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Meine Damen und Herren! Die heutige Versammlung scheint mir ein Symptom dafür zu sein, daß die Schulreformbewegung in ein neues Stadium eintritt. Bisher beschränkte sie sich darauf, eine Fülle von Einzelforderungen aufzustellen, Forderungen von Einzelreformen. Nun scheint es daraus hinauszugehen, diese tausend Einzelforderungen zu vereinigen oder, ich möchte eher sagen, zu erkennen, welches der eigene neue, unserer Kultur würdige, unserer Kultur entsprechende Schultypus ist, der dahinter steckt. Denn um diesen handelt es sich doch schließlich. In uns allen, die wir so lange Einzelforderungen aufgestellt haben für die Reform der Schule, lebt halb und halb unbewußt irgendein neuer Schultypus, irgendeine neue Schulidee, und mit ihr messen wir unwillkürlich dasjenige, was uns heute als öffentliche Schule geboten wird und was uns die öffentliche Schule bietet. Bisher hat man Reform auf Reform oder mindestens eine Forderung nach der anderen auf die Fundamente der alten Schule gehäuft, und jetzt dürften wir so weit sein, zu erkennen, daß diese Fundamente selber alle diese Reformen und Forderungen nicht mehr tragen würden, und wenn wir sie noch weiter belasten, zusammenbrechen werden. Man sagt uns: Historische Entwicklung! Gewiß; aber das, was sich zunächst einmal entwickelt hat, das ist unsere Kultur gewesen, und jetzt wollen wir nicht davor zurückschrecken, wenn unsere Schule nicht langsam einen Fortschritt auf den anderen akkumuliert, sondern etwas macht, was meinetwegen als ein Sprung angesehen werden kann. Und wenn gesagt wird, daß die Natur keine Sprünge macht, so ist der menschliche Geist doch vielleicht imstande, Sprünge zu machen; denn wenn wir die heutige Kultur mit der von vor zwei Jahrhunderten vergleichen, so ist das doch ein Sprung gewesen. Diesen Sprung hat die Schule nicht mitgemacht, sie muß ihn nachholen. Die Schule ist zurückgeblieben; wir können mit dem bisherigen langsamen Tempo die Zeit nicht mehr einholen.
Es handelt sich jetzt darum, einen neuen Schultypus zu denken, ihn zu denken aus dem Wesen und Wollen unserer Kultur heraus, und ihn nicht bloß begrifflich zu formulieren, ihn nicht bloß wissenschaftlich und literarisch zu vertreten, sondern ihn ganz real uns vor Augen zu rücken, ihn nicht bloß in unserer Vorstellung zu haben, sondern ihn wirklich vor uns hinzustellen, ihn konkret zu gestalten, eine wirkliche Schule, die weit in das Land hinausleuchtet, die allen ängstlichen und unklaren Gemütern zeigt: so etwas ist möglich. Und diesen Typus zu schaffen, hat eine Schule unternommen, die wir unter dem Namen » Freie Schulgemeinde« begründet haben. Nicht, um in ihr das Symbol einer neuen pädagogischen Sekte zu schaffen, sondern den Schultypus der Zukunft zu finden. Nicht einen dogmatisch für immer festgelegten; er soll anpassungsfähig sein, so daß er selbst mit der fortschreitenden Kultur sich fortentwickelt, daß er eine Generation hinausschickt in die Welt, die das unwiderstehliche Vorwärtsdrängen des Geistes der Menschheit freudig bejaht, freudig sich in seinen Dienst stellt, und der auch wirklich der Atem nicht ausgeht, wenn sie mit der sich entwickelnden Kultur Schritt zu halten sucht. Das ist es, was wir gewollt haben, indem wir die Freie Schulgemeinde gegründet haben. Ich will mit wenigen Strichen andeuten, wie dieser neue Schultypus beschaffen sein soll.
Zwei Komponenten sind es, deren Resultate die neue Schule ist. Das eine ist ein neuer Instinkt für die Jugend, das andere ist ein neuer Begriff von der Schule.
