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In der Erziehungsanstalt, die mir einige oberflächliche Begriffe des Griechischen, etwas mehr vom Lateinischen und vor allem vom »gesellschaftlichen Schliff«, (dafür war sie weithin berühmt) beigebracht hat, bildete eine unserer Hauptvergnügungen die »Schnitzeljagd«. Irgend ein schnellfüßiger Junge, der einen mit kleinen weißen Papierschnitzeln vollgestopften Sack trug, der »Fuchs«, bekam eine halbe Stunde Vorsprung vor dem Haupttroß. Wir folgten dann gleich Hunden den Spuren, die er uns in vernünftigen Abständen voneinander aus seinem Papiersack hinterlassen hatte. Wir mußten all seinen Zickzackgängen folgen, selbst wenn wir schlau genug waren, die Richtung zu mutmaßen, die er eingeschlagen hatte. Ich war kein großes Licht im Lateinischen, noch weniger im Griechischen und bin nicht ganz sicher, ob ich mir wirklich den »gesellschaftlichen Schliff« angeeignet habe; aber das darf ich schon sagen, daß der »kleine Granby«, (mein älterer Bruder war nämlich auf derselben Schule), dafür berühmt war, daß er die »Losung« gab, so oft wir die Fährte verloren hatten. Ohne große Rücksicht auf Eigentums- und ähnliche Rechte oder möglicherweise auf junge Saatfelder, ging dann weiter die wilde Jagd, über Stock und Stein, Gartenzäune und Mauern, wie es eben die Begeisterung für den Sport mit sich brachte.
Ich wurde, wie gesagt, der »kleine Granby« genannt. Der »große Granby« hat später mit Leichtigkeit richtige Schnitzeljagden mitgemacht, aber ich – als jüngerer Sohn – mußte mich nach einem Lebenserwerb umsehen. Meine Familie dachte sich nun zwar, daß sämtliche Berufe sich glücklich schätzen würden, die wertvollen Dienste eines Mannes in Anspruch zu nehmen, von dem man erwartete, daß er Griechisch und Lateinisch und gesellschaftlichen Schliff sein eigen nennen könnte. Aber das dachte auch nur meine Familie.
Und wenn es nicht meinem Taufpaten eines Tages eingefallen wäre, daß ich gewiß einen hervorragenden Bankier abgeben würde, wäre ich wohl heute ein mehr oder weniger wohl bestallter Weinreisender. Aber dieser edle Menschenfreund gab mir, seinem unerwarteten Impuls folgend, das nötige Kleingeld, um jüngerer Teilhaber einer gewissen Bank in der Provinz zu werden.
Nachdem ich also einige Monate lang als jüngerer Partner (was keineswegs mit einer Sinekure identisch ist) im Geschäft geweilt und meinen Posten tüchtig versehen hatte, wurde ich zum ersten Leiter einer neuen, aber vielversprechenden Filiale in einer großen Landstadt ernannt, die ich hier aus gewissen Gründen Millsome nennen will. Mein Mitarbeiterstab war sehr beschränkt: außer den Dienern bestand er nur aus zwei Bureauangestellten, Vater und Sohn, von denen der erstere seit dreißig Jahren im Dienste der Firma stand, der letztere zählte erst etwa neunzehn Jahre. Dank der Existenz meines großen Bruders – allerdings kaum Dank ihm – wurde ich in der besten Gesellschaft der Gegend aufgenommen, zu der mir mein Beruf niemals die Tore geöffnet haben würde; und da ich an ein fideles Leben gewöhnt war, machte ich von dieser Annehmlichkeit auch reichen Gebrauch, soweit sie sich mit meinen geschäftlichen Pflichten vereinigen ließ. Ich wußte genau, daß ich dem alten Grubb unbedingtes Vertrauen schenken konnte. Allerdings konnte ich nicht dasselbe von seinem Sohne sagen, da ich entdeckt hatte, daß dieser hoffnungsvolle Jüngling eine gewisse Schwäche für kleine Unregelmäßigkeiten und späte – oder besser: frühe – Stunden und außerdem einen Nachschlüssel zu seiner Verfügung hatte, was mit der Hausordnung nicht im Einklang stand. Ich hatte indes seinem Vater nichts davon gesagt, da ich in meinen früheren Tagen selber gern ein wenig lustig gewesen und daher auf diesem Gebiet zur Nachsicht neigte. Aber ich hatte dem jungen Menschen eine kleine Standpredigt über Laster und liederlichen Lebenswandel gehalten, so daß er in gewisser Hinsicht gewarnt war. Ich deutete ihm auch unter vier Augen an, daß er bei der nächsten Gelegenheit, wo er sich einen Fehltritt zu Schulden kommen ließe, entlassen würde, da ich mir wohl bewußt war, daß eine solche Lebensführung bei einem Bankbeamten ohne große Schwierigkeit zu gesetzwidrigen Handlungen führen könnte, während sie bei einem Studenten nicht so leicht schlimme Folgen nach sich zog.
Etwa zwei Monate nach diesem kleinen Zwischenfall wurde der alte Grubb plötzlich in unser Hauptgeschäft gerufen, um Klarheit über einige Angaben in den Büchern zu schaffen. Ich war für diesen Tag gerade auf einen Landsitz eingeladen, wo ich auch zu übernachten gesonnen war. Allerdings hatte ich einige Skrupel, die Bank der Verantwortung dieses leichtfertigen Burschen zu überlassen, aber zufällig war nur wenig Geld im Kassenschrank vorhanden, und da gerade kein Markttag war, konnte ich annehmen, daß in dem nächsten halben Dutzend Geschäftsstunden nicht viel eingezahlt werden würde. Daher blieb ich bei dem festgesetzten Programm, nahm mit Hochgenuß an der vereinbarten Jagd teil und war in jeder Beziehung für das festliche Mahl gerüstet, das nunmehr folgen sollte.
Doch mit des Geschickes Mächten
Ist kein ew'ger Bund zu flechten.
Einer der ersten Gäste, die den Salon betraten, war, wie sich herausstellte, ein wohlbeleibter Gutsbesitzer, mit dem ich schon seit längerer Zeit bekannt war.
Ei, sieh da! rief er lachend aus, Granby, Sie sind auch hier? Bekümmert mich wirklich, Sie hier zu treffen. Ich hatte mir Sie vorgestellt, wie Sie auf ihrem eisernen Geldschrank säßen, bis an die Zähne bewaffnet, mit gezogenem Schwert und gespanntem Revolver als getreuer Wächter meiner zehntausend Pfund!
Ihrer zehntausend Pfund? fragte ich erstaunt.
