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Und wo n' ih goh, und wo n' ih stoh,
Das Heiweh will mih nit verlo;
Es zieht mih über Berg und See
Bis ih mi Heimeth wieder gseh;
Es zieht mi fort wie am e Band
Zu dir, o Schwyz, du lieblichs Land!
An einem schönen Herbstabend des verflossenen Jahres saß die Familie des Herrn von M. eines Landedelmanns aus der Nachbarschaft von Besançon, in ihrem herrlichen Garten, am romantischen Ufer des Doubs.
Herr von M., ein recht kräftiger Fünfziger, auf dessen hoher Stirne jedoch die sturmvolle Vergangenheit ihre chronologischen Typen zurückgelassen hatte, war an der Seite einer reizenden Dame von ungefähr dreißig Jahren, die ihren seelenvollen Blick unverwendet auf ihn heftete und mit der innigsten Anhänglichkeit an seiner freundlich-ernsten Erzählung den lebhaftesten Antheil zu nehmen schien. Der Sprecher kam an eine Stelle, die ihn sichtbar unendlich rührte, denn er heftete seine feuchten Augen und gefalteten Hände zum Himmel empor; eine feierliche Pause trat ein; – er schien zu beten. Die Dame streckte ihm liebevoll eine Hand entgegen, mit der andern zog sie ein wunderliebliches, mit allen Reizen einer blühenden Jugend reichlich ausgestattetes Mädchen an sich.
»Ach Heinrich«, hob die Dame mit unbeschreiblich süßem Tone an: »Heinrich, laß die Todten ruhen! umhülle nicht das fröhliche Bild der Gegenwart mit dem schwarzen verhängnißvollen Schleier der Vergangenheit. Die Donnerschläge der Vernichtungsepoche sind längst verhallt; die grausamen Stürme haben ausgewüthet und wenn sie auch deine großen Hoffnungen vernichteten, ja selbst deine Liebsten unter Trümmer begruben, so hadre doch darum nicht mit der Vorsehung, sie hat dir auf diesen Ruinen, wenn auch keinen stolzen Palast, doch eine freundliche Hütte gebaut,«
Herr von M., als wenn er in diesen letzten Worten einen leisen Vorwurf geahndet hätte, stand plötzlich auf, drückte die Dame und das holde Mädchen mit Innigkeit an seine Brust. »Vergib mir Emma, mein theures Weib!« so redete er die erstere in wehmüthigem Tone an, »vergib, wenn meine Phantasie so gerne bei den traurigen Bildern der Vergangenheit verweilt, wenn ich oft zu lange bei den Gräbern meiner Eltern und Freunde mich aufhalte, und dich, du süße treue Gefährtin, mit unserer guten Emilie allein stehen lasse. Glaube nicht, daß der Gedanke an das Verlorne auch nur einen Augenblick das Gefühl der Dankbarkeit für mein gegenwärtiges Glück zu schwächen vermag. – Alles mußte so kommen! – Wie der silberhelle Bach sanft und wohlthuend sich durch grüne Fluren hinschlängelt, nachdem er kurz vorher im tobenden Wasserfalle entwurzelte Bäume und Felstrümmer mit sich fortriß, so fließt jetzt mein Dasein, nachdem es sich durch Grabeshügel, Ruinen und Einöden Bahn gebrochen, im Schooß der Liebe und Freundschaft ruhig und ungetrübt dahin! – Hätte ich dich, liebe Emma, auf einem andern Wege wohl je angetroffen? – Hätte das Glück mich höher als mit unserer Emilie beschenken können? – Wie hätte ich einst, als ich, ein armer verlassener Jüngling, den von meinen Eltern und tausend Schlachtopfern mit Blut gedüngten Boden des mit Inbrunst geliebten Heimatlandes floh; als ich von Hunger, Furcht und namenlosen Leiden gefoltert zum erstenmal die schneebedeckten Riesen der Schweiz erblickte, und endlich jenseits der Grenze, auf dem freien Grunde des freundlichen europäischen Asyls, erschöpft niedersank, – wie hätte ich damals, auch mit der lebhaftesten Phantasie eines Franzosen hoffen können, ein Wesen wie dich, meine Emma, zu finden, um mit ihr einige Jahre später unter glücklichen Vorbedeutungen in das Land meiner Geburt zurückzukehren? – Die Wege der Vorsehung sind wunderbar!« – Dieses sagend, verließ Herr von M. mit seiner Familie die bisherige Stelle, und wandelte schweigend Arm in Arm mit seinen Gefährtinnen am Ufer des Doubs auf und ab. Plötzlich stand Emilie stille, gab mit der Hand ein Zeichen, um ihre Eltern aufmerksam zu machen, und wendete dann ihr Lockenköpfchen horchend nach der Seite eines benachbarten Wäldchens hin. Man vernahm einige ferne Töne, die melancholisch in das Säuseln des Abendwindes und das geheimnißvolle Murmeln der vorbeieilenden Wellen verschmolzen. »Das ist das traurige Lied unsers Claude!« rief das Mädchen und stimmte dann leise die Melodie desselben an. »Wie beginnt es doch?« Sinnend wog sie das Köpfchen eine Weile in der Hand und rieb die Stirne, »Nicht wahr, lieber Papa, es fängt an: L'encens des fleurs – embaume –« »Mein gutes Kind, ich habe den Claude noch nie singen hören, und kenne das Lied nicht.« »Du auch nicht, liebe Mama?« Die Mutter seufzte: »Ja wohl kenne ich ein Lied, welches so beginnt, Emilie; nicht wahr, der Refrain heißt:
O ma patrie!
