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Die arge Nonn'

Die arge Nonn'

Von Karl Hans Strobl

Eines Nachts erwachte ich plötzlich aus tiefem Schlaf. Mein erster Gedanke war eine gewisse Verwunderung darüber, daß ich überhaupt erwachte; denn ich hatte tagsüber auf dem Trümmerfeld der Jesuitenkaserne zu tun gehabt und war sehr ermüdet. Ich legte mich auf die andere Seite und versuchte einzuschlafen. Aber da hörte ich einen Schrei, der mir den Schlaf verscheuchte. Es war ein Schrei der Angst, und im Augenblick saß ich aufgerichtet im Bett. Zuerst versuchte ich, mich zurechtzufinden. Wie es oft nachts zu geschehen pflegt, wußte ich nicht, wo ich die Tür und wo ich das Fenster zu suchen hatte. Ich besann mich endlich, daß ich merkwürdigerweise nur in einer Lage schlafen kann, die von Nord nach Süd gerichtet ist, und nun wußte ich, daß ich die Tür zur Rechten und das Fenster zur Linken hatte. Im Bett zu meiner Rechten schlief meine Frau ihren ruhigen, friedlichen Kinderschlaf. Nach einer Weile, die ich gespannt horchend verbrachte, legte ich mich wieder zurück und überzeugte mich davon, daß ich doch geträumt haben müsse. Seltsam stark und wild freilich mußte dieser Traum gewesen sein, aus dem ein Schrei noch so deutlich in die Dämmerung meines Bewußtseins drang. Erst nach zwei Stunden schlief ich wieder ein.

Am Tage ließ mich meine Arbeit nicht dazu kommen, meinen Gedanken, die sich unaufhörlich mit meinem Traum beschäftigen wollten, ungestört nachzuhängen. Zwischen den Trümmern der Jesuitenkaserne herumkletternd, mußte ich die Demolierungsarbeiten leiten und überwachen. Die Sonne war unbarmherzig, der Staub des abgebrochenen Gemäuers hüllte mich ein und legte sich auf meine Lungen. Pünktlich um elf Uhr, wie alle Tage, fand sich der Vorstand des Landesarchivs, Doktor Holzbock, bei mir ein und erkundigte sich nach dem Fortschritt der Arbeiten. Er interessierte sich ungemein für die Zerstörung des uralten Gebäudes, das in seinen ältesten Teilen fast in die Gründungszeit der Stadt zurückreichte. Da er die Geschichte des Landes zu seinem Studium gemacht hatte, erhoffte er von der Sezierung dieses ehrwürdigen Körpers manche Aufschlüsse. Wir standen in dem großen Hofe und sahen zu, wie die Arbeiter das erste Stockwerk des Hauptflügels abtrugen.

»Ich bin überzeugt,« sagte er, »daß wir noch viel Sonderbares finden werden, wenn wir erst zu den Fundamenten kommen. Auf die Zeugnisse der Vergangenheit wirkt eine Kraft, die der physikalischen Schwerkraft verwandt ist, sie zieht sie zum Grunde. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie mich solche alte Gebäude fesseln, wenn sie eine so reiche Geschichte haben wie dieses. Zuerst ein Kaufmannshof, dann ein Nonnenkloster, dann eine Festung der Jesuiten und endlich eine Kaserne. Auf einem verhältnismäßig übergroßen Teil der alten, von Wällen eingegürteten Stadt gebaut, scheint sie von allen Ereignissen berührt worden zu sein, jede Äußerung des Lebens in sich hineingesogen zu haben, so daß ihre Spur zurückblieb. An diesen Ablagerungen, an diesen Schichten, deren Übereinander die Folgen der Zeiten bedeutet, könnte man eine Geologie der Geschichte aufstellen. Ich glaube, daß wir noch seltsame Dinge in diesem alten Mauerwerk entdecken werden – nicht bloß Töpfe mit alten Münzen und übertünchte Fresken, sondern auch versteinerte Abenteuer und fossile Schicksale.«

So sprach der fanatische Archivarius, und uns gegenüber arbeiteten die Spitzhauen an dem festen Mauerwerk. Ein Bogengang war da oben bloßgelegt, und ich mußte mir die aufeinanderfolgenden Züge von Kaufleuten, Nonnen und Jesuiten vorstellen, die einen Teil ihres Lebens unter dem lastenden, grauen Gewölbe dieses Ganges zugebracht hatten. Während Doktor Holzbock seine Rhapsodie fortsetzte, faßte ich, da ich den Verführungen der Romantik nicht widerstehen kann, den Entschluß, einmal nachts die Ruine aufzusuchen. Ich wollte den Reiz des Unheimlichen auf mich wirken lassen und mich mit den Geistern des Ortes befreunden.