Gewiß, mein Lieber. Das Geld für meine Farm zu Millsome, die ich verkauft habe. Einem derartigen Angebot konnte ich nicht widerstehen, trotzdem ich schon xmal gesagt habe, ich würde es nie übers Herz bringen, das alte Gut zu verklopfen. Es sind noch keine drei Stunden her, daß ich das Geld eingezahlt habe; ich habe Ihnen, denke ich, in diesen unruhigen Zeiten mein unbegrenztes Vertrauen bewiesen, wenn ich eine derartige Summe für einige Tage in Ihre Hand gelegt habe. Mein Bankier hat mir übrigens gedrahtet, daß gerade jetzt eine günstige Gelegenheit sich biete, Gelder in »Indischen Eisenbahnen« anzulegen.
Und nun plätscherte er behaglich im Elemente dieses Gegenstandes herum, während mir bei dem Gedanken, daß Grubb junior mit seinem Nachschlüssel zum Kassenschrank Alleinherrscher über diese Summe war, das Herz in die Hosen fiel. Der französische Kochkünstler hätte ebensogut meine alte Haushälterin zu Millsome sein können, so wenig Aufmerksamkeit schenkte ich an diesem Abend seinen Erzeugnissen. Meine Stimmung näherte sich immer mehr dem Nullpunkt, so daß es selbst meinen frohsinnigen Gastgeber stutzig machte, und er eine darauf bezügliche Bemerkung fallen ließ, als der letzte Gast weggegangen war, und wir in seinem traulichen Rauchzimmer saßen.
Mein guter Junge, sagte er, als ich geendet, wir sind schon zu lange befreundet miteinander, als daß ich große Umstände machen möchte. So gerne ich Sie noch behielte, bin ich doch kein solcher Egoist, Sie am Weggehen zu verhindern. Aber wenn ich an Ihrer Stelle wäre – dreißig Jahre jünger und gezwungen, mir eine Lebensstellung zu erhalten – würde ich heute in Millsome übernachten, selbst wenn ich die ganzen zehn Meilen zu Fuß zurücklegen müßte. Es ist noch nicht zwölf Uhr, und mein Jagdwagen setzt Sie in einer Stunde vor Ihrem Hause ab.
Zehn Minuten später war ich bereits unterwegs. Das Pferd ging in scharfem Trab, trotzdem aber hatte ich das Gefühl, daß es eigentlich fliegen müßte, wenn ich nicht zu spät kommen sollte.
Bei meiner Ankunft in Millsome lag bereits die ganze Stadt mit Einschluß meiner Haushälterin in tiefem Schlummer; ein dutzendmal mußte ich läuten, bis es mir gelang, sie zu wecken. Schließlich kam sie zitternd gehumpelt und rief:
O, mein Gott! Wer hätte das gedacht, daß Sie heut noch kämen, Herr Granby.
Ist alles in Ordnung? fragte ich aufgeregt. Wo ist der Herr Richard?
Im Bett und schläft, und schläft feste, sonst hätte er die Klingel hören müssen und hätte mir alter Frau erspart, herunterzukommen; er ist ein so guter Junge. –
Das war ja schon richtig: Richards gewinnendes Wesen hatte das Herz der guten alten Dame für sich erobert; sie kochte ihm gute Plättchen zum Nachtessen und blieb bis zum Morgen für ihn auf, wenn er einmal – was allerdings nicht oft eintraf – von seinem gestrengen alten Herrn die Erlaubnis bekam, auszugehen.
Wissen Sie bestimmt, daß er zu Hause ist? fragte ich, unschlüssig, was ich tun sollte und ein wenig beschämt, in meinem Verdachte so voreilig gewesen zu sein.
Ja freilich; er ging sehr früh, vor neun Uhr schon, auf sein Zimmer; er hatte Kopfweh, der arme Junge, und bat mich, ihn nicht zu stören. Sie werden ihn doch nicht wecken wollen, bitt schön, Herr Granby, wenn es nicht sehr notwendig ist!
Die Erwähnung dieser frühen Stunde jedoch schien mir ganz und gar nicht zu meinem jungen Manne zu passen, und so stürmte ich, drei Stufen auf einmal nehmend, in sein Zimmer hinauf. Seine Tür war verschlossen und auf wiederholtes Klopfen erhielt ich keine Antwort. Mit einem Fußtritt, für den ich auf der Schule einen gewissen Ruf genoß, stieß ich die Tür auf und im nächsten Augenblick befand ich mich in Grubb juniors Zimmer. Das Nest war leer, der Vogel ausgeflogen. Das Bett war sogar unberührt. Sein plötzliches Unwohlsein hatte nur sein plötzliches Verschwinden maskieren sollen, das wahrscheinlich stattfand, noch ehe die Haushälterin das Haus abschloß. Ich eilte nun, ohne große Hoffnung allerdings, zum Geschäftsraum hinab, um mich wenigstens, bevor ich weitere Schritte tat, von der Wahrheit meiner Befürchtungen zu vergewissern. Ein einziger Blick in den Kassenschrank belehrte mich, daß ich dem Galgenstrick nicht unrecht getan hatte: er hatte sich mit dem ganzen Raub aus dem Staub gemacht.
Das war eine schöne Geschichte! Was würden mir meine Partner vorzupfeifen wissen, wenn sie durch meine Nachlässigkeit einen so ungeheuren Verlust erlitten hätten? Wie konnte ich die Summe je wieder zurückerstatten, wie ein solch riesiges Unglück wieder gut machen? Ein paar Augenblicke schien sich die Verzweiflung meiner völlig bemächtigen zu wollen. Ich sah meinen hoffnungsvollen Weg, in der Welt zu etwas zu kommen, völlig verschüttet. Ich sah mich bereits als Weinreisenden lächerlich kleine Bestellungen entgegennehmen. Und meine alten Tage würde ich in einem Versorgungshaus für heruntergekommene Vertreter der Gesellschaft zubringen, welchen die Beherrschung des von der Erziehungsanstalt beigebrachten »Schliffs« keinen Deut genützt hatte.
Aber meine Sinnesart ist von Natur aus nicht schwerfällig. Und so ließ sie sich nicht für lange in dieser niedergedrückten Atmosphäre halten. Ich war ein Esel gewesen; sollte ich deshalb nun auch den Kopf hängen lassen, statt wie ein feuriges Pferd hinter dem Gauner herrennen? Nein. Ich wollte meine Partner wenigstens zu dem Bekenntnis nötigen, daß, so nachlässig und leichtsinnig ich mich in bezug auf den unglücklichen Vorfall selber gezeigt, ich doch in meinen Bemühungen, ihn wieder gut zu machen, nicht müßig gewesen. Wenn Richard Grubb auf der Erdoberfläche zu finden war, wollte ich ihn aufspüren. Darauf tat ich ein feierliches Gelöbnis.
