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Sherlock Holmes junior.
Von
F. de Sinclair

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I.

Das holländische Blankenhagen war durchaus keine alltägliche Stadt.

Nicht etwa, daß es hier besondere Anlagen, monumentale Gebäude oder sonstige Sehenswürdigkeiten gab, nein, es waren mehr speziell die Einwohner selbst, die sich durch ganz besondere Ehrerbietung vor der Stadtbehörde auszeichneten und auch sonst so ordnungsliebend und wohlgesittet waren, daß es einem Fremdling, der zufällig dorthin kam, entschieden auffallen mußte.

Es war denn auch niemand in der Gemeinde, der höher im Ansehen stand als der Bürgermeister, ein Junggeselle von 50 Jahren namens Krets. Es muß erwähnt werden, daß Herr Krets bei allen öffentlichen Ergötzlichkeiten zugegen war; aber auch bei einem Brand oder Begräbnis fehlte er nie.

Dank den obengenannten guten Eigenschaften der Einwohner Blankenhagens war das Amt des Bürgermeisters nicht schwer. Alle Beschlüsse wurden stets ohne weiteres angenommen, und kopfweise Abstimmung war etwas ganz Unbekanntes. Wenn zum Beispiel in einer Ratsversammlung der Vorsitzende sagte: Meine Herren, unser Herr Bürgermeister und die Stadträte haben dies und das beschlossen, möchten jedoch zuvor Ihr Urteil hören, dann hieß es stets: Ja, ja, ist recht so. Wir sind einverstanden.

Es würde unrecht sein, wollte ich nicht neben dem Bürgermeister auch den Polizeidirektor Bussard vorstellen, einen Mann, der durch seinen außergewöhnlichen Scharfsinn bekannt war, eine Eigenschaft, die er leider in Blankenhagen nicht recht zur Anwendung bringen konnte.

Bei diesem Herrn wurde z. B. eines Abends gegen neun Uhr so heftig geschellt, daß die Klingelschnur abriß. Das Mädchen öffnete. Niemand war da. Herr Bussard war außer sich über eine solche Frechheit. Unter seiner persönlichen Leitung wurde die Sache untersucht, und auf eine Bemerkung des Dienstmädchens fiel der Verdacht auf den siebenjährigen Sohn des Nachbarn.

Nachdem dieser wegen hartnäckigen Leugnens wiederholt Prügel bekommen hatte, war Herr Bussard auf den Gedanken gekommen, den Verbrecher auf den Schauplatz seiner Tat zu führen, und dabei stellte sich dann heraus, daß der Junge, selbst wenn er sich auf die Zehen stellte, die Klingelschnur gar nicht erreichen konnte. Das hatte sich Herr Bussard gleich gedacht, und diese haarscharfe Logik festigte noch seinen Ruf betreffs Aufdeckung krimineller Verbrechen, und obwohl der eigentliche Täter nicht entdeckt wurde, so waren doch die Blankenhagener viel zu feinfühlend, um lange darnach zu fragen.

Wenn ich vorhin gesagt habe, Blankenhagen habe nichts Besonderes, so ist das nicht ganz zutreffend. Es war doch etwas Eigenartiges dort, nämlich die Gemeindebank. Diese Bank verwaltete so ziemlich das ganze Vermögen der Einwohner und stand unter der Oberleitung des Bürgermeisters. Zu Anfang eines jeden Quartals holten sich dann die ehrsamen Bürger ihre Zinsen und freuten sich, ihr Geld so schön sicher angelegt zu haben.

An einem Sonntagmorgen, an dem diese Erzählung eigentlich beginnt, trat Herr Bussard gegen neun Uhr gemütlich gähnend in sein wohlig durchwärmtes Eßzimmer, ging auf den Kalender zu, riß ein Blatt ab, sah, daß es der erste April war, las den Vers, der darunter stand, und setzte sich dann endlich an seinen Frühstückstisch.

Eben hatte er sich ein Ei zurechtgemacht und wollte gerade den ersten Bissen zum Munde führen, als die Glocke zum Telephon, das ihm gegenüber hing, anschlug.

Das Telephon war ausschließlich mit der Gemeindebank und wohl speziell mit der Stube des Bürgermeisters verbunden, um im Falle eines Brandes oder dergleichen Herrn Bussard sofort zu benachrichtigen, damit er helfend beispringen könnte.

Nun aber war es Sonntag und die Bank geschlossen.

Bevor sich noch Herr Bussard von seinem Sitz erhoben hatte, klingelte es noch einmal, und zwar ganz unverschämt lange und laut, so daß Herr Bussard etwas unwillig fragte, was denn los wäre. Eine ganze Weile hörte er nichts als das Sausen des Drahtes – doch dann plötzlich: Kommen Sie sofort her! – und alles war wieder still. Wer ist da? fragte Herr Bussard – keine Antwort. Ich frage, wer dort ist! brüllte er nun ins Telephon, und als wiederum noch keine Antwort kam, drehte Herr Bussard die Kurbel so heftig, daß er das Geklingel in der Gemeindebank zu hören glaubte, nur fiel es ihm auf, daß sich die Kurbel so sonderbar leicht drehte.

Herr Bussard dachte nach – dachte sehr scharf nach und kam dann zu der logischen Folgerung, daß nur der Ratsdiener telephoniert haben könne, der vermutlich etwas ganz Besonderes mitzuteilen hatte. Herr Bussard warf noch einen entsagenden Blick auf den einladenden Frühstückstisch, zog rasch seine Pantoffeln aus und seine Stiefel an, ließ sich seinen Pelz bringen und machte sich auf den Weg zum Rathaus. Kurz vorm Ziel beschleunigte er noch seine Schritte, denn ihm schien es, als wenn Jacob, der Ratsdiener, bereits in der Tür auf ihn wartete. Dies traf jedoch keineswegs zu, sogar die Läden an der Dienerwohnung waren noch geschlossen.

Herr Bussard schellte, doch nichts regte sich. Er schellte nochmals, und zwar heftiger, doch abermals ohne Erfolg. Nun nahm Herr Bussard seinen Spazierstock und klopfte damit sehr energisch gegen die Fensterjalousien, bis dann endlich ein müdes »Ja – wer ist da?« aus dem Innern der Wohnung hörbar wurde.

Ich bin's, der Polizeidirektor! antwortete Herr Bussard.

Die Haustür öffnete sich nach einer Weile, und die Frau des Ratsdieners wurde sichtbar. Sie starrte den unerwarteten Besuch mit offenem Munde an und entschuldigte sich dann wegen ihrer unvollständigen Toilette.

Wo ist Ihr Mann? fragte Herr Bussard schroff.

Mein Mann? – – Nun, in seinem Bett. Sonntags pflegt er immer etwas länger zu schlafen.

Nun war die Reihe des Erstauntseins an Herrn Bussard, doch beherrschte er sich und sagte: Ich hab' Notwendiges mit Ihrem Mann zu besprechen. Sagen Sie ihm also, er möge sofort aufstehen. Lassen Sie mich so lange eintreten.

Die Frau ließ Herrn Bussard ins Zimmer.

In der Schlafstube nebenan hörte er jetzt eifriges Flüstern, und eben hatte er ein paar Schritte zur Tür gemacht, um möglichst viel zu verstehen, als die Stimmen schwiegen und Jacob bald, darauf ins Zimmer trat. Er grüßte devot und sah seinen Vorgesetzten verwundert und erwartungsvoll an. Dieser grüßte kurz und fragte:

Nun, was ist los?

Wie? – fragte Jacob.

Was los ist! – wiederholte Herr Bussard. Weshalb haben Sie mich gerufen?

Ich hätte Sie gerufen? – Und die Augen des Ratsdieners wurden vor Verwunderung noch größer. Wie meinen Sie das? – Wann denn?

Nun, vor ungefähr einer halben Stunde durchs Telephon!

Jacob sah Herrn Bussard prüfend an und schüttelte dann den Kopf. Was Sie eigentlich meinen, weiß ich nicht, Herr Bussard, aber so viel ist sicher, gestern abend um zehn Uhr bin ich zu Bett gegangen, und als Sie heut morgen so heftig an der Tür klingelten, schlief ich noch, ohne in der ganzen Zeit eine Minute wach gewesen zu sein.

Kommen Sie dann nur mal mit nach dem Zimmer des Bürgermeisters, meinte Herr Bussard, der jetzt zu zweifeln anfing, ob er sich nicht etwa getäuscht hätte.

Jacob öffnete die Tür und ließ Herrn Bussard vorangehen. Der letztere ging ans Telephon und wollte die Kurbel daran drehen, doch da packte er plötzlich Jacob bei der Schulter und wies an die Wand.

Die Drähte waren durchschnitten.

