Marcus Aurelius Antonius
Des Kaisers Marcus Aurelius Antonius Selbstbetrachtungen
Marcus Aurelius Antonius

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Zehntes Buch.

1.

O meine Seele! Wirst du denn nicht endlich einmal gut und lauter und einig mit dir selbst? Wann wirst du sichtbarer werden als der dich umhüllende Leib? Willst du nicht endlich einmal das Glück genießen, die Menschen zu lieben und zu erfreuen? Wirst du nicht endlich einmal zu einer bedürfnislosen Befriedigung auch in dir selbst gelangen, wo du zum Freudengenusse nichts mehr verlangst noch begehrst, sei es etwas Lebendiges oder Lebloses, weder mehr an Zeit, um länger noch zu genießen, noch in einem anderen Raum in einer andern Gegend zu sein, eine reinere Luft zu atmen und mit umgänglicheren Menschen zu verkehren? Vielmehr mit deiner jedesmaligen Lage zufrieden, an allem, was dir die Gegenwart bringt, dich freust und dich überzeugt hältst, daß dir alles zu Gebot steht, alles zu deinem Wohle gereicht und von den Göttern herrührt und alles zu deinem Besten dienen wird, was diesen gefällt und was sie nur zum Heile des vollkommenen, guten, gerechten und schönen WesensWelt und Gott waren bei den Stoikern identisch. geben werden, das alles erzeugt, zusammenhält, umfaßt und umgibt, was zur Erzeugung anderer Wesen derselben Art sich auflöst? Wirst du es nicht endlich einmal durch deine Beschaffenheit zu einem solchen Verhältnis mit den Göttern und Menschen bringen, daß du weder über sie Beschwerde führst noch auch von ihnen verurteilt wirst?

2.

Beachte genau, was deiner Natur gemäß ist, insofern sie unter der Alleinherrschaft der Naturgesetze steht. Erfülle dann diese Forderungen und laß sie gewähren, wofern die Verfassung deiner animalischen Natur dadurch nicht verschlimmert wird. Sofort mußt du achthaben, was diese deine animalische Natur verlangt, und alles das ihr vergönnen, vorausgesetzt, daß der Zustand deiner vernünftigen Natur dadurch nicht verschlimmert wird. Das Vernünftige aber ist zugleich auch ein bürgerlich Geselliges. Befolge denn diese Grundsätze und mache dir über nichts mehr Sorge.

3.

Entweder hast du von Natur Kraft genug, jedes dir begegnende Geschick zu ertragen, oder dies ist dir unmöglich. Trifft dich nun ein Schicksal, so sei darüber nicht ungehalten, sondern brauche deine natürliche Kraft, um es zu ertragen, übersteigt es aber deine natürliche Kraft, so sei doch nicht unwillig; denn nachdem es dich verzehrt hat, wird es selbst aufgerieben werden. Denke jedoch daran, daß du von Natur die Kraft hast, alles zu ertragen, was dir erträglich und leidlich zu machen von deinem eigenen Urteil abhängt, vermöge der Vorstellung, daß es dir fromme oder gebühre, also zu handeln.

4.

Irrt jemand, so belehre ihn mit Wohlwollen und zeige ihm seine Fehler mit Sanftmut. Vermagst du das aber nicht, so klage dich selbst an oder auch dich selbst nicht einmal.

5.

Alles, was dir widerfahren mag, war dir von Ewigkeit her so bestimmt, und die Verkettung der Ursachen hat von Anfang an dein Dasein und dieses dein Geschick miteinander verknüpft.

6.