Aber wie sollte ich damit beginnen? Das war die Frage. Zum Anknüpfen hatte ich rein nichts, als die Tatsache, daß der Mann und mit ihm das Geld verschwunden war. Halt! Das Geld! Wenn ich nur die Nummern der Banknoten wußte, oder in Erfahrung bringen konnte, bevor die Bank von England an diesem Tage – es war nämlich bereits ein Uhr vorbei – ihre Pforten öffnen würde, so konnten sie auf telegraphischem Wege gesperrt werden; dann wäre ihre Verwendung auf jeden Fall schwierig. Der Herr, der sie eingezahlt hatte, lebte nur fünf Meilen von Millsome entfernt und es war anzunehmen, daß er oder sein juristischer Beirat in der Lage sein würden, mich mit dieser Information zu versehen. Ich hatte bereits den Hut wieder auf dem Kopfe, als mich ein plötzlicher Gedanke wieder in den Geschäftsraum zurückführte. Wenn der junge Schwerenöter den Diebstahl nicht bereits in dem Augenblick beschlossen hatte, wo er das Geld einnahm, hatte er die Nummern auf dem üblichen Wege notiert, und ich würde sie dann im Eintragbuch vorfinden. Richtig; da waren sie! Es mußte ihn eine Stunde gekostet haben, sie aufzuschreiben: da standen die Nummern von fünfzig Hundertpfundnoten, fünfzig Fünfzigern, fünfzig Zehnern, und vierhundert Fünfern. Welch ein Idiot mußte der Bursche sein, daß er diesen verräterischen Eintrag nicht vernichtet hatte! Freilich, er war fest überzeugt davon, daß ich nicht vor Mittag zurückkehren würde, lange nachdem er seinen Rebbach gewechselt hatte. Aber sein alter Herr sollte ja bis um Frühstückszeit, noch vor Beginn der Kassenstunden zurück sein und würde – bei der Entdeckung der Flucht seines Sprößlings – schlau, wie er war, irgend ein Unheil wittern, das Eingangsbuch nachschlagen, den Inhalt mit dem vorhandenen Geld vergleichen und sofort in die Stadt telegraphieren. Diese Unterlassungssünde charakterisierte übrigens den jungen Mann gut als einen impulsiven, jedes wohlüberlegten Planes unfähigen Menschen, der in diesem Augenblick vielleicht seinen Fehltritt bereute und am liebsten wieder alles ungeschehen machen würde. Das war Richard Grubbs Charakterbild, nach meiner Ueberzeugung und darnach richtete ich meine ganze Verfolgung ein, die sich zu einer Schnitzeljagd der aufregendsten Art herausentwickelte, wenn ich die wertvollen Banknoten mit einem so verächtlichen Ausdruck bezeichnen darf.
Zunächst schlug ich natürlich den Weg zum Bahnhof ein, wo der leichtsinnige Bursche, wie ich hoffte, dem Schalterbeamten vielleicht nicht unbekannt war. Aber dieser Beamte hatte sich – und das konnte ich ihm nicht verübeln – sofort nach Abfahrt des letzten Postzugs in die Federn verfügt; indes konnte mir glücklicherweise der Nachtportier die gewünschte Auskunft erteilen. Richard Grubb war mit dem letzten Zug von Millsome abgefahren, der bloß an einem einzigen Knotenpunkt hielt und dann ohne Aufenthalt direkt zur Stadt fuhr. Es waren nur drei Passagiere eingestiegen, alle nach London. Aber waren auch alle dorthin gefahren? Ich telegraphierte an die Endstation mit der Bitte um Mitteilung, wieviel Billete von Millsome dort eingesammelt worden seien: die Anzahl stimmte mit der von mir in Erfahrung gebrachten. Daher war mein »Fuchs« in London: wohl ein unheimlich verzweigtes Gebiet, aber immerhin ein gewisser Anhaltspunkt. Hierauf drahtete ich einem Vertrauensmann, die gestohlenen Banknoten bei der Bank von England zu sperren, erwartete dessen Antwort und begab mich dann etwas leichteren Herzens als während der letzten drei Stunden nach Hause.
Mit dem ersten Morgenzug eilte ich nach London und setzte mich mit den Behörden von Scotland Yard in Verbindung. Hier sicherte ich mir die Dienste eines – wie man höflicherweise zu sagen pflegt – »rührigen und scharfsinnigen« Detektivs und war so liebenswürdig mir einzubilden, daß damit der Gegenstand meiner Sehnsucht bereits zur Hälfte in meiner Gewalt sei. Aber niemals hat sich ein Mensch gründlicher geirrt! Dieser würdige Beamte – der sich mir nicht etwa gratis anschloß, das können Sie mir glauben! – war nicht um ein Haar mehr begabt, als ich in der Aufgabe, eine Stecknadel im Heuschober aufzufinden, und seine Begleitung nützte mir nicht das Geringste. Wie ich mit Sicherheit erwartet hatte, wurde an diesem Tage bei der Bank von England kein Versuch gemacht, die gestohlenen Noten einzuwechseln. Grubb junior hatte, trotzdem er keinen Grund zum Verdachte hatte, daß die Banknoten bereits signalisiert sein möchten, wahrscheinlich nicht den nötigen Mut besessen, diesen Streich in höchsteigener Person auszuführen, und er kannte niemand, dem er das Geschäft hätte anvertrauen können. Ich war überzeugt davon, daß er mit seinem Raub auf Reisen zu gehen beabsichtigte. Mittlerweile taten wir unser möglichstes. Nach den wenn auch geringen Kenntnissen, die ich von seinen Gelüsten besaß, konnte ich mir immerhin denken, daß er sich zunächst einmal auf seine eigene Art vergnügen und »das Leben der Großstadt« ansehen würde, so wie es sich daselbst während der Nachtstunden entwickelt. So kam es, daß der ehrenwerte Herr Inspektor Lux und ich während dieser Woche ein gut Teil davon gesehen und uns in recht bunter Gesellschaft bewegt haben, ohne indes auf den so sehnsüchtig gesuchten jungen Mann zu stoßen. Am Ende dieses Abschnitts meiner Jagdpartie erhielt ich einen Brief vom alten Grubb – der zweite, nebenbei bemerkt, den er mir geschrieben: der erste hätte einen Stein zu Tränen rühren können, so bekümmert und niedergedrückt war die ehrliche alte Haut über den Fehltritt seines nichtsnutzigen Sprößlings, und diese Mitteilung lieferte uns unseren ersten Anhaltspunkt. Sie enthielt nämlich einen Brief von dem Burschen selber, worin er über sein Vergehen einige Reue bezeugte, gleichzeitig aber den Entschluß kundgab, behalten zu wollen, was er erobert habe. »Es ist jetzt zu spät, umzukehren,« hieß es darin. »Zur Zeit, wo du diesen Brief erhältst, werde ich bereits in weiter Ferne sein, und du wirst mich nie wieder sehen«. Der Brief gab vor, im Hotel zum »Ehernen Kreuz« geschrieben worden zu sein, aber diese Adresse rührte von des Jünglings eigener Hand her, während er die gedruckte Aufschrift des Umschlags sehr sorgfältig ausgekratzt hatte. Außerdem wies die Briefmarke den Stempel eines anderen Bezirks auf, als derjenige bezeichnet wurde, worin das fragliche Hotel gelegen war. Wir begaben uns trotzdem sofort ins »Eherne Kreuz« und entdeckten daselbst, daß der junge Mann wirklich zwei Nächte dort zugebracht hatte – da er ein auffallend hübscher Junge und leicht zu beschreiben war, konnten wir dies ebenso leicht feststellen. Die ersten zwei Nächte hatte er in der Stadt zugebracht.