In dieser Nacht erwachte ich, genau so wie in der vorigen Nacht, aus dem Schlaf und hörte kurz darauf den furchtbaren Schrei. Ich hatte mich gefaßt gemacht, ihn zu hören und strengte mich an, genau festzustellen, woher er komme. Aber in dem entscheidenden Augenblick faßte mich eine unerklärliche Angst, so daß ich wirklich nicht genau wußte, ob er aus dem Innern unseres Hauses oder von der Straße kam. Kurz nachher glaubte ich, von der Straße die Schritte laufender Menschen zu hören. Bis zum Morgen lag ich in unruhigem Halbschlaf, in dem ich mich mit dem Rätsel dieses Schreies beschäftigte. Als ich beim Frühstück meiner Frau von dieser Sache sprach, lachte sie zuerst. Dann aber sagte sie besorgt: »Ich glaube, du fängst an, nervös zu werden, seitdem du in der alten Jesuitenkaserne beschäftigt bist. Nimm doch Urlaub und laß dich von einem Kollegen vertreten. Du bist übermüdet und hast Pflichten gegen deine Gesundheit.« Aber ich wollte nichts davon wissen; denn das Graben im Schutt dieses alten Gebäudes, das Suchen nach den Dingen, von denen der Archivar so viel erwartete, war mir zur Leidenschaft geworden. Nur so viel erreichte meine Frau, daß ich ihr versprach, ich würde sie wecken, wenn ich selbst nachts erwachen sollte.

Auch in dieser Nacht fuhr ich wieder aus dem Schlaf. Hastig und ängstlich rüttelte ich meine Frau wach, und wir saßen nebeneinander aufrecht in den Betten. Da kam auch schon der Schrei, gellend und ganz deutlich – von der Straße herauf. »Hörst du … jetzt, jetzt …« Aber meine Frau zündete Licht an und leuchtete mir ins Gesicht: »Mein Gott, wie du aussiehst! Es ist doch nichts. Ich höre gar nichts.« Ich war so außer mir, daß ich sie anschrie: »Schweig doch … und jetzt … jetzt laufen sie unten auf der Straße.« »Du tust mir weh« – rief meine Frau, denn ich drückte ihren Arm, als müsse ich sie durch Anwendung von Gewalt überzeugen. »Hast du nichts gehört!« – »Nichts! Gar nichts!«