Mag man nun die Welt als ein Gewirr von Atomen oder ein geordnetes Ganze ansehen, so steht doch soviel fest: ich bin ein Teil des Ganzen, das unter der Herrschaft der Natur steht; und zugleich bin ich notwendig mit allen mir gleichartigen Teilen in engem Zusammenhang. Denn jenes ersten Grundsatzes eingedenk, werde ich mit nichts unzufrieden sein, was mir als einem Teile vom Ganzen zugeteilt wird; kann ja doch nichts dem Teile schädlich sein, was dem Ganzen zuträglich ist; denn das Ganze enthält nichts, was nicht ihm selbst zuträglich wäre. Es gibt nichts im Weltsystem, was nicht dem Weltsystem diente. Dies haben alle Naturwesen miteinander gemein, und die Weltnatur hat noch den weiteren Vorzug, daß sie durch nichts von außen her gezwungen werden kann, etwas ihr selbst Schädliches zu erzeugen.Weil es außer der Welt nichts gibt. Denke ich also nur daran, daß ich ein Teil eines solchen Ganzen bin, so werde ich mit allem, was sich ereignet, zufrieden sein. Sofern ich aber mit den mir gleichartigen Teilen in enger Verbindung stehe, werde ich nichts gegen das Gemeinwohl tun, vielmehr werde ich, mit steter Rücksicht auf meine Mitmenschen, mein Streben ganz auf das allgemeine Beste richten und vom Gegenteil ablenken. Bei solcher Ausführung dieser Vorsätze muß mein Leben glücklich dahinfließen, so glücklich, wie der Wahrnehmung nach das Leben eines Bürgers dahinfließt, der von einer seine Mitbürger beglückenden Tat zur andern fortschreitet und alles, was ihm der Staat nur auferlegt, mit Freuden übernimmt.

7.

Alle Teile des Universums, das heißt alles, was die Welt in sich begreift, müssen notwendig zerstört oder, mit einem bezeichnenderen Ausdrucke, umgewandelt werden. Wäre nun dies für sie von Natur ein Übel und zwar ein notwendiges Übel, so hätte das Weltall bei dem steten Übergang seiner Teile zur Veränderung und ihrer vorherrschenden Bestimmung zur Zerstörung keine weise Einrichtung erhalten. Sollte aber wohl die Allnatur selbst die Einrichtung getroffen haben, ihren eigenen Teilen Übles zuzufügen, ja, sie nicht nur ins Übel zu stürzen, sondern diesen ihren Sturz sogar notwendig zu machen? Oder sollte es ihr verborgen geblieben sein, daß so etwas eintreten wird? Beides ist ja unglaublich. Doch wenn jemand, von der Allnatur absehend, diese Umwandlungen bloß aus der natürlichen Einrichtung der Dinge herleiten wollte, so wäre es bei alle dem lächerlich, einerseits zu behaupten, daß die Teile des Ganzen vermöge ihrer natürlichen Anlage sich verwandeln müssen, und anderseits über manches Ereignis als naturwidrig sich zu verwundern oder zu ärgern, zumal da die Auflösung in diejenigen Teile erfolgt, aus denen jedes Ding entstanden ist, sei diese nun eine Zerstäubung der Grundstoffe, woraus dasselbe zusammengesetzt ward, oder ein Übergang zum Beispiel der festen Teile in das Erdige, der geistigen in das Luftige, so daß auch diese in den Keimstoff des Weltganzen aufgenommen wurden, mag nun dieses nach einem bestimmten Kreislauf der Zeit in Feuer auflodern oder sich durch ewige Umgestaltungen wieder erneuern. Denke aber nicht etwa, daß jene festen und geistigen Teile deiner auflösbaren Konstitution von Geburt an dir ankleben, vielmehr ist dir ja dieses alles erst von gestern oder vorgestern durch die Speisen und durch die eingeatmete Luft zugeflossen. Nur das mithin, was auf solche Art deine Natur angenommen, nicht aber das, was von der Mutter Natur dir angeboren ist, wird umgewandelt. Wolltest du aber auch vorgeben, daß diese jenes mit deiner besondern Eigentümlichkeit so eng verflochten habe, so halte ich dies Vorgeben in der Tat für einen nichtigen Einwurf gegen das Gesagte.

8.

