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Als ich vor ein paar Jahren auf einer der Inseln der dänischen Westküste war, sah ich zum erstenmal eine jener kleinen Schifferkirchen, die, glattweiß gekalkt, mit stumpfem Turm und rissigem Bleiplattendach, meist wie geduckt in den Senkungen der Dünen liegen. Es war ein nebliger Septembertag. Irgendwo in der Ferne rollte die Brandung. Man vernahm ihre dumpfen Stöße bis in das Innere der Kirche hinein. Auch hier die Mauern einfach getüncht, eine niedrige Balkendecke, Kanzel und Bänke von dunklem Holz, ein paar Altarleuchter aus Messing mit dicken Wachskerzen, darüber an eisernen Haken rauchgeschwärzte Schiffsmodelle, und an den Wänden eins, zwei, nein zahllose kleine, schwarze Tafeln mit verblichenen Namen, Zahlen, Sterbekreuzen und jener refrainartig wiederkehrenden Inschrift: »Verloren im Meer … Verschollen … Verloren im Meer«. –
Es war ein Eindruck, der blieb, ein Eindruck, den ich noch heute mit einer Lebhaftigkeit empfinde, als sei es gestern gewesen, ein Eindruck, der mit mehr oder minder großen Abweichungen jedem werden wird, den Neigung oder Zufall dorthin führen, wo ein Volk von Seefahrern aufwächst, stirbt und seine Toten betrauert.
Es ist seltsam, wie wenig wir im Grunde genommen von jenen Opfern des Alltags hören, die stündlich in Ausübung ihres Berufes fallen. Große Katastrophen werden uns aufgetischt mit fetten Lettern. Wer aber spricht von den »kleinen Fällen«, das heißt solchen, die des sensationellen Interesses entbehren? Wem ist es außer dem Fachmann bekannt, daß im Jahre 1900 allein an den deutschen Küsten vierhundertsechsundachtzig Schiffe verschiedener Nationalitäten verunglückten, daß in einer Zeitspanne von weiteren zehn Jahren achthundertsechsundfünfzig deutsche Schiffe auf See verloren gingen, von denen dreihundertsechzehn als gestrandet, neunzehn als gekentert, hunderteinunddreißig als gesunken, zweihunderteinundzwanzig durch Kollisionen oder andere Unfälle zerstört, hundertneunundsechzig endlich als verschollen registriert wurden?
Daß auf all diesen Schiffen Menschen waren, wer denkt daran? Daß oft nur wenige gerettet wurden, daß Schiffe mit Mann und Maus verschwanden, als hätten sie nie existiert, wer erzählt davon?
Irgendwo treibt eine kleine Flasche an. Ein feuchter Zettel mit Schiffsnamen, Datum, darunter ein hastig gekritzeltes »Gott helfe uns, wir gehen unter«. Oder es wird eine Planke aufgefischt. Halbzerfressene Buchstaben stehen darauf. Man mutmaßt, rekonstruiert Silben … das Meer gibt seine Geheimnisse wieder.
Was wissen nun wir von diesen Geheimnissen, und was formten Erlebnis und Dichtung aus ihnen?
Die Blätter dieses Buches sollen darauf Antwort geben!
München, Frühjahr 1914.
Joachim Delbrück.