Ich sank in die Polster zurück. Schweißbedeckt erschöpft wie nach einer schweren körperlichen Arbeit und unfähig, den besorgten Fragen meiner Frau irgendeine beruhigende Antwort zu geben. Gegen Morgen, als sie schon wieder schlief, wurde ich mir darüber klar, was ich zu tun hatte, um meinen Verstand zu erhalten. Durch ein völlig gelassenes und besonnenes Betragen während des Tages gelang es mir, meine Frau glauben zu machen, daß ich mich beruhigt habe. Ich scherzte während des Nachtmahls über meine nächtlichen Halluzinationen und gab ihr das Versprechen, heute bis zum Morgen zu schlafen und mich weder um den Schrei noch um den Tumult auf der Straße zu kümmern. Ich gab ihr sogar das Versprechen, sofort nach Beendigung der besonders verantwortungsvollen Arbeiten um einen längeren Urlaub anzusuchen. Kaum aber hörte ich an den Atemzügen meiner Frau, daß sie eingeschlafen war, als ich mich erhob und mich wieder ankleidete. Da ich keinerlei unsinnige Gedanken in mir aufkommen lassen wollte, nahm ich Kants »Kritik der reinen Vernunft« vor und versuchte, mich in die strengen und logischen Vorstellungsreihen zu versenken. Aber als es gegen Mitternacht ging, kam eine Unruhe über mich, die mich unfähig machte, weiter zu lesen. Es war unmöglich, dem eisernen Zwang des Buches zu folgen. Ein Stärkeres zog mich von ihm weg. Leise erhob ich mich und ging vor das Haus. An meinem wachsenden Zittern merkte ich, daß die Zeit herankam. In die Vertiefung des Hauseinganges gedrückt, wartete ich; meinen ganzen Mut hatte ich aufzubieten, aber ich war entschlossen, die Qual meiner Nächte durch ein rasches Aufdecken der natürlichen Ursachen zu beenden. Zwanzig Schritte entfernt brannte eine Gaslaterne und gab genügend Licht für den Teil der Straße vor meinem Haus. Ein junger Mann, der offenbar etwas zu viel getrunken hatte, kam an der jenseitigen Häuserfront bis zu dem gegenüberliegenden Haus, wo er stehen blieb und nach einigen mißlungenen Versuchen endlich das Tor aufschloß. Ich hörte die Geräusche seiner Heimkehr noch im Hausflur und auf dem Beginn der Treppe. Dann war wieder alles still. – Und plötzlich flammte der Schrei in diese Stille. Ich taumelte in den tiefen Schatten zurück und griff nach der Klinke, deren kaltes Metall ich deutlich in meiner Hand fühlte. Verzweifelt und außer mir vor Angst wollte ich flüchten. Aber trotzdem ich das Haustor nicht versperrt hatte, konnte ich nun nicht öffnen. Da hörte ich auch schon die eilenden Schritte vieler Menschen auf der Straße und nun flog etwas an mir vorüber. Ich konnte nicht erkennen, ob es nur ein Schatten oder ein Mensch war. Im Augenblick des Sehens schien es nicht die Schwere eines Menschen zu besitzen, aber es hinterließ sofort den vollen Eindruck der Körperlichkeit: einer Frau, die im rasendsten Lauf die Straße herabkam, einer Frau in einem langen wallenden Gewand, das sie, um besser laufen zu können, aufgenommen hatte. Und hinterdrein kam, wenige Schritte hinter ihr, eine ganze Schar von Männern in sonderbaren Trachten, die unserer Zeit fremd sind. Auch bei ihnen wiederholte sich diese Erscheinung: wie Schemen vorübergleitend, hinterließen sie die Vorstellung der Körperlichkeit. Ich weiß nicht, welcher Wahnsinn mich erfaßte und mich zwang, hinter ihnen dreinzulaufen. Es mag eine dem Wahnsinn der Schlacht verwandte Art gewesen sein, jenes Wahnsinns, der stärker ist als die Furcht und den Soldaten in das feindliche Feuer wirft. Niemals bin ich so gerannt wie damals; es war weniger ein Laufen als ein Gleiten und Schweben, wie man es sonst nur aus Träumen kennt. Ich sah immer die Jagd vor mir, die Frau voran und die Schar der Männer hinterdrein. Es schien mir, als laufe ich schon lange so, und dennoch spürte ich keine Erschöpfung. Plötzlich verschwand die Frau, ich sah noch ein irres Hin und Her der verfolgenden Männer und dann schien es, als ginge alles in den Schatten der Nacht ein. Zu meinem Erstaunen stand ich vor dem Plankenzaun, der das Trümmerfeld der Jesuitenkaserne umzieht. Am Eingang, über dem die Tafel mit der Aufschrift angebracht war: Nichtbeschäftigten ist das Betreten des Platzes verboten! Ich riß die Tür auf und stürmte hinein. Da stand der Nachtwächter, ganz in der Nähe des Eingangs an einen Balken gelehnt und grüßte, als er mich plötzlich vor sich sah. Stolz darauf, daß ihn mein Überfall auf den Posten gefunden hatte, gab er sich einen Ruck und wollte seine Meldung abstatten. Aber ich ließ ihn nicht zu Worte kommen: »Haben Sie nicht eine Frau gesehen! Eben jetzt … sie trug ein graues, langes Gewand, das sie zusammengerafft hielt, und lief hier hinein!«

»Ich habe nichts gesehen, Herr Baumeister, gar nichts.« »Aber, zum Teufel, sie kann doch nicht in der Luft zerflossen sein. Haben Sie nicht am Ende geschlafen? Mit offenen Augen geschlafen.«

Der Wächter war sehr gekränkt über meinen Verdacht und versicherte mit allem Nachdruck, daß er nicht geschlafen und doch nichts gesehen habe. Nun begann ich selbst zu suchen. Überall kroch ich herum, blickte in alle Winkel der Höfe, und übersah keines der vielen Zimmer und Zimmerchen, über deren zackig abgebrochenen Wänden die Decke der vom Widerschein der Stadt erhellten Nacht hing. Über gefährliche Reste des Mauerwerks wagte ich mich, in jedem Augenblick vom Zusammensturz bedroht, um in sonst unzugängliche Kammern blicken zu können.