Beide sahen einander sprachlos an. – Dann zeigte Herr Bussard auf die Tür, welche nach dem Zimmer führte, in dem die Gemeindegelder aufbewahrt wurden. Die Tür stand weit offen. – Jacob drängte Herrn Bussard beiseite und ging oder vielmehr sprang ins Nebenzimmer, sah schnell rundum, stieß einen Schrei aus und zeigte mit angstverzerrtem Gesicht auf den gewaltsam geöffneten Geldschrank – dann fiel er wie tot auf einen Stuhl nieder.

Das ist Einbruch, ganz gewöhnlicher Einbruch! erklärte Herr Bussard, heiser vor Erregung, die Situation.

O Gott – o Gott! Alles weg! jammerte Jacob, auf den ausgeräumten Schrank zeigend.

Es war kein Zweifel. Am Abend vorher hatte der Bürgermeister gewohnheitsgemäß alle eingezahlten Beträge an Ort und Stelle gelegt, und nun war fast alles fort, nur das Silbergeld lag noch da. Scheinbar war der Transport desselben dem Einbrecher zu umständlich und zu wenig lohnend gewesen.

Jacob, begann Herr Bussard, welcher absolut nicht wußte, was hier geschehen müsse, und der noch einen flüchtigen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, als hoffe er, den Dieb draußen noch ruhig sitzen zu sehen. Jacob, dies ist eine sehr ernste Sache! Bleiben Sie hier in diesem Zimmer, bis ich zurückkomme, hören Sie? Ich muß sofort zum Bürgermeister.

Jacob rührte sich nicht. Ein tiefer Seufzer war seine Antwort.

Herr Bussard jedoch lief, so schnell er konnte, zum Stadtoberhaupt. Die Blankenhagener, welche zu dieser Zeit bereits auf den Beinen waren, blickten erstaunt auf, als Herr Bussard in einer so ungewöhnlichen Hast vorbeieilte.

Herr Bussard selbst sah nicht rechts, nicht links, dachte sehr unbestimmt und murmelte einmal übers andere: Wie ist's möglich! Wie ist's nur möglich!

Das Haus des Bürgermeisters lag in der Torstraße, ein großes Haus – einige sagten, zu groß, weil der Bürgermeister noch unverheiratet war. Zu diesen »Einigen« gehörten jedoch meistens solche Damen, welche zu Hause eine oder mehrere heiratsfähige Töchter hatten.

Als Herr Bussard geschellt hatte, und gleich darauf ins Sprechzimmer komplimentiert wurde, hörte er nebenan das Aneinanderprallen von Billardkugeln und außer der Stimme des Bürgermeisters noch die eines anderen Herrn.

Einen Augenblick später wurde Herr Bussard in das Billardzimmer gebeten, und hier eingetreten, fand er sich dem Bürgermeister in Hemdärmeln, sowie einem anderen Herrn gegenüber, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Bevor jedoch der Bürgermeister Gelegenheit hatte, die Herren miteinander bekanntzumachen, trat Herr Bussard geschäftig auf ihn zu und sagte mit gedämpfter, aber dringender Stimme:

Pardon – eine fürchterliche Geschichte ist da passiert – ich muß Sie absolut mal 'nen Augenblick allein sprechen!

Der Bürgermeister wandte sich an den Fremden:

Einen Augenblick, bitte, Dienstangelegenheiten.

Jener verbeugte sich lächelnd, und als sich Herr Bussard mit dem Bürgermeister nebenan allein befand, hörten sie noch beide, wie der Unbekannte ruhig weiterspielte.

Stotternd und ratlos berichtete Herr Bussard von dem Geschehenen.

Der Bürgermeister war außer sich.

Der Schrank leer, das Fenster offen! Das ist ja unerhört! rief er. Und Jacob?

Der schlief, jammerte Herr Bussard.

Wieviel ist fort? fragte Herr Krets, unruhig auf und ab gehend.

Das ganze Papiergeld und alles Gold, erklärte Herr Bussard. Das Silber ist liegengeblieben.

Der Bürgermeister wurde totenblaß.

Das ist unglaublich! meinte er tonlos.

Herr Bussard zog die Schultern hoch. Tja, hab' ich auch schon gedacht, Herr Bürgermeister. Was ist da zu machen?

Ich werde sofort mit Ihnen gehen, fuhr Krets fort, aber – und er warf einen Blick auf das Billardzimmer – mein Gast?

Logierbesuch? fragte Herr Bussard.

Der Bürgermeister nickte. Ein Engländer Holmes.

Holmes! rief Bussard erstaunt, während seine Augen hoffnungsvoll glänzten. Aber nein, ergänzte er, Sherlock Holmes ist tot. Sein Genie kann uns nicht mehr helfen.

Vielleicht doch! erklang es da plötzlich hinter ihm, und der Fremde erschien in der Türöffnung.

Krets und Bussard sahen einander erstaunt an. Jener trat näher.

Verzeihung, meine Herren, begann er, während er auf einem Stuhl Platz nahm und, ein wenig vornüber geneigt, in gemütlicher Weise seine Knie umfaßte. Meine Herren, ich hörte nebenan Bruchstücke Ihrer Unterhaltung, und da der Name eines Mannes genannt wurde, den Sie scheinbar hochachten, wurde ich aufmerksam – denn –

Sherlock Holmes! rief Bussard aus.

Mein Vater, antwortete der junge Mann verbindlich.

Bussard und Krets konnten einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken.

Sie sind in der Tat der Sohn jenes weltberühmten Detektivs, welcher in der Schweiz endlich den Tod fand in einem Kampf gegen –

Ein tiefer Seufzer, den der Fremde ausstieß, ließ Bussard plötzlich innehalten.

Der junge Mann starrte eine Weile wehmütig vor sich hin und sprach dann:

Verzeihen Sie meine Schwachheit, meine Herren, und lassen Sie mich, anstatt hier unzeitgemäßen Gefühlsäußerungen nachzugeben, lieber danach trachten, Ihnen dienstbar zu sein. Jedoch zuvor eine kurze Erklärung: Es wird Ihnen sonderbar vorkommen, den Nachkommen eines berühmten Mannes vor sich zu sehen, von dem doch alle Welt wußte, daß er Junggeselle geblieben war. Dies ist nun aber nicht zutreffend. Bei einer großen Diebstahlsaffäre, in der das Genie meines Vaters aufs neue ans Tageslicht trat, machte er die Bekanntschaft der Tochter eines polnischen Grafen Rutklorsky. Es währte nicht lange, und die beiden waren so ineinander verliebt, daß sie nur noch den Wunsch hatten, möglichst bald zu heiraten.

Der stolze Graf wollte jedoch nichts von einer Verbindung wissen. Eine unbegreifliche Blindheit gegenüber den großen Verdiensten meines Vaters und eine schier krankhafte Abneigung gegen alles, was »englisch« war, brachten ihn schließlich dahin, daß er meinem Vater die Tür zeigte. Schon wollte der Graf mit seiner trostlosen Tochter auf sein Gut nach Polen zurückkehren, als mein Vater in seiner Verzweiflung und mit seiner unfehlbaren Logik einen Plan ersann, wodurch es ihm gelang, die bildschöne Karenina nochmals zu sprechen.

Kurz und gut: er floh mit ihr, und in Gretna Green wurden beide getraut.

Hier schwieg der junge Holmes eine Weile. Sein Gesicht nahm einen eigenartigen Ausdruck an, fast als wolle er lachen, aber sofort wurden seine Züge wieder ernst und nachdenklich.

Er fuhr fort:

Dies erklärt Ihnen, weshalb die Ehe meines Vaters verschwiegen blieb. – Eine natürliche Rücksicht gegen den Grafen Rutklorsky. – Die Ehe war sehr, sehr glücklich. Ein Jahr später erblickte ich in Cambridge das Licht der Welt. Nach einer sehr froh verbrachten Jugend verlor ich in meinem zwölften Jahre meine innigstgeliebte Mutter. – Später studierte ich in Oxford, ging dann nach Italien, wo ich verschiedene bedeutende Männer kennen lernte, unter anderen auch Lombroso.

Die Natur hat mich sonderbar ausgerüstet. Neben einer feinen Beobachtungsgabe und einer haarscharfen Logik, welche die meines Vaters wohl noch übertrifft – hier lächelte der Sprecher bescheiden – und einer Selbstbeherrschung, die der seinen gleichkommt, erbte ich von meiner Mutter einen kleinen Fehler, den man wohl mit Nervenzucken bezeichnen kann und der vermutlich auch Ihnen, meine Herren, bereits aufgefallen ist. Wenn ich nämlich einen Augenblick aufhöre, scharf zu denken, gleitet scheinbar ein Lächeln über mein Gesicht, und ganz dasselbe hatte auch meine Mutter.