Hast du dir einmal die Namen: gut, bescheiden, wahrhaftig, verständig, gleichmütig, hochherzig erworben, so habe acht, daß du nie die entgegengesetzten Bezeichnungen verdienst, und solltest du diese Namen je verlieren, so eigne sie dir ungesäumt wieder an. Bedenke aber, daß das Wort klug bedeutet, alles sorgfältig und genau zu prüfen, »gleichmütig« willig das anzunehmen, was dir von der Allnatur zugeteilt wird; edelmütig bedeutet die Erhebung deines denkenden Teiles über jede leise oder unsanfte Erregung des Fleisches, sowie über den nichtigen Ruhm, den Tod und alles andere der Art. Wenn du dich nun im Besitz jener Ehrennamen behauptest, ohne jedoch danach zu verlangen, daß andere dich nach ihnen benennen, so wirst du ein ganz anderer Mensch werden und ein ganz anderes Leben beginnen. Denn immer noch so zu bleiben, wie du bisher gewesen bist, und in einem solchen Leben dich herumzerren und verunglimpfen zu lassen, wäre die Art eines Menschen, der ganz stumpfsinnig am Leben hinge, gleich jenen halbzerfleischten Tierkämpfern, die, mit Wunden und Eiter bedeckt, dennoch für den morgenden Tag aufgehoben zu werden flehen, obgleich sie doch denselben Nägeln und Bissen in gleichem Zustand vorgeworfen werden müssen. Arbeite dich also in den Kreis jener wenigen Namen ein, und wenn du dich in ihrem Besitze behaupten kannst, so bleibe hier, als wärest du gleichsam auf die Inseln der SeligenOder elysäische Gefilde nach der alten Mythologie: hierher kamen die Seelen derjenigen, die tugendhaft gelebt hatten. – versetzt. Merkst du aber, daß du aus ihrem Besitze fällst und nicht obsiegst, so ziehe dich mit Mut in irgendeinen Winkel zurück, wo du dich behaupten kannst, oder scheide lieber ganz aus diesem Leben,Marc Aurel meint, lieber tot als moralisch herabgewürdigt. ohne zu zürnen, vielmehr mit geradem, freiem und gelassenem Sinne, nachdem du das eine in diesem Leben bewerkstelligt hast, so aus ihm zu gehen. Um jedoch jener Namen eingedenk zu bleiben, wird für dich der Gedanke an die Götter sowie daran ein kräftiges Hilfsmittel sein, daß diese von allen vernünftigen Wesen keine Schmeichelei, sondern ihnen ähnlich zu werden verlangen und daß, gleichwie nur das ein Feigenbaum ist, was die Bestimmung eines Feigenbaumes, und das nur ein Hund oder eine Biene, was die Bestimmung eines Hundes oder einer Biene erfüllt, so auch der nur ein Mensch sei, der die Tätigkeit eines Menschen zeigt.

9.

Mimenspiel, Krieg, Schrecken, Erschlaffung, Knechtssinn können jene heiligen Wahrheiten täglich wieder bei dir auslöschen und die Ideen, die du dir gebildet, entreißen, wenn du nicht die Natur studierst. Man muß vielmehr alles so beobachten und betreiben, daß zugleich die praktische Urteilskraft vervollkommnet und die theoretische Vernunft in Tätigkeit gesetzt und die Zuversicht erhalten wird, die, aus allumfassender Einsicht stammend, zwar geheim, aber doch nicht verborgen bleiben kann. Denn alsdann wirst du deines geraden Sinnes, alsdann deiner Würde froh werden und erkennen, was jegliches Ding seinem Wesen nach ist, welche Stelle es in der Welt einnimmt, wie lange es seiner Anlage nach fortdauern wird, aus welchen Teilen es besteht, wem es zufallen, wer es geben und rauben kann.

10.

Eine kleine Spinne ist stolz darauf, wenn sie eine Fliege erjagt hat, mancher Mensch, wenn er ein Häschen, ein anderer, wenn er in seinem Netz einen kleinen Fisch, ein anderer, wenn er Eber oder Bären, und noch ein anderer, wenn er Sarmaten fängt. Sind denn aber diese, wenn man dabei die Triebfedern untersucht, nicht insgesamt Räuber?