Dann wieder rannte ich halboffene Galerien entlang, auf deren schmutziger Malerei der Schein der Laternen seltsame Schattenspiele trieb. Die Kirche, die einst von dem alten Gebäude vollständig eingeschlossen gewesen war, so daß nur Dach und Turm über die grauen Mauern ragten, war nun schon zum größten Teile freigelegt, und hier gab es eine Menge Schlupfwinkel. Aber auch hier fand ich nichts, und ich ging mit schwerem Kopf und zitternden Knien nach Haus; immerwährend legte ich mir zurecht, was ich gesehen hatte, und gab den Dingen neue Deutungen, aber ich wurde nur immer verwirrter.

»Heute hast du hoffentlich nichts gehört,« fragte meine Frau.

»Nein – ich habe fest geschlafen,« log ich und versteckte meinen Kopf rasch in der Waschschüssel, damit meine Frau nicht die Zeichen dieser Nacht auf meinem Gesicht entdecken sollte.

An diesem Tage machten wir auf dem Trümmerfelde eine Entdeckung, die den Archivar in höchstes Entzücken versetzte. Bei der Abtragung eines schönen alten Portals, das bedeutenden Kunstwert hatte, mußte mit besonderer Sorgfalt vorgegangen werden, denn man wollte dieses Denkmal alter Kunst an anderer Stelle wieder aufstellen. Über zwei Pilastern die eine reiche Ornamentik mit Blumen- und Früchtemotiven zeigten, schwang sich ein schöner Bogen über die Einfahrt. Auf den Simsen über diesem Bogen standen Heiligenstatuen im Geschmack des siebzehnten Jahrhunderts. Heilige, die ihre Attribute vor sich hinhielten wie Hieroglyphen ihres Schicksals. Als man einen heiligen Jakobus von seinem Postament heben wollte, fiel der Kopf vom Hals, rollte ein paar Schritte weiter und blieb im Schutt liegen. Man sah im Ansatz des Kopfes eine runde, zylindrische Vertiefung, als ob da einmal eine Eisenstange darin befestigt gewesen wäre, und als man den Rumpf herabgehoben hatte, fand sich, daß dieser Vertiefung eine Fortsetzung in dem Rumpfe der Statue entsprach. Zuerst machte ich den Arbeitern wegen ihrer Unachtsamkeit Vorwürfe, aber Doktor Holzbock, der den Kopf aufgehoben hatte und gespannt betrachtete, unterbrach mich: »Die Leute können nichts dafür, lieber Freund. Das ist kein neuer Bruch, sondern ein alter. Keine zufällige Trennung, sondern eine beabsichtigte, und es würde mich nicht wundern …«

In diesem Augenblick kam einer der Arbeiter auf mich zu und reichte mir eine kleine Rolle schmutzigen Papiers: »Das war in dem Loch drin,« sagte er, »und vielleicht steht etwas darauf …«

Der Archivar sah mich an und nahm mir die Rolle aus der Hand. Mit aller Sorgfalt versuchte er, sie aufzurollen und endlich gelang es ihm, sie auf dem Zeichentisch meiner Bauhütte auszubreiten und mit Reißnägeln zu befestigen. Es war ein Stück des starken Urkundenpapiers, auf dem die wichtigsten Verträge der Vergangenheit aufgezeichnet zu werden pflegten. Umsonst versuchte ich mich in dem Gewirr der roten und schwarzen Linien zurechtzufinden. Es schien ein Plan zu sein, und als ich alle meine Kenntnisse als Baumeister vergebens aufgeboten hatte, um seinen Sinn zu finden, gab ich meine Bemühungen auf. Doktor Holzbock aber erklärte, er sei entschlossen, das Papier zu enträtseln und bat mich, ihm zu gestatten, daß er den Fund mit sich nehme.