In der Tat, begann Bussard, ich meinte schon –

Holmes nickte traurig. Ich hab' mir Mühe gegeben, es zu verbergen, aber die Natur ist in diesem Falle stärker als ich. Ich wollte Ihnen aber doch Aufklärung geben. – Jedoch zur Sache! Ich bin, wie ich bereits Herrn Krets, den ich gestern abend in der »Krone« kennen lernte, mitteilte einem Verbrecher auf der Spur; hier in Blankenhagen glaubte ich Anhaltspunkte zu finden – nun, davon später. – Da ich, ebenso wie mein Vater, nur aus Neigung Detektiv geworden bin und nur aus Ehrgeiz und – zu meiner Zerstreuung arbeite, nicht etwa auf Honorierung Anspruch mache, stehe ich Ihnen, meine Herren, gern mit Rat und Tat zur Seite. Es wäre mir auch überdies nicht angenehm, wenn ich, ohne irgend etwas ausgeführt zu haben, aus Blankenhagen scheiden müßte.

Holmes schwieg.

Krets drückte herzlich seine beiden Hände, und dann folgte Bussard seinem Beispiel.

Wahrlich, rief der letztere aus, wer der Dieb auch sein mag, er konnte keinen schlechteren Tag gewählt haben, als diesen!

Holmes lächelte, und dann, plötzlich aufstehend, meinte er ernst:

Nun erzählen Sie mir, bitte, einmal genau den Vorgang.

Bussard begann, und als guter Detektiv versäumte er nicht, auch die kleinsten Kleinigkeiten mit zu erwähnen.

Holmes lauschte gespannt, ohne eine Miene zu verziehen und ohne den Erzähler zu unterbrechen.

Sowohl Krets als auch Bussard waren erstaunt über die immer mehr hervortretende Ähnlichkeit des jungen Holmes mit seinem Vater. Dasselbe bleiche, scharf geschnittene Gesicht, dieselbe ziemlich große Nase, dieselbe lange, etwas vorgebeugte Gestalt und ein gewisses Etwas in dem ganzen Auftreten, das den geborenen Detektiv verriet.

Bussard war zu Ende. – Alle schwiegen eine Zeitlang. – Endlich begann Holmes:

Lassen Sie uns an den Tatort des Verbrechens gehen. Vielleicht läßt sich dort Näheres ermitteln.

Gerne! Natürlich! riefen die beiden anderen.

Ein paar Minuten später waren die Herren bereits unterwegs.

Sie sprechen ausgezeichnet Holländisch! meinte Bussard, sich an Holmes wendend.

Aber doch wohl mit einem Akzent? fragte dieser.

Ja, wenn ich nicht genau wüßte, daß Sie Engländer sind, würde ich bestimmt annehmen, einen Deutschen vor mir zu haben.

Holmes lachte: Ich mache Ihnen mein Kompliment, denn mein Lehrer, welcher mich im Holländischen unterrichtete, war ein Deutscher, und als guter Schüler nahm ich natürlich auch seine Fehler an.

A propos, fragte Holmes plötzlich, ist dieser Jacob schon lange bei Ihnen angestellt?

Schon länger als 25 Jahre, antwortete Krets.

Immer ehrlich gewesen?

Ja. Immer!

Kinder?

Nein.

Holmes schwieg und sah aufmerksam nach dem Rathaus, dem sie sich näherten, dann blieb er ein paar Schritte hinter den beiden anderen Herren zurück. Als sie dann bereits auf den Stufen des Hauses standen, meinte Holmes plötzlich: Ich möchte erst einmal die Rückseite des Gebäudes besichtigen.

Man ging also die Stufen wieder herunter und durch den kleinen Garten nach der anderen Seite. Hier angelangt, sah sich Holmes scharf nach allen Seiten um.

Wo ist das Fenster des Bürgermeisterzimmers?

Krets und Bussard zeigten gleichzeitig nach oben.

Das Fenster war geschlossen.

Das ist sonderbar, meinte Holmes, welcher bedächtig die Mauer besah.

Das Fenster befand sich ungefähr drei Meter über dem Boden, und da kein Abgußrohr oder irgend sonst etwas zur Verbindung mit dem Boden hatte dienen können, so mußte ohne Zweifel eine Leiter benutzt worden sein. Es war Bussard, welcher diese Erklärung gab.

Ja, gab Holmes zu, um hineinzukommen schon, aber nicht, um das Gebäude wieder zu verlassen. Der Sprung ist zu wagen, aber, fuhr er nachdenkend fort; wollen Sie, bitte, nicht einmal das Fenster von innen öffnen?

Mit Vergnügen! antwortete Bussard und begab sich mit dem Bürgermeister nach oben.

Einen Augenblick später sahen beide aus dem offenen Fenster und riefen: Hier!

Sie sahen, wie Holmes den Garten genau durchsuchte. Bei ihrem Ruf kehrte er jedoch sofort um und nahm das offene Fenster in Augenschein.

Lassen Sie alles so. Ich komme nach oben! Und er begab sich nach vorne, wo ihm Bussard entgegenkam.

Weder hinten noch vorne Fußspuren, murmelte er. Ha, was ist das?! Aber enttäuscht fügte er hinzu: Ach, das sind ja Ihre Fußspuren von heute morgen. Hier, dies sind dieselben. Der linke Hacken ist etwas abgelaufen – die kleinen Spuren sind vom Bürgermeister, und dann diese – das sind meine.

In der Tat. Ihr Blick ist scharf, konstatierte Bussard, mißmutig seinen schiefen Absatz betrachtend.

Holmes lachte. Das sind nur erst die Anfänge meiner Kunst; aber lassen Sie uns jetzt hineingehen.

Er besah die Tür und das Schloß daran genau. Eine kupferne Kette, welche nur eine kleine Oeffnung der Tür zuließ, war außer einem festen Schloß das einzige Vorbeugungsmittel gegen Einbruch.

Hm, murmelte Holmes, es braucht gerade kein routinierter Dieb zu sein, das Schloß ist noch völlig unversehrt. War die Kette heute morgen vorgelegt?

Ich hab' nicht darauf geachtet, antwortete Bussard, aber ich will mal die Frau des Dieners rufen.

Augenblick! rief Holmes, sich bückend. Er holte ein Taschenmesser hervor, schabte etwas von dem steinernen Flur, tat dies sorgfältig in eine Tasche und meinte: So, jetzt können Sie sie rufen.

Bleich und mit verheultem Gesicht kam Jacobs Frau zum Vorschein.

Bussard verhörte sie.

Die Kette? – Ja, die war vorgelegt.

Holmes gab Bussard einen Wink.

Danke, sagte dieser zu der Frau, und gefolgt von Holmes, betrat er das Zimmer des Bürgermeisters.

Dort saß Krets bereits, hatte sein Kassenbuch vor sich und machte Berechnungen. Als die Herren eintraten, stand er auf und sprach mit dumpfem Ton: Es ist entsetzlich, meine Herren, ich vermisse zirka 150 000 Mark – und alles in Wertpapieren!

Holmes schien kein Interesse an der Höhe des gestohlenen Geldes zu haben, nur seine Augen glänzten eigenartig.

Sind die Nummern der Scheine bekannt? fragte er bald darauf.

Ja, hier sind sie verzeichnet, antwortete Krets, ihm eine Liste überreichend.

Holmes steckte diese ein und wandte sich zum Telephon.

Würden Sie die Stimme wiedererkennen? fragte er Bussard.

Die Stimme? – Nein – die Worte klangen sehr deutlich, aber trotzdem möchte ich behaupten, daß nicht laut gesprochen wurde, nein, eher noch geflüstert.

Es war keine Frauenstimme?

Nein, eine Männerstimme.

Es ist mir ganz unverständlich, warum ein Dieb seinen eigenen Einbruch anmelden sollte, meinte Krets, immer die Hand am Kinn haltend.

Wir haben es möglicherweise mit Kleptomanie zu tun, erklärte Holmes. Bei diesen Leuten ist so etwas erklärlich. Gleich nach der Tat Pflegt dann eine Reaktion zu erfolgen, die jedoch nicht lange anhält. Ich kannte einen Taschendieb, der sich gleich nach einem Diebstahl selbst der Polizei stellte, doch eine halbe Stunde später durch allerlei Argumente seine Angaben umzustoßen suchte, aber – hier schwieg Holmes einen Augenblick – wer sagt uns, daß derjenige, welcher gesprochen hat, und der Dieb eine und dieselbe Person sind?

Bussard und Krets sahen Holmes erstaunt an, dessen Antlitz wieder den sonderbar lachenden Ausdruck seiner Mutter annahm. Er untersuchte dann weiter das Telephon.

Die Leitung ist mit einer gewöhnlichen Zange durchgekniffen, meinte er. Hier oben wurde es zuerst versucht, doch da sind die Drähte zu stark. – Und nun, wo ist der Platz, an dem das Geld lag? wandte er sich an Bussard.

Dieser ging voraus in ein ziemlich großes Gemach, wo der unglückliche Diener halb geistesabwesend auf einem Stuhl saß und erschreckt aufsprang, als er den Fremdling sah. Auch der Bürgermeister trat ein.

Holmes warf einen scharfen Blick auf Jacob und trat dann ans Fenster, steckte den Kopf hinaus und schien nochmals die Mauer bis zum Boden unten zu mustern; dann schloß er das Fenster und machte es wieder auf.

