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Geehrte Anwesende! Wenn ich mir den Kampf um die Schule von heute vorstelle, so taucht mir unwillkürlich ein Bild aus dem Jagdleben auf: zwei stolze Hirsche, die sich beim Kampf so mit ihren Geweihen ineinander verwickelt haben, daß zuletzt keiner mehr los kann und beide elendiglich zugrunde gehen müssen. So ringt vor uns eine Schülerpartei mit einer Lehrerpartei, und immer wieder will es scheinen, als sei auch das ein solcher hoffnungsloser Kampf, bei dem die Dinge überhaupt nicht von der Stelle rücken.
Die Schülerpartei ist heute ganz und gar keine Partei unreifer Kinder. Es ist eine Partei von gereiften, erwachsenen Menschen, die einmal Schüler gewesen sind und die zurückblicken; und die selber wieder um das Wohl ihrer Kinder mitschauend und vorschauend besorgt sein müssen. Diese Partei, beständig anwachsend in der Zahl und im Gewicht ihrer Stimmen, ist eine durchaus ernst zu nehmende und muß gehört werden. Sie behauptet aber, daß der Lebensgewinn, den uns die Schule (speziell die höhere in ihren langen Jahren) bietet, nicht genügend sei, ja, daß schwere Schäden angerichtet würden. Irgend etwas müsse hier grundsätzlich verfehlt sein, gegen das sich eine dauernde Lebenserinnerung, Lebensempfindung auch der mildesten, gerechtesten Urteiler nachträglich ein Menschenleben lang auflehne. Die Schuljahre erschienen in keiner Weise als die Jahre, wo in uns der Idealismus erzogen würde, der uns nachher in den Kämpfen, Rätseln und Fügungen des reifen Lebens als das leuchtende Palladium der Menschheit begleiten und bestimmen sollte. Ob nun später dieses Leben hell oder dunkel geworden sei, – diese Schuljahre erschienen auf alle Fälle in der vollkommenen Nachtseite unserer Lebenserfahrungen. Wie ein dunkler Schatten schleife es von hier durch unsere Erinnerung. Im Albtraum des Mannes tauche noch die »Schule« als Gespenst auf. Glückliche Kindertage habe sie rücksichtslos durchkreuzt, – unter dem Vorwand, uns für den Ernst des Lebens zu erziehen, habe sie selber uns Bittereres angetan, als in unzähligen Fällen das schlimmste spätere Schicksal konnte. Die Klage über dieses Bittere hat etwas Rührendes, wenn sie hilflos aus dem Munde des Kindes selbst kommt; aber man könnte annehmen, daß das Kind ein Prinzip nicht gleich verstehe, das vielleicht zu seinem Besten erdacht sei, – es werde es später rückschauend schätzen lernen; auch pflegt das unverwüstlich glücksdurstige Kindernaturell dieser Jahre im Moment immer wieder (es gibt leider auch davon Ausnahmen) über den Schatten fortzudrängen. Aber erschütternd und nicht mehr abzulehnen muß die Gegenprobe auf das Exempel eben in der Kritik der späteren Reifejahre sein, wenn sie so vernichtend ausfällt, wie es bei Tausenden und Tausenden unserer edelsten, besonnensten Charaktere heute der Fall ist, die der Methode unserer Schulerziehung nachträglich den denkbar schwersten ethischen Vorwurf machen. Mit diesem ethischen, diesem idealistischen Vorwurf verknüpft sich gerade bei diesen Rückschauenden dann vielfach noch ein zweiter. Er betrifft die reine Sachleistung (wesentlich wieder der höheren Schule) für das Leben. Wir sehen nicht nur, daß die vielen Jahre dort bitter gewesen sind, uns in unserem Lebens- und Jugendglück heruntergedrückt haben; sondern wir sehen auch ein, daß mit all dieser bitteren Medizin ganz unbegreiflich wenig an positiven Lernwerten erreicht worden ist. Unsere Gaben sind nicht entwickelt, unsere Allgemeinbildung ist nicht genügend begründet worden; unser Gedächtnis ist mit Ballast belastet worden, ohne daß wir im speziellen nachher davon Gewinn gehabt hätten. Es ist ja gewiß, daß keine Kulturinstitution unfehlbar ist; immer einmal wieder wird etwas praktisch versehen werden, wird ein einzelner leiden; aber wenn der Ruf nach Änderung so übereinstimmend aus den allerverschiedensten späteren Berufen von so Unzähligen kommt, muß die Hauptsache, muß die Regel schlecht sein. Und es scheint auch nicht, daß die einzelnen Experimente mit Nachfüllen oder Auslassen im engsten der stofflichen Lehrpläne, wie sie in neuerer Zeit (in bester Absicht des Helfens zweifellos) gemacht werden, wirklich etwas helfen. Der Grundschaden muß tiefer liegen. Vielfach ist die Meinung verbreitet, daß die eigentlichen Mißstände, die zur Opposition reizen, in der letzten Zeit sogar immer mehr zu-, anstatt abgenommen haben, trotz aller wohlmeinenden Versuche. Und ich muß nach meinen persönlichen Erfahrungen dem leider beipflichten: ja, die Dinge, die man zum Vorwurf macht, werden für den, der sie für schlimm hält, gegenwärtig jedenfalls immer noch schlimmer.
Auf der anderen Seite die Partei der Lehrer! Sie ist im allgemeinen heute nicht ganz so geschlossen wie die da drüben. Das Häuflein derer, die konsequent daran festhalten, daß alles auf ihrem Felde schon so gut sei, wie heute und in absehbarer Zeit menschenmöglich, ist nicht mehr so sehr groß. Die Masse der hellen Köpfe dort wendet sich wohl im praktischen Kampf gegen die andere Seite, hält sich gern an die oft ungeschickte Form drüben und redet mit Bezug auf sie von Gefühlsduselei für das Ethische und Unmöglichkeitsforderungen vom Hundertsten ins Tausendste für das Stoffliche. Im innersten Schubfach wissen sie aber mehr oder minder alle selbst, daß etwas faul ist, alles will von Herzen doktern, es bleibt nur immer wieder dunkel, wo eigentlich der Krebs sitzt. Viele sehen das Heil in einfachen Änderungen der Lehrfächer nach der rein stofflichen Seite. Es wird betont, wieviel da in letzter Zeit schon gearbeitet und umgeschaffen sei. Was für einen breiten Raum zum Beispiel die Naturwissenschaft schon einzunehmen beginne. Wie früher verachtete Disziplinen (z.B. das Zeichnen) seit kurzem ganz anders herangezogen würden. Andere weisen auf gewisse (meines Erachtens durchweg noch nicht allzugroße) Besserungen in den gesundheitlichen Verhältnissen der Schulen, oder auf die zweifellos glänzenden und schlechthin anerkennenswerten Fortschritte in den äußeren Lehrmitteln, z.B. beim Physikunterricht, hin. Das alles aber hat tatsächlich mit der Methode gar nichts zu tun, die man drüben meint. Sie kann sich bei den prächtigsten Neuerungen und Neuerfolgen jener Art nach unglücklichstem Gesetz fortgesetzt für ihr Teil verschlechtern. Die Besonnensten der Lehrerpartei weisen jedenfalls auf eins. Das Bildungsbedürfnis wird immer größer, es drängen immer mehr auch zu den höheren Schulen heran, die Klassen werden immer mehr überfüllt, die Anforderungen auch an den Lehrer werden immer unendlicher, ein wahrer Unterricht im alten Sinne individueller Pädagogik wird immer unmöglicher. Schon sind die Dinge ganz nahe so, daß nicht mehr vom Siege oder Falle irgendeiner Methode der Pädagogik die Rede sein kann, sondern vom Zusammenbruch jeder eigentlichen Pädagogik überhaupt bei diesen Schulzuständen. Der Lehrer kann vor solchen Massen, denen er bei der gegebenen Sachlage gegenübergestellt ist, in der Schule nur noch mechanisch aufgeben und tags darauf abhören; für die Pädagogik bleibt keinerlei Zeit, und der Einzelschüler wird einfach eine Nummer im Apparat, nicht mehr. Schließlich könnte der Lehrer in dieser Rolle auch durch einen Aufgebe- und Abhörautomaten, der nachher wie ein Zählautomat die Zeugnisziffern anzeigt, ersetzt werden. Dieses Argument muß natürlich auch ernsthaft gehört werden, obwohl es meines Erachtens die eigentliche Frage verschiebt; es geht nämlich ins Soziale und in die Geldfrage: wieviel wir schließlich an nationalen Geldquellen für Bildungszwecke besitzen, um die Lehrkräfte zu vermehren, und diese Massenabfütterung, die in Wahrheit gegenwärtig kein Nationalwert, sondern eine Nationalvergiftung ist, zu beseitigen zugunsten wieder wirklicher, pädagogisch ernst zu nehmender Lehrmöglichkeiten. Aber dabei bleibt doch, daß über die Pädagogik der Schule, wo überhaupt solche möglich ist, auch selber noch in jenem anderen Parteisinne debattiert werden muß.
Nun gibt es ja, wenn die Dinge irgendwo scheinbar so ganz unlösbar aufeinanderprallen, immer einen sehr bequemen Ausweg. Man stellt sich auf den reinen rohen Kampf-ums-Dasein-Standpunkt. Opfer seien überall nötig. Soundso viele Menschenkinder kämen doch durch, seien immer durchgekommen durch alle Schulmisere, hätten ihr Teil nachher doch geleistet, ob die Schule nun grau oder hell war, ob sie genützt habe oder nicht. Eine Art »natürlicher Zuchtwahl« möge immer wieder auch da sich durchsetzen. Sie schlachte ihre Opfer, aber ohne die gehe es nun einmal nicht ab, zuletzt lägen in ihr doch auch gewisse langsame Regulierungen, die von selbst ausschalteten, was zu arg würde. Mehr könne man nicht verlangen in der allgemeinen Misere des Lebens, von der doch auch die Schule nur ein Teil sei, und jede Forderung des Ideals über das hinaus sei Phrase.
Ich meine aber, das ist doch längst nicht mehr der Standpunkt unserer bewußten Menschheitskultur. Es ist nicht der Standpunkt einer Kultur, die überhaupt eine Schule geschaffen hat. Und es ist ganz gewiß nicht der Standpunkt unseres Kreises hier. Wenn wir Darwinismus treiben und auch den Menschen von niederen Lebensformen auf natürlichem Wege heraufentwickelt denken, so heißt das nicht, daß wir diesen Menschen auf der Höhe seines Bewußtseins und all seiner idealen Kulturerrungenschaften wieder in die blinden und rohen Kampf-ums-Dasein-Formen niedrigerer Lebewesen zurückschrauben wollen. Wo immer Kulturmenschen heute zusammentreten zu einer wirklichen Kulturerörterung – einerlei, ob sie nun viel Macht haben oder wenig, ob sie glückliche Ideen haben oder weniger glückliche – wenn sie nur an wirkliche Kulturwege denken zum Durchsetzen – so werden sie die Opfer (die Menschenopfer vor allem) scheuen und einen geraderen, bewußteren, zielsichereren Weg suchen als den der blinden Zuchtwahl und ihrer Brutalität. Längst haben wir uns in der Theorie und in weitem Maße doch auch schon in der Praxis dazu erhoben, unseren gesamten Kulturbesitz, zu dem auch unsere Schule und unsere Jugend gehört, als ein großes einheitliches Haushaltskapital anzusehen, mit dem nicht wüst darauf losgewirtschaftet werden darf, sondern dessen Energien und Energiequellen mit bewußter Planmäßigkeit erkannt und ausgenutzt werden müssen. Unser Glück, unser Reichtum, unsere Kraft, unser Fortschritt liegen in diesem vernünftigen Überschauen und Verwerten, bei dem zuletzt kein Posten der Verschwendung und dem wüsten Experimentieren ins Blaue hinein überlassen bleiben darf. Wie immer wir uns zu der Lösung jenes Schulkonflikts stellen mögen: festhalten müssen wir, daß er vernünftigerweise nur im Sinne dieses unseres haushälterischen Kulturbewußtseins und seiner Mittel gelöst werden dürfe, wenn er zu lösen ist.