Noch vor Feierabend kehrte er zurück und winkte mir schon von weitem mit der Hand. Ganz feierlich legte er die Hand auf meinen Arm und führte mich durch eine kleine Nebentür in die Kirche, wo wir ungestört waren. Ein wunderbarer Abendhimmel, in dem auf unergründlichen purpurroten und smaragdenen Tiefen violette Boote mit weißen Segeln der Nacht entgegenfuhren, gab der einsamen Kirche etwas von seinen Farben. Die hohen, barocken Silberleuchter, zwischen denen wir standen, waren rötlich überhaucht, die heilige Agnes an der Wand gegenüber ließ ihre Wehmut verschwinden und erhielt durch die grellen Reflexe eine lodernde Sinnlichkeit im Ausdruck. Die Heiligenstatuen, die Kanzel, die Engel unterhalb der Emporen waren verändert, als wären sie vom Zwang des Tages erlöst, und freuten sich auf die Nacht, in der sie ganz frei sein konnten und vielleicht ein Leben lebten, von dem wir nichts ahnen.

Inzwischen hatte der Archivar unseren Plan aus der Tasche gezogen und begann: »Ich war mir nach einigem Nachdenken darüber klar, daß der Plan, so wie wir ihn zu sehen bekamen, sinnlos sei oder vielmehr, daß er seinen Sinn verberge. Wenn wir das Gewirr von Strichen betrachten, so ahnen wir gerade so viel, daß es ein Plan sein könnte, aber wir sind nicht imstande festzustellen, was er zu bedeuten hat. Dem Aussehen des Papiers, den Buchstaben nach, die sich hie und da unter den Linien finden, kann ich mit ziemlicher Sicherheit behaupten, daß es aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt, und zwar aus dessen erster Hälfte, also aus einer Zeit, in der dieses Bauwerk noch ein Nonnenkloster war. Nun habe ich eine alte Chronik gefunden, in der gerade in dieser Zeit des Klosters recht oft und recht wenig freundlich gedacht wird. Sie wissen, daß man damals manchen Klöstern die sonderbarsten Dinge nachsagte. So weiß auch meine Chronik über dieses Kloster sehr viel zu berichten, aber im ganzen wenig Erbauliches. Hatte unsere Vermutung recht, daß das aufgefundene Papier einen Plan vorzustellen habe, so mochte er wohl irgendwelche Geheimnisse des alten Bauwerks bezeichnen und dann absichtlich verwirrt worden sein, um anderen unverständlich zu erscheinen. Eine andere Erwägung stärkte mich in meiner Vermutung. Das Portal, mit dessen Abtragung Sie heute begonnen haben, befand sich an einem der Innentrakte?«

»Jawohl. Es ziert die Einfahrt des Verbindungsflügels zwischen dem nördlichen und dem südlichen Trakt, und zwar die gegen den sogenannten Dreifaltigkeitshof liegende Front.«

»Gut, und es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß dieses Portal mit der Spitze bis in die Höhe des zweiten Stockwerkes reicht, so daß einzelne der Figuren, das heißt die Köpfe der Statuen ohne Schwierigkeiten aus den Fenstern dieses zweiten Stockes zu erreichen sind.«

»Gewiß. Wir können es uns ja ansehen.«

»Bleiben Sie nur, es ist ganz sicher so. Die Köpfe einiger Figuren, darunter auch der des heiligen Jakobus, sind also aus den Fenstern des zweiten Stockes ohne Mühe abzunehmen, wenn sie vom Rumpfe getrennt sind. Man kann ganz gut in einer geschickt angebrachten Vertiefung ein gefährliches Papier verstecken.«

»Sie meinen also! …«

»Habe ich Ihnen nicht gleich gesagt, daß es kein frischer Bruch sei? Nun war ich also vollkommen davon überzeugt, daß sich hinter dem wirren Gekritzel unseres Planes ein Geheimnis verberge. Wie aber sollte ich dahinter kommen? Ich mußte mir alles wohl überlegen, bevor ich irgendein chemisches Reagens anwendete, denn die Gefahr war nicht ausgeschlossen, daß ich alles damit verdarb. Als Urkundenforscher habe ich oft Gelegenheit gehabt, die vielfältigen und sinnreichen Geheimmittel des Mittelalters zu bewundern. Ich kenne viele seiner Rezepte für Geheimschriften. Die sympathetischen Tinten spielen unter diesen eine große Rolle. Und die einfachste Art der sympathetischen Tinten ist die, deren Züge nach dem Trocknen wieder unsichtbar werden und erst hervorkommen, wenn man das Papier erwärmt. Hier konnte von dieser Art keine Rede sein, denn unser Plan war ohnehin schon genug verkritzelt. Aber war nicht das Gegenteil möglich? daß die unwichtigen und verwirrenden Linien beim Erwärmen verschwanden und nur die wichtigen Linien stehen blieben. Das war ein Versuch, den ich machen konnte, ohne Schaden für unseren Schatz befürchten zu müssen. Nun, mein lieber Freund, ich habe ihn gemacht, und er ist vollkommen gelungen. Wollen Sie einmal zusehen?«