Jetzt trat er an das andere Fenster und machte dort dasselbe Manöver.

Dies Fenster ist seit Neujahr nicht mehr offen gewesen, murmelte er vor sich hin.

In der Tat, es ist so! rief Jacob verwundert. Aber woher wissen Sie denn das nur, mein Herr?

Es klebte noch ein Blatt am Fensterbrett, erklärte Holmes.

Er setzte seine Untersuchungen fort. Zwischen den Fenstern stand ein kleiner Schrank, in dem Registerbücher aufbewahrt wurden. Der Schlüssel steckte drin. Es war völlig dunkel im Schrank.

Lieber Freund, wandte sich Holmes an den Diener, holen Sie mir doch mal ein kleines Stück Licht, kein ganzes, hören Sie? Das geht hier nicht hinein; und dann Streichhölzer.

Jacob ging. Als er fort war, bückte sich Holmes und schien etwas vom Fußboden aufzunehmen.

Glauben Sie, eine Spur gefunden zu haben? fragte Bussard, welcher allen seinen Bewegungen genau folgte.

Ich glaube es allerdings, antwortete Holmes, aber möglicherweise ist es auch nichts.

Jacob trat wieder ein und überreichte Holmes das Verlangte. Mit Hilfe des schwachen Lichts untersuchte letzterer neugierig Borde für Borde, blies dann die Kerze aus und gab sie Jacob zurück. Dann nahm er ein Stück Papier, machte sich von dem Ganzen eine flüchtige Skizze und trat auf die beiden Herren zu.

Ich habe vorläufig genug gesehen, meinte er. Die Zeit ist kostbar. Ich schlage vor, wir gehen. Das eine möchte ich jedoch vor allem raten: es ist von größter Wichtigkeit, daß vorläufig niemand etwas von dem Diebstahl erfährt.

Aber morgen kommen die Leute und wollen ihr Geld haben! klagte der Bürgermeister.

Wieviel Geld ist denn noch übrig geblieben?

Ich schätze es auf höchstens 20 000 Mark.

Nun, da machen Sie einfach die Bank erst gegen Mittag auf.

In Gottes Namen! seufzte Krets. Ich werde eine Ankündigung ins Abendblatt setzen lassen, daß die Leute etwas später kommen möchten. Es ist allerdings das erstemal, daß so etwas vorkommt.

Bussard schärfte noch Jacob aufs nachdrücklichste ein, sowohl er als auch seine Frau sollten strengstes Schweigen bewahren. Der Bürgermeister setzte ein Inserat auf, welches die Oeffnung der Bank statt um 9 Uhr erst auf 3 Uhr festsetzte. Und dann verließen die drei Herren das Haus, um sich nach der Wohnung, des Bürgermeisters zu begeben.

Dort stand gerade der Wagen eines Milchbauern, der sich eifrig mit dem Dienstmädchen vor der Tür unterhielt.

Nun, Freund, meinte Holmes, auf die blank gescheuerten Milchkannen sehend, Ihr bringt schlechtes Wetter mit, und er wies auf den Schnee, der sich im Wagen angehäuft hatte.

Ja, Herr, entgegnete der Bauer, das ist von heut nacht. Um vier war noch das schönste Wetter von der Welt, und um fünf lag alles dick voll Schnee.

So, so, was Ihr sagt, sprach Holmes, na, guten Morgen.

Der Bauer grüßte, Und die Herren traten ein.

Auf dem ganzen Rückweg hatte Holmes wenig gesprochen. Es schien fast, als ob er die ganze Angelegenheit bereits vergessen hätte. Jetzt, beim opulenten Frühstück begann er jedoch etwas mehr aus sich herauszugehen und fing selbst an, seine Ansichten über den Vorfall preiszugeben.

Sie werden sich sicher über meine harmlosen Worte, die ich soeben an den Bauern richtete, gewundert haben, begann er. Aber das hatte seinen guten Grund. Es liegt doch auf der Hand, daß es unsere ehrsamen Bürger bereits in Erstaunen setzte, den Bürgermeister und den Polizeikommissar mit einem Fremden am frühen Morgen beieinander zu sehen; noch mehr aber würde es aufgefallen sein, wenn wir drei in ein ernsthaftes Gespräch vertieft gewesen wären. – Nun, ich denke, Sie werden verstehen, fuhr er fort, während Krets und Bussard zustimmend nickten.

In der Tat, meinte Krets, das war sehr vorsichtig von Ihnen; ich würde nicht daran gedacht haben.

Ich auch nicht, fügte Bussard hinzu, während er sein Glas Chambertin austrank.

Und wie denken Sie jetzt über die Angelegenheit? – Haben Sie einen Anhaltspunkt? fragte Krets, als das Mädchen die Suppenteller fortnahm und eine prächtige Krebsmayonnaise auftrug. Aber bedienen Sie sich, bitte, erst.

Ich bin allerdings zu einem Resultat gekommen, antwortete Holmes, aber das ist leider negativ.

Ich traue dem Jacob nur halb, murmelte Bussard mit vollem Mund, während er sein Glas aufs neue füllte.

Holmes lächelte. Ich wollte gerade von Jacob sprechen. Er ist völlig unschuldig.

Holmes sprach in so sicherem Ton, daß Krets, welcher eine neue Flasche Burgunder entkorkte, verwundert fragte:

Sind Sie denn Ihrer Sache schon so sicher?

Vollkommen! erklang es ruhig. Als ich in den Hausflur trat, sah ich auf dem Boden die weißen Tropfen einer Kerze. Herr Bussard hat gesehen, wie ich sie sorgfältig ablöste und mitnahm, bevor die Frau des Dieners zu uns trat. Unter dem Vorwand, den Schrank von innen zu untersuchen, bat ich Jacob dann um ein Licht, vor allem aber sollte es kein neues sein, und um eine Schachtel Streichhölzer. Jacob brachte das Verlangte. – Das Stückchen Licht war frisch von einem neuen abgeschnitten, denn der Docht war noch unbenutzt. Es war also scheinbar kein Lichtstumpf vorrätig. Wie zufällig ließ ich dann etwas von der Kerze auf meine Hand tropfen; es war genug, um zu sehen, daß die Qualität eine andere war als die, welche ich vorher im Hausflur fand. Ich glaube durchaus richtig zu vermuten, daß Jacobs Kerzen holländisches Fabrikat sind, während die anderen englische sein mußten.

Der Bürgermeister nickte: Die Kerzen sind aus Gouda.

Daraus folgt also, begründete Holmes, daß Jacob mit der Sache nichts zu tun hat. Doch ich habe noch einen weiteren Beweis; denn bevor ich Jacob ersuchte, ein Stückchen Licht zu holen, fand ich auf der Treppe ein benutztes Streichholz, es war von weißem, Jacobs Streichholz dagegen von rotem Holz. Ferner: die Fenster sind von außen geöffnet worden, denn die Querleiste war losgeschraubt und eingeölt, um das Knarren zu verhindern. Angenommen nun, daß das Sprechen durchs Telephon auf die reaktionäre Tat eines Kleptomanisten zurückzuführen ist, so weisen die Vorbereitungen am Fenster und das Abschneiden der Telephondrähte auf eine wohlüberlegte Tat hin. Jacob aber ist für das alles gar nicht raffiniert genug, zum mindesten hätte er nicht die Ueberlegung, sich extra für die Tat besondere Kerzen und Streichhölzer anzuschaffen. Außerdem läge für ihn gar keine Ursache vor, die Fensterangeln mit Fett einzuschmieren, denn außer seiner Frau ist ja kein Mensch weiter im Hause. Wie gesagt, meine Entdeckungen haben bisher nur negativen Erfolg gehabt; aber sie haben den Vorteil, daß wir jetzt unserem Forschen eine andere Richtung geben und unsere kostbare Zeit so besser ausnutzen können. Die meisten großen Verbrechen bleiben unbestraft, weil die Justiz die beste Zeit mit dem Suchen nach einem positiven Ergebnis vertrödelt, und das System taugt nicht!

Holmes schwieg. Sowohl Krets als auch Bussard hatten mit großer Aufmerksamkeit zugehört, und als er geendet hatte, rief Bussard: Bravo! Ich schlage vor, wir trinken ein Glas auf Jacobs Unschuld!

Und auf die Schlauheit und Logik unseres Freundes Holmes, fügte Krets hinzu.

Die Gläser wurden vollgeschenkt und auf Anregung des Bürgermeisters geleert.

Der gute Wein wischte langsam den unangenehmen Eindruck fort, den der Vorfall von heute morgen hervorgerufen hatte.

Holmes gab ein paar sehr überzeugende Proben seines angeborenen Talents zum Besten und erzählte dann ein sehr pikantes Abenteuer, in welches er verwickelt war und das von Krets mit hochrotem Gesicht und von Bussard mit kleinen Augen angehört wurde.