Die Jugend soll für uns nicht bloß Vorbereitungszeit sein; wir müssen über die Verängstigung primitiver Kulturstufen hinweg sein, daß wir nicht nur denken: wie bringen wir die Kinder über ihre Jugend möglichst rasch hinaus, wie bereiten wir das junge Volk für den schweren Kampf ums Dasein vor? Wir müssen jetzt einen ruhigeren Blick haben. Die sogenannte Kulturmenschheit hat die Existenzfrage, die Frage des Kampfes ums Dasein prinzipiell gelöst, wir sind der widerstrebenden Natur Herr geworden: Nun wollen wir unsere Jugend nicht mehr verkommen lassen aus Angst vor jenem Kampfe. Wir müssen sagen: Jugend hat ein eigenes Leben, ein eigenes Streben, und sie hat ein Recht auf dies eigene Leben, denn sie hat ihre eigene Schönheit; und so wahr wir das Recht der Schönheit anerkennen, obwohl sie nur Blüten und keine Frucht aufweist, so wahr soll die neue Erziehung das Wesen der Jugend bejahen, die Jugend soll ihr heilig sein.
Das ist das eine; und das andere ist der neue Sinn für die Schule. Wenn die Jugend ihren eigenen Wert hat, und wenn wir in unserem allgemeinen öffentlichen Denken dieses Ingrediens der Jugend nicht missen wollen, ihre Reinheit, ihre Unbestechlichkeit, ihre Geradheit, ihre Glaubenskraft und Begeisterungsfähigkeit, dann müssen wir ihr auch einen Platz schaffen, wo sie nach ihren besonderen Bedingungen leben kann, und das ist die Schule. Ich will keinen Blick werfen auf die Schule, wie sie heute ist; es erübrigt sich die Frage: Ist die heutige Schule wirklich der Platz der Jugend, wo Jugend sich erhalten, sich entfalten, sich ausbilden kann? Und das muß doch das erste sein. Wie weit wir davon entfernt sind, dafür nur ein Kennzeichen. Ich denke an das Gebiet der Körperkultur. Wie steht es da? Ja, wenn es physiologisch möglich wäre, die Jugend könnte ihre Köpfe abschneiden, sie auf die Bänke setzen und die Leiber zu Hause lassen! Die Schule soll aber eine wirkliche Heimat sein, wo sich die Jugend ganz mit ihrem ganzen Selbst zu Hause fühlt; darum muß die Schule mit dem vollen Nachdruck und voller Wertschätzung auch die Kultur des Körpers übernehmen, die Pflege seiner Gesundheit und Schönheit. Und seitdem man darauf aufmerksam geworden ist, daß auch die Hände ein Organ des Gehirns sind, gehört auch manuelle Betätigung notwendig zur Schularbeit.
Das ist das eine: Die Schule Heimat der Jugend, die Schule derjenige Platz, wo die Jugend ihre besonderen Lebensbedingungen in besonders vollkommener Weise erfüllt sieht!
Und dann das andere: Die Schule allerdings als große Vorbereitungsanstalt für die Zukunft. Gewiß; aber auch hier nicht in erster Linie die technische Vorbereitungsanstalt, die Vorbereitungsanstalt für diesen oder jenen Beruf. Die Schule führt die jungen Menschen aus der Enge des individuellen und häuslichen Lebens heraus in das freie Feld allgemeiner Interessen. Die bunte Welt der Erscheinungen verwandelt sich ihnen allmählich in einen Zusammenhang von Erkenntnissen, dem Gemüt erschließt sich nach und nach der große Lebensprozeß der Menschheit, in den es sich selbst mehr und mehr eingegliedert fühlt und eingliedern will. So hat die Tätigkeit der Schule fürwahr ihr Mandat von der ganzen Menschheit. Und wenn wir eine Schulgemeinde vor uns sehen, die ganze Jugend, Knaben und Mädchen, dann ist diese Jugend sozusagen die Menschheit selbst, eine Antizipation der einen, ideellen, künftigen Menschheit. So soll sich auch die Jugend der neuen Schule fühlen, Zukunftswille soll in ihr stark sein, der Wille, die große Aufgabe der Menschheit aufzugreifen und vorwärtszubringen, wo sie der alten Generation aus den Händen sinkt.
