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Am 7. Dezember des Jahres 1878 war der große Prachtsaal des Grand-Hotel in Wien bis zum letzten Platz gefüllt. Die Wiener »Concordia« hatte zu einer Feier besonderer Art geladen, und neben dem Unterrichtsminister, namhaften Schriftstellern, bekannten Schauspielern und bildenden Künstlern hatten sich fast alle Vertreter des Wiener Geisteslebens versammelt. Die Feier galt den drei in Wien lebenden preisgekrönten Dichtern Nissel, Wilbrandt und Ludwig Anzengruber, von denen Anzengruber im Vormonat des gleichen Jahres den Schillerpreis in der Höhe von 3400.– Mark erhalten hatte. Tiefe Stille herrschte im Saal, alle Augen hingen am Munde Anzengrubers, als sich der Dichter erhob, um der Versammlung für die Ehrung zu danken.
»Ich bin,« sagte der Dichter, »nun acht Jahre dramatischer Schriftsteller, und die ganze Zeit hindurch hat mich die hiesige Kritik kräftig gefördert. Daß ich dafür Dank schulde, wird jeder Strebende wissen. Ohne Erfolg ermattet der Geist, ohne Erfolg läßt man das Werkzeug sinken. Der pekuniäre Erfolg ist bei mir allerdings abseits geblieben, und das ist für einen Volksdichter sehr maßgebend, denn es zeigt sich auch an den Tantiemen, wie sich die Massen des Volkes in das Theater drängen. Der Volksschriftsteller soll den Gebildeten nicht langweilen, aber das Volk nicht daneben sitzenlassen. Er soll also, in zwei Sätteln gerecht sein. Ich habe mir das immer angelegen sein lassen und erreicht, was erreichbar war. Das Erreichte danke ich wesentlich der Förderung der Kritik, und das will ich hier anerkennen. Die Massen kamen langsam, Schritt für Schritt in das Theater, und daher wäre mir ohne diese Förderung längst der Mut gesunken. Ich freue mich, heute allen, die mich so sehr gefördert haben, sagen zu können: »Sie brauchen kein Wort zurückzunehmen, denn ich habe heute auch von Norddeutschland mein gutes Schulzeugnis heimgebracht. Allen, die mich so kräftig unterstützten, ein Lebehoch!«
Die ernsten, nüchternen Worte klangen so gar nicht nach Jubelfanfaren eines Siegers, dessen Stirne Dichterlorbeeren schmücken, sondern eher nach einem bitteren Bekenntnis eines Streiters, dem der Kampf um sein Werk harte Wunden geschlagen hatte. Die Freunde des Dichters, die unter den Festgästen saßen, mußten den Dichter verstehen. Ja, das Leben hatte ihm nichts geschenkt, er hatte für das Erreichte ehrlich zahlen müssen.
Am 29. November 1849 in Wien als Sohn eines kleinen k. k. Beamten geboren, hatte Ludwig Anzengruber schon als Fünfjähriger den Vater verloren. Eine kleine Pension blieb der Witwe und dem einzigen Sohn, so klein, daß Ludwig nur mit Unterstützung seiner Großmutter eine höhere Schule besuchen konnte. Als die Großmutter starb, begann der Abstieg der kleinen Familie. Die Mutter Anzengruber mußte eine kleinere, billigere Wohnung nehmen und Ludwig mußte die Schule verlassen. Er wurde Buchhändlerlehrling und interessierte sich stark für die Bücher, herzlich wenig für den Buchhandel. Mit 21 Jahren verließ, er den Verkaufstisch, um auf den Brettern, die die Welt bedeuten, Glück und Erfolg zu suchen. Sieben Jahre spielte er an Vorstadt- und Wandertheatern kleine Rollen, und oft genug hatte er und die Mutter kaum das trockene Brot. Daneben schrieb er alljährlich ein Theaterstück, das ebenso regelmäßig wieder in den Ofen wanderte. Ludwig Anzengruber war froh, als er durch Vermittlung eines Verwandten im Jahre 1869 eine Schreiberstelle an der Polizeidirektion in Wien erhielt. Endlich hatte er das Stückchen Brot für die geliebte Mutter und sich gesichert. Ludwig Anzengruber wurde ein pflichtgetreuer Angestellter, der