Doktor Holzbock zog eine kleine Taschenlampe hervor und entzündete sie. Dann legte er seinen Plan an den Zylinder an. Wir warteten schweigend in der hereinbrechenden Dämmerung, die nur von dem furchtsamen Licht der kleinen Lampe gestört wurde. Nach einigen Minuten glaubte ich zu beobachten, daß einige der Linien blässer wurden, sie verschwanden endlich ganz und es blieb nur eine Anzahl von ihnen zurück.

»Ein regelrechter Plan, ein Grundriß,« sagte ich.

»Es wird nun Ihre Aufgabe sein, ihn zu lesen.«

In einem Augenblick hatte ich mich zurechtgefunden. »Hier haben wir den Dreifaltigkeitshof, hier ist der Kreuzgang, hier das bezeichnet die Kirche und von der Sakristei aus geht … was ist das? diesen Linien hier entspricht kein Bauwerk, das muß … ja, das ist ohne Zweifel ein unterirdischer Gang, der aus dem Kloster führt.«

Der Archivar war vor Freude außer sich, daß sich seine Vermutungen bestätigten. Und auch ich war erregt; denn es schien mir, als müsse diese Entdeckung auf irgendeine Weise mit meinen nächtlichen Erlebnissen in Zusammenhang stehen. Schon war ich im Begriff, ihm davon zu erzählen, als mich eine eigentümliche Scheu zurückhielt. Ich habe mich immer davor gehütet, von Angelegenheiten, die erst im Beginn der Entwicklung stehen, viel zu sprechen; denn ich fürchtete die Wirkungen des gesprochenen Wortes. Das Wort ist mächtiger, als unser Alltagsverstand denkt, und es beeinflußt die Zukunft auf eine geheimnisvolle und unfehlbare Art. Aber Doktor Holzbock mußte doch etwas von den Vorgängen in mir bemerkt haben, denn er fragte mich fast besorgt: »Was ist Ihnen, Sie sehen so merkwürdig drein?«

Aber ich zog ihn, ohne zu antworten, in die Sakristei. Hier begann ich nach den Maßen, die der Plan angab, die Wände abzusuchen. Ich fand, daß dort, wo der Beginn des unterirdischen Ganges sein sollte, ein ungeheurer Kasten an der Wand stand. Es war einer jener riesigen Kästen, die einen ganzen Reichtum an Meßgewändern und Kostbarkeiten verbergen, ein gut gearbeitetes Stück alter Handwerkskunst. Ein Ungetüm, schwer wie ein Felsblock, mit reichen Schnitzereien verziert, ein Koloß von dem Boden bis zur Decke. Der Archivar setzte seine Entstehungszeit in das sechzehnte Jahrhundert, Wir waren beide davon überzeugt, daß sich der Eingang hinter diesem Kasten befinden müsse, aber wir waren uns auch darüber klar, daß wir das Ungeheuer nicht von der Stelle bewegen konnten, wenn wir den geheimen Mechanismus nicht kannten. – »Genug für heute,« sagte Doktor Holzbock, und er wußte mich zu überreden, daß ich nach Hause ging, obzwar ich anfangs beabsichtigte, in der Sakristei die Nacht über zu bleiben, als hätte ich irgendeine Kostbarkeit vor Dieben zu bewachen.

Unser Fund und die Vermutungen, die wir an den Plan knüpften, beschäftigten mich so sehr, daß meine Frau behauptete, ich sei ganz verstört. Sie setzte mir so lange zu, bis ich ihr versprach, schon früher, als ich es mir vorgenommen hatte, um meinen Urlaub anzusuchen. Obzwar ich entschlossen war, diese Nacht nicht wieder außer dem Bett zu verbringen, zwang mich ein sonderbares Gefühl, in dem sich Angst mit Neugier mischte, aufzustehen und die dunkle Stunde unten auf der Gasse zu erwarten.