Solchen Geist zu erzeugen, ist die Aufgabe der Schule. Und daraus ergibt sich eine bestimmte neue Organisation des Unterrichts nach Inhalt und Form. Letztes Ziel aller Erkenntnis ist das zusammenhängende Weltbild. Diese zusammenhängende Weltanschauung, die Welterkenntnis, unserem gegenwärtigen Wissen entsprechend, muß von unten auf, von der Volksschule bis zur Universität herauf das große Ziel des Unterrichts sein, und durch dieses große Ziel müssen sich alle Einzelfächer rechtfertigen, von ihm her bekommen sie ihre Daseinsberechtigung und ihre Würde. Und natürlich muß der Unterricht in der Erkenntnis der Gegenwart wurzeln; und er muß für die Gegenwart ausrüsten und erziehen. Es handelt sich darum, Menschen hinauszuschicken, die Bescheid wissen in der Zeit, die wissen, wohin die Zeit steuert oder wohin wir die Zeit zu steuern haben. Das ist die andere Seite des Unterrichts. Er soll nicht nur orientiert sein an dem, was ist, sondern auch an dem, was sein soll. Er muß von einer starken Kulturgesinnung beseelt sein. Er muß wissen, welches die letzten Werte sind, für die er die Jugend in den Kampf schickt.
Das ist über den Inhalt des Unterrichts zu sagen. Aber auch die Form des Unterrichts muß neu sein. In dieser Beziehung ist die pädagogische Erkenntnis verhältnismäßig am weitesten gekommen. Man hat erkannt, daß das Wichtigste die Selbsttätigkeit des Schülers ist, und man hat ein ganz neues Schulsystem, das System der Arbeitsschule, aus diesem Grundsatz entwickelt. Diese Arbeitsschule bedarf vielleicht noch eines anderen Grundrisses. Es wurde vorhin Ihnen vorgeschlagen, daß im Mittelpunkt des Unterrichts das Begabungsfach stehen und sich darum peripherisch die allgemeinen Bildungsfächer gruppieren sollten. Ich möchte das fast umkehren. Ich meine, daß im Mittelpunkt die Aufgabe stehen muß, ein Bürger unserer Kultur, unserer Gegenwart zu werden, daß daraus ein einheitlicher Kulturunterricht für alle folgt, und daß sich darum die Einzelfächer gruppieren müssen. Also Mittelpunkt ein allgemeiner Kulturunterricht, der seine ganze Triebkraft empfängt von dem Enthusiasmus, den überall die Idee und die Ideale als solche erzeugen, wo sie nur ausgesprochen werden; und daß darum sich herumgruppieren die einzelnen Fächer, aber nicht mehr als »Klassen«, als Hörsäle, sondern in der Form von Arbeitsplätzen, auf denen die Schüler unter der Anleitung eines Lehrers anfangen selbst zu arbeiten und von Stufe zu Stufe mehr zur Selbständigkeit erzogen werden. Denn der Schüler muß befähigt werden, sich selbst zu unterrichten, das sei das letzte Ziel alles Unterrichts.
Mit dem neugearteten Unterricht hängt nun aufs engste zusammen dasjenige, wovon wir in unserer Schule noch weniger Ansätze finden, das ist die neue Schulverfassung. Wir nennen unsere Schule die Freie Schulgemeinde. Wir haben damit andeuten wollen, daß wir nicht Schüler und Lehrer als Subjekte und Objekte der Erziehung einander gegenüberstellen, sondern daß wir beide zusammenfassen als Schulgemeinde, daß sie beide nicht gegeneinander, sondern miteinander stehen, und daß die Form der neuen Schule Kameradschaftlichkeit ist, Kameradschaftlichkeit durch und durch, im Unterricht und in der Verfassung, Kameradschaftlichkeit nicht in einem sentimentalen Sinne lediglich persönlicher Vertraulichkeit oder gar Leutseligkeit, sondern als objektive Form des Schullebens, weil Schüler und Lehrer sich hier in der Schule in gemeinsamem Dienst finden, beauftragt damit, jetzt die Reserve heranzubilden für den großen Kampf der Menschheit. Vielleicht sind nicht immer die Lehrer in jedem Moment die Führenden, vielleicht nicht jeder Schüler in jedem Moment ein bloß Geführter. Führen soll, wer es kann. So muß es in der neuen Schulgemeinde aussehen. Es muß dahin kommen, daß die Schülerschaft selber ihre eigene gewissermaßen weltgeschichtliche Verantwortung empfindet. Es wacht das jetzt auch in der Jugend auf, sie kommt zu dem Bewußtsein, daß es von ihr abhängt, wie die Menschheit in zwanzig Jahren aussehen soll. Wenn die Schülerschaft ein Gefühl dafür bekommt, daß die Schule etwas Ernstes ist, und daß sie schon hier in der Schule mitarbeitet an dem großen Werke der Menschheit, so wird sie auch ihr eigenes Tun ernst nehmen. Und wenn das der Fall ist, so wird sich ein starker Wille der Jugend zu ihrer Schule herausbilden. Sie wird fühlen, daß sie hier nicht nur am besten aufgehoben ist, sondern daß die Schule ihr die Pforte zu einem höheren geistigen Leben, zu einem höheren Wollen und Handeln öffnet. Eine Jugend, die ihre Schule liebt, wird sie am besten zu schützen wissen. Darum ist es selbstverständlich, daß in der neuen Schule die ganze Schulgemeinde Trägerin des Schullebens, der Schulgesetzgebung und Schulregierung ist.