Gerade wenn wir uns aber resolut auf diesen Standpunkt stellen, so muß er selber uns, meine ich, auch Ausgangspunkt gewisser Betrachtungen werden, die schon reformierend, bessernd und mildernd in jenen Konflikt selbst und die ganze Sachlage der Schule von heute eingreifen könnten, wenn man sich nur bei beiden Parteien ganz klar darüber werden wollte.
Wo immer wir in unseren Kulturhaushalt von heute und seine Kapitalien schauen, da sehen wir auch zwei Energiequellen, die der umsichtige Verwalter zur Verfügung hat. Die eine ist das Neue, das Nochniedagewesene, nie bisher im Kreislauf der Kultur Umgetriebene, das Juvenile, wenn ich so sagen soll, – das, was unsere Forschung, unsere Kunst, unsere Technik, unser sozialer Fortschritt, unser Tiefer- und Höherdenken und -sehen täglich mehr hinzu ergreift und unserem großen Kulturorganismus neu einverleibt. Ich meine dabei nicht bloß Energie im engeren, mehr technischen Sinne, sondern im weitesten Begriff neuen Betriebsmaterials unseres gesamten körperlichen wie geistigen, individuellen wie sozialen Kulturdaseins und Kulturinhalts, – also von dem Endchen Elektrizität, das wir mehr in unserem Dienst laufen lassen, bis zu dem originalen Gedanken eines Philosophen, der fortan bei uns weiterwirkt, oder der heiligen Schaffensstunde eines großen neuen Meisterwerkes der Musik oder Malerei. Auf der anderen Seite aber haben wir die fortsprudelnden Quellwerte der Vergangenheit, die nicht tot sind, sondern immerzu noch weiteres Leben in unsere Kultur hineingeben, das wir ebenfalls fort und fort besonnen ausnutzen müssen. Das Überkommene, in dem schon so lange, lange Kulturarbeit steckt, das aber immer auch noch wieder neu ausgeschmolzen, neu ausgemünzt, neu noch von uns wieder durch eigene Arbeit in seinem Feingehalt für uns erschlossen werden kann als lebendiger Energiewert. Das von unseren Vätern Ererbte, das wir immer neu erwerben sollen, um es zu besitzen. Herr Geheimrat Ostwald hat Ihnen vorhin gesagt, wir sollten unsere Ideale nicht in der Vergangenheit suchen, und in bestimmtem Sinne ist das zweifellos richtig, – soweit diese Vergangenheit nämlich wirklich tot ist. Wo sie aber noch lebend bei uns mitschafft, wo sie erleichternd in unser Leben eingreift, wo sie sich selber in glücklichster Weise noch als entwicklungsfähig erweist, da muß auch sie für uns köstlichstes Kapital sein in allem Realen wie in allem Idealen unseres Kulturhaushalts.
Gerade dieses Vererbungskapital und seine besonnene Ausnützung ist es nun aber, für das ich hier bei der Schulfrage Ihre engere Aufmerksamkeit, meine verehrten Anwesenden, für einen Moment in Anspruch nehmen möchte, um Ihnen eine wirklich blutende Wunde daran aufzuzeigen, die nach meiner Überzeugung unbedingt in unserem Schulwesen, wie es jetzt ist, blutet. Eine Wunde, die wir mit in erster Linie schließen müßten, wenn wir uns eine kulturell besser leistungsfähige »Schule der Zukunft« ausmalen wollen.
Das noch lebendig brauchbare Vererbungsmaterial, das unsere Kultur mitführt, zerfällt wieder für sich in zwei Rechnungsposten gewissermaßen. Der eine ist der unabsehbare Schatz, der äußerlich greifbar und sozusagen zum Werkzeug geworden in dem ganzen riesenhaften Komplex unseres äußerlich lehrbaren Wissens steckt, – alles also, was in unseren Büchern, unseren Wissenschaften, unseren überlieferten Kunstleistungen, unseren lernbaren Methoden auf allen Gebieten aufgehäuft und angesammelt ist, diese äußerlich sichtbare Schatzkammer, die bereits weite Gebiete unseres Planeten bedeckt wie eine Art projizierten Gehirns der Kultur selbst, das bleibt und weiterdenkt, während die Generationen der Menschen dahinziehen, und an dem diese Generationen immer wieder lernen und in die großen Fortschrittsziele hineinwachsen können trotz der ewigen Mäharbeit des Todes, die dazwischen ihren Weg schreitet. Um die Art, wie dieses Dauermaterial möglichst rasch für die junge Generation immer wieder erschlossen werden soll, damit sie mit ihm weiterschaffen kann, geht schon ein starker und berechtigter Teil des Schulkampfes von heute, – wieviel wirkliches grobes Stoffmaterial wir schon in der Schule davon übermitteln sollen oder ob wir in der eigentlichen Schule uns (abgesehen vom gröbsten kulturellen Handwerksmaterial) wesentlich bloß auf allgemeine Benutzungsmethoden und orientierende und anregende Übersichten ohne verfrühte einseitige Gedächtnisbelastung beschränken dürfen. Auf das, an sich interessant genug, will ich hier aber weniger eingehen, als auf den folgenden zweiten Punkt, der selbst von solchen Schulreformern, die sich dort bereits sehr klar entschieden haben, vielfältig noch übersehen zu werden pflegt.
Wir haben nämlich noch eine zweite Sorte lebendigen – und sogar im eigentlichsten Sinne sehr lebendigen – Vererbungsmaterials in unserem Kulturhaushalt, das nicht nur überhaupt zu unserem subtilsten, aber auch allerwirksamsten, allerkostbarsten Kulturbesitz gehört, sondern das auch in schlechterdings einzigartiger Weise die ganze Schulfrage angeht. Das sind die vererbten Dispositionen unserer Kindergehirne mit ihrem entschiedenen Variieren in bestimmte Anlagen hinein, die großen und wichtigen Gebieten und Tendenzen unseres Kulturlebens offensichtlich entsprechen und bereits entgegenkommen. Die bereits von Natur mitgegebenen Veranlagungen unserer Kinder, die mehr oder minder starken Geburtstalente für dieses oder jenes Fach.
Unsere Kinder kommen schon auf die Welt und sie kommen ganz zweifellos zur Schule mit einer ganzen Fülle solcher von Anfang an gegebenen, irgendwie schon im Gehirn überlieferten Dispositionen. Sie bringen individuell Anlagen mit, die ganz unzweideutig gewissen Kulturgebieten, Kulturforderungen, Kulturmaterialien bereits entgegenkommen, in deren Linie hineinlenken von sich aus. Die Anlagen sind dabei aber verschieden: die einen lenken mehr auf dieses, die andern mehr auf jenes Gebiet dort. Es variiert etwas auf »Kultur«, aber die Einzelfälle gehen mit ihrem Plus, ihrer stärkeren Kraft des Entgegenkommens abwechselnd auf die verschiedenen Varianten, die verschiedenen Stoff- und Arbeitsgebiete dieser Kultur selbst.
Es liegt ja hier ganz allgemein ein hochinteressantes Feld für den Naturforscher, das nur leider von streng naturwissenschaftlicher Seite bisher weder beobachtend noch experimentell genügend beackert worden ist. Während über allerlei Vererbungsprobleme (z. B. auch beim Menschen über die äußerliche Vererbung erworbener Verletzungen des Körpers und ähnliches) eine ganze Bibliothek an neueren Schriften vorhanden ist, sind die angeborenen kulturell wertvollen Plusanlagen des Gehirns bis jetzt geradezu auffallend stiefmütterlich in der neueren fachwissenschaftlichen Literatur behandelt worden, und fast möchte man meinen, das habe einen inneren Zusammenhang gerade mit der Art, wie unsere Schule sich zu ihnen zu stellen pflegt. Von den ganz großen Genietreffern ist wohl einmal die Rede, z. B. von dem sporadisch auftauchenden ganz eminenten Musiktalent. Aber diese eigentlichen Riesentreffer, diese »großen Lose« der Variationslotterie sind doch nur die seltensten Fälle. Weit lehrreicher als eine menschliche Regelerscheinung, die immerzu studiert werden kann, müssen gerade die zahllosen, alltäglichen Fälle der kleinen, aber doch auch ganz ausgesprochenen Talentdispositionen für dieses oder jenes Fach sein, – sie haben aber noch kaum einen wirklich gründlichen Monographen gefunden. Manchmal wird die ganze Sache sehr einfach abgetan. Als Beweis, wie gering doch noch der Zusammenhang zwischen unserer Menschenkultur und den neugeborenen Gehirnen sei, wird etwa darauf hingewiesen, daß auch das begabteste Menschenkind heute noch immer nicht ohne äußere Hilfe auch nur sprechen könne. Und wie uralt sitze doch die Sprache schon in der Kultur! In Wahrheit ist (abgesehen von dem sehr verschieden raschen Erlernen auch des Sprechens bei den einzelnen Kindern, was hier schon auf Anlagenvarianten weisen dürfte) über das Bestehen einer allgemeinen Disposition zum relativ sehr leichten Sprechenlernen bei all unseren normalen Kindern kein Zweifel; niemals würde das Sprechen sonst so unglaublich rasch und so spielend gelernt werden, und man braucht sich bloß in Gedanken neben das Menschenkind ein Orangkind zu setzen, das es mit allem Vorsagen nie lernt, um klar zu sehen, daß hier beim Menschen zwar die Sprache nicht fix und fertig da ist, aber wohl auch ihr, wenn die Lehre von außen hinzutritt, innerlich schon etwas sehr Energisches als angeborene Disposition entgegenkommt, das die Arbeit ums soundso vielfache leichter macht, ihr eine Masse sonst nötiger Energie erspart. Solche erweckbare, entgegenkommende, an der äußeren Reizenergie sparende Disposition macht aber gerade ja das charakteristische Merkmal von etwas »Vererbtem« aus. Wohl ist der äußere Reiz durchweg auch noch nötig (beim Sprechenlernen also etwa das Hören vorgesprochener Worte), damit die Anlage überhaupt wieder aufwache; aber wo sie dann vorhanden ist, da hat schon ein ganz anders schwacher, halber Reiz Erfolg bis zum vollen Auslösen, als er dort nötig wäre, wo nichts von ihr aus innerlich entgegenkommt. Und solches Entgegenkommen und Energiesparen ist nun auch das Charakteristikum jener engeren, individuell wechselnden Plusanlagen auf Kulturwerte hin, die ich meine, z. B. wenn ein Kindergehirn schon gleich beim ersten Antippen durch Lehre ausgesprochenes Entgegenkommen für Musik oder Mathematik oder sonst einen Kulturwert spezieller Sorte zeigt.