11.

Lerne die Art der Verwandlung aller Dinge ineinander wissenschaftlich untersuchen, sei hierauf beständig aufmerksam und übe dich stets in dergleichen Betrachtungen. Denn nichts macht die Seele größer als dieses. Wer dies besitzt, der hat seinen Leib schon abgestreift, und wenn er bedenkt, daß er in nicht gar langer Zeit dieses alles verlassen und aus dem Menschenleben scheiden muß, so überläßt er sich in betreff dessen, was von ihm geleistet wird, ganz allein der Rechtschaffenheit, in betreff seiner Schicksale aber der Allnatur. Was aber andere von ihm sagen oder urteilen oder ihm zuwider tun mögen, das läßt er sich nicht anfechten; denn mit den zwei Punkten, nämlich das Rechte zu tun, was er jetzt zu tun hat, und in Liebe hinzunehmen, was ihm jetzt zugeteilt wird, zufrieden, läßt er alle anderen Geschäfte und Bestrebungen fahren und will nichts weiter als auf dem Pfade des Gesetzes in gerader Richtung zum Ziele schreiten und also der Gottheit folgen, die gleichfalls in gerader Richtung ihr Ziel verfolgt.

12.

Wozu die Besorglichkeit? Steht es ja bei dir zu untersuchen, was im Augenblick zu tun ist, und wenn du das einsiehst, wohlwollend und festen Schrittes diesen Weg zu wandeln; fehlt dir aber diese Einsicht, alsdann stehen zu bleiben und bei den Besten dir Rats zu erholen; sollten sich aber auch noch andere Schwierigkeiten dagegen erheben, den vorhandenen Mitteln gemäß mit Überlegung und fester Anhänglichkeit an das, was dir als Recht erscheint, vorwärts zu gehen. Dies ist das beste, was du tun kannst, während es zu verfehlen bedauerlich ist. Ruhig und doch zugleich leicht beweglich, heiter und doch zugleich gesetzt – so ist der Mann, der in allem der Vernunft folgt.

13.

Sobald du aus dem Schlaf erwachst, frage dich selbst: Betrifft es mich eigentlich, wenn ein anderer tut, was recht und gut ist? Nichts weniger!Die Gedanken anderer rechneten die Stoiker zu den gleichgültigen Dingen. Hast du's etwa vergessen, was diejenigen, die sich mit ihren Lobsprüchen und ihrem Tadel über andere brüsten, auf ihrem Lager oder bei Tische für Leute sind, was sie alles tun, was sie meiden, wonach sie streben, was sie heimlich oder gewaltsam rauben, nicht mit Händen und Füßen, sondern mit dem kostbarsten Teile ihres Wesens, mit einem Teile, aus dem, wenn mancher wollte, Treue, Bescheidenheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, ein guter Genius hervorgehen könnte?

14.

Der gebildete und bescheidene Mensch sagt zu der alles spendenden und wieder nehmenden Natur: Gib, was du willst, und nimm, was du willst; doch sagt er dies nicht mit trotzigem Sinne, sondern mit Gehorsam und Gelassenheit.

15.

Nur klein noch ist der Rest deines Lebens. Lebe wie auf einem Berge!Hier hat man freie Aussicht. Vgl. Matth. 5, 14: Ihr seid das Licht der Welt. Es mag die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Es liegt ja nichts daran, ob einer hier oder dort, wenn er nur überall in der Welt wie in seiner Vaterstadt lebt. Die Leute sollen in dir einen wahren, der Natur gemäß lebenden Menschen sehen und erkennen. Können sie dich so nicht vertragen, nun, so mögen sie dich töten; denn es ist besser zu sterben als wie sie zu leben.

16.

Es kommt nicht darauf an, über die notwendigen Eigenschaften eines guten Mannes dich zu besprechen – vielmehr ein solcher zu sein.