Stundenlang saßen wir über dem Umschlag und versuchten, aus den Spuren der Buchstaben, soweit sie nicht vernichtet waren, einen Sinn herauszubekommen; aber sie waren und blieben unleserlich. Uebrigens bildete das wieder einen Beitrag für die Gedankenlosigkeit des jungen Menschen, dem es nicht eingefallen war, einen einfachen unbedruckten Umschlag zu benützen. Plötzlich fiel mein Blick auf die Innenseite des Papiers. Herr Lux, rief ich aus, wir beide sind Schafsköpfe. Da steht ja der Name des Kuvertfabrikanten. Zu ihm hätten wir sofort hin sollen.
Der Herr Inspektor, (zweifellos, weil die Anregung schicklicherweise am besten von ihm selber ausgegangen wäre), war nicht sehr erfreut darüber und gab sich das Aussehen, als messe er ihr keinen Wert bei. Ich beharrte indes darauf, den Verfertiger des Briefumschlages aufzusuchen, und dieser erkannte auf den ersten Blick seine Arbeit. Es sei, sagte er, eines der fünftausend Kuverte, die er für das »Orient- und Okzidenthotel, G. m. b. H.« ausgeführt habe. Darauf wollte er einen heiligen Eid schwören.
Der Herr Inspektor schüttelte das Haupt, eine Bewegung, die als Ausdruck scharfsinnigen Zweifels sehr beliebt bei ihm war.
Na, vielleicht steckt doch was dahinter, machte er widerwillig; wir sollten nie alle Hoffnung aufgeben!
Eine Viertelstunde darauf standen wir in dem ausgekundschafteten Hotel. Zuerst klärten wir durch unsere Fragen nur auf, daß es ein solch ungeheurer Kasten mit einer solchen Unmasse kommender und gehender Gäste war – die G. m. b. H. verkrachte etwa zwei Monate nach unserer Verbindung damit –, daß jede Erinnerung an ein Individuum, das man nur beschreiben konnte, nicht in Frage kam. Aber nach Belästigung des Direktors und Oberkellners machte ich mich an ein auffallend hübsches Zimmermädchen, das zufällig vorüberging, während wir mit den Hauptpersönlichkeiten verhandelten und es stellte sich bald heraus, daß sie ohne die geringste Schwierigkeit meinen Herrn Richard nach der bloßen Beschreibung wiedererkannte.
Sie werden ihm doch nicht irgend etwas antun wollen, wie? fragte sie plötzlich mitten in unserem Kreuzverhör.
Er ist seinen Freunden durchgebrannt, Sie gutes Mädchen, erwiderte ich, und seinem armen alten Vater ist darüber das Herz gebrochen.
Nun, meinte sie errötend, wenn das wirklich der Fall sein sollte –
Gewiß, unterbrach ich sie, als ich bemerkte, wie ihre Finger unentschlossen an einem Kettchen spielten, das sie um den Hals hängen hatte, nicht wahr, Sie leihen uns die Photographie, die er Ihnen gegeben hat?
Und damit zog sie das hübsche, goldene Kettchen heraus, machte davon das vermutete Bildchen los und händigte es mir ein. Ich bin überzeugt, daß zum wenigsten eine der gesuchten Zehnpfundnoten für das Kettchen gewechselt worden war. Der empfängliche Richard war wohl der Mann oder richtiger gesagt, der dumme Junge, einen guten Teil des Geldes in dieser Weise an den Mann, oder besser, an das Mädchen zu bringen. Aber im vorliegenden Falle bedauerte ich nicht im mindesten die Verwendung des Geldes, das im Grunde mein eigenes war. Dank seinem weichen Herz war ich nun mit einem Prüfstein versehen, durch den ich in einem einzigen Augenblick erfahren konnte, ob er durch irgend welchen Menschen, dem ich das Bild zeigte, gesehen worden war oder nicht. So ließ ich dem hübschen Mädchen gerne das kleine Andenken an meinen jungen Freund.
Im übrigen waren die Aufschlüsse, die ich noch aus dem Mädchen herausbrachte, weit davon entfernt, beruhigend zu wirken; der junge Herr war vor zwei Tagen mit einem gewissen Zuge nachmittags nach Dover verreist, zweifellos, um sich nach dem Festland zu begeben, genau, wie ich von Anfang an geahnt hatte.
Und nun, Herr Inspektor? fragte ich, allerdings, wie ich bei aller loyalen Verehrung vor der staatlichen Autorität gestehen muß, ohne große Hoffnung, eine nützliche Anregung von ihm zu erhalten.
Nun, Herr Granby, versetzte er mit seinem würdigsten Kopfschütteln, was ich stets zu sagen pflege, wenn ein Fall bei einem derartigen Wendepunkt anlangt – wenn der Bindfaden reißt, wie in diesem Falle, und Sie nur das kurze Ende in der Hand behalten: Der erste Schritt zum Sieg ist zu erfahren, wann Sie geschlagen sind! Und meiner Ansicht nach sind wir geschlagen, hoffnungslos aufs Haupt geschlagen.
Was? rief ich aus und hielt ihm die Photographie vor die Nase, wollen Sie damit behaupten, daß Sie mir jetzt, wo wir dieses wertvolle Kettenglied – im wahrsten Sinne des Wortes, da ich ihr ja die Kette selber gelassen hatte – gefunden haben, raten, die Schnitzeljagd aufzustecken?