A propos, meinte Holmes plötzlich wieder in ernstem Tone, zu Krets gewandt, sollte es nicht ratsam sein, daß ich während meines Hierseins als ein Verwandter von Ihnen gelte?

Ich hab' nichts dagegen, antwortete der Bürgermeister mit etwas schwerer Zunge.

Hi hi, lachte Bussard plötzlich. Ich hab' 'ne famose Idee. Wir drei trinken Brüderschaft. Sag' du, alter Junge! – – Ich heiße Jean – und du?

Holmes lachte fröhlich: Prosit, Jean!

Krets, welcher etwas in sich zusammengesunken war, richtete sich gerade auf und rief: Ich heiße Adolf … Holla, Holmes, ich heiße Adolf!

Prosit, Adolf! rief ihm Holmes zu.

Du heißt Sherlock – – hi hi – lachte Bussard.

Dann nennen wir ihn Sherry! stieß Krets, den der Schlucker plagte, hervor.

Lieber Sherry – – ad fundum – – ein dreifaches Hoch! riefen Bussard und Krets durcheinander.

Aber jetzt hatte auch der Lärm seinen Höhepunkt erreicht. Bussard sank halb von seinem Stuhl und murmelte allerlei dummes Zeug. Das wohlwollende Antlitz von Krets nahm einen schläfrigen Ausdruck an, und gerade als Holmes ihn auf Bussard aufmerksam machen wollte, sank Krets' Kinn auf die Serviette, und dann schnarchte er fürchterlich. Holmes aber trank sein Glas aus, steckte sich eine Zigarre an und ging völlig nüchtern in sein Hotel.


II.

Wir würden Herrn Krets und Herrn Bussard, ja ganz Blankenhagen großes Unrecht antun, wollten wir den Leser in dem Glauben lassen, daß Szenen wie die eben geschilderte, nicht zu den großen Ausnahmen gehörten.

Vergessen wir nicht, daß die Herren, durch den Diebstahl völlig aus der Fassung gebracht, mit beiden Händen zugegriffen hatten, als ihnen Holmes seine Hilfe anbot; und obwohl das Resultat seiner Untersuchungen bisher nur ein negatives war, so würde es sich doch sicher bald zu einem positiven verwandeln. Sie sahen sich plötzlich aller Sorgen enthoben; kein Wunder also, daß diese Reaktion eine außergewöhnlich fidele Stimmung bei ihnen hervorrief, wozu der Wein noch ein Uebriges tat.

Die guten Blankenhagener lasen ihres Bürgermeisters Ankündigung im Abendblatt, aber was auch darüber gesprochen wurde, niemand vermutete die Wahrheit, und als gegen 3 Uhr jeder richtig seine Zinsen erhielt, war die Abweichung von der Regel bald vergessen.

Herr Krets sah an diesem Tag etwas bleicher aus als gewöhnlich, doch unterhielt er sich, wie immer, ruhig mit den Leuten, die entweder Geld brachten oder holten.

Mehr Eindruck machte die Erscheinung des distinguierten Fremdlings, von dem die Blankenhagener bald erfuhren, daß er ein entfernter Verwandter des Bürgermeisters wäre. Manch hübsches Augenpaar lugte vorsichtig hinter der Gardine hervor, wenn Krets oder Bussard mit dem jungen Holmes vorüberkam.

In der Sozietät erschienen diese Herren nicht, ebensowenig in der Krone, aber die guten Blankenhagener, obwohl ein wenig neugierig, trösteten sich mit der Wahrscheinlichkeit, daß sich der Besuch wohl nicht lange in Blankenhagen aufhalten würde.

Inzwischen setzte Holmes seine Nachforschungen fort. Er blieb oft stundenlang auf seinem Zimmer, kam dann mißmutig herunter, ja dem Bürgermeister schien es, als wenn ihm etwas schwer auf der Seele läge.

An einem Abend, als sie zusammen bei einem Glase Wein saßen, fragte er Holmes geradezu, ob er irgendwelchen Verdacht habe. Holmes schien unangenehm berührt. Seine Mienen verdüsterten sich, als er antwortete: Ich wünschte, daß ich mich nie in diese Sache eingelassen hätte! Dann schien er in tiefes Nachdenken zu versinken.

Oh, oh! tröstete Krets. Trink' mal aus!

Holmes' Mienen erhellten sich nicht, als er mit dem Bürgermeister anstieß; dann – sich vorsichtig umsehend, brachte er sein Gesicht dicht an das seines Gastgebers und fragte flüsternd: Hast du in der Tat gar keine Vermutung, wer der Dieb sein könnte?

Nicht die mindeste Ahnung hab' ich, antwortete Krets, sein Gegenüber erstaunt ansehend.

Holmes schüttelte enttäuscht den Kopf; aber plötzlich, als fasse er einen Entschluß, ballte er seine Hände zu Fäusten, stand auf, und, sich dicht vor Krets hinstellend, flüsterte er mit leicht bebender Stimme:

Bussard ist dein bester Freund, nicht wahr?

Bussard? – Ja sicher – seit Jahren, erklang die erstaunte Antwort.

Wenn nun jemand zu dir käme und sagte: Dieser Bussard, dein bester Freund, ist ein gewissenloser Schurke – dann würdest du es nicht glauben, nicht wahr?

Nein, niemals! stammelte Krets.

Ja! – Dacht' mir's wohl! murmelte Holmes, und wie vernichtet sank er auf seinen Stuhl zurück.

Einen Augenblick herrschte eine drückende Stille; dann fragte Krets, der totenbleich geworden war und Holmes mit ängstlichen Augen angesehen hatte, heiser flüsternd: Holmes! – Um Gottes willen – was meinst du?

Ja! antwortete Holmes düster. Eine Vermutung – oh, es ist fürchterlich – abscheulich!

Ach nein! erklang es erschrocken. Was denkst du – was vermutest du?

Holmes richtete seine durchdringenden Augen fest auf Krets, dann sprach er beinahe tonlos, aber mit fester Stimme:

Ich denke nichts, ich vermute auch nichts, sondern ich weiß.

Aber was denn, ums Himmels willen? Sprich nicht so unheilverkündend in Rätseln!

Holmes lächelte traurig.

Warum laut aussprechen, was wir doch beide wissen; denn ich lese in deinem Herzen, daß du mich begriffen hast, erklang es ruhig.

Ein Frösteln ging durch Krets Glieder. Er stand auf und lief mit großen Schritten auf und ab, dann, als ermanne er sich plötzlich, stellte er sich Holmes gegenüber und sprach: Nun erzähle mir alles.

Holmes machte eine abweisende Handbewegung. Oh, jetzt nicht – nur jetzt nicht! erklang es schmerzlich.

Jawohl, jetzt gleich – – Holmes, ich will es, ich befehle es. – Ich bin der Bürgermeister.

Nun gut, meinte Holmes, wie du willst, und mit einer leichten Handbewegung nötigte er seinen Gastgeber, dicht bei ihm Platz zu nehmen, was dieser denn auch tat.

Ich bedauere es sehr, begann Holmes, daß mich der Zufall hierherführte, und daß ich mich in diese ganze Angelegenheit eingelassen habe, und ich versichere dir, daß ich tausend Mark dafür geben würde, wenn ich diese gastfreie Wohnung nie betreten hätte. Wir müssen nun aber die Sachen nehmen, wie sie sind; nur der eine Umstand tröstet mich, nämlich der, daß ich über die Angelegenheit nicht zu richten brauche.

Als ich Bussard zum ersten Male begegnete – oder besser – hereinkommen sah, fielen mir seine besonderen anatomischen Merkmale auf: die eigenartigen Ohren, seine scheuen Augen und vor allem seine Kopfform. Die Lehre der Phrenologie mag verworfen werden; meine Untersuchungen auf diesem Gebiet haben zu Resultaten geführt, die ich nicht geneigt bin, bloßen Zufälligkeiten zuzuschreiben. Es darf dich nicht verwundern, daß ich den ersten Augenaufschlag eines Menschen so eingehend studiere. Es ist eine Gewohnheit, die ich von meinem Vater erbte, denn es würde ein fruchtloses und vergebliches Unternehmen sein, diese Kunst studieren zu wollen.

Wie du weißt, war ich einige Augenblicke allein geblieben, bis ich meines Vaters Namen hörte. Ich trat etwas unbescheiden ein, teilte kurz meinen Lebenslauf mit, bot meine Dienste an und ersuchte Bussard, ausführlich alles zu erzählen. – Er tat dies in einer durchaus sachlichen Art und Weise und mit einer Genauigkeit, die mich besonders frappierte, weil die einzelnen Worte, welche ich im Zimmer nebenan zuvor bereits gehört hatte, genau so wie vorhin nochmals vorgetragen wurden.

Aber das kann immerhin Zufall sein! rief Krets aus.

Möglich, entgegnete Holmes, aber ein sehr sonderbarer Zufall für eine nervöse Person wie Bussard. Wie gesagt, ich hatte den Eindruck, als sei dieser Vortrag zuvor einstudiert.