17.

Denke öfters an die Ewigkeit und die ganze Weltmasse und daran, daß jedes Einzelwesen, mit dem All verglichen, als ein Feigenkörnchen, und, verglichen mit der unendlichen Zeit, als ein Augenblick erscheint, in dem man einen Bohrer umdreht.Ein Bohrer läßt sich ohne Ende herumdrehen.

18.

Jedes Sinnenwesen, das du betrachtest, stelle dir als schon in Auflösung, Verwandlung, gleichsam Verwesung oder Zerstreuung begriffen vor; bedenke, daß jedes Ding nur geboren ist, um zu sterben.

19.

Was sind die Menschen, die nur essen, schlafen, sich begatten, ausleeren und nur tierische Funktionen verrichten? Und was, wenn sie die Herren spielen, stolz einhergehen, sich ungehalten gebärden und von ihrer Höhe herab mit Scheltworten um sich werfen? Welchen Menschen frönten sie noch vor kurzer Zeit und um welchen Lohn? Und was wird aus ihnen nach einer kleinen Weile werden?

20.

Was die Allnatur jedem zuträgt, ist ihm zuträglich, und gerade dann zuträglich, wann sie es zuträgt.

21.

»Den Regen liebt die Erde, ihn liebt auch der hehre Luftkreis. «Eine Stelle aus Euripides. Die Erde liebt zu tun, was geschehen soll. Daher sage ich zur Erde: Ich liebe, was du liebst. Ist's so nicht auch eine gewöhnliche Redensart: Das pflegt gerne zu geschehen?

22.

Entweder lebst du hier fort und bist alsdann schon daran gewöhnt, oder du gehst fort von hier und wolltest dann eben das, oder du stirbst, und dann hast du deine Aufgabe erfüllt. Ein Viertes aber gibt es nicht. Sei also nur gutes Muts!

23.

Immer halte dir vor Augen, daß dies Stück Erde auch ein Stück Erde sei, und daß du hier eben dasselbe findest, was jene, die auf dem Gipfel eines Berges oder am Seegestade, oder wo du sonst willst, leben.Wohin ich auch gehe, sagt Epictet, es gibt überall eine Sonne, einen Mond, Gestirne, Träume für den Schlaf, Vögel und die Allgegenwart Gottes. Du wirst Platos Wort bestätigt finden, magst du nun vom Stalle eines Hirten, der auf dem Gebirge seine Herde melkt, oder von einer Stadtmauer umschlossen sein.

24.

Was ist das Herrschende in mir? und was mache ich jetzt selbst aus ihm? oder wozu bediene ich mich jetzt seiner? Ist es einsichtsleer? oder von der Gemeinschaft getrennt und abgerissen? oder so an das elende bißchen Fleisch gekettet und mit ihm verschmolzen, daß es alle seine Bewegungen teilen muß?

25.

Wer seinem Herrn entläuft, der ist ein Ausreißer. Ein Herr ist auch das Gesetz; wer also dawider handelt, ist ein Ausreißer. So auch, wer sich betrübt, mit seinem Schicksal unzufrieden ist, fürchtet. Denn er will nicht, daß geschehen sei oder geschehen soll, was doch der Allgebieter, das Gesetz, angeordnet hat, der für jeden festsetzt, was ihm zukommt. Mithin ist der Furchtsame, Niedergeschlagene oder Aufgebrachte ein Ausreißer.

26.

Wenn man dem Mutterschoße den Samen anvertraut hat, geht man davon; nachher nimmt eine andere wirkende Kraft ihn auf, verarbeitet ihn und vollendet die Bildung des Kindes. Welch ein Wesen aus welch kleinem Anfang! Wieder schluckt die Mutter durch den Schlund Speise nieder, nachher nimmt diese eine andere wirkende Kraft auf und bereitet daraus Empfindung, Trieb und überhaupt Leben und Stärke und wer weiß, wie viele und welcherlei Dinge sonst! O wunderbare Wirkung der Natur! Betrachte nun diese so verborgenen Wirkungen und lerne die hierbei tätige Kraft kennen, wie wir auch die Kraft, vermöge der die Körper sich senken oder in die Höhe fahren, zwar nicht mit Augen, aber doch nicht minder anschaulich erkennen.