Ich will dabei hier nicht näher auf die wissenschaftlich heute noch sehr kitzlige Frage eingehen, ob solches angeborene Talentvariieren auf Kulturtendenzen hin bei uns heute schon eine echte Vererbung kulturell erworbener Eigenschaften ist, oder ob hier noch immer etwas Uraltdunkles bloß konzentriert weiter variiert und gelegentliche Treffer wirft, was schon vor aller Kultur war und aus dem heraus sich diese Kultur erst selber durch lange Zuchtwahlprozesse fixiert hat. Mit anderen Worten: ob in den entgegenkommenden Talenten unserer Kinder schon die Arbeit unserer Väter in langen Generationen steckt, ob die Kultur, so lange geübt, hier schon selber sich als Gehirndisposition in soundso viel Fällen und Einzelformen direkt durchsetzt, sich selber gleichsam den Weg für die Folge erleichternd; oder ob zwar nicht das durch Arbeit Erworbene unserer Ahnen hier wiedererscheint, wohl aber irgendeine Gesetzmäßigkeit weiter waltet, die diese Ahnen schon gefördert hat und die Kinder und Enkel jetzt wieder fördert, indem sie jedenfalls beständig höchst erwünschte Treffer heute wie damals in der Richtung unserer besten Kulturtendenzen in das große Menschenspiel wirft. Es läuft das auf den Zwist über die Möglichkeit oder Nichtmöglichkeit von Vererbung »erworbener Eigenschaften« hinaus, der bekanntlich heute in der Biologie noch heftig tobt. Ich persönlich neige auf Grund der neuesten theoretischen Darlegungen von Richard Semon, der praktischen Experimente von Kammerer in Wien und anderem gegenwärtig mehr zu der ersteren Annahme, glaube also auch an die wirkliche Vererbung von durch Ahnenarbeit errungenen Kulturdispositionen in unseren heutigen Kindergehirnen. Aber für die praktische Betrachtung, auf die ich in unserem Zusammenhang hier hinaus will, bleibt diese Entscheidung tatsächlich belanglos, – hier ist einzig bedeutsam, daß es solche Dispositionen mit schon veranlagten, kulturell benutzbaren Tendenzen praktisch gibt, einerlei woher sie stammen.
Die entscheidende Lebensstation nun, wo die meisten dieser ererbten Anlagen zum erstenmal zum eigentlichen Durchbruch und Ausbruch kommen, ist die Schule. Manches ist ja schon vorher so deutlich geweckt, daß besonnene Eltern es wohl bemerken können, z. B. Entgegenkommen für Zeichnen, für Musik, für das Erlernen fremder Sprachen, für gewisse technische Leistungen. Vieles, was man allgemein als Charakter oder Gewecktheit schlechthin zu bezeichnen pflegt, geht auch da schon viel enger eigentlich ein: ein gewisser Sinn für Ordnung, für logische Folgen, ein starkes Assoziationsvermögen in der Phantasie und so weiter. Nun aber kommt die Schule und bietet sozusagen zum erstenmal eine systematisch sortierte Reihe von Schraubengewinden dar, die wenigstens einer gewissen Anzahl unserer wichtigsten Kulturfächer ungefähr entsprechen. Und da ist es denn binnen kurzem mit der größten Deutlichkeit zu sehen, wie hier bald diese, bald jene Veranlagung des Kindes sich gleich so fest einschraubt, als bestehe eine urgegebene »prästabilierte Harmonie« bereits für dieses Fach, – wogegen die meisten anderen Gewinde allerdings umgekehrt mit besonderem Widerstande des »Nichtpassens« angenommen zu werden pflegen, manche so sehr, daß mit allem Schrauben und Schrauben doch niemals eine glatte Harmonie entstehen will, vielmehr eher bei gewaltsamen Schraubversuchen die ganze Feinmechanik entzweigeht. Um nur ein paar Beispiele herauszugreifen, so machen sich individuell als Anlagen bemerkbar: mathematisches Talent (das ist von jeher aufgefallen), Talent für Fremdsprachen, Talent für Zeichnen, Talent für deutschen Aufsatz (auch eine der am frühesten sichtbaren, fast fertig auf den Plan tretenden, stets unverkennbaren Anlagen), ein bestimmtes Talent für Beobachten und Überschauen und Anordnen eines Experiments, das meist sofort in der Physik durchschlägt. Und so weiter. Gewisse äußerst wertvolle, oft schon von Anfang an stark spezialisierte mechanisch-technische Talente bleiben auf unseren Gymnasien zwar durchweg noch stark latent, das liegt aber nicht daran, weil sie nicht da sind, sondern weil der wenigstens bis vor kurzem allgemein hergebrachte Lehrplan hierfür überhaupt kein Schraubengewinde (um in dem Bilde zu bleiben) nach dieser Seite darzubieten pflegte, was in ungezählten Fällen von jeher einen geradezu verhängnisvollen Energieverlust für unseren Kulturhaushalt bedeutete, – eine Sache für sich, auf die man in diesem Falle allerdings ganz neuerdings auch in der Praxis aufmerksam zu werden beginnt. Viele Anlagen sind auch nicht genau nach unseren hergebrachten Lehrfächern abzugrenzen, sondern bringen Leistungsdifferenzierungen innerhalb einzelner Fächer hervor. So gibt es beispielsweise ein Talent für starre Wort- und Zahlenassoziation, das beim Auswendiglernen toter Tabellen und Jahreszahlenketten und beim wörtlichen Wiedergeben entgegenkommt, während gerade umgekehrt eine herrische Gabe für bildliche Assoziation dort hartnäckig versagt, dagegen bei allen Phantasieverknüpfungen, Wiedergabe in eigener Rede, intuitivem Verstehen aller tropischen Beziehungen und so fort sich bewährt. Hier kann ein Schüler z. B. innerhalb des deutschen Unterrichts ebenso glänzend entgegenkommen im eigen gestalteten Aufsatz oder dem Verständnis dichterischen Stoffes oder der freien Rede, wie er abfallen muß in allem, was mit wörtlichem Auswendiglernen, starr gelehrtem grammatischem Stoff und dergleichen zusammenhängt. Bei der Aneignung fremder Sprachen ist mir neben dem zähen Widerstande, den hier gerade das ausgesprochene Talent für Sprachgefühl in der eigenen Muttersprache zu leisten pflegt (darauf hat schon Schiller aufmerksam gemacht), noch einmal der besondere Talentgegensatz aufgefallen, der zwischen der Veranlagung für leichtes Verstehen und Lesen einer anderen Sprache und der Veranlagung für Übertragen der Muttersprache in andere Sprachen bestehen kann. In diesem Sinne ergeben sich eine Masse feinerer Fäden, die erst wieder enger aussortiert werden wollen, immerhin aber bei Verständnis und praktischer Erfahrung seitens berufener Pädagogen doch auch wieder in Rubriken zusammengefaßt werden könnten. Ausdrücklich betonen möchte ich zu dem Ganzen noch einmal, daß ich nicht von den eigentlichen »Genies« in irgendeinem Fach rede. Annehmen kann man ja, daß in der Regel auch das Genie sich in den Schuljahren zunächst nicht viel anders äußern wird als (abgesehen vielleicht noch von ganz persönlichen Imponderabilien) in der Form auch nur eines leichteren Entgegenkommens für dieses oder jenes Fach, falls überhaupt ein engeres Fachgenie aus ihm werden will. Im übrigen spreche ich aber von der Durchschnittserscheinung verschieden talentierter Schüler, die jede Schule von unten an täglich erlebt. Die Verschiedenheit der Veranlagungen, die ich meine, ist keine Ausnahme, sondern eine Normalerscheinung.
Nun aber, meine verehrten Anwesenden, die Stellung unserer Schule, wie sie durchweg heute ist, zu diesem natürlich uns dargebotenen Schatz schon ererbter Dispositionen! Trotz all ihres Herumdokterns in neuerer Zeit, trotz all ihrer teils tatsächlichen, teils vermeintlichen Verbesserungen in den letzten Jahren, meine ich, daß man der Schule im ganzen den Vorwurf noch immer nicht ersparen kann, daß sie mit diesem kostbaren National- und Kulturbesitz noch verzweifelt wenig anzufangen weiß, anstatt daß sie ihn in den Mittelpunkt ihres Interesses stellte. Unsere Schule hat im Innersten ihres Herzens immer noch ein bestimmtes Programm, das zwar nie so reinlich zugestanden wird, das aber trotzdem immer und immer wieder allem zugrunde liegt. Es geht davon aus, daß das Gehirn des erst reifenden Menschen, der zu ihr kommt, vor all den Kulturwerten, mit denen sie sich befaßt, zunächst noch ein reines unbeschriebenes weißes Blatt sei. Als seine Aufgabe, die Aufgabe der Schule, betrachtet es dann, auf dieses schöne leere Blatt ein wohlerwogenes Normalschema von soundso viel angemessen erachtetem Kulturinhalt möglichst gleichmäßig aufzuschreiben. (Sehr gut!) Vom Schüler selbst aber wird dazu nur eine einzige normale ethische Veranlagung gefordert, nämlich Fleiß, – gleichmäßiger Fleiß für alle Fächer dieses Schemas.
An diesem Grundriß wird zuletzt immer wieder gemessen, – der Wert der Schule sowohl wie der Wert des Schülers. In dem gleichmäßig schönen Aufdruck ihres Normalschemas sieht die Schule ihren eigenen Stolz, ihre spezifische Kulturtat. Der Intelligenzwert des Schülers wird daran gemessen, ob sein weißes Gehirnblatt möglichst glatt und allseitig bequem für diesen Aufdruck liege. Der ethische, der Charakterwert des Schülers aber wird bestimmt durch seinen Fleiß, der überall, auch da, wo das Blatt etwas zerknittert ist oder schief liegt und den Aufdruck erschwert, in treuem Stillhalten und Nachhelfen dem Druckprozeß gleichmäßig entgegenkommen soll. Weißes Blatt, Normalschrift und einheitlicher Fleiß, – das ist immer und immer wieder das Programm, das unsere Schule vertritt. (Sehr gut!)