Schnitzeljagd! betonte er bissig, das ist eine Jagd auf wilde Gänse, mein Herr, nichts Geringeres. Wenn ich nichts mehr habe, als diese Photographie, bin ich durchaus abgeneigt, meine berufliche Reputation bei einer Entdeckungsreise ins Ausland aufs Spiel zu setzen.
Das ist ein Unsinn! rief ich aus. (Zur Entschuldigung dieser Respektlosigkeit dient mir vielleicht der Umstand, daß mein Eifer zur Glühhitze gestiegen war.) Je mehr Sie aufs Spiel setzen, um so größer wird die Gelegenheit sein, eine so verdorbene Ware loszuwerden.
Der Herr Inspektor, der – das muß ich ihm lassen – durch nichts aus seiner Seelenruhe zu bringen war, schüttelte zur Antwort nur majestätisch das Haupt und wünschte mir guten Tag und viel Glück. Das war das letztemal, daß ich ihn den Kopf schütteln sah, denn damit endete meine Verbindung mit Scotland Yard, und ich beschloß, fortan mein eigener Detektiv zu sein.
Meine Aufgabe war nunmehr schwieriger als je geworden. Trotzdem mir Herr Lux keinen Pfifferling genützt hatte, wußte ich, daß ich das Fehlen eines Genossen mit einem gemeinsamen Ziel vor Augen schwer empfinden würde. Ich würde nunmehr niemand haben, mit dem ich mich beraten, ja möglicherweise, niemand, mit dem ich sprechen könnte, da ich ja nur meine Muttersprache beherrschte. Die in meiner Jugend erworbenen Kenntnisse des Griechischen, Lateinischen und gesellschaftlichen Schliffes – wie verschieden waren sie doch vom französischen Akzent! – erleichtern einem nicht im geringsten eine Reise auf dem Kontinent. Andererseits aber sagte ich mir nicht mit Unrecht, daß Richard Grubb in dieser Hinsicht nicht besser ausgestattet war, als ich. Und dieses Band, das uns beide einigte – so hoffte ich – würde uns vielleicht zusammenführen, ehe noch ein großer Teil der »Schnitzel« aus dem Sack verschwunden war. »Ausland« – davon war ich überzeugt – würde bei ihm Paris bedeuten; trotzdem unterließ ich keine Erkundigung, um diesen Verdacht zur Gewißheit zu steigern. Der Zug, mit dem mein Fuchs London verlassen, erreichte, wie ich mich vergewisserte, keinen Dampfer nach dem Kontinent mehr; da er in Dover zu spät anlangte, mußte der junge Mann auf alle Fälle in Dover übernachtet haben. Demgemäß wandte ich mich zunächst einmal diesem Hafen zu. Während der Fahrt machten mir die Aussichtslosigkeit meines Unternehmens und das Scheitern der Bemühungen des Herrn Inspektor das Herz recht schwer, und immer wieder zog ich die Photographie aus der Tasche und suchte mich mit ihrem Anblick zu trösten, war sie doch der einzige Strohhalm, an den ich mich anklammern konnte. Eine mütterliche – aber nicht sehr einbildungsreiche – alte Dame, die im gleichen Wagen saß, wie ich, wurde durch dieses ergreifende Schauspiel zu Tränen gerührt und bemerkte in erschüttertem Tone: Ich sehe, mein Herr, Sie haben, wie ich, geliebt und verloren. Es kann nicht gut Ihr Sohn sein. Irre ich mich mit der Annahme, daß der junge Mann da Ihr jüngerer Bruder gewesen ist?
Gnädige Frau, entgegnete ich, es ist das Bild eines Menschen, für den ich größeres Interesse empfinde, als irgend ein Mensch auf Erden, von Kains Zeiten bis zum heutigen Tag, je einem jüngeren Bruder entgegengebracht hat.
Er ist ja nicht wirklich verloren, erwiderte sie voller Güte und Wärme, er ist nur von uns dahingegangen.
Freut mich, daß sie das sagen, bemerkte ich ruhig, aber zweiundsiebzig Stunden, das möchte ich doch betonen, bedeuten bei einer Schnitzeljagd einen fürchterlichen Vorsprung!
Die alte Dame machte keine weiteren Einwände und bei der nächsten Station verließ sie mit auffallender Eile den Wagen, um ihn mit einem anderen zu vertauschen. Soweit ich urteilen kann, hielt sie mich für einen Geisteskranken.
In Dover fuhr ich, bestrebt, meines »Fuchses« Vorkehrungen so gut wie möglich nachzuahmen, zum nächstgelegenen Hotel, sicherte mir dort ein Zimmer und begann unverweilt mit meinen Erkundigungen.
Ein solcher junger Mann sei in seinem Hause nicht abgestiegen, meinte der Besitzer; aber wenn ich Zeit habe, könne ich ja ein paar Häuser weiter nachfragen, wo sein Schwiegersohn ebenfalls ein Gasthaus führe. Das tat ich und entdeckte, daß ich auf der richtigen Fährte war. Richard Grubb hatte am fraglichen Tag im »Shepherds Busch« übernachtet und das Morgenschiff benützt mit der ausgesprochenen Absicht, nach Paris zu fahren.