O mon bonheur!
Toujours chérieu.s.w.
»Getroffen! getroffen!« rief das holde Kind mit den Händen klatschend, »Claude singt dieses Lied alle Tage, und wenn er dann zu den Worten kommt: o ma patrie, so wird er gar traurig, hebt seine Augen voll Thränen zum Himmel empor, und streckt die Arme nach der Ferne aus, als wenn er ein unsichtbares Gebilde umarmen, und an seine Brust drücken wollte.«
»Sonderbar! – sehr sonderbar«, sagte Herr von M., eine dunkle Erinnerung taucht jetzt in meinem Geiste auf. Diesen Refrain habe ich in jener Unglückszeit oft gehört, als ich von Alp zu Alp in den Schweizerbergen umherirrte. Er ergriff mich immer wunderbar und in meiner hülflosen elenden Lage seufzte ich, ganz anders gestimmt als die Hirten, diese fröhlichen Kinder der Natur: o ma patrie!« »Das Lied ist bei uns ganz einheimisch, lieber Heinrich!« fügte Emma hinzu, »Erinnerst du dich noch jenes herrlichen Maitages, als wir die tête de rang bestiegen und ich feierlich von meinem Vaterlande Abschied nahm, um dir als Gattin nach deiner Heimat zu folgen? Damals hörte ich dieses Lied zum letzten Male aus dem Mund eines Aelplers von Boudevilliers; die wehmüthigen Klänge sind in meinem Innern noch nicht verhallt!«
Unsere kleine Gesellschaft hatte sich nun unvermerkt unter diesen und ähnlichen Gesprächen dem Aufenthalt des Sängers Claude genähert. Bisher wurde er von der Familie von M. für einen politisch verfolgten Vendeer gehalten und seiner Zeit ohne andere Ausweistitel oder Empfehlungen, als die seiner offenen, ehrlichen Züge und die seiner augenscheinlichen Dürftigkeit, als Jäger, welchen Beruf er vollkommen zu verstehen vorgab, in den Dienst genommen. Er diente treu und redlich, war aber mit seiner Herrschaft nicht viel in Berührung gekommen, da Herr von M. wegen Kränklichkeit und vieler Geschäfte seit langem an der Jagd keinen Antheil nehmen konnte. Er war von Niemand besser gekannt als von der liebenswürdigen Emilie, indem er nie von seinen Zügen zurückkehrte, ohne ihr ein kleines Geschenk mitzubringen.
Herr von M. befand sich in derjenigen Stimmung, in welcher man so gerne die Thaten und Faten Anderer hört. Die Erinnerung an seine sturmvollen unglücklichen Jugendjahre hatte in ihm jene Wehmuth, jenes unnennbare Gefühl aufgeregt, mit welchem man wie ein tröstender Engel so gerne alle Leidenden an sein Herz drücken möchte. »Rufe mir den Claude«, sagte er zu seiner Tochter, »wir müssen doch mit ihm ein wenig näher bekannt werden.«
Claude erschien, freilich gegen die Etikette, Hand in Hand mit Emilien, verbeugte sich anstandsvoll vor seiner Herrschaft und gewärtigte mit dem Hut in der Hand ihre Befehle. – Mit Wohlgefallen betrachtete Herr von M. den schön gewachsenen, kräftigen Jüngling, auf dessen blassem Gesichte verborgener Kummer leicht zu entdecken war, – fragte ihn dann freundlich, wie es ihm in seinen Dienstgeschäften gefalle, ob er zufrieden sei oder irgend einen Wunsch zu äußern habe.