Demgegenüber stellt sich nun jener Erscheinungskreis der Talentanlagen. Das weiße Blatt ist in Wahrheit eine Fiktion, es existiert in der zum Schulschema erdachten Form nie und nirgendwo, es ist ein pädagogischer Mythus. Indem die Schrift auf das Gehirn soll, kommen ihr vielmehr bald da, bald dort die Anlagen entgegen. Ein Teil des Aufprägens wird enorm leicht, als sei es mehr ein Erwecken als ein Neuschreiben. Einem anderen Teile stellt sich dagegen entsprechend der äußerste Widerstand entgegen. Diese Ungleichheit selbst kann aber unmöglich als Intelligenzmanko gefaßt werden, – im Gegenteil, je stärker sie ist, desto auffälliger pflegt sehr oft gerade das absolute Maß der Intelligenzleistung des betreffenden Gehirns zu sein. Auch ist die Erscheinung mindestens einer gewissen Ungleichheit eben eine so alltägliche, so regelmäßige, daß es unmöglich angeht, sie als eine Minderwertigkeit einer Ausnahme von »Gleichheit« gegenüberzustellen, von der mir durchaus zweifelhaft ist, ob sie überhaupt schon jemals auch nur in einem einzigen Falle zur sicheren Beobachtung gelangt ist.
Aus der Ungleichheit der Aufnahmefähigkeit aber ergibt sich und muß sich ergeben eine entsprechend wirksame Ungleichartigkeit des Fleißes. Wo das Gehirn entgegenkommt, da stellt sich das ein, was ich den Talentfleiß nennen möchte. Eine freiwillige, impulsive, unermüdliche, freiwillige Hingabe an die Leistung nach dieser Seite. Man kann ihn meistens zuerst beobachten beim Spielen der kleinen Kinder, in dem ja durchweg schon die ersten Begabungsimpulse anzuklingen beginnen. In dem kolossalen »Spielfleiß«, der da, oft in Gestalt eigentlich schon intensivster Arbeit, geleistet wird, – notabene immer freudig, mit vollkommenster seelischer Glücksanteilnahme geleistet wird. Der Talentfleiß kommt dann außerhalb der Schule zum Ausdruck in dem freiwilligen Zeichnen, Schreiben, Bauen, Sammeln, in technischen, physikalischen Versuchen gewisser Jahre und Talente und so viel anderem mehr, – wer kennt nicht den unermüdlichen Bienenfleiß, der bei so etwas entwickelt wird, immer auch er in freudigster Laune. Auf der Schule aber hakt sich dieser Talentfleiß überall ein, wo die Sachen auch hier nur einigermaßen harmonisch entgegenkommen. In gewissen Talentfächern ist er immer zu bemerken, soweit nicht selbst da eine verkehrte pädagogische Behandlung ihn geradezu künstlich zu verschütten weiß. Wo sein Nerv aber auch nur notdürftig gefaßt ist, da hat er stets die Tendenz, auch hier etwas zu zeigen, was eigentlich gegen alle Schultheorie von der angeborenen und erst mit tausend Mitteln auszutreibenden Erbsünde der Faulheit im Jungen grob verstößt: er drängt nämlich nach Arbeit noch mehr oder minder weit über das gewöhnliche Schulpensum hinaus. Hier erstehen die Knaben, die deutsche Aufsätze schreiben, die von der Schule nicht verlangt werden, die sich selbst in der Physik weiterarbeiten, die in all ihren freien Stunden eigentlich intensiv arbeiten und »Schule« weiterspielen, wenn auch nur in bestimmte Fächer ihrer inneren Wahl hinein. Ich erinnere mich an ein Schülerkränzchen, wo ein halbes Dutzend Schüler einer Klasse, also immerhin ein ziemlicher Prozentsatz, über platonische Philosophie debattierte, während allerdings in der Schule selbst Plato nur als Mittel zum Griechischlernen diente. Ich habe das selbst bisweilen für einen extremen Fall gehalten, – wenn ich es aber später erzählt habe, sind mir fast jedesmal von den Hörern sehr ähnliche Dinge, die auch bei ihnen freiwillig neben der Schule und über sie hinaus spielten, mitgeteilt worden. Und auch hier geschieht die ganze Arbeit und Überarbeit freudig und wie etwas Selbstverständliches, ohne die leisesten Beugungen und Hemmungen des Willens. Jedes Lenken wird dankbar empfunden werden, da es weitere Bahnen auftut: Schelten und Strafen aber ist unmöglich.
Dieser Talentfleiß ist genau so impulsiv und intuitiv wie das Talent selber, er braucht nur geweckt zu sein, so fließt er. Auf dem Fleiß des Nichttalents ruht dagegen die ganze Not wie auf der Leistung dieses Nichttalents. Er muß immerzu erst wieder gewaltsam herausgepreßt, muß unter höchstem Widerwillen äußerlich abgerungen werden, vielfach durch den härtesten Strafzwang. Und sieht sich dann doch vor ohnmächtiger, freudloser Leistung zum Schluß! Niemals habe ich mich überzeugen können, daß dieser Zwangsfleiß eine wirklich dauernde Charakterbesserung herbeigeführt habe. Wohl habe ich bemerkt, wie ab und zu in plötzlicher Wendung Fleiß und Laune sich hoben, sobald auch nur irgendwo zufällig eine Taste eines Talentgebiets angeschlagen wurde. Daß solche Wendung durch den hergebrachten Zwangsfleiß selbst erreicht wurde, habe ich niemals gesehen. Im besten Falle schuf dieser Zwangsfleiß, wo er sich wirklich durchsetzte, eine mißmutig-fatalistische Schülerstimmung, die auf die Dauer eine sichtliche Depression mit Sinken aller eigentlichen Geistesentwicklung darstellte. Es liegt hier das gleiche – ich scheue mich nicht, zu sagen: Krankheitsbild vor, das uns im späteren Berufsleben Menschen gewähren, die aus irgendeiner wirtschaftlichen oder sonst gebotenen Notlage zwangsweise einen ihnen verhaßten Beruf widerwillig ausüben müssen. Daß auf solchen Menschen Segen ihres Tuns ruhe, und daß der Pflichtfleiß hier herüber sie im Charakter besser mache, wird im Leben niemand je haben behaupten wollen. Wohl gibt es im späteren Leben für gewisse Naturen auch eine Leidenschaft der Pflichterfüllung gegenüber höchst widerwärtigen, ja bedrohlichen Arbeiten. Aber hier reißt wohlverstanden die Leidenschaft und freiwillige persönlichste Darangabe des reifsten sittlichen Bewußtseins als echte elementare Innengewalt den Menschen in die Gefahr, also das extremste Gegenteil eines knirschend aufgenommenen Zwanges. Diese Leidenschaft (dieser Talentfleiß gewissermaßen der vollkommensten sittlichen Persönlichkeitsreife) kann von einem Schüler aber niemals verlangt werden. Selbst auf der reifsten Lebenshöhe erreicht sie immer nur erst ein relativ kleiner Teil der Kulturmenschen. So wenig wie man sie aber bei einem Schüler schon voraussetzen kann, so wenig kann man sie in ihn hineinprügeln. Man kann von ihr als Ideal erzählen, kann sie vorbildlich zeigen, – mit Schelten, Arreststrafen und schlechten Zeugnissen aber erzwingt man sie nicht. Was man da – zur Not – durchsetzt, ist immer nur jener deprimierende Zwangsfleiß. Die Idee, daß die Schule durch Bevorzugung solcher beständigen Depressionsstimmungen auf den »Ernst des Lebens« vorbereiten solle, halte ich dabei für die allerunglückseligste, die je pädagogisch ersonnen worden ist. Man könnte ebensogut sagen, wir wollen die Schulräume möglichst wenig lüften, möglichst mit Krankheitskeimen versetzen, denn es ist wahrscheinlich, daß wenigstens ein Teil der Schüler auch später in ungesunden Räumen seinem Lebensberuf nachgehen muß.
Dieses eigentümliche Gegenspiel der Wirklichkeitsdinge gegen ihr theoretisches Schema hat die Schule ja nun praktisch immer gespürt. Sie konnte mit all diesen Dingen tatsächlich eigentlich nichts anfangen. Und so hat sie sie gern als überflüssig, ja, ich kann es nicht leugnen, mit einer gewissen Aversion bisher behandelt. Die Anlagen wurden als etwas Minderwertiges gefaßt neben dem »Normalen«, mindestens als etwas für die Schulzeit mehr oder weniger Belangloses, eher Schädliches. Sich stark vordrängend könne jede Anlage dort das »Normale« stören, die Reinheit der Normalschrift. Dann aber werde der Segen der Schule wertlos. Schlechte Schule, schlechtes Leben. So könne das Talent geradezu eine Gefahr für das ganze Leben werden. Der Talentfleiß wurde vielfach entsprechend gewertet oder, besser, entwertet. Er sei gar kein echter Fleiß. Gerade das Kriterium des Freiwilligen und Freudigen in ihm demaskiere ihn als nicht ebenbürtig dem sauren Schulpflichtfleiß gegenüber. Auch er werde gelegentlich zum Feind durch das Gegenspiel zu diesem. Eventuell zu einer Lebensbedrohung also auch er, wo seine Leidenschaft nicht zurückgedämmt werden könne.
Es sind ein paar persönliche Erlebnisse, die mir hier wieder auftauchen. Ich würde auch sie nicht erzählen, wenn sie mir bloß als Einzelfall, der eine Ausnahme oder ein Zufall sein könnte, bekannt wären. Aber ganz Ähnliches, ja zum Teil Identisches ist mir auch hier immer wieder von anderen als ihr Erlebnis erzählt worden, – von den tolerantesten, ehrlichsten, ehrenwertesten, im späteren Leben aufs glücklichste bewährten Männern. Es muß sich also doch wohl um eine typische Allgemeinerscheinung handeln, hinter der ein Prinzip steckt. Ein Schüler hat eine auffällige Talentprobe auf einem Gebiet, einem Schulgebiet selbst, geliefert. Sie wird aber nicht benutzt, ihn zu loben. Man warnt vielmehr. Man klagt. Man verweist ihn auf sein Manko in anderen Fächern, seine schlechte Balance im Normalen, auf die trüben Aussichten, die sich daraus für seinen Stand in Schule und Leben ergäben. Den Eltern wird entsprechend berichtet. Ein Lehrer sagte mir auf Obertertia – ein Mann, der mir als humaner, höchst anständiger Charakter in der Erinnerung steht – wörtlich: »Lieber Junge, eine ganze Reihe Schüler habe ich schon am Lesen zugrunde gehen sehen, – du wirst am Schreiben zugrunde gehen.« (Heiterkeit.) Er entnahm das aus meinen deutschen Aufsätzen, die er mit Gut bezeichnete, während ich in einigen anderen Fächern allerdings miserabel war. Zu dem Lesen möchte ich dabei in Parenthese bemerken, daß ich persönlich so ziemlich alles, was ich etwa an Kenntnissen der Geschichte aus meinen Schuljahren mit ins Leben gerettet habe (es war doch eine ganze Menge) eigener Lektüre daheim verdankte, also eben dem verpönten Lesen, nicht aber dem Auswendiglernen von Jahreszahlen und trockenen »Tatsachen« in der Schule; vielen anderen ist es genau so gegangen, wie ich höre. Die freiwillig gelesenen und wieder gelesenen Bücher »saßen«, die Zahlen, an die so viel Pflichtfleiß für das Normalschema ging, haben wir dagegen radikal nachher wieder vergessen, das wissen wir doch alle. (Sehr gut! und lebhafter Beifall.) Die ganze Arbeit nach dieser Zahlenseite war im Sinne dessen, was Herr Geheimrat Ostwald vorhin hier gesagt hat, das Musterbeispiel einer energetischen Verschwendung! Doch das nebenbei.