Das ist der Sinn und Geist der neuen Schulverfassung und nicht allerlei Experimente mit Schülerparlamenten, Schülerausschüssen usw. Das sind Formen, die können gut sein, die mag jede Schule nach ihren besonderen Bedingungen bilden; die Hauptsache aber ist der neue Geist. Und das muß der Prüfstein sein: Nur dann wollen wir zufrieden sein, wenn wirklich ein starker Wille in der Schülerschaft zu ihrer Schule besteht als zu einer Stätte, wo sie ihr wirkliches und ernstes Leben findet.
Das sind die letzten Instinkte gewesen, aus denen heraus die Freie Schulgemeinde geschaffen ist. Diese Schule ist ja nicht bloß eine Idee, nicht nur ein formuliertes Ideal, sondern sie besteht in einer bescheidenen, aber konkreten Wirklichkeit. Wir haben vor fünf Jahren oben in Thüringen auf einem kleinen Gut uns eingenistet, wir haben dort eine Schule begründet in der Form eines Internats für Knaben und Mädchen, und das, was ich hier vorgeführt habe als den neuen Schulgeist, die neue Schulgesinnung und neue Schulverfassung, das gibt es dort, das lebt dort und hat sich, ich glaube, man darf es sagen, bewährt.
Nun handelt es sich darum, diese neue Schule nicht bloß in einem abgelegenen Waldwinkel unter vielfach sehr prekären Bedingungen zu haben, sondern vor aller Augen, damit das Publikum an ihr ein konkretes Muster und den Maßstab seines Urteils habe und nicht nur zum Negieren gezwungen sei. Es handelt sich darum, daß wir zum Positiven durchdringen, und für die große Menge, die wir doch gewinnen müssen, ist es das allerwichtigste, daß wir sie verweisen können auf das Experiment und die konkrete Verwirklichung. Das ist es, was wir wollen. Wir wollen uns nicht damit begnügen, für eine Anzahl Kinder meist wohlhabender Eltern ein Heim zu haben, sondern wir möchten eine Schule haben, die gesehen wird, eine Stadt, die auf dem Berge liegt, wie es in dem alten Buche heißt, und deshalb nicht verborgen bleiben kann. Wir wissen, wo das neue Land der Jugend liegt. Es handelt sich jetzt nur darum, uns die Schiffe zu bewilligen, daß wir von dem neuen Lande Besitz ergreifen.
Die letzte Frage wird doch sein: werden wir dahin gelangen, mit gutem Gewissen und wirklicher Freudigkeit an die Schule zu denken? Und dazu wollen wir beitragen. Wir wollen dazu beitragen, daß die herrlichen Möglichkeiten, die in der Schule liegen, zur Verwirklichung kommen können; daß der Name Schule wiederum ein Ehrentitel wird. Wir wollen wieder zu einer wirklichen Liebe zur Schule, zu einer wirklichen Bejahung der Schule durchdringen. (Lebhafter Beifall.)
Dr. Ludwig Fulda: Das Wort hat Herr Generalsekretär Tews.