27.

Erwäge beständig, daß alles, wie es jetzt ist, auch ehemals war, und daß es immer so sein wird. Stelle dir alle die gleichartigen Schauspiele und Auftritte, die du aus deiner eigenen Erfahrung oder aus der Geschichte kennst, vor Augen, zum Beispiel den ganzen Hof Hadrians, den ganzen Hof Antonins, den ganzen Hof Philipps, Alexanders, des Krösus, überall dasselbe Schauspiel, nur von anderen Personen aufgeführt!

28.

Ein Mensch, der irgend worüber Trauer oder Unwillen empfindet, verfährt etwa wie ein Schwein, das an der Schlachtbank ausschlägt und ein Geschrei erhebt. Von ähnlicher Art ist auch der, der auf seinem einsamen Lager in der Stille unser menschliches Verhängnis bejammert. Denke doch daran, daß es dem vernünftigen Wesen allein verliehen worden ist, dem, was geschieht, freiwillig zu folgen; schlechthin aber sich darein zu schicken, ist für alle eine Notwendigkeit.

29.

Bei der Prüfung jedes einzelnen Gegenstandes, womit du zu tun hast, frage dich selbst: Ist der Tod etwas Schreckliches, weil er dich dieses Dinges beraubt?

30.

Sooft du am Fehltritt eines andern Anstoß nimmst, geh sogleich in dein Inneres und überlege, welchen ähnlichen Fehler du begehst, wenn du zum Beispiel Geld, Sinnenlust oder eiteln Ruhm und dergleichen für ein Gut hältst. Denn sobald du dies erwägst, wirst du deinen Zorn vergessen, zumal wenn es dir dabei noch einfällt, daß jener gezwungen wird, also zu handeln. Denn was kann er tun? Kannst du's aber, so befreie ihn von dem, was Gewalt über ihn hat.

31.

Siehst du Satyrio, den Sokratiker, so stelle dir den Eutyches oder Hymenes vor; siehst du den Euphrates, so denke an Eutychio oder Silvanus und auch an Alciphron und Tropäophorus, und bei Xenophons Anblick falle dir Kriton oder SeverusLehre Marc Aurels. S. I, 14. ein, und indem du auf dich selbst zurückschaust, stelle dir einen andern Kaiser vor, du findest immer etwas Ähnliches. Dann stelle dir zugleich die Frage: Wo sind nun jene? Nirgends oder wer weiß, wo? Denn auf diese Art wird dir alles Menschliche stets nur als ein Rauch, als ein wahres Nichts erscheinen, zumal wenn du dich zugleich daran erinnerst, daß das, was sich einmal verwandelt hat, in der unendlichen Zeit nicht mehr sein wird. Wie lange also du noch? Aber warum genügt es dir nicht, diese kurze Lebenszeit geziemend hinzubringen? Warum versäumst du Zeit und Gelegenheit? Denn was sind alle diese Gegenstände um dich her anders als Übungsmittel für die Vernunft, die alles im Leben mit gründlichem Naturforscherblick ansieht? Verweile also bei ihnen, bis du sie dir völlig zu eigen gemacht hast, gleichwie ein starker Magen sich gewöhnt, alles zu verdauen, oder wie ein loderndes Feuer aus allem, was man hineinwirft, Flamme und Strahlenglut bildet.

32.

Niemand soll in Wahrheit von dir sagen dürfen, daß du nicht lauter, daß du nicht rechtschaffen seiest; vielmehr sei der ein Lügner, der also von dir urteilen wollte. Das alles hängt nur von dir ab. Denn wer will dich hindern, rechtschaffen und geradsinnig zu sein? Fasse nur den Entschluß, nicht länger zu leben, ohne ein solcher Mann zu werden. Billigt es ja auch die Vernunft keineswegs, wenn du das nicht bist.

