn in meiner jetzigen Gemütsverfassung könnte ich meinem Vater heut abend nicht willkommen sein, und das würde Sie in Verlegenheit bringen. Ich fürchte, daß es sicher zwischen uns Streit geben wird. Ich werde Sie ja beide morgen um 11 Uhr in der Upper Wimpole Street sehen.

In der Frau steckt viel Geist, sagte Sir Harry auf dem Rückwege und zog nachdenklich an seiner Zigarre.

Ich glaube, Sir John wird das auch in ein paar Tagen merken, sagte Jimmie Selhurst lachend.


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