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. Aber seine Verlegenheit, als er eintrat! rief er ungläubig.

Die kam hauptsächlich durch mein unerwartetes Erscheinen, erklärte Holmes, aber das beweist nur wenig. Wir wollen weitersehen. Auf dem Wege nach der Bank schien es, daß die Freude über meine Gegenwart durch eine Bemerkung seinerseits sehr in Frage gestellt wurde, nämlich durch einen leisen Versuch, an meiner Nationalität zu zweifeln.

In der Tat, murmelte Krets, das ist mir auch aufgefallen.

Holmes hielt eben die Hand vors Gesicht und schien einen Augenblick wieder von dem eigenartigen mütterlichen Erbfehler belästigt zu werden; dann wurde sein Gesicht jedoch wieder ernst, und er fuhr fort: Auf dem Platz vor dem Rathaus, wo der Boden dick mit Schnee bedeckt war, bemerkte ich etwas sehr Sonderbares.

Auf diesem Wege war in den letzten Stunden scheinbar niemand anders gewesen als bloß Bussard. Ich sah seine Fußspuren im Schnee, und zwar sonderbarerweise zweimal in der Richtung nach dem Rathaus und zweimal von daher kommend. Ich blieb wie zufällig ein paar Schritte zurück und konstatierte, daß Bussard ängstlich bemüht war, immer wieder in seine alten Fußspuren zu treten. Als ich dann später mit ihm allein war, machte ich ihn darauf aufmerksam, daß ich aus den Fußspuren schließen müsse, daß sein rechter Absatz schief gelaufen sei. Er schien von dieser Entdeckung recht unangenehm berührt zu sein.

Krets starrte einen Augenblick wie geistesabwesend vor sich hin, dann sprach er, während seine Stimme vor Erregung zitterte:

Das ist abscheulich! Gott mein Gott, sollte Bussard wirklich – – aber es sind doch immer nur Vermutungen, wenn auch sehr begründete, ein Beweis ist doch noch nicht erbracht!

Ja, meinte Holmes, wenn ich nur das wüßte, was ich bisher erzählt habe, dann würde ich geschwiegen haben. Hat es deinen Verdacht nicht erregt, daß er den Jacob zu beschuldigen versuchte? Eine sehr sonderbare Sache, wo er doch kurz vorher Jacob als Wächter auf dem Platz zurückließ.

Das ist allerdings ein deutlicher Widerspruch, stammelte Krets. O Holmes, dein Scharfsinn ist ebenso bewunderungswürdig wie abscheulich!

Holmes ließ den Kopf sinken. Ich weiß noch mehr, sprach er dumpf, und einen Zwanzigguldenschein aus seiner Börse holend, überreichte er ihn Krets. Dieser nahm ihn, ohne zu begreifen, was der andere damit sagen wolle. Holmes aber entfaltete ein Blatt Papier, welches ganz mit Zahlen bedeckt war, und überreichte auch das dem Bürgermeister. Dieser stieß einen Pfiff der Ueberraschung aus. Es war die Liste mit den Nummern der gestohlenen Wertpapiere. Liegt die Sache so – begann er stammelnd.

Es ist Nr. 213 169, erklärte Holmes, und dieselbe Nummer steht auch in der Liste – und er wies mit dem Finger – hier, die fünfte Zahl von oben.

Und dieser Schein – woher? forschte Krets, dessen Zähne vor Aufregung klapperten.

Als ich gestern mit Bussard spazieren ging, kaufte er in dem Laden am Markt Zigarren; dabei wechselte er einen Zwanzigguldenschein und suchte fortwährend meine Aufmerksamkeit durch eifriges Sprechen abzulenken. Ich ließ mir natürlich nichts merken, und wir verließen den Laden wieder. Nachdem ich ihn nach Hause gebracht hatte, eilte ich aufs neue in das Geschäft, kaufte Zigarren und fragte das Fräulein, ob sie Silber gebrauchen könne, ich hätte lieber Papiergeld. Sie lachte: »Ich werde Ihnen dasselbe geben, welches mir vorhin Herr Bussard aushändigte.« »Woher wissen Sie, daß es dasselbe ist?« fragte ich. »Ein Schein sieht doch genau wie der andere aus.«

»O ja,« antwortete sie, »aber der von dem Herrn Kommissar ist ganz neu, und den einen Schein hab' ich nur.

Ich machte noch ein paar Redensarten und ging.

Zu Hause sah ich, was ich vermutet hatte: es war eins von den gestohlenen Wertpapieren.

Es ist kein Zweifel mehr! rief Krets. O Bussard, daß du so mein Vertrauen mißbrauchtest – – ich, verdammt – ich lass' ihn auf der Stelle verhaften! Und er sprang zornig von seinem Stuhl auf.

Pardon! fiel ihm Holmes ruhig in die Rede, ihn auf seinen Stuhl zurücknötigend. Wenn du willst, daß die Angelegenheit ihren richtigen Verlauf nimmt, so schade ihr nicht durch Uebereilung. Alles, was wir bis jetzt wissen, ist höchst verdächtig, ja sicher auch überzeugend, doch der eigentliche Beweis fehlt noch.

Aber was willst du denn noch weiter, Holmes?

In Geduld noch zwei oder drei Tage warten und während dieser Zeit durch keinen Blick, keine Miene verraten, was wir wissen. In unserem ganzen Verhalten Bussard gegenüber darf nicht die geringste Veränderung eintreten.

Unmöglich – – der Schurke! rief Krets.

Es muß sein, sprach Holmes entschlossen. Sowie er den geringsten Verdacht schöpft, wird er dafür Sorge tragen, daß das Geld in Sicherheit kommt. Wenn du mir dagegen freie Hand läßt, sorge ich schon dafür, daß wir ihm in ein paar Tagen alles genau nachweisen können; dann verhaften wir ihn, und das Geld ist gerettet.

Du hast recht, gab Krets zu. Nun, ich überlasse dir die ganze Angelegenheit. Aber ob ich, wenn ich den Kerl seh' –

Sßt! ermahnte Holmes. Ein wenig schauspielern wirst du können. Es kommt schon alles zurecht. Ich geh' jetzt gleich noch ein wenig zu Bussard 'rüber und will sehen, ob ich das Netz, in dem wir ihn fangen wollen, nicht weiterspinnen kann.

Mach' nur die Maschen nicht zu groß! lachte der Bürgermeister, dessen Rachegefühl jetzt alle anderen guten Regungen beherrschte.

Keine Sorge. Er entgeht uns nicht, antwortete Holmes. Aber nochmals: Schweigen! lautet die Parole. In ein paar Stunden bin ich zurück. Adieu! Und mit kräftigem und selbstbewußtem Schritt verließ er das Zimmer, Krets mit seinen gemischten Gefühlen sich selbst überlassend.

III.

Zu derselben Zeit ungefähr, als Holmes Krets verließ, saß Bussard in seiner angenehm durchwärmten Stube, derselben, die wir bereits kennen, in einem Schaukelstuhl mit Andacht ein Werk von Lombroso studierend. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Flasche Portwein, und ein angenehmer Tabaksgeruch bewies, daß Herrn Bussards Zigarren nicht zu den schlechtesten gehörten.

Von Zeit zu Zeit legte er das Buch auf den Tisch, dachte nach, sah nach dem Ofen, in dem es so gemütlich knisterte, blies eine Rauchwolke mit gespitzten Lippen gegen die Lampe, nahm dann wieder das Buch und las weiter.

Diese Bewegungen wiederholten sich mit einer sicheren Regelmäßigkeit, und eben unterhielt er sich wieder damit, halbträumend nach den Rauchwolken zu sehen, welche durch die obere Oeffnung der Lampenglocke ihren Ausgang suchten, als geklopft wurde und seine Haushälterin Herrn Holmes anmeldete.

Bussard sprang auf, sah etwas verwirrt auf die Uhr, die halb elf zeigte, und trat dann Holmes entgegen, der eben in der Tür erschien.

Bon soir, bon soir! – – Nimm, bitte, Platz, begann Bussard mit herzlicher Zuvorkommenheit, die Holmes höflich und ernst mit einem Bon soir, Bussard, ich möchte mal etwas mit dir besprechen, beantwortete.

Schön, sehr schön, sagte Bussard. Was gibt's denn?

Holmes lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sah Bussard mit seinen intelligenten Augen beinahe traurig an.

Es fiel Bussard wieder auf, wie sehr Holmes seinem Vater glich; da er aber wohl begriff, daß das späte Erscheinen seines Gastes eine besondere Veranlassung haben müsse, meinte er: Sicher hast du etwas entdeckt, was mit dem Diebstahl im Zusammenhang steht!

Holmes nickte schweigend, sah Bussard einige Augenblicke an und sprach dann:

Ich habe allerdings eine Entdeckung gemacht, eine sehr eigentümliche oder – besser gesagt – mehr traurige als sonderbare.

Wirklich? fragte Bussard, dessen Neugierde stark erregt wurde. Erzähl' doch, bitte!