Bei einem Schüler damals wurden gelegentlich freiwillig angefertigte Zeichnungen konfisziert, aus denen ein recht gutes Talent, das Wohl der Entwicklung wert gewesen wäre, offenkundig sprach; der Lehrer betonte vor der Klasse mit ziemlich demütigenden Worten, daß man jetzt endlich den Anhalt habe, warum dieser Schüler so wenig leiste. Wenig im Normalschema. Das wurde aber skrupellos mit wenig überhaupt gleich gesetzt. Die Eltern erhielten eine warnende Notiz und waren betrübt, einen Jungen zu haben, der schlechterdings mißrate. Die Reaktion auf die Eltern gehört dabei noch wieder zu den besonders trüben Stellen des Ganzen. Wie oft geht der besondere Schatten noch durch die Lebenserinnerung: bis zu den Schuljahren war das Verhältnis von Eltern und Kind durchaus in der Sonne; dann kamen die Klagen der Lehrer und verbitterten dem Jungen auch das Elternhaus; die Demütigungen dort wurden hier vielfach zu noch weit herberen; die Lehrer vergißt man schließlich; Konflikte mit Eltern prägen sich brennend ein. Vielfach haben die Eltern die ersten Proben des Talents und Talentfleißes ihrer Kinder mit naiver Freude begrüßt, naiv gelobt. Nun hören sie plötzlich aus der Schule, daß das gerade böseste Anzeichen sind, mindestens Allotria und Wertlosigkeiten. Fortan erschreckt sich auch der Vater, wenn der Junge daheim schreibt oder zeichnet, und lehnt die Proben geringschätzig oder je nachdem (im vermeintlichen Pflichtbewußtsein) sogar schroff ab. Das Bild des armen, verscheuchten Bengels, dem man in der Schule unter allerhand wohlgemeinten Demütigungen gesagt hat, daß er zugrunde gehen werde, weil er hübsch zeichnen kann, und den zu Hause der Vater streng vermahnt, solchen Unfug ferner zu unterlassen, möchte man gern einem Roman überweisen, wenn wir nicht alle wüßten, daß es immer und immer wieder in ganzer Bitternis durchlebt wird.
Der reife Mann nachher aber fragt sich kopfschüttelnd, warum das geschehen mußte. Warum hat man den Eltern nicht gesagt, daß in diesen Talenten selbst ein Wert steckte? Warum hat man ihnen nicht erzählt, daß der Junge ein Kapital besitze in seiner Fähigkeit für Mathematik oder für den deutschen Aufsatz oder für Zeichnen? Sind solche Gaben wirklich Allotria, weisen sie auf »brotlose Künste«, an denen man zugrunde geht, ist das Glück, das in ihnen liegt und ihren Fleiß selbst durchseelt, eine Sünde? Man steht erschreckt, daß einer so etwas im Ernst glauben könnte, und wenn man es so nackt ausspricht, wird auch jeder vernünftige Lehrer es ablehnen; aber in der Praxis wird immer wieder danach gehandelt. In allem das äußerste Gegenteil ist wahr. Jedes Talentfach ist wirklich ein Kapital für das spätere Leben jenseits der Schule. Mit dem Normalschema der Schule selbst in bester Schrift kommt man nicht selbst weiter in diesem eigentlichen Leben, wohl aber mit den fort und fort ergiebigen Anlagen in konsequenter Entwicklung, etwa eben der Anlage, die schon in der Schule als Befähigung für den deutschen Aufsatz hervortrat oder sonst einer. Ob solche Anlage schon auf der Schule – in den langen Jahren – weiterentwickelt und nach Kräften schon herausgearbeitet wurde – oder ob sie dort künstlich gedrückt und zurückgehalten wurde: das ist wichtig, sehr wichtig sogar auch schon für das künftige Leben, – ob an dem Normalschema irgendwo etwas fehlt, das ist dagegen wirklich merkwürdig gleichgültig. Wer auf der Schule keine Veranlagung für Mathematik hatte, in den hat auch alles zeugnisurkundlich erfüllte Normalschema noch niemals so viel hineinpressen können, daß er später als Mathematiker sein Brot suchen konnte. Das alles sind geradezu Binsenwahrheiten für den, der das Leben kennt, und doch scheint es, daß sie in diesem Zusammenhang fast noch wie etwas Neues ausgesprochen werden müssen.
Desgleichen: was für ein schlechtweg einziger Wert steckt in dem Talentfleiß! Ein Energiewert ersten Ranges zum raschen Vorwärtskommen. Was läßt sich schon in den Schuljahren mit ihm geradezu spielend an Mehrwissen durchsetzen eben in der Linie der nachher fürs Leben individuell entscheidenden Fächer. Was ließe sich durchsetzen, wenn die Schule diesen willigen Renner richtig zu verwerten wüßte, anstatt daß sie mit dem geprügelten Pflichtesel nachtrottet. Und ein Glückswert zugleich ersten Ranges. Ein Glückswert, der der Schule zugänglich sein könnte, der mit stärksten Arbeitsenergien zusammenfällt, der eine enorme Anspannung nicht ausschließt, und der doch Glück bleibt! Ich verlange gewiß nicht von der Schule, daß in ihr nicht stramm gearbeitet werde, daß sie das Glück des Nichtstuns pflege. Aber ich meine, es ist doch aufs höchste wertvoll, wo für sie Momente liegen könnten, in denen Arbeit und Freude sich decken. Zuletzt ist ja Glück selber ein Energiewert in gewissem Sinne. Freudige Arbeit ist halbe Arbeit, was Schwere des Anfangs, was Ermüdung anbetrifft. Die Glücksentfremdung der Schule, die so lange System ist, schafft nicht nur vergällte Jahre und spätere Albträume. Sie ist auch ein positiver Schaden für die Schulleistung selbst, bei den Schülern und schließlich auch bei den Lehrern. Eine glücklichere Jugend in der Schule würde uns auch glücklichere Lehrer erziehen. Das ewige Schelten und Jammern und Ankreiden unseres Schulsystems lähmt den Lehrerstand heute nicht minder wie den Schülerstand, eher sogar noch schlimmer; der Schüler geht nur einmal durch, der Lehrer bleibt darin stecken sein Lebenlang, bis er, wie so oft, zum gewohnheitsmäßigen Schelter und Jammerer wird. Ich bin fest überzeugt, daß jener Lehrer, der mir das Zugrundegehen durch Schreiben verhieß, unter einem anderen System mit mir schon damals gern zusammen plaudernd und in Schönheit und Freude lehrend durch allerhand Weiten und Schönheiten der deutschen Literatur (die ich, wie so viele, hinter der Schule heimlich ja doch schon allein las) gewandert wäre, in einem freundschaftlichen Bunde des Älteren mit dem Jüngeren, aus dem ich sein Bild mir in ganzer Reinheit fürs Leben bewahrt hätte, anstatt daß ich jetzt Aussprüche von ihm zitieren muß, die an Narrheit grenzen; und wobei ihm ganz gewiß auch eine freundlichere Erinnerung geblieben wäre, – zumal wenn ihm jedes Jahr ein paar solcher Schüler gegeben hätte, an deren Talent und Talentfleiß fürs Deutsche er sich unbefangen erfreuen, die er für ihr Spezialfeld steigern und ohne Zwang entwickeln durfte, – ohne Rücksicht und Angst gegenüber einem dahinter lauernden, nach Fütterung für sich brüllenden Normalschema.
Mit dem letzten Bilde habe ich schon an das gestreift, was ich mir selber etwa als eine Lösung gegenüber dieser Talentfrage in einer »Schule der Zukunft« denken könnte.
In irgendeiner praktisch durchführbaren Form wird eine fortschreitend verbesserte Zukunftsschule sich auf ihre Pflicht besinnen müssen gegenüber der Tatsache der Talente. Und sie wird sich zugleich bewußt werden müssen der außerordentlichen Hilfe, die sie in diesen Talenten und dem damit untrennbar zusammenhängenden Talentfleiß findet. Umgekehrt aber wird sie eine weit größere Rücksicht sich angewöhnen müssen gegenüber dem Nicht- oder Mindertalent und seinen so sehr vergrößerten Schwierigkeiten; sie wird zurückkommen müssen von einer utopistischen Wertung des durch Zwang errungenen Pflichtfleißes, und sie wird nach Mitteln und Wegen suchen, ein gewisses Maß auch hier kulturell erforderlicher Lehre durchzusetzen ohne beständige grobe Verstöße gegen die ethische Pflicht der Schule, die ihr oberstes Gesetz sein muß, das unter allen Umständen noch über jeder Wissensforderung steht. Meine feste Überzeugung ist dabei, daß die praktische Erfüllung dieser Aufgabe sich irgendwie in der nachfolgenden Richtung bewegen müsse. Ich habe dieser Ansicht schon vor vielen Jahren eine umrißhafte Gestaltung gegeben und stehe heute noch durchaus, ja entschiedener auf dem gleichen Standpunkt.
Nach alter pädagogischer Auffassung, die sich in allem Wechsel der Meinungen immer wieder stark gehalten hat und deren Berechtigung auch nach meiner Ansicht nicht zweifelhaft sein kann, hat die Schule in jeder Form (alles in diesem Zusammenhang Geforderte gilt natürlich, soweit überhaupt Berührung besteht, auch von der Mädchenschule) von jeher wesentlich drei Aufgaben. Sie soll zum Idealismus erziehen. Sie soll bereits eine Vorschule des späteren Lebensberufs sein im Sinne einer gewissen dahin schon zielenden Wissensgrundlegung. Und sie soll unabhängig von diesen Anfängen des Berufswissens ein Stück Allgemeinbildung geben, das auch auf den Kulturgebieten, die nicht unmittelbar im Berufsleben des einzelnen später berührt sind, eine gewisse anregende Übersicht zur Ermöglichung rascherer Orientierung und einer bestimmten Achtung fürs Leben vermittelt.
Lassen Sie mich die mittlere Aufgabe zunächst herausgreifen, so ist ohne weiteres klar, daß die größte Wahrscheinlichkeit besteht, daß bei dem Talentschüler sein Talentfach oder seine Talentfächer in der Richtung des späteren speziellen Lebensberufes liegen, – es würde also die Forderung, möglichst schon für diesen Lebensberuf vorzubereiten, aufs sinnfälligste zusammenfallen mit möglichst nachhaltigem Wissensunterricht, möglichst intensiver Wissensschulung in diesem Talentfach bei dem einzelnen. Gerade hier würde aber die Naturgabe des Talentfleißes entgegenkommen, so daß auch eine verhältnismäßig starke Wissensforderung willig und ohne besondere Notwendigkeit von Zwangsmitteln ertragen werden könnte. Ein straffes Tempo, ein frühes strammes Herannehmen der Schülergehirne nach dieser Seite, ein (eventuell über die heutigen Anforderungen noch ein gutes Stück hinausgehendes) sehr umfangreiches Lehrprogramm würde doch auf Grund jener natürlichen Hilfen (Talent und Talentfleiß) nicht als Strenge, nicht als Überlastung wirken und empfunden werden.