Im Auslande zu reisen, ohne die Landessprache zu verstehen, ist kein viel größeres Vergnügen, als im Panorama zu sitzen und Ansichten fremder Gegenden an seinem Auge vorüberziehen zu lassen. Auf dem Lande, in der freien Natur, die auch zu dem Fremden spricht, kommt man allenfalls noch auf seine Rechnung, aber wie ändert sich all das, wenn man in eine Stadt kommt! Und in einer Stadt mußte ich Richard Grubb aufsuchen. Ein junger Mensch, der zehntausend gestohlene Pfund in seiner Tasche beherbergt, neigt nicht zu ländlichen Freuden, noch hegt er den Wunsch in seinem Busen, eine einsame Almhütte als Absteigequartier zu wählen; er schätzt die Natur lange nicht so sehr, wie Tingeltangels, Varietés und den Bal Mabille. Ich hatte bereits mehrere Reisen gemacht, und selbst in Gesellschaft gebildeter englischer Genossen hatte ich kein großes Vergnügen dabei gehabt und mich zu einem guten Teil gemopst. Daher waren meine Erwartungen während der kleinen Ruhepausen, die mir die Seekrankheit bei dieser Ueberfahrt gestattete, nicht gerade rosiger Natur. Doch glaube ich, daß ich dieses Mal, trotzdem ich keine Vergnügungsreise machte, mehr Lust der Sache entgegenbrachte, als je zuvor. Ich plagte mich nicht mit Gemäldegalerien, noch genoß ich den Modergeruch der schönen alten Kirchen (die sich alle so gleichen, wie ein Ei dem anderen), noch erschöpfte ich meinen kleinen Wortschatz im Bestellen von kulinarischen Neuheiten. Ich wußte, daß der junge Mann, nach dem ich auf der Suche war, nichts dergleichen tun würde, und nach seinem Verhalten bemühte ich mich, das meinige zu regeln. Für meine Aufgabe war es in dieser Beziehung ein glücklicher Umstand, daß wir uns beide in ähnlicher Lage befanden: beide unerfahren und sprachlos im wahrsten Sinn des Wortes in einem fremden Lande. Was ich tun mußte, hatte er wahrscheinlich auch tun müssen. So beschloß ich während der Reise nach Paris, mich bei meiner Ankunft daselbst, genau wie in Dover, ins nächste Hotel fahren zu lassen. Denn selbst wenn meinem »Fuchs« noch in London ein besonderes Hotel empfohlen worden war, so konnte ich doch annehmen, daß er, so kopflos er sonst auch war, schlau genug wäre, es zu vermeiden. In der unmittelbaren Nachbarschaft des Bahnhofes in Paris waren nun sieben Hotels alle in derselben Entfernung vom Bahnhof. Da ich nicht gleichzeitig in allen sieben absteigen konnte, war ich genötigt, eines davon auszuwählen. Ich hatte in Dover einen französischen Sprachführer gekauft, nach dem ich die französische Sprache etwa mit derselben Vollendung mir hätte aneignen können, als ich von dem Herrn Inspektor Lux die Detektivkunst erlernt hatte; er gab sich nämlich vor allem mit der Kunst des Trinkens ab, z. B. »Was ziehen Sie vor? Noyeau, Vanille, oder Curaçao?« u. s. f.; aber während der zwölf Stunden, die er in meinem Besitze war, hatte ich aus dem unausstehlichen Geschwätz ein paar ärmliche Wörter nützlicher Art herausgeklaubt und einige Fragen, die mir im vorliegenden Falle von Nutzen sein konnten. In diesen Fragen ließ ich alles Ueberflüssige weg, setzte das, was für meinen Gebrauch passen konnte, scharfsinnig zusammen, und so gelang es mir, den Satz zu bilden: »Haben Sie in der letzten Zeit meinen Bruder gesehen?« Mit dieser Frage und der Photographie war ich bereit, ganz Europa auf der Suche nach meinem Objekt – nämlich diesem verkommenen Subjekt – abzusuchen.
Ich gab mein Gepäck ab (wenn ich so eine kleine Aktenmappe, mit vorzüglich gearbeitetem Schloß bezeichnen darf, die ich mir zur Verwahrung der Banknoten, wenn ich sie je wieder sehen sollte, gekauft hatte) und erlangte unter der Vorspiegelung, etwas zu essen bestellen zu wollen, unverweilt Audienz beim Oberkellner.
Ich nehme an, daß mich meine Aussprache verraten hat, denn der Angeredete lächelte liebenswürdig und antwortete mit höflicher Verbeugung: »Mein Err, ik spreke Englisch«. Wenn er es sprach, so hatte ich mein Leben lang etwas anderes gesprochen, als meine Muttersprache, aber es war nicht meine Aufgabe, ihm zu widersprechen. Als ich im Gegenteil an das dachte, was ich über die Eitelkeit der Franzosen gehört hatte, beglückwünschte ich mich in meinem Inneren über die sprachlichen Fähigkeiten dieses Mannes, bestellte ein reiches Diner für mich und verehrte ihm eine gute Zigarre. Daraufhin wurden wir so intime Freunde, daß es mir in der Folge einige Arbeit kostete, ihn wieder los zu werden, so begierig zeigte er sich, mir als Führer, Philosoph und Freund bei einer Rundreise durch die »Hauptstadt der Welt«, wie er Paris nannte, nach Schluß seines Dienstes zur Seite zu stehen. Aber das Schlimmste daran war, daß er meinen Bruder nicht gesehen, trotzdem er höflicherweise den Wunsch aussprach, dies nachzuholen und steif und fest versicherte, daß er sehr gut sehe, wie »Monsieur mir gleike«. Trotz des Mißlingens meines ersten Versuches war ich keineswegs entmutigt. Im Gegenteil sagte ich mir, daß mein Forschungsgebiet dadurch schon kleiner geworden sei. Denn wenn alle » garçons« diesem » garçon« ähnlich waren, so mußte ich in ihrer Mitte oder wenigstens durch eine Information von ihrer Seite meinen Fuchs aufstöbern können. Sie mußten eine gewisse Anziehungskraft auf ihn ausüben, angesichts der Tatsache, daß sie »Englisch spraken«; wenn sie ihm aber erst »Paris bei Nacht« zeigen würden, waren sie unwiderstehlich für ihn.
Nunmehr schlenderte ich ins Café des nächsten Hotels, bestellte eine Tasse Kaffee und hielt meinen neuerworbenen Schibboleth dem Kellner mit der Frage unter die Augen: Avez-vous dernièrement vu mon frère?
Nein. Er hatte niemand gesehen, der dem jungen »Errn glik«. Die Büfettdame war ebenso überzeugt davon; wie könnte man sonst einen so hübschen Herrn vergessen? Mit geheimem Groll nahm ich die Komplimente über meinen »Bruder« in Empfang, die mir von allen Seiten zuströmten.
Im dritten Hotel, das ich mit der Vorspiegelung betrat, ein » petit verre« genehmigen zu wollen (mein Wörterbuch griff mir ja mit einer endlosen Reihe derartiger Ausflüchte unter die Arme), verlangte ich das Fremdenbuch. Es war ja keineswegs ausgeschlossen, daß Herr Richard Grubb aus reinem Mangel an Phantasie seinen eigenen Namen beibehalten hatte. Er war indes nicht unter der Zahl der erlauchten Persönlichkeiten, die in der letzten Zeit das » Hotel de Fleuris« beehrt hatten. Aber ich fand einen anderen mir sehr wohl bekannten Namen vor – Vor- und Familiennamen – indem es nämlich mein eigener war. Diese Entdeckung setzte mich keineswegs in Erstaunen. Natürlich konnte es auf dieser Welt noch andere Robert Granbys außer mir geben; aber das Zusammentreffen war doch auffallend; ich deutete auf den Eintrag, der in einer mir völlig unbekannten Handschrift abgefaßt war und fragte, ob der Herr noch hier wohne. Nein. Der junge Bankier – ob ich ihn kenne? – sei erst gestern abend mit seinen zwei Freunden, Monsieur Joan und Monsieur Smit, deren Namen unter dem seinigen standen, nach Genf abgereist.