Nun also, seufzte Holmes, ich wünschte wohl, daß ich niemand von meiner Entdeckung etwas mitzuteilen brauchte. Ich verfluche die Stunde, verfluche den Zufall, der mich nach Blankenhagen führte, begann er, seine Hand vor die Augen legend.

Aber was ist denn nur? rief Bussard erschrocken, während er ein Glas vor Holmes hinsetzte und es vollschenkte.

Nun, fuhr Holmes trübe fort, es ist besser, gleich alles zu sagen; mit der Absicht kam ich her, aber mir schaudert's, wenn ich an all die Gemeinheit, all die Schliche, all die Schmeichelreden denke – –

Was sagt Krets? fragte Bussard, der den Zusammenhang nicht begriff.

Krets! rief Holmes, während seine Augen funkelten. Ich nannte doch seinen Namen nicht? – – Ja, fuhr er fort, ich verstehe, auch du trägst dich bereits mit der Vermutung – – Gott sei Dank, dann brauche ich nicht mehr aus die Einzelheiten zurückzukommen.

Wie meinst du? – Ich verstehe nicht – was ist denn mit Krets los? stammelte Bussard verwirrt.

Leise! befahl Holmes. Es darf niemand hören, und seinen Stuhl dicht an den Bussards schiebend, flüsterte er: Ich dachte eben, daß du schon alles durchschaut hättest. Ist dem nicht so? Hast du nicht an Krets Ehrlichkeit gezweifelt?

An Krets Ehrlichkeit? Bist du verrückt, Holmes?

Holmes schüttelte traurig den Kopf. Armer Kerl, ich verstehe deine Entrüstung. Krets ist dein intimster Freund, nicht wahr?

Seit Jahren, mein Chef und mein Freund.

Dein Chef – ja, und wer ist sein Chef?

Sein Chef – – der ist nicht hier! – Sein Chef? – Ja, das ist der Minister.

Holmes lachte sarkastisch. Ja wohl, er ist sein eigener Vorgesetzter, und die guten Blankenhagener, die ihr Geld immer wie brave Kinder nach der Bank brachten, die Aermsten, wieviel Tausende sind da verloren gegangen!

Aber erklär' mir doch endlich! rief Bussard. Glaubst du denn, daß Krets etwas von dem Diebstahl weiß?

Holmes' Züge wurden sehr ernst.

Hör mal, Bussard, wir kennen einander erst kurze Zeit, doch ich fühle eine lebhafte Sympathie für dich und vertrau dir, wie man sich einem Bruder anvertrauen kann, und aus diesem Grunde will ich dir nicht als Detektiv, sondern als Freund folgendes sagen: So sicher wie wir beide an dem Diebstahl unschuldig sind, so sicher ist Krets das Gegenteil davon. Er ist der einzig Schuldige. Er ist der Dieb!

Bussard war totenbleich aufgesprungen.

Die Beweise? stieß er hervor.

Setz' dich! befahl Holmes in seinem energischen Ton. Ich werde dir alles erklären – Als ich abends in der »Krone« Krets Bekanntschaft machte – ich glaubte, von ihm etwas zu erfahren, das mir bezüglich meiner Forschung Aufklärung geben könne – enfin, schon damals fielen mir einige Besonderheiten an ihm auf. Krets hat ja sonst ein ziemlich normales Gesicht; aber achte einmal auf die eigenartige Abplattung seines Schädels oberhalb der Ohren, auf die ganz besonders hervortretenden Jochbeine und – last not least – auf die stark gebogenen Ohren. Alle diese Umstände fielen mir, wie gesagt, sofort auf. Hierzu kam noch eine gewisse Nervosität, etwas Gejagtes, Unruhiges in seinem Wesen, das mich noch aufmerksamer werden ließ. Und als wir uns gegen elf Uhr trennten, wußte ich, daß ich mich vergebens nach Blankenhagen gewandt hatte, aber mein Interesse an der Person dieses Krets hatte mit jeder Minute zugenommen. Ohne Zögern akzeptierte ich darum auch seine Einladung, ihn am folgenden Morgen zu besuchen, um eine Partie Billard mit ihm zu spielen. Als ich dann am Morgen den Weg zu Krets Wohnung einschlug, sah ich ihn gerade hastig vor mir her laufen. Dies fiel mir besonders deshalb auf, weil ich nun nicht erst seine Wohnung zu suchen brauchte.

Ich schellte und wurde eingelassen. Krets war sehr herzlich, doch er sah bleich aus und machte einen noch nervöseren Eindruck als tags zuvor.

Sehr interessiert fragte er dann: »Was ist draußen für Wetter?«

»Gut,« antwortete ich. »Es hat geschneit.«

»Geschneit?« rief er sehr verwundert und nach dem Fenster gehend. »Ja, wirklich. Sonderbar, so spät im Jahr noch Schnee.«

Das war allerdings auffallend, gab Bussard zu, aber war er es auch wohl? Du könntest dich doch leicht in der Person geirrt haben.

Ausgeschlossen, lieber Freund, gänzlich ausgeschlossen. Wer trägt denn außer Krets noch einen Pelz mit Astrachankragen? fragte Holmes.

Nein, meinte Bussard achselzuckend, ich wüßte allerdings auch niemand hier.

Auf jeden Fall wurde meine Aufmerksamkeit durch dies Vorkommnis noch mehr erweckt.

Beim Billardspielen schien er nicht recht bei der Sache zu sein. Plötzlich wurde geschellt. Krets sah mich erschreckt an, ich spielte ruhig weiter, während er an der Tür horchte. Als du gleich darauf gemeldet wurdest, schien er sich beherrscht zu haben.

Ich fing im Nebenzimmer ein paar Worte von eurer Unterhaltung auf, doch dann bekam ich große Lust, alles zu hören. Ich horchte und hörte den Namen meines Vaters nennen. Das gab den Ausschlag. Der Rest ist dir ja bekannt. In solchen Angelegenheiten ist es ein großer Vorteil, daß man die Personen nur oberflächlich kennt; man ist weder an Sympathien noch an Vorurteile gebunden; man urteilt infolgedessen unbefangener und »gerechter«. So auch hier. Wäre ich ein Blankenhagener, würde ich sicher niemals Verdacht gegen Krets geschöpft haben, so aber erforschte ich instinktiv den Zusammenhang zwischen allem, was ich gesehen und gehört hatte.

Auf dem Wege nach der Bank frappierte mich eine Besonderheit: ich sah dieselbe Fußspur sowohl nach der Bank gerichtet als auch von der Bank kommend. Ich blieb dann einige Schritte zurück, und in der Tat schien es mir, daß beide Spuren von Krets herrühren mußten.

Das ist ja aber ganz undenkbar! warf Bussard dazwischen.

Nachdem ich die Rückseite des Gebäudes erfolglos untersucht hatte, machte ich dich vor der Haustür darauf aufmerksam, wie leicht es sein müsse, die Tür zu öffnen, und Krets hat, denke ich, für alle Schlösser Extraschlüssel.

Ja, allerdings, bestätigte Bussard.

Dann hob ich, eintretend, sorgfältig das Kerzenfett auf, und bald darauf erhielt ich zu meinem Gaudium die Liste ausgehändigt, auf der die Nummern der gestohlenen Wertpapiere verzeichnet standen. In dem Zimmer, wo der Diebstahl geschah, interessierte mich eigentlich nichts, doch wollte ich Jacob von allem Verdacht freimachen; ich stellte deshalb die Untersuchung mit dem Licht an, von deren Resultat ich euch ja neulich schon berichtete.

Als ich dann an demselben Morgen ging, durchsuchte ich die Taschen von Krets Pelz, der auf dem Flur am Riegel hing, und fand auch, was ich vermutet hatte, nämlich ein Stückchen Licht, eine Schachtel Streichhölzer und einen Schlüssel.

Bussard sprang entsetzt auf. Mein Gott! rief er.

Hier sind die Sachen, sagte Holmes ruhig. Ich hab das Licht genau untersucht, es ist von der gleichen Qualität wie die Tropfen, die ich im Flur des Rathauses fand, auch die Streichhölzer sind die gleichen.

Aber das ist ja abscheulich!« flüsterte Bussard in namenlosem Entsetzen.

Den Schlüssel ließ ich in der Tasche, prägte mir jedoch die Form genau ein. Am folgenden Morgen brachte ich, wie zufällig, das Gespräch auf die Schlüssel, wobei er mir erzählte, daß er von allen ein Exemplar hätte, und mir einen großen Kasten zeigte. »Wo ist der zur Bank?« fragte ich. »Hier,« antwortete er, »den bewahr' ich immer besonders.« Ich besah ihn scheinbar flüchtig. Es war derselbe.

Aber das ist ja alles undenkbar! Das ist wohl nur ein Traum? rief Bussard verstört.