Ebenso klar aber ist, daß das dritte Feld, das der Allgemeinbildung, das naturgegebene Feld für die Nichttalentfächer wäre. Auch dieser Allgemeinbildungsunterricht hätte eine bestimmt umschriebene Aufgabe der Wissensübermittelung, aber nach einer ganz anderen Methode, da Ziel wie Unterlage hier ja grundverschieden wären. Der gleiche Schüler, der dort, im Talentfach, etwa im Deutschen, mit allen gesunden Mitteln zu steigern wäre, würde hier, etwa in der Mathematik, nur behutsam in der Richtung eines anregenden Mitverständnisses zu entwickeln sein, – und umgekehrt. Von strengem Wissensdrill, von schweren Gedächtnisbelastungen, von extremen Forderungen an Pflichtfleiß dürfte keine Rede hier sein, – und sie dürfte schon deswegen nicht sein, damit nicht die möglichst energische Ausnutzung des Gehirns für die Talentfächer von hierher gestört werde. Vom Einpauken eines Normalpensums, über das gelegentlich durch ein reines Gedächtnisexamen zu quittieren wäre, müßte in der heute beliebten Form unter allen Umständen und prinzipiell Abstand genommen werden. Oberste Pflicht müßte für den Lehrer bleiben, die fesselnden, auch den schwer zugänglichen, widerstrebenden Schüler irgendwo allmählich intellektuell oder gemütlich mitziehenden Seiten, ich scheue mich nicht in diesem Zusammenhange zu sagen: die angenehmen Seiten der Stoffgebiete möglichst herauszuholen. Lebensachtung, nicht Schülerangst, die zwischen Langeweile, Unvermögen und Strafzwang hin und her pendelt, wäre vor diesen Kulturgebieten in erster Linie zu erwecken. So schlimm jetzt das für viele Pädagogenohren klingen mag: dieser Teil des Unterrichts wäre so gut wie ganz in den Klassenstunden zu erledigen und würde so gut wie gar nicht in die häuslichen Arbeiten, die heute eine so ungeheure Rolle bei den höheren Lehranstalten einnehmen, übergreifen.
Ich habe ja gegen diese häuslichen Arbeiten überhaupt viel auf dem Herzen. Es ist doch eine schlechtweg unheimliche Tatsache, daß die Schule, nachdem ihr so viel Stunden des Arbeitstages angehören, nach diesen Stunden überhaupt noch so viel Privatarbeit fordert. Hier liegt für mich die schlimmste (von allen hygienischen Neuerungen heute noch gar nicht berührte) Gesundheitsgefahr der Schule: daß der Junge, der so viele Stunden in der Schule selbst (wenigstens theoretisch) fortgesetzt stramm aufpassen und aufnehmen sollte, in den paar Reststunden daheim auch noch permanent ochsen soll. Diese Sache ist eine von denen, wo die Dinge sich ersichtlich seit Jahren immer mehr praktisch verschlimmert statt gebessert haben. Stark spielt ja hinein, was ich vorhin als soziales Problem der Schule bezeichnet habe: die Überfüllung der Klassen, die aus der Schule einen Aufgebe- und Überhörautomaten macht. Der Einzelschüler wird gleichsam sozial aufgeopfert, eine Art Opfer, in der sich aber, wo immer sie wiederkehrt, stets ein heilloser Kulturschaden offenbart. Aber auch die gangbare Lehrmethode selbst hat hier schwere Fehlerquellen in sich. Und jedenfalls liegt die Sache gegenwärtig so, daß irgendein Ausweg an dieser Stelle nächstens geschaffen werden muß, auch unter dem System, wie es jetzt ist, falls wir nicht gewärtigen wollen, daß über kurz oder lang einfach eine Art Revolution auf dem Schulgebiet ausbricht. Der Bogen ist längst nach dieser Seite mehr als überspannt. Die Beschränkung aller Hausarbeiten zunächst einmal bloß auf solche, denen der Talentfleiß und seine Freiwilligkeit entgegenkommen, wäre da schon eine große Abhilfe. Ich glaube übrigens, daß selbst so und auch nach der Seite noch viel erleichtert werden müßte, – unter dem Gesichtspunkt, daß der Mensch überhaupt nicht buchstäblich den ganzen Tag »arbeiten« kann, wenn ein Segen darin stecken soll, – vollends nicht einseitig Kopfarbeiten. Für den allgemeinen Bildungsunterricht wäre es aber jedenfalls selbst bei einer größeren Klasse relativ leicht, alles oder doch fast alles in der Schule selbst zu erledigen. Denn hier käme vor allem Lernen durch Anschauung und Anhören in Frage unmittelbares Lernen vor den Dingen selbst im Gegensatz zu Gedächtnisdressur. Vorzeigen, Gespräch, Vorlesen, gemeinsames Lesen und Erläutern, sichtbare Experimente usw. wären die führenden Prinzipien, nicht das immerwährende Gedächtnisfordern. Die Anregungskraft des Lehrers, überhaupt dessen ganze Persönlichkeit, wäre das schlechtweg Entscheidende. Ich erinnere mich aus meiner Schulzeit wieder sehr genau der glücklichen Momente (im grellen Kontrast zu anderen), wo ein Lehrer einmal den richtigen Ton traf, der an jene »Allgemeinbildung« rührte und von der ganzen Klasse völlig gleichmäßig verstanden und gewürdigt wurde. Zum Beispiel in der Homerstunde: wie ein solcher Lehrer den Anfang der Odyssee vor uns so sprachvollendet und gemütstief (bei der Stelle besonders vom Rauch der Heimat, den der Verschlagene noch einmal aufsteigen sehen möchte) übersetzte, daß es uns allen aufs stärkste zu Herzen ging und einfach keiner war, der in dem Moment unaufmerksam sein konnte. Dabei waren Schüler, die nur die minimalste Gabe für das eigentliche Wortverständnis des Griechischen im philologischen Sinne besaßen, und die nachher in reifen Jahren wenigstens den antiken Sprachen im weitesten Bogen aus dem Wege gegangen sind; aber »Homer« als Menschheitswert hatte diese eine Stunde ihnen für immer nahe gebracht, näher als ganze Jahre sprachlicher Übersetzungstüftelei am gleichen Objekt vermochten, die höchstens für ein paar speziell hier herüber talentierte Jungen in der Menge eine wirkliche Kraftprobe und ein Lebenswert für den späteren Beruf sein konnten, den anderen aber als Gedächtnismaterial durchaus Ballast sein mußten.
Daß bei solcher Behandlung des zweiten und dritten Punktes der erste, den ich genannt habe: der Idealismus der Schule, von selbst schon weit besser wegkäme als es heute der Fall ist, – nun, das bedarf für mich gar keiner weiteren Begründung mehr. Jedes Stück Sonne mehr in den Schultagen bedeutet von selbst schon ein Stück Idealismus mehr fürs Leben. Das Leben kann nachher nicht immer in der Sonne sein. Jedes Stück Sonnenglauben aber, das wir in den empfänglichsten Jahren dem Menschen in die Seele säen können, ist ein idealistisches Palladium für dieses Leben, wie es auch werde. Unsere Universitätsverhältnisse von heute sind gewiß nicht absolut gut geregelt; trotzdem wärmt uns durchweg noch im Alter etwas wie Sonnengeist aus unseren Universitätssemestern; wir kennen und werten noch mit grauen Haaren genau das Stück wirklichen Idealismus, das uns aus diesen Jahren überkommen ist. Ich will die Sachlage natürlich nicht ohne weiteres gleich setzen, aber das meine ich doch: einzusehen ist durchaus nicht, warum nicht auch die Schuljahre überwiegend mindestens zu solcher Sonnenerinnerung des Lebens werden könnten. Und das wöge mehr für den Idealismus, als noch so viel wohlgemeinte Reden in Schulprogrammen und Lehrbüchern, mehr, als wenn Plato als Material für tote Wortübersetzungen, Schiller als Memorierprobe für den Pflichtfleiß inmitten eines vieljährigen künstlichen Lebensschattens benutzt werden. Manche Extravaganz unseres Universitätslebens selbst würde gemildert, wenn der Übergang weniger schroff wäre, nicht so sehr einer Befreiung aus langjähriger Kerkerhaft gliche, – wenn die Universität stofflich nur die noch intensivere Fortsetzung der Talentfacherziehung für jeden einzelnen bedeutete, in der allgemeinen Stimmung aber ihre Sonne schon an dem warmen Feuer der Schuljahre entzünden dürfte.
Wobei hinzukäme, daß die bereits entschiedene Talenterziehung der Schule das Ergreifen falscher Universitätsberufe, das sich heute so häufig und böse geltend macht, wenigstens von der rein sachlichen Seite her fast unmöglich machte. Ich weiß wohl, daß man das heutige Programm der höheren Schule gerade damit gern verteidigt, es solle eine Grundlage bilden, auf der sich alle späteren Berufe gleichmäßig gut aufbauen ließen, ohne daß ein Beruf schon im Wissen begünstigt würde. In Wahrheit sind wir damit aber in eine Bahn geraten, auf der immer mehr Wissensforderungen überhaupt (zur Grundlage eben für alle Berufe) in die Schule gepackt werden, – bis zu einem Übermaß, das kein Schüler mehr aushält; oder doch aushalten würde, wenn die Lehrpläne und Klassenziele wirklich so, wie sie auf dem Papier stehen, ganz durchgeführt würden und nicht ein Teil Durchdiefingersehen und »Schlafen« der Lehrer und Durchschummeln der Schüler die Sache immer noch praktisch über Wasser hielte; was aber schließlich doch auch nicht gerade der Idealzustand eines Systems ist, daß es sich nur hält, weil es nicht befolgt wird. Die Berufe fordern eben jeder für sich heute immer mehr Wissen, und so wird auch die Grundlage immer mehr belastet bis zum Nichtmehraushalten. Die Vernünftigen sehen, daß dabei schließlich nichts einzelnes mehr auf der Schule ordentlich gelernt wird. Der Philologe klagt, daß ihm die Schule nichts genützt habe, und der Physiker klagt desgleichen. Auch aus diesem Dilemma könnte das Talentsystem wenigstens mit einem radikalen Schnitt wieder herausführen, indem es auf der einen Seite zwar die engere Berufserziehung schon für die Schule (mindestens ihre obersten Teile) recht scharf proklamierte, andererseits aber doch die Einseitigkeit vermiede, alle bloß auf einen Beruf vorzubereiten, sondern verschiedene Wurzeln schon gleichmäßig brauchbar anlegte je nach Bedarf. Der Überlastung würde gleichzeitig gesteuert durch besonnenes Regulieren der parallelen Allgemeinbildungsstunden, die im Gegensatz überall mit sehr viel weniger Wissens- und Gedächtnispaukerei auskommen könnten. Die Berufswahl auf der Universität wäre so auf der Schule schon deutlicher vorgezeichnet, könnte gerade deswegen aber schon viel energischere Vorarbeit im Positiven dort finden. Denn in den Talentfächern selbst könnte (ich habe es schon einmal gestreift) ohne viel Mühe der Schüler bei dieser Methode bereits auf der Schule selbst ein gut Stück weiter auf dem Wege der Universität gefördert werden, als es heute selbst bei der kolossalen Lernbelastung dort der Fall ist, – er könnte weit reifer in sein Spezialfach kommen, wenn er die oberste Staffel der Schule verläßt, als es heute selbst der beste Abiturient auf Grund unseres Normalschemas sein kann.