Es schlug zwölf Uhr, und gleich darauf hörte ich den furchtbaren Schrei. Das Geräusch laufender Menschen kam näher, und die Verfolgung ging an mir vorüber, genau so wie in der vorigen Nacht. Diesmal sah ich deutlich, daß das Weib ein langes, nonnenartiges Gewand trug, das über der Brust ein wenig offen stand, als habe sie es eilig umgeworfen. Einen Augenblick kehrte sie mir ihr Gesicht zu, ein blasses, schönes Gesicht, in dem dunkle Augen ein seltsames Licht aussandten. Wieder war ich gezwungen, laufend der Jagd zu folgen, und wieder verschwand das Ganze bei der den Trümmerplatz umgebenden Planke. Ich glaubte aber deutlich gesehen zu haben, daß das verfolgte Weib die Türe aufriß und den Bauplatz betrat.

»Haben Sie heute wieder nichts gesehen?« schrie ich den Nachtwächter an. Der Mann zog sich ängstlich vor mir zurück und erklärte, er habe nichts gesehen. »Ich weiß es aber, daß sie hier hereingekommen ist. Sie müssen eine Frau gesehen haben.« Als der Nachtwächter dabei beharrte, keine Frau und überhaupt keinen anderen erblickt zu haben, stieß ich ihn beiseite und begann zu suchen. Ohne mir darüber Rechenschaft zu geben, warum ich eigentlich so darauf entbrannt war, der Sache auf den Grund zu kommen, kletterte ich alle Trümmerhaufen ab, untersuchte alle Mauerreste und glaubte hundertmal in den tiefen Schatten eine Frau in einem langen, grauen, nonnenartigen Kleid zu sehen. Einmal wandte ich mich plötzlich um, weil es mir war, als folge sie mir im Mondenschein nach, mit leisen Tritten, so dicht hinter mir, daß ich ihr Atmen hören konnte. Ich öffnete die Kirche mit dem Schlüssel, den ich heute abend in einer dunklen Absicht in der Tasche meines Rockes gelassen hatte. In diesem Augenblick überdachte ich nicht, daß sie doch keinesfalls in die verschlossene Kirche geflüchtet sein konnte. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, daß kein lebendes Wesen in der Kirche war, betrat ich die Sakristei und zog meinen Plan hervor. Hell und grün lag der Mondschein auf dem alten Schrank, daß die Schnörkel wie aus Bronze gearbeitet schienen. Die schönen Schnitzereien sprangen aus einem braungoldenen Grund hervor und der Übermut der vielen Putten schien in dem Licht lebendig zu werden. Ein Bild über dem alten Schrank, das ich bei Tage nicht beachtet hatte, fiel mir auf. Es war ein altes Gemälde, von Weihrauch und Kerzenflammen geschwärzt und nur das Gesicht der Heiligen, das es darstellen mochte, trat wie hinter den Schatten der Jahrhunderte hervor. Oder war es nicht das Gesicht einer Heiligen? War es nicht etwa das Porträt einer Frau, die einmal in diesen Mauern gelebt hatte! Es schien mir belebter und persönlicher als ein Heiligenbild, und jetzt im grünen Mondlicht war es mir, als habe ich dieses Gesicht schon einmal gesehen. Diese dunkeln, flammensprühenden Augen brannten sich in die meinen.