in seinen Dienststunden die Straflisten großer und kleiner Spitzbuben getreulich abschrieb, während er in seinen Mußestunden das Volksstück »Der Pfarrer von Kirchfeld« verfaßte. Ein Freund Anzengrubers reichte es bei dem Theater an der Wien unter dem Decknamen L. Gruber ein. Es wurde angenommen, aufgeführt und begeistert aufgenommen. Bald danach erlebte »Der Pfarrer von Kirchfeld« fast an allen deutschen Bühnen erfolgreiche Aufführungen. Ein Jahr später gab Anzengruber, glücklich, endlich nun seiner inneren Berufung folgen zu dürfen, seine Schreiberstelle auf, um einem Ruf als Theaterdichter an das Theater an der Wien zu folgen. Sein Gehalt war klein, seine Hoffnungen umso größer. Er war sich seiner schöpferischen Kräfte sicher, und die Volksstücke, die in kurzen Abständen folgten (»Der Meineidbauer«, »Der Kreuzelschreiber«, »Der Gewissenswurm«, »Hand und Herz«, »Der ledige Hof«) bewiesen, daß in Anzengruber dem deutschen Volke ein wirklich dramatischer Dichter geschenkt worden war. Weil aber Anzengruber ein echter Dichter war, blieb ihm der Dornenweg des Dichters nicht erspart. »Die Massen kamen nur zögernd Schritt für Schritt in das Theater«, sie wollten lieber Possen und leichte Operetten besuchen. Der Dichter aber mußte leben, mußte für seine Familie sorgen. 1877 schrieb er seinen Roman »Der Schandfleck«, dem später eine Reihe ausgezeichneter Erzählungen folgten.
Die ihm wichtig erscheinenden Ereignisse hielt der Dichter vom Jahre 1872 bis 1889 in stichwortartigen Kalendereintragungen fest. Von Geburt, Krankheit und Tod der Kinder, von seinem künstlerischen Schaffen ist dort zu lesen, und am Ende eines Jahres zog er wie ein gewissenhafter Kaufmann Bilanz: so und so viel Stücke, Erzählungen hatte er geschrieben, so und so viele wieder vernichtet.
Die knappen Eintragungen runden sich zum Bild eines ergreifenden Künstler- und Menschenschicksals. Sie künden von ehernem Fleiß, unbeirrbarem Streben nach Wahrheit und Güte, von ewigem Kampf mit Enge und Not, von treuer, aufopferungsvoller Liebe für Frau, Kinder und Freunde.
Frau Sorge ist die treue Begleiterin des Dichters auf seinem Lebensweg geblieben, bis er als Neunundvierzigjähriger die Augen für immer schloß. (9. Dezember 1889.)
An des Dichters Grab sprach sein Freund Ludwig Ganghofer diese Worte: »Sagt es eueren Kindern: Bis zum letzten Augenblick war er sich selbst getreu und hat festgehalten am Rechten und Guten.« Es waren die eigenen Worte des Dichters, die er einst für seinen »Pfarrer von Kirchfeld« geprägt hatte, und die Ganghofer mit voller Berechtigung dem Scheidenden als letzten Gruß nachrufen durfte.
Sechs Kriminalerzählungen aus der Feder des Dichters sind es, die wir in diesem Band vereinigt haben. Es ist nicht verwunderlich, daß Anzengruber, dem seine Beschäftigung als Polizeischreiber manchen Einblick in die dunkle Welt des Verbrechens tun ließ, sich gedrängt fühlte, seine Gedanken und Empfindungen darüber dichterisch zu verwerten. Große deutsche Dichter haben vor und nach ihm erfolgreich ein Gebiet beackert, von dem Schiller, der sich selbst von kriminalistischen Stoffen angezogen fühlte, einmal sagte: »In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.« Daß es unserem Dichter dabei um mehr als leichte Unterhaltung, wie sie uns in den meist völlig wertlosen Detektivgeschichten englisch-amerikanischer Prägung geboten wird, ging, daß der ewige Wahrheitssucher auch bei der Behandlung dieses Stoffes bis zur Wesensmitte vordrang, daß es ihm um die Erhellung des Abgründigen der menschlichen Seele und nicht um billige Effekthascherei ging, wird der Leser voll Anteilnahme feststellen.
Paul M. Brandt.