33.

Was kann man bei dieser Gelegenheit am treffendsten tun oder sagen? Es sei, was es wolle, so steht es ja bei dir, es zu tun oder zu sagen. Gib demnach nicht vor, als werdest du daran gehindert: Du wirst nicht eher aufhören zu seufzen, bis dein Gefühl dir sagt, daß das, was für den Wollüstling die Schwelgerei, für dich eine Tätigkeit sei, die bei jeder dargebotenen und vorkommenden Gelegenheit der menschlichen Natureinrichtung gemäß handelt. Denn eben als einen Genuß mußt du alles auffassen, was du deiner eigenen Natur gemäß wirken kannst. Und dies steht überall in deiner Macht. Der Walze freilich ist es nicht gegeben, nach eigener Triebkraft sich in jeder Richtung zu bewegen, ebensowenig dem Wasser oder dem Feuer oder dem übrigen, was unter der Leitung der Naturgesetze oder eines vernunftlosen Bewegungsprinzips steht; denn hier treten viele Hindernisse ein. Geist und Vernunft aber vermögen kraft ihrer natürlichen Beschaffenheit und ihres Willens über alles, was sich ihnen in den Weg stellt, hinwegzuschreiten. Diese Leichtigkeit, mit der die Vernunft so wie das Feuer aufwärts, der Stein niederwärts, die Walze auf schiefer Fläche überall durchzudringen vermag, stelle dir vor Augen, und du wirst nichts weiter verlangen. Denn alle übrigen Anstöße treffen entweder den Leib als eine tote Masse, oder sie können dich nicht schwächen noch dir sonst etwas Schlimmes antun, außer wenn dein Urteil oder deine Vernunft selbst sich dazu hergibt; sonst müßte ja der, der solchen Anstoß erleidet, in demselben Augenblick dadurch schlecht werden, wie dies bei allen übrigen Schöpfungen der Fall ist, daß, wenn dem einen oder dem andern von ihnen ein Übel zustößt, der leidende Teil dadurch schlechter wird. Hier aber wird im Gegenteil der Mensch, wenn man es sagen soll, noch besser und lobenswerter, wenn er die ihn treffenden Schwierigkeiten recht benutzt. Überhaupt aber denke daran, daß dem eingeborenen Bürger nichts schadet, was dem Staat nichts schadet, und ebensowenig dem Staat etwas schadet, was nicht gegen die Gesetze ist. Von diesen sogenannten Unglücksfällen aber schadet keiner dem Gesetz. Was also das Gesetz nicht verletzt, das schadet auch weder dem Staat noch dem Bürger.

34.

Wer von den Grundsätzen der Wahrheit durchdrungen ist, für den ist auch der kürzeste, selbst allbekannte Ausspruch genügend, um ihn an ein getrostes, furchtloses Wesen zu mahnen.

Es verwehet der Wind zur Erde die Blätter – – – – – – – So der Menschen Geschlecht.Ilias VI, 146-149:
Gleich wie die Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen, Einige streuet der Wind auf die Erd' hin; andere wieder Treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlings Wärme: So der Menschen Geschlecht! Dies wächst, und jenes verschwindet.

Blätter sind auch deine Kindlein; Blätter alles, was mit der Miene der Wahrheit und mit lauter Stimme andere lobpreist oder umgekehrt verwünscht oder insgeheim tadelt und verhöhnt, Blätter gleichfalls, was deinen Nachruhm fortpflanzen wird. Die Zeit des Frühlings bringt sie hervor, ein Windstoß wirft sie zu Boden, und hierauf treibt der Stamm wieder anderes an seiner Stelle hervor. Kurze Lebensdauer ist allen Dingen gemeinsam; du aber fliehst sie alle oder rennst ihnen nach, als ob sie ewig dauern würden. Über ein kleines, und auch deine Augen werden sich schließen, und den, der dich zu Grabe begleitet, wird bald ein anderer beweinen.