Der Allgemeinbildungsunterricht der Schule dagegen könnte trotzdem vor zu großer Facheinseitigkeit mehr bewahren, als es heute geschieht, weil er in der Form, wie ich sie skizziert habe, auf jeden Fall anregend, lockend fortwirkte, anstatt daß die heutige Schulbildung des Normalschemas hier wie überall abschreckt. Der Mediziner könnte auch noch später Sinn dafür behalten, irgendeinen freien Kurs einmal über Homer zu hören, der Philologe einen über Physik, während heute der Student der Medizin durchweg seinen Schulhomer beiseite wirft, wie man ein böses Geschöpf, das einen lange genug geplagt hat, mit einem Aufatmen der Befreiung verscharrt, oder der Student der klassischen Philologie am Tage nach dem Abiturientenexamen für immer hinter der Physik als einem dummen Gespenst, das man endlich los sein darf, die Tür zuzuschlagen pflegt.
Aber all diese wieder mehr praktischen Vorteile träten doch weit zurück gegen den Zuwachs an Glück selbst und damit an impulsivem Lebensidealismus in den Schuljahren, den eine Methode verhieße, die das eigentlich wesentliche und stramme Stück Schularbeit an den freiwillig und freudig geleisteten Talentfleiß knüpfte und den anderen Teil, der dieser Hilfe entbehrt, in seinem Pflichtzwang ganz wesentlich heruntersetzte bis auch zur Grenze mindestens des nicht direkt unangenehm Empfundenen im Schüler.
Eine große Anzahl weiterer praktischer Fragen wäre ja, dann noch zu lösen, wenn in diesem Umfang das Prinzip allgemein einmal zugestanden würde. Hier könnten die verschiedenartigsten pädagogischen Einfälle im einzelnen von Wert sein. Die praktische Grundschwierigkeit im Vergleich zum heutigen Aufbau unserer Klassen- und Lehrpläne läge in der Notwendigkeit, daß je ein und derselbe Schüler vor den Schulfächern verschiedene Stellungen hätte: in seinem Talentfach (oder mehreren dieser Art) würde er für voll genommen und müßte den intensivsten Unterricht erhalten, – in den Nichttalentfächern spielte er dagegen mehr die Rolle eines Hospitanten, eines Hörers auf halben Anteil. Das wieder in ein Klassensystem hineinzuordnen, kostete gewiß ein gut Stück Nachdenken, – es wäre es aber eben wert! Die alte Methode mit ihrem weißen Blatt und ihrem Normalschema für jeden in einfach stufenweiser Steigerung hatte den großen Vorteil der Bequemlichkeit, und dem verdankt sie sicher nach dem Gesetz des kleinsten Kraftmaßes einen Teil ihres Glückes; nur wird eine verkehrte Sache noch nicht dadurch richtig, daß sie ein leichtes Schema gibt.
Gewisse Schwierigkeiten für sich folgten aus dem Gegensatz von Volksschule und höherer Schule. Auf der einen Seite hat die Elementarschule (um das Wort als sachlich prägnant noch einmal so zu gebrauchen) zum Teil wirklich so elementares Material (Lesen, Schreiben, Anfangsgründe des Rechnens) im Sinne alleranfänglichsten Handwerkszeugs erst zu geben, daß dafür die eigentliche Talentfrage als individuelles Sonderungsmittel natürlich noch so gut wie gar nicht verwertet werden könnte. Auf der anderen Seite wird das Prinzip der verschiedenen Talentvarianten aber doch auch hier schon, sobald sie sichtbar werden (und das werden sie bereits), eminent wichtig und beobachtenswert. Einerseits muß es bei den Elementarschülern, die nach Lage ihrer Eltern weiter ins Höhere hinein sollen, bedeutsam werden für die engere Wahl der Art der höheren Schule. In gewissem Sinne sind ja unsere verschiedenartigen höheren Schulen selber schon im gröbsten etwas wie große Talentklassen, vor denen ein erstes grobes Talentsortieren schon not tut. Andererseits könnte auch die eigentliche sogenannte Volksschule mit ihrem Schülermaterial aus wirtschaftlich nicht so gestellten Volksschichten eine unvergleichlich wertvolle Aufgabe hier finden: indem sie wenigstens die Träger der stärkeren Talente unter ihrem Material, die ausgesprochen als voraussichtliche Plusvarianten in eines unserer höheren Kulturgebiete hineinvariierten, irgendeiner helfenden Instanz (Staat, Gemeinde, systematisch organisierte Privathilfe, was es nun einmal werde) vorschlagen dürfte, die dann die materielle Möglichkeit zur Übernahme dieser begabten Schüler in die höheren Bildungsstätten garantierte. Da das Werfen von solchen kulturellen Plusvarianten in unseren Kindergehirnen bekanntlich nicht nach Stand oder Geldbeutel der Eltern, sondern in Hinsicht unserer Volksklassen mit größter Wurffreiheit bald nach oben, bald nach unten erfolgt, so würde solches Vorschlagsrecht des Volksschullehrers auf Grund seiner Talentbeobachtungen eine außerordentliche Quelle kultureller Energie, die sonst verloren geht, gleich zu Beginn schon retten helfen. Die Sache läuft aber wieder ins Soziale und ist einstweilen, wie ebenso bekannt, selber noch ein Zukunftstraum, von dem aber doch jeder echte Kulturfreund immerhin hoffen wird, daß er sich in irgendeiner wirtschaftlich möglichen Form über kurz oder lang bei uns verwirklichen werde.
Im übrigen gilt meine hauptsächliche Betrachtung über den unmittelbaren praktischen Wert des Prinzips aber der höheren Schule selbst. Hier müßte sich schon in den untersten Klassen (eventuell einer eigens darauf zugeschnittenen ersten Probeklasse) an einem zum Zweck geschickt gewählten allgemeinen Erstunterricht entscheidend das Auseinandergehen der verschiedenen Begabungslinien in jeder neu eintretenden Schülergeneration von Kopf zu Kopf feststellen lassen. Es ließe sich ein vorläufiges Sortieren vornehmen der Schüler in solche, bei denen die Wahrscheinlichkeit stärkerer Talentierung für die mathematische Seite des Unterrichts sich anmeldete, solche mit stärkerer Richtung zu den fremdsprachlichen Fächern, oder den mehr technischen und Beobachterfähigkeiten, oder dem deutschen Aufsatz, und so weiter. Über den ersten Beobachtungsbefund wäre etwa ein erstes Zeugnis auszustellen, das die Eltern orientierte, nach was für einer Seite die Schule ihren Jungen am vorteilhaftesten positiv zu entwickeln hoffe. Ein Zeugnis, das fürs ganze Leben des Betreffenden von höchstem Wert sein müßte! In dem Talentfach (oder mehreren der Art) wäre der Schüler jetzt zunächst versuchsweise als »voll« weiterzuführen, mit stärkster Forderung und Anspannung, während er den Minder- oder Nichttalentfächern schon loser und weniger verbindlich angegliedert würde. Der Lehrer in seinem Talentfach behielte die eigentliche Oberleitung über ihn, die seinen absoluten Rang in der Schule bestimmte. Die Urteile der Lehrer aus den anderen Fächern über ihn wahrten dagegen fortan nur sekundären, leicht nebenhergehenden Wert ohne eigentliche Verbindlichkeit und Macht. Niemals könnte es geschehen, daß ein Schüler, den das Gymnasium etwa schon für Deutsch in die Talenterziehung genommen hätte und der dort gut fortkäme, wegen Leistungsmangel etwa in Mathematik und in Fremdsprachen (und umgekehrt) noch zurückgelassen und als im ganzen minderwertiges Material betrachtet, ja im extremsten Falle ganz von der Möglichkeit einer Gymnasialerziehung bis zur Universitätsreife ausgeschlossen würde, – wie es heute noch durchaus möglich ist, wo man Fortschritt und Reife an einem Normalschema mißt und nicht etwa an dem Kulturwert eines Talentfaches – also mit anderen Worten nicht an einem alltäglich bewährten Lebenswert, sondern an einer Utopie des Schulsystems.
Gegen die mittleren Klassen hin würde die Entscheidung über die Talentseite durchweg eine so unzweideutige werden, daß dort allmählich ein ganz ausgesprochener Talentunterricht dominieren und aller andere Unterricht in jene oben skizzierte Form des Allgemeinunterrichts definitiv übergehen könnte. Je einseitiger eine Talentbegabung wäre, desto früher würde sie schon so endgültig bemerkt werden, so daß die ganz ausgesprochenen Spezialtalente, die heute gerade die allerärgste und längste Märtyrerrolle in der Normalschablone zu spielen pflegen, bei dieser Methode am frühesten gerettet wären. Eigentliche Grad- und Wertzeugnisse mit Fortschrittsnoten für die Eltern würden von diesem Definitivum ab (also vor allem in den oberen Klassen) nur noch über die Talentfächer ausgegeben. In den allgemeinen Bildungsfächern genügte die Bescheinigung, daß der Schüler bei dem und dem bewährten Lehrer wieder ein Jahr gehört habe, – ohne eigentliche Wissenswertung des Schülers selbst; die Schule übernähme gewissermaßen für sich die Garantie, daß sie das Möglichste hier getan habe; das Zeugnis stellte sozusagen nur ein Zeugnis über den Lehrer dar, mit dessen Person die Sache gewährleistet wäre; ein Schüler, der soundso viel Jahre in den und den Fächern solchem Allgemeinunterricht angegliedert gewesen wäre, wäre eo ipso durch diese Tatsache selbst zuletzt universitätsreif, während über die Leistungshöhe im Talentfach noch ein besonderes wertvolles Schlußzeugnis zu erteilen wäre.