Ja, alles nackte Wahrheit! Und alles, was ich bisher nannte, beweist noch nichts, aber ich weiß noch mehr. – Als ich gestern mit Krets spazieren ging, kaufte er in dem Laden am Markt Zigarren; dabei wechselte er einen Zwanzigguldenschein, und währenddessen suchte er meine Aufmerksamkeit durch alle möglichen Redensarten abzuleiten. Wir verließen den Laden, ich brachte ihn ins Rathaus, kehrte aber sofort wieder um, kaufte mir auch Zigarren und fragte das Ladenmädchen, ob sie etwas Silber gebrauchen könne, meine Börse sei so voll davon, und ich hätte lieber Papiergeld. »Oh,« meinte sie, »dann geb' ich Ihnen dasselbe, welches mir der Bürgermeister gab.« – »Woher wissen Sie, daß es dasselbe ist?« fragte ich. »Ein Schein sieht doch wie der andere aus.« – »Ach, dies ist der einzige, den ich hab',« erklärte sie. Ich nahm den Schein und ging. Hier ist er. Und Holmes überreichte Bussard einen Zwanzigguldenschein.

Nun? fragte dieser, Holmes ansehend.

Augenblick – hier ist noch etwas – und Holmes gab ihm auch die Liste mit den Nummern.

Bussard erbleichte.

Die siebte Nummer von oben, erklang Holmes' Stimme scharf, Nr. 8. A. 37 125.

Bussard sagte nichts mehr. Er legte den Schein und die Liste auf den Tisch und begann eifrig im Zimmer auf und ab zu laufen. Dann, wie zu sich selbst sprechend, murmelte er: Krets ein Dieb – – unglaublich – – immer zusammen gewesen – – abscheulich. – Was mach' ich da nur? – – Wie ist das nur möglich!

Plötzlich blieb er dicht vor Holmes stehen:

Er muß sofort arretiert werden!

Holmes lächelte. Trink' mal aus, Bussard, und hör' zu. Wenn du mich gewähren läßt, bringe ich in ein paar Tagen das zusammen, was uns noch fehlt, nämlich den eigentlichen Beweis. Uebereilung kann nur schaden. Laß im Gegenteil durch nichts merken, daß du eine Vermutung hast, und setze mit mir zusammen die Nachforschungen fort – inzwischen leg' ich ihm die Schlinge vollends um den Hals.

Bussard ergriff Holmes' Hand. Kerl, du bist ein Juwel! Ich danke dir – ich danke dir im Namen von ganz Blankenhagen!

Holmes quälte wieder sein mütterliches Erbteil, doch mit Gewalt zog er sein Gesicht in ernste Falten.

Oh, nichts zu danken, meinte er dann. Aber ich will jetzt gehen …

Eins noch: Wie erklärst du den Vorgang mit dem Telephon? fragte Bussard.

Holmes zog die Schultern hoch: Wie ich bereits sagte – – Kleptomanie! Nun, bon soir, und denke daran: Schweigen beißt die Losung!

Ich tue alles, was du willst, antwortete Bussard, ihn hinausbegleitend.

Holmes verschwand in der dunklen Nacht.

Bussard trat fröstelnd wieder ins Zimmer.

Krets ein Dieb – ein Einbrecher! – –

O Schurke! Aber die Gerechtigkeit wacht!


IV.

Als Krets am folgenden Mittag vom Rathaus kam, fand er in seinem Zimmer einen Brief vor. Er war von Holmes und lautete:

 

Lieber Freund!

Soeben erhalte ich ein Telegramm, welches mich unmittelbar nach London ruft. In zwei, höchstens drei Tagen bin ich zurück. Denke an unsere Verabredung und laß alles beim alten, bis ich zurück bin.

Mit Gruß Dein Holmes.

 

Enttäuscht legte Krets den Brief beiseite, denn er hatte nur den Wunsch, den ehrlosen Wicht, den Bussard, so bald wie möglich zu entlarven. Und jeder Tag der Verzögerung schien ihm seine Macht als Bürgermeister einzuschränken.

Zu derselben Zeit fand Bussard, aus seinem Bureau kommend, auch einen Brief vor, welchen wir hier nicht wiederzugeben brauchen, denn er enthielt genau dasselbe wie das Schreiben, das an den Bürgermeister gerichtet war. Auch Bussard ärgerte sich, daß nun die Angelegenheit wieder aufgeschoben wurde. Was die Sache vollends unangenehm machte, war der Umstand, daß sich die beiden Herren alle Augenblicke in Dienstangelegenheiten per Telephon unterhalten mußten; doch wurde das Telephon so wenig wie möglich benutzt; die beiden Herren machten lieber alles schriftlich miteinander ab.

Ich kann den Kerl jetzt nicht sehen, dachte Krets.

Er hat den Mut nicht, sich hören zu lassen, dachte Bussard.

Und beide fanden diesen scheinbaren Argwohn sehr unangenehm und für den guten Verlauf der Angelegenheit gefährlich.

Inzwischen vergingen drei Tage, und Holmes erschien nicht.

Der vierte Tag verstrich ohne Nachricht, der fünfte ebenso.

Krets schlief nicht mehr, und Bussard ließ sein Essen stehen.

Endlich, am siebten Tag, kam mit der ersten Post ein großer Dienstbrief an Krets' Adresse. Er las das Siegel. Es war vom Amtsgericht in P.

In dem Kuvert war eine Photographie. Diese stellte Holmes dar.

Krets rieb sich die Augen, dann besah er sich nochmals den Umschlag und auch das Bild genau. Es war kein Zweifel. Ein Brief lag bei:

 

Steckbrief!

Es wird hiermit ersucht, den unten beschriebenen Johann Friedrich Müller, geboren am 28. Januar 1883, der wegen Diebstahls und Urkundenfälschung angeklagt ist, zu verhaften.

Signalement: Größe 1,80 Meter, Gesicht mager, Nase groß, Augen dunkel, Haar dunkelbraun.

Allgemeine Kennzeichen: Verschmitzt und intelligent. Spricht gut Holländisch, Englisch und Deutsch. Letzter Aufenthaltsort K., wo er mittels eines falschen Wechsels 100 000 Mark erhob.

Auf seine Ergreifung ist eine Prämie von 10 000 Mark gesetzt.

Königl. Amtsgericht in P.

 

Krets stieß einen unterdrückten Schrei aus. Holmes ein Betrüger – ein Dieb! – Und Bussard?

Er steckte den Brief in die Tasche, setzte seinen Hut auf und rannte nach dem Polizeibureau, wo er atemlos bei Bussard eintrat.

Dieser sah verlegen und verwundert dem Ankömmling entgegen.

Unglücklicher! – begann er. Was –

Aber Krets ließ ihn nicht ausreden.

Lies, lies! Sieh dies Bild an! Holmes, der Schuft – dieser – – da ging ihm der Atem aus. Er ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen.

Auch Bussard fiel in ähnlicher Weise auf seinen Sessel zurück, als er den Brief gelesen hatte.

Eine tiefe Stille herrschte, wohl minutenlang; endlich meinte Krets: Bussard, bester, guter Kerl, weißt du, wen er als Dieb angab?

Ja, nickte Bussard. Dein guter Name! – –

Mein guter Name? – Nein, deiner!

Er hat mir bewiesen, daß du der Dieb seist.

Und mir, daß du es sein müßtest.

Aber der Zwanzigguldenschein – –

Ja eben –

Bussard!

Krets!

Weißt du, was ich glaube?

Ja, Krets, ich weiß!

Er – er ist weg nach Amerika.

Oder Australien!

Wenn sie ihn kriegen, heißt es, daß mein Neffe –

Und mein Freund! – –

Nachwort.

Was ich hier erzählt habe, ist schon vor langer Zeit geschehen. Die Geschichte ist wahr – wie viele Geschichten. Blankenhagen ist immer noch ein allerliebstes Städtchen. Die Bewohner haben immer noch die größte Ehrfurcht vor der Obrigkeit, bzw. den Personen, welche sie vergegenwärtigen. Die Sparbank ist noch immer eine blühende, gesegnete Einrichtung.

Ein Minus in der Kasse ist nie entdeckt worden. Alle Blankenhagener werden auch heute noch gern beeidigen, daß es so etwas nie gegeben hat. Möglicherweise haben sie recht.

Krets und Bussard haben lange, geehrt und geliebt von allen, die Zügel in Blankenhagen geführt. Jetzt sind sie schon lange tot.

Der Nachlaß von Krets war nicht groß – eine Eigenschaft der meisten Erbteile.

Bussard hinterließ nur eine Kiste mit Wein und das letzte Semester seiner Pension.

Von dem großen Unbekannten, dem Pseudoneffen des Herrn Krets, alias Sherlock Holmes, hat niemand wieder etwas gehört.

Jacob und seine Frau haben auch schon das Zeitliche gesegnet.

Der Weg, der zur Bank führt, heißt jetzt der Kretsweg und der Platz, an dem er endet, der Bussardplatz.

Es ist ein gutes Volk, das seine großen Männer ehrt!

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