35.

Ein gesundes Auge muß alles Sichtbare sehen, ohne etwa zu sagen: Ich mag nur Grünes sehen; denn dies ist das Kennzeichen eines Augenkranken. So müssen auch Gehör und Geruch in ihrem gesunden Zustande für alles Hörbare und Riechbare empfänglich sein. Ebenso muß ein gesunder Magen sich allen Nahrungsmitteln gegenüber gleich verhalten, wie eine Mühle allem gegenüber, zu dessen Zermalmung sie eingerichtet ist. Es ist also auch die Pflicht einer gesunden Vernunft, auf alle Vorkommnisse gefaßt zu sein. Sagt aber jemand etwa: Möchten doch meine Kindlein am Leben bleiben, möchten doch alle jede meiner Handlungen loben, so ist der dem Auge gleich, das das Grüne, oder den Zähnen, die das Mürbe fordern.

36.

Niemand ist so glücklich, daß nicht unter denen, die sein Sterbebette umstehen, einige sein sollten, die sein herannahendes Ende willkommen heißen. War er auch ein trefflicher und weiser Mann, so findet sich doch am Ende noch jemand, der zu sich selbst sagt: Nun werden wir doch, von diesem Zuchtmeister erlöst, endlich wieder frei aufatmen können. Zwar hat er sich gegen keinen von uns strenge gezeigt, aber ich hatte doch immer das Gefühl, als verdamme er stillschweigend uns alle. Das kommt vor beim Tode eines Rechtschaffenen. Wie vieles andere aber mögen wir noch an uns haben, um derentwillen mancher uns loszuwerden wünscht? Daran denke in deiner Sterbestunde! Und du wirst leichter von hinnen scheiden, wenn du dir dies noch vorstellst: Ich soll eine Welt verlassen, aus der selbst meine Genossen, für die ich so viel gekämpft, gebetet und gesorgt habe, mich hinwegwünschen, indem sie davon eine etwaige Erleichterung hoffen. Warum sollte sich also einer an ein längeres Verweilen hier festklammern? Und doch scheide deshalb mit nicht geringerem Wohlwollen gegen sie von hinnen, bleibe vielmehr deiner eigentümlichen Sinnesart getreu und gegen sie freundlich, wohlgesinnt, mild; dein Abschied geschehe nicht mit Unwillen, als wenn du gewaltsam von ihnen gerissen würdest, sondern, wie die Seele des selig Sterbenden sanft dem Körper sich entwindet, so muß auch dein Scheiden aus ihrem Kreise sein. Denn die Natur hat dich einst an sie geknüpft und gekettet, aber jetzt löst sie das Band wieder. So will ich denn von ihnen, wie von meinen Hausgenossen, nicht mit Sträuben, sondern ohne Zwang mich ablösen lassen. Denn auch dies eine gehört zu den Forderungen der Natur.

37.

Gewöhne dich bei jeder Handlung eines andern daran, soviel als möglich dir die Frage zu beantworten: Worauf zielt dieser selbst damit hin? Mache aber bei dir selbst den Anfang, prüfe vor allem dich selbst!

38.

Denke daran, daß das, was dich wie an unsichtbaren Fäden hin- und herzieht, in deinem Innern verborgen ist. Dort wohnt die Überredungskunst, dort das Leben, dort sozusagen der eigentliche Mensch. Nie verwechsle mit diesem das dich einschließende Gehäuse und die ihm von allen Seiten angebildeten Werkzeuge. Denn sie sind eine Art von Verband, nur mit dem Unterschied, daß sie ihm angeboren sind. Denn die Körperteile sind ohne die sie bewegende und wiederum hemmende Kraft nicht mehr nütze als ein Weberschiff ohne Weber, eine Feder ohne den Schreiber, eine Peitsche ohne den Wagenlenker.


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