Bankier? sagte ich. Dann ist das seine Photographie, nicht? und damit zog ich das unschätzbare Bild aus der Tasche.
Jawohl, gewiß. Das war in der Tat der junge englische Bankier, wenn er auch nicht gerade schmeichelhaft getroffen war. Monsieur sei offenbar ein Verwandter. Mein Neffe – ach so, mein Bruder? – gut, also mein Bruder war ein feiner, freigebiger Herr; so jung und schon so reich: und von so gefälligem Benehmen, daß es das reinste Vergnügen gewesen sei, ihn zu bedienen.
Entzückt von dem Lob über meinen bezaubernden Verwandten, drückte ich dem Kellner ein Fünffrankstück in die Hand und erfuhr von ihm ohne Schwierigkeit alles Wissenswerte.
Richard Grubb hatte während der ganzen Zeit seines kurzen Pariser Aufenthalts in diesem Hause gewohnt und dank meinem Gewährsmann offenbar bereits während der ersten vierundzwanzig Stunden ein gutes Stück vom Großstadtleben »gesehen«. Hernach hatte er die Bekanntschaft der »Messieurs Joan und Smit« gemacht, Landsleuten von ihm, ebenfalls Vergnügungsreisenden, und in ihrer Gesellschaft sich vergnügt. Das Kleeblatt hatte ganz bestimmt den Zug nach Genf benützt, aber nicht erwähnt, in welchem Hotel es dort absteigen wollte.
Natürlich interessierte ich mich sehr dafür, welcher Art von Gesellschaft die beiden neuen Freunde meines Bruders angehörten, aber darüber konnte mir Pierre (mein Bruder hatte ihn bereits bei seinem Vornamen genannt) keinen Aufschluß geben. Ich konnte nicht entdecken, ob es gefährliche Teilhaber für den jungen Mann wären oder nur Touristen, wie sie behaupteten. Jedenfalls verhehlte Pierre nicht, daß sie ihm nicht sympathisch waren. Aber das konnte leicht davon herrühren, daß sie ihm das Hühnchen ausgespannt, ehe er es noch tüchtig genug gerupft hatte. Wenn es aber wirklich Gauner waren, wie unendlich größer wäre die Möglichkeit nunmehr geworden, die gestohlenen Banknoten los zu werden! Trotzdem ich die Fährte aufgefunden und diese noch frisch war, hatte sich doch nie ein größerer Zweifel an dem Erfolg meiner Unternehmung bei mir eingestellt, als am nächsten Morgen, wo ich mein Billet nach Genf löste. Ich hätte nicht länger mit einem Menschen zu tun, mit dessen Charakter ich bekannt war und dessen Handlungsweise ich annähernd vorhersagen konnte, sondern mit Leuten, die mir völlig fremd waren. Nur eins gab mir noch Mut: sie waren bei ihrer Abreise aus Paris noch nicht in das Geheimnis des jungen Mannes eingeweiht worden; sonst würde keiner der beiden Robert Granbys Namen ins Fremdenbuch geschrieben und noch viel weniger den eigenen darunter gesetzt haben. Bis dahin hatte er sie sicherlich noch im Unklaren belassen. Zweifellos war es eine Indiskretion von ihm, sich meines Namens zu bedienen, aber im Grunde keine so große, wie es auf den ersten Blick erschien. Es war zwar ein kühner Streich, den ich ihm nicht im Traume zugetraut hatte, wenn er den Beraubten selber markieren wollte; aber diese Kühnheit zog auch eine Reihe von Vorteilen für ihn mit sich. Er ersparte ihm eine Menge Lügen und die Notwendigkeit, eine Unmasse falscher Angaben zu machen, die einander nicht widersprechen durften. Sein angenommener Beruf als Bankier erklärte seinen Besitz einer großen Geldsumme, und die Kenntnis meiner Verhältnisse befähigte ihn, auf alle unbequemen Fragen eine befriedigende Antwort bereit zu haben. Freiwillig hätte er wohl keinerlei Angaben über seine Person gemacht, und der Eintrag ins Fremdenbuch war wohl einem unglücklichen Zufall zu verdanken, vielleicht durch die Eitelkeit des Herrn Smith oder Jones heraufbeschworen, die stolz daraus waren, in Gesellschaft eines solchen jungen Millionärs zu reisen. So erklärte ich mir die Ereignisse, als ich über Berg und Tal, durch Sonnenschein und Nebel dahinflog. All das, Städte, Ruinen, Schlösser, Festungen, romantische Täler oder baumlose Ebenen: alles war mir gleichgültig. Ich aß, aber nicht aus Appetit. Ich schlief – nein, ich versuchte vergebens zu schlafen: aber kaum schloß ich die Augen, da standen die Nummern der gestohlenen Banknoten mit Flammenschrift auf meiner Netzhaut, und unwillkürlich wiederholte mein Mund die gelesenen Zahlen. Hätte die Reise zu einer anderen Zeit stattgefunden, so würde ich wahrhaftig gedacht haben, ich sei verrückt geworden.
Bei meiner Ankunft in Genf ließ ich mich ins nächste beste Hotel führen. Es hatte jetzt keinen Sinn mehr, die Schritte meines »Fuchses« im voraus zu berechnen. In den »Vier Jahreszeiten« bestellte ich mir ein Zimmer und, wie gewöhnlich, das Gehör des Oberkellners. Von Monsieur Granby hatte er nie zu hören die Ehre gehabt, aber am vorhergehenden Tag waren drei Herren angekommen – die Photographie, die ich vorzeigte, war bestimmt das Bild des einen der drei; aber da sie mit der Ausstattung der vorgezeigten Zimmer nicht zufrieden waren (der junge Herr in Frage war nämlich ein » milor«, erklärte der Kellner und sehr peinlich in Bezug auf die Lage seiner Zimmer), hatten sie sich in ein anderes Hotel verfügt.
Nein, er wußte nicht, in welches. In Genf gab es Hunderte von Hotels. Aber er wollte die Hand dafür ins Feuer legen, daß der junge milor in seiner Hoffnung enttäuscht sein würde, irgendwo feinere Zimmer zu finden, als ihm in den »Vier Jahreszeiten« gezeigt worden waren. Wollte Monsieur vielleicht die verschmähten Räume sehen, mit denen sich einmal sogar eine Königliche Hoheit zufrieden gegeben hatte?