Ein leises Roth färbte die Wangen des Jägers. »Wie könnte ich anders«, erwiederte er, »als mit der höchsten Dankbarkeit das Glück anerkennen, bei Ihnen ein Asyl gefunden zu haben, das mir gegen die Stürme meines Geschickes sichern Schutz gewährt. Die Größe Ihrer Wohlthat kann durch meine schwachen Dienste nie vergolten werden! Was meine Wünsche anbetrifft, so stelle ich deren Erfüllung einer bessern Zukunft anheim, denn die Menschen« –
»Fahret fort, Claude!« sagte Herr von M., »enthüllt uns offen und zutrauensvoll Euer Inneres. Euch drückt geheimer Kummer, vielleicht vermögen wir ihn zu lindern. Jedenfalls gehören wir nicht zu jenen Menschen, auf welche Ihr so eben hindeuten zu wollen scheinet. Man muß die Heilung einer Wunde nicht der fernen Zukunft überlassen, wenn die Gegenwart vielleicht sie zu genesen vermag. Auch ich war einst unglücklich, die Revolution raubte mir Vaterland, Eltern, Vermögen. Meine Lage war um so schrecklicher, da ich, obwohl schuldlos, lange Zeit unstät und flüchtig, kein einziges Wesen fand, dem ich meine sturmbewegte Brust aufzuschließen wagen durfte. Im Winter hätte ich in Verzweiflung meinem harten Geschicke unterliegen müssen; zum Glücke war es Sommer. Die schöne Natur goß den Balsam des Trostes in mein Herz und die erhabenen Szenen der herrlichen Schöpfung belebten meinen oft sinkenden Muth und verliehen mir eine wunderbare Stärke. Als ich endlich die Gebirge Helvetiens erreichte und bei den fröhlichen Aelplern, gastfrei aufgenommen, das seltene Glück der Genügsamkeit kennen lernte, schmolz nach und nach die letzte Eiskruste meines Herzens, – ich beweinte den Opfertod meiner Eltern, die Zerrissenheit meines Vaterlandes und entwarf einen Plan für die Zukunft. – Ich mache Euch diese Mittheilung von meinen frühern Verhältnissen, Claude, weil ich euch derselben würdig halte und gleichzeitig darthun möchte, daß ich, selbst aus der Schule des Mißgeschickes hervorgegangen, Euch vielleicht helfen, wenigstens rathen könne.«
Nichts ist so sehr geeignet, uns bei unserm Mitmenschen die innerste Pforte seiner Seele aufzuschließen, als eine vertrauliche Eröffnung, die mit der Stimmung seines Innern harmonirt. Auch Claude vermochte diesem Andrange nicht zu widerstehen; seine Augen füllten sich mit Thränen, sein ganzes Wesen verrieth einen heftigen Kampf. »Sie sollen Alles wissen, bester Herr von M.! Sie sollen mich, den Sie unbekannt in Ihren Dienst aufgenommen haben, ganz kennen lernen. Ich will Ihre Güte wenigstens mit vollem Vertrauen erwiedern. Meine Geschichte ist kurz. Mein Vater ist ein wohlhabender Gutsbesitzer im Lande Neuenburg in der Schweiz.« Emma machte ein Zeichen der Verwunderung, jedoch unbemerkt, um Claude in seiner Erzählung nicht zu unterbrechen. »Nachdem ich mich wegen einer wichtigen Familienangelegenheit mehrere Jahre im Süden Italiens aufgehalten hatte, kehrte ich endlich nach dem glücklichsten Erfolge in den Schooß der Meinigen zurück. Manches hatte sich seit meiner Abwesenheit im Vaterlande umgestaltet, Manches schien sich noch in Folge der Ereignisse entwickeln zu wollen. Selbst in unserm Zwitterstaat Neuenburg offenbarte sich ein Geist, der wahrscheinlich schon vor den französischen Julitagen bestand, aber nicht so frei aufzutreten gewagt hätte. Gegenüber dem Adel oder der Hofpartei hatten sich republikanische Vereine gebildet, die, wenn auch einzelne heterogene Substanzen in sich enthaltend, doch nur einen Hauptzweck: Lossagung vom monarchischen Princip und innigere Verbindung mit unsern Eid- und Bundgenossen der übrigen Schweiz, anstrebten. Ich darf kühn behaupten, daß kein einziges Mitglied dieser Vereine aus Haß oder Abneigung gegen die Person des Fürsten von Neuenburg handelte, denn er erwies unserm Lande manche Wohlthat und würde bei uns vor Jedem den Vorzug genießen, wenn wir uns je entschließen könnten, einen andern Oberherrn anzuerkennen als das uns selbst gegebene Gesetz.