Es ist klar, daß bei solcher Anordnung die gesamten Zeugnisse, die in die Hand der Eltern kämen, ganz allgemein sehr stark vom heutigen Fluch des Negativen mit seinen Beunruhigungen erlöst würden. Dieses Negative ist ja der eigentliche Alpdruck, der im gegenwärtigen System für die meisten Eltern mit dem Begriff der Schule verbunden ist. Mit schweren Kostenopfern übergeben sie ihr Kind dem umfangreichen und mittelreichen Apparat der Schule fast für die Dauer eines Jahrzehnts, damit diese Schule eine gewisse allgemeine Kulturreife und eine gewisse erste Grundlage für den individuellen Lebensberuf in ihnen entwickle. Die Schule nun legt ein bestimmtes Normalschema an, das, mag man es nun werten, wie man will, auf jeden Fall so gebaut ist, daß beständig eine sehr große Zahl von Zusammenstößen mit den Schülerleistungen erfolgen müsse. Diese Zusammenstöße werden als negatives Material gewertet und den Eltern regelmäßig als solches mitgeteilt. Wohl erfolgt auch Mitteilung der »positiven« Verläufe. Aber die Eltern pflegen im allgemeinen kein wahres Bild des Verhältnisses von Positiv und Negativ bei der Sache zu erhalten. Das Negative gewinnt für sie durchweg eine sich aufdrängende Übermacht. Ein Zeugnis, das mehrere negative Zensuren neben einer auffallend guten enthält, gilt als schlecht. Und die Schule tut von ihrer Seite mindestens nichts, diesen Glauben zu hemmen. Die Eltern werden keineswegs genügend belehrt, daß ein Junge, der etwa im Deutschen »Gut« hat, einen Wert im Zeugnis führt, der für die Aussichten seines späteren Lebensberufes von großer, eventuell von entscheidender Bedeutung ist, – daß dagegen bei dem gleichen Schüler eine schlechte, negative Note etwa in der Mathematik gerade deswegen so gut wie gleichgültig ist, da der drüben angedeutete spätere Beruf (in der Linie der Begabung für deutschen Stil usw.) mathematisches Wissen und mathematische Fähigkeiten so gut wie niemals gebrauchen wird. Man gewöhnt sich vielmehr, Negativ und Positiv wie einfache Abstimmungswerte nebeneinanderzustellen. Tritt dauernd die Konstellation ein, daß die negativen Stimmen überwiegen, so scheint für die Eltern die Kulturchance des Jungen überhaupt zu sinken. Er gilt als »mißraten« für die oberen Kulturfächer, und der Eltern bemächtigt sich die größte Angst um ihn. Um die negativen Fächer entwickelt sich also ein wahrer Verzweiflungskampf. Kostspielige Privatstunden werden daran gewendet. Dabei bleiben die Erfolge tatsächlich doch nur Schein. Ein mathematisch nicht veranlagter Schüler wird, wie schon gesagt, niemals auch so Mathematik im Sinne lernen, daß er im Leben ernsthaft etwas damit anfangen kann. Er wird im Höchstfalle so viel lernen, wie die Schule verlangt, aber ausgesprochen nur für die Schule wird er es lernen. Verhängnisvollster Irrtum aber jedes pädagogischen Systems, das sich als Selbstwert etabliert und Opfer für sich fordert, anstatt seinen Zweck auf das Leben zu stellen! Wie segensreich umgekehrt würde alles sein, was die Eltern noch separatim für das positive Talentfach des Jungen hinzutun wollten! Statt dessen herrscht überall der Terrorismus dessen, was die Schule als negativ bezeichnet. Ein dunkles Gefühl für eine unglücklich verfahrene Sachlage hier beginnt sich überall heute auch schon in den Elternkreisen durchzuringen, bloß sieht man meist den eigentlichen Nerv des Unheils noch nicht klar. Für die Eltern fangen die Schuljahre ihrer Kinder vielfach an, geradezu eine eigene Leidenszeit zu werden, in der auch durch ihr Leben ein neuer Schatten geht. In Jahren, wo häuslich wohlerzogene Kinder in einer guten Familie durchweg wirklich noch so gut wie gar keine ernsthaften Sorgen (es seien denn gesundheitliche) zu machen brauchen, breitet sich über das ganze Familienleben von hier aus ein beständiger Schatten schwerster Sorgen aus. Die Familienfeste des Jahres werden bedroht durch die negativen Noten. Jene Entfremdung zwischen Eltern und Kind durch die Schulnoten, deren trüben Einfluß auf die Kinder ich schon erwähnt habe, drückt naturgemäß auch schwer auf die Eltern selbst. Vieles, was sie an geistiger Anregung von sich aus den Kindern in diesen Jahren bieten könnten, erstickt vor der ewigen Sorge, es könnte das Negative in der Schule verstärken oder doch nur ein Positives befördern, das dort Nebensache ist. Es ist tragisch, es so vielen humanen und von edelster Absicht beseelten Lehrern sagen zu müssen: aber die höhere Schule, wie sie ist, bildet hier in vielen Fällen eine der schwersten Bedrohungen der in unseren Tagen wahrlich schon genug bedrohten Familie. Und sie bedroht damit etwas, das, man kann den Wert der guten Schule so hoch einschätzen, wie man will, auf alle Fälle ein Kulturwert ist, der noch über der Schule steht.
Das alles aber brauchte bei einem logisch besser gerückten System der Schule überhaupt nicht zu sein. Die Wertung in den Talentfächern, wenn sie allein entscheidend in Betracht käme, würde zwar Unterschiede des Grades weisen, aber nur in den allerseltensten Fällen ein bedenkliches Ganzzurückbleiben ergeben können. Daß ein Schüler aber mit deutlicher mathematischer Begabung oder deutlicher für den deutschen Aufsatz bei planmäßiger Entwicklung seitens der Schule doch nachträglich in diesem Fache selbst wieder versagen sollte, wird mindestens eine fast unwahrscheinliche Ausnahme bleiben, falls sich nicht ganz unberechenbare, außerhalb von Talent und Schule liegende Einflüsse geltend machen. Der letztere Fall aber geht auf ein anderes Gebiet, das mit der Lehrmethode überhaupt nichts zu tun hat. Auch verbesserte Lehrmethoden können natürlich nicht alle verwickelten Eventualitäten, warum ein Schüler tatsächlich einmal eine Weile oder gar dauernd versagt, aus der Welt schaffen. Was ich nur verlange, ist, daß hier nicht grobe Verwechslungen möglich werden. Unter dem bestehenden System lief da aber vielerlei aufs gefährlichste durcheinander. Ich habe es erlebt, daß ein Junge vom Gymnasium entfernt wurde, weil er Mitschüler bestohlen hatte. Aber genau das gleiche Los traf einen Schüler von ausgesprochen guter sittlicher Qualität, der wegen Versagens in zwei Hauptfächern des Normalschemas (bei starkem Talent in einem dritten, für den Lebensberuf sehr wichtigen Fach) zum zweitenmal in der gleichen Klasse sitzengeblieben war. Solche fatalen Identitäten wären bei dem System der Talententscheidung wenigstens unter keinen Umständen mehr möglich.
Zu erwägen wäre natürlich die Unterrichtsform von Beginn der Talentabsonderung ab. Würde es sich empfehlen, für alle Fächer stufenweise je eine besondere Talentklasse und daneben eine Klasse für allgemeineren Bildungsunterricht einzurichten? Also für jede Sekundastufe etwa im Deutschen eine Stunde Deutsch für die Begabten parallel zu einer Stunde Deutsch für die Minderbegabten? Der Vorteil läge unverkennbar in dem vielen »Mehr«, das die Talentklasse in der gleichen Zeit erledigen könnte. Ich habe daher schon vor sieben Jahren (1904) in einer Schrift dieser Lösung das Wort geredet. Andererseits könnte das Mitanhören des vorgeschritteneren Unterrichts durch die weniger streng gehende Partei aber auch gerade bildend wirken, und umgekehrt eine gute allgemeine Anregungsstunde beim Mithören auch keinem Talentschüler schaden, – es fragt sich nur, ob die Zeit für beides nacheinander langte. Freilich bin ich zuletzt der Überzeugung, daß das System im ganzen eher Zeit sparte im Gegensatz zu dem bestehenden. Einen Kreis ausgesprochener Talente intensiv zu fördern und daneben oder danach einem anderen Kreise die bloß nötige Allgemeinbildung zu geben– in beiden Fällen unter Ausschaltung aller stärkeren Hemmungen – würde leichter zu bewerkstelligen sein, als eine konfus gemischte Masse im Gegenspiel zu allen nur denkbaren Hemmungen auf ein gleichmäßiges Normalniveau zu pressen. Es liegt hier eine Allgemeinerfahrung, die man auf allen Gebieten so machen kann. Jedenfalls aber wäre die Methode: die beiden Unterrichtsformen zunächst wenigstens versuchsweise in ein und der gleichen Klasse vor gemischten (aber dem Lehrer natürlich in ihrer Sonderung genau bekannten) Schülern durchzuführen, als vermittelnder Übergang vom heutigen zu diesem System von Vorteil. Doch das sind schließlich Findigkeitsfragen, die der gute Wille alle schon lösen würde.
Ich komme zum Schluß. Was ich hier geben konnte, ist eine Direktive, keine Ausführung. Der einzelne Beurteiler mag sich aus dieser Direktive das Ganze oder nur einen Teil meiner Vorschläge aneignen, mag an einen vollständigen oder nur teilweisen Sieg in der Zukunft glauben, mag bloß ein Hilfsprinzip oder schon ein werdendes Hauptprinzip dieser Zukunft in ihrer Schule darin sehen: daß aber irgendwie der Weg zur Reform auch in dieser Richtung gehen wird, steht für mich fest. Es ist natürlich nicht die einzige Reform, die not täte, aber eine wesentlichste. Sie würde der Schule mehr Licht geben und damit beides bessern: das Ethische und das Sachliche. Für unsere Schüler, vor allem aber auch für unsere Lehrer selbst würde sie ein unendlicher Segen darin sein, daß sie auch sie mehr und mehr erlöste vom Negativen in ihrer Arbeit, – von der schlechten Zensur, von dem ewigen Feststellen mangelnder Leistung so viele Jahre lang, von der leidigen »Pflicht«, die Eltern ängstigen und hartmachen zu müssen, die Schüler aber im grauen Zwangsschatten zu halten, anstatt mit ihnen die edelste Form positiver Lehre und Arbeit zu genießen: die gemeinschaftliche Lehre und Arbeit der Freundschaft. Diese Negation möchte ich abgeschafft sehen zugunsten einer wirklich positiven Pädagogik. (Lebhafter Beifall.) Einer Pädagogik, die den Schüler mit dem Lehrer im Glück ihrer Arbeit vereint. Diesem Ideal gelten meine Vorschläge.
Die heutigen Dinge liegen verfahren. Sie liegen im Bilde der beiden verkämpften Hirsche. Aber wir alle haben zu viel Kulturglauben, um nicht zu wissen: ein so heiliges Gut wie die Schule muß wieder herausgekämpft werden. Die Dinge müssen irgendwie gelöst werden, nicht nur durch rohen, wüsten Kampf ums Dasein, nicht durch immer erneutes Niedertreten von Opfern, sondern vom edlen Bewußtsein unseres Wertes und des allgemeinen Kulturwertes aus. Wenn wir in diesem Sinne in die Ferne blicken, so sehen wir die Schule auftauchen nicht im Sinne der zwei Hirsche, die ihre Geweihe miteinander verwickelt haben, sondern wir sehen sie in einem anderen alten Jägerbilde: in dem Bilde von dem Hirsch, der dem Jäger entgegentrat mit dem leuchtenden Kreuz über dem Haupte. So hoffen wir, daß die Schule der Zukunft uns endlich entgegentritt mit dem leuchtenden Zeichen der Kultur über sich. (Stürmischer, andauernder Beifall.)
Dr. Ludwig Fulda: Das Wort hat Herr Professor Dr. Petzoldt.