So weit war das eine glückliche Nachricht. Die Herren Jones und Smith – denn in diesen Ansprüchen erkannte ich Herrn Grubb keineswegs wieder – waren augenscheinlich keine Gauner, sondern nur Snobs. Zum ersten Male seit meiner Verabschiedung vom Herrn Inspektor Lux setzte ich mich wieder mit der Polizei in Verbindung; mit einem Haftbefehl für den jungen Taugenichts ausgerüstet und von einem Polizeibeamten begleitet, machte ich mich daran, die Stadt zu erforschen. Es gibt nicht sehr viele Hotels ersten Rangs in Genf, und so gelang es mir bereits im dritten Hotel, das wir aufsuchten, meine drei gesuchten Herrn ausfindig zu machen.
Der junge » milor« und Monsieur Smit waren ausgegangen, Monsieur Joan ja, der war in diesem Augenblick in dem Café, das zum Hotel gehörte. Wir bestellten eine kleine Erfrischung und setzten uns in das Lokal, an den Tisch, neben dem der fragliche Herr saß. Es war ein lautsprechender, gewöhnlich aussehender junger Bursche, der indes keine größeren Fehler zu haben schien, als den völligen Mangel an Geist und weltmännischem Benehmen. Er renommierte einem Landsmann, der neben ihm saß, etwas vom Reichtum und den guten Verbindungen seines Freundes Granby vor, mit dem er reise, und entwickelte ihre gemeinsamen Pläne mit den: denkbar größten Freimut. Sie hatten bereits, wie er sagte, die Schweiz satt, wo nichts von: Leben zu sehen sei, und waren im Begriff, eine italienische Reise zu unternehmen. Seine zwei Freunde hatten sich eben zum Bahnhof begeben, um Erkundigungen einzuziehen, und er wunderte sich, warum sie noch nicht zurück seien.
Wie mich diese Worte betrübten! Vielleicht war der junge Gauner meiner ansichtig geworden, ohne daß ich es bemerkte, und bereits verduftet. Aber ich konnte nichts tun, als abwarten. Mittlerweile hatte ich das Vergnügen, meine eigene Lebensbeschreibung erzählen zu hören, allerdings mit einigen eigenmächtigen Zutaten des Herrn Jones ausgeschmückt. Vordem hatte ich keine Ahnung davon gehabt, welch distinguiertes Individuum ich in Wirklichkeit war. Sproß eines vornehmen Geschlechtes, unter den alleraristokratischesten Auspizien erzogen, hatte ich mich nichtsdestoweniger herabgelassen, geschäftlichen Unternehmungen meine Beachtung zu widmen und mit einundzwanzig Jahren ein fabelhaftes Vermögen erworben. Mitten in der höchst schmeichelhaften Beschreibung der ehrenwerten Firma, zu der ich zu gehören die Ehre hatte, und die nach dem Gewährsmann einen höheren Kredit genoß als Mendelssohn, kamen Herr Smith und mein junger Ausreißer ins Café hereingeschlendert.
Mit Mühe erkannte ich meinen jungen Freund wieder, so außerordentlich fein war er gekleidet und so elegant trat er auf; aber der Herr Richard Grubb erkannte mich im ersten Augenblick, und sein hübsches Gesicht verwandelte sich mit der Schnelligkeit eines Eisenbahngefahrsignals von rot in grün.
Ich erhob mich und ging auf ihn zu. Er machte den schwachen Versuch, mich nicht kennen und mir vorschwindeln zu wollen, ich habe mich in betreff seiner Person getäuscht. Dann aber fiel er geradenwegs in Ohnmacht. Diese Nacht logierte ihn mein Begleiter in einer Gefängniszelle ein, an Stelle des prächtig ausgestatteten Zimmers, das glücklich genug gewesen war, seinen Beifall zu finden. Bei der Untersuchung seines Gepäcks, das eine äußerst elegante Garderobe enthielt, zwei neue Handkoffer, eine Hutschachtel und eine Toilettetasche mit silbernen Beschlägen, fand ich das ganze Ergebnis seines Diebstahls vor, mit Ausnahme von hundertfünfzig Pfund, die es ihm in weniger als vierzehn Tagen los zu werden gelungen war. Ich war indes recht dankbar, daß die Sache nicht schlimmer stand; und einigermaßen bedauernd und nicht ganz ohne Mitgefühl für das Ende seiner glücklichen Tage, nahm ich am nächsten Tag den Burschen aus dem Gefängnis und quartierte ihn in den »Vier Jahreszeiten« ein. Er verschmähte nicht länger den ihm hier gebotenen Komfort, und ich war nicht so unedel, den wahren Sachverhalt vor denen aufzudecken, die ihn während der kurzen Zeit seiner reichen Tage gekannt hatten. Ich ließ die Bemerkung fallen, daß er ein sehr delikater Junge und ich sein Begleiter sei, dem es eben gelungen, ihn von gewissen unerwünschten Bekannten wegzulotsen. An der Table-d'hôte saß er neben mir, und die Kellner durften ihn nicht bedienen, bevor ich mich nicht überzeugt hatte, daß das Essen nichts Unbekömmliches für seine zarte Gesundheit enthielt. Der arme Kerl sah so bleich und kränklich aus, daß man glauben konnte, er sei mit knapper Not dem Tode entronnen. Ich schloß ihn jede Nacht in sein Zimmer ein, wo wir auch immer übernachteten, und ließ ihn tagsüber nie von meiner Seite. So gelang es mir, ihn wieder nach Hause zu seinem tiefbetrübten Vater zurückzubringen. Dem letzteren zuliebe verfolgten wir den mißleiteten Jüngling nicht. Jetzt wo ich, wenn auch wider Willen, nahezu eine Woche lang sein enger Reisegefährte gewesen, wäre ich nur ungern als Zeuge gegen ihn aufgetreten, um ihm durch meinen Eid die Freiheit, vielleicht fürs ganze Leben, zu rauben.
Auch war, wie ich gerne bestätige, diese Nachsicht nicht übel angewandt. Grubb junior ist zu den Antipoden ausgewandert, wo er auch in seinem Benehmen ein Antipode zu dem in Millsome zu werden verspricht. Sein Vater ist immer noch in unserer Firma und uns mehr als je ergeben, weil wir seinen einzigen Sohn vor dem Untergang bewahrt haben. Das Geschäft blüht, wenn es auch noch nicht gerade die Stellung einnimmt, die ihm »Monsieur Joan« beilegte, und daß ich als jüngerer Teilhaber mit meiner eigenen Meinung so offenes Gehör finde, verdanke ich, wie man mir verraten hat, nicht zum wenigsten dem Scharfsinn und der Ausdauer, die ich in jener eigenartigen Schnitzeljagd bewiesen habe.