Was die republikanische Partei in ihrer Mehrheit that, geschah aus voller Ueberzeugung, nur für das heilige, in der Natur der Dinge selbst liegende Recht zu kämpfen. Es drängte sie unwiderstehlich, dem unseligen, in die inneren Angelegenheiten des Vaterlandes, im weitern und engern Sinne des Wortes, oft so hemmend entgegentretenden politischen Doppelzustande ein Ende zu machen, und sich frei und entfesselt von fremden Banden, den geist- und blutsverwandten Eidgenossen anzuschließen. Ich gehörte bald mit Leib und Seele zu den eifrigsten Patrioten. Die Geschichte unsers Kampfes und Unterganges ist Ihnen, Herr von M., gewiß zur Genüge bekannt. Der Ursachen des letztern sind mancherlei. Der Fürst hätte vielleicht selbst zur Umgestaltung unserer Verhältnisse Hand geboten, denn unser Land ist ja für ihn bloß eine ferne Kolonie, die ihm keinen Nutzen bringt, und zu welcher er weder Kanal noch Straße hat, allein eine gutgemeinte Dazwischenkunft entriß uns die erworbenen Vortheile zu Gunsten der Monarchisten. – Wir fielen; – unsere Feinde wollten nicht nur strafen, sie wollten sich rächen. Wer fliehen konnte, floh. Ich entkam glücklich, obwohl man mich sogar über die Grenze bis Villafangs verfolgte. Die Vorsehung führte mich nach Besançon und in Ihr gastfreies Haus.«
»Ich wollte Euch in Eurer Erzählung nicht unterbrechen«, sagte Frau von M., als Claude geendet hatte. – »allein schon Euer Lieblingslied brachte mich auf die Vermuthung, Ihr dürftet vielleicht wohl ein Landsmann aus der französischen Schweiz sein. Es freut mich nun um so mehr, meine Ahnung erfüllt zu sehen, da ich von Euch vernehme, daß Ihr ein Neuenburger seid; denn wißt, auch ich bin eine Angehörige jenes Landes. Aber wie heißt Euer Geburtsort? wo wohntet Ihr?« – »Ich bin in Boudry geboren«, erwiederte Claude, »und wohnte früher bei meinem Vater zwischen Boudry und dem See, am Ufer der Reuse.« – »Gott, Ihr seid also« –
Die Frage der Frau von M. wurde, auf eine für sie zwar angenehme, andern Leuten aber sehr zur Unzeit kommende Ueberraschung, unterbrochen, indem so eben zwei ihrer besten Jugenfreundinnen von Neuveville am Chasseral, mit der Post angekommen, sie wechselweise zum Erdrücken umarmten.
Ich übergehe diese und die nachfolgenden Szenen des Wiedersehens. Sie würden mich zu weit von der erwarteten Erklärung des Ausrufes: »Gott, Ihr seid also« – der allerdings auf eine alte Bekanntschaft schließen läßt, abführen und diese Geschichte ins Unendliche verlängern.
Kurz und gut! in dem mit unserm Claude fortgesetzten Verhöre kam heraus: daß er nicht so, sondern Wilhelm P* heiße und ein leiblicher Vetter der Frau von M. sei, den sie aber seit 12 Jahren nicht mehr, und damals bloß während den Ferien einige Tage bei einer Tante in V. gesehen hatte.
Unser junge Verbannte singt zwar noch sehr oft sein: O ma patrie! am schönen Ufer des Doubs, allein Emilie will bemerkt haben, es töne doch nicht mehr so traurig wie früher, und Wilhelm vergesse sich oft so sehr, daß er anstatt wie ehemals die Arme immer nach der blauen Ferne auszubreiten, dieselben manchesmal auch ihr entgegenstrecke.