Ich zitterte in einer unerklärlichen Furcht. Und plötzlich kam mir ein banger Gedanke. Man hat oft das Empfinden, als sei einer dieser Gedanken, die uns so plötzlich überkommen, nicht in uns geboren, als sei er gar nicht unser Eigentum, als komme er irgendwie von außen her, als werde er uns mitgeteilt, genau so, wie der Gedanke eines Fremden. Dieses Empfinden war so stark, daß ich den Eindruck hatte, der Gedanke sei neben mir ausgesprochen worden, als habe mich jemand gewarnt … mit einer flüsternden Frauenstimme gewarnt. Jawohl, gewarnt … denn der Sinn dieses fremden Gedankens war eine Warnung. Es war, als ob mir jemand zuflüsterte, ich sollte mich hüten, den Gang aufzudecken, der auf meinem Plan verzeichnet war. Ich wollte den Gedanken abschütteln und versuchte, seine Entstehung aus der absonderlichen Stille, aus diesem wie mit Weihrauch gesättigten Schweigen begreiflich zu finden. In dem alten Mauerwerk der Sakristei, das durch die Erschütterungen der Arbeit, durch die Zerstörung der angrenzenden Gebäude beunruhigt worden sein mochte, rieselte es unaufhörlich. Das Mondlicht schien von diesem Geriesel erfüllt, als bestehe es aus Körnern eines silbernen Sandes, der durch die Sanduhr der Zeit gleitet. Je mehr ich mich bemühte, meine Aufmerksamkeit mit diesen Beobachtungen der Umgebung zu beschäftigen, desto hartnäckiger kam die Warnung wieder: ich sollte mich hüten, meinen Plan zu verfolgen, ich würde sonst ein schweres Unglück auf mich herabziehen. Immer wieder versuchte ich, mich krampfhaft auf die wunderlichen Spiele des Mondlichtes hinzulenken und immer eindringlicher und bohrender wurde der fremde Gedanke. Einen Moment lang war es mir, als lege mir jemand die Hand auf die Schulter und flüsterte nahe bei meinem Ohr. Und dann spürte ich ganz deutlich, wie ein fremder Wille über den meinen Herr werden wollte. Ich sah auf und blickte in die dunkeln, flammensprühenden Augen des Bildes über dem Schrank –

Da kam es mir mit einemmal ganz schmerzhaft klar zum Bewußtsein: vorhin, als die Jagd an mir vorbeiging, hatte ich diese Augen schon gesehen, es waren die Augen der verfolgten Frau. Obzwar ich nicht furchtsam bin, erschrak ich so sehr, daß mich die Besinnung verließ. Ich schrie nicht auf und lief nicht davon, aber ich tat etwas, was viel ärger war: langsam, die Augen fest in denen des Bildes, zog ich mich Schritt vor Schritt zurück, als gelte es einer wirklichen Gefahr zu entkommen. Dabei hielt ich den großen Kirchenschlüssel fest in der Hand, wie man bei einem Überfall von Räubern das nächste Gerät als Waffe benutzt. Endlich war ich in der Kirche und warf die Tür der Sakristei zu. Es widerhallte unter den in Dunkelheit verlorenen Wölbungen. Die Bilder und Statuen schienen ihre Stellungen verändert zu haben und mit höhnischen Grimassen auf mich herabzusehen.

Rasch verließ ich die Kirche.

Der Rest der Nacht war schlaflos bis in den Morgen hinein. Obzwar ich erst in der Dämmerung einschlief, erwachte ich dennoch bald; denn ich wollte sofort mit der Arbeit in der Sakristei beginnen lassen. Trotz der nächtlichen Warnung war ich entschlossen, den Gang aufzudecken. Meine Furcht war am Tage keine Macht, die mich bestimmen konnte.

Als ich den Bauplatz betrat, fand ich dort bereits den Archivar, der von der gleichen Ungeduld wie ich hergetrieben worden war. Ich wählte eine Anzahl geschickter Arbeiter aus und gab an, wie sie es anfangen sollten, den ungeheueren Schrank von seiner Stelle zu rücken. Das Bild über dem Schrank, das ich mit einigem Bangen betrachtete, war ein gewöhnliches, unter einer dicken Schmutzkruste verborgenes Dutzendgemälde, von dem man wenig mehr als einen bleichen Fleck – das Gesicht der dargestellten Heiligen – deutlicher erkennen konnte. Es war nicht im geringsten unheimlich, und ich wollte eben den Archivar um seine Meinung über das Bild befragen, als er mich ansprach.

»Hören Sie,« sagte er, »es muß recht hübsch in diesem Nonnenkloster zugegangen sein. Gestern, spät abends, nahm ich noch die Chronik vor, und ich denke, daß uns dieser Gang einige Dinge von Interesse verraten wird. Ich glaube, ich habe Ihnen bereits einige Andeutungen darüber gemacht, was die Chronik von diesem Kloster berichtet. Gestern habe ich mir noch einmal alles durchgelesen, weil ich hoffte, einen Anhaltspunkt für unsere Forschungen zu gewinnen. Die Scheu der Nonnen, ihr Kloster in Verruf zu bringen, war hier einer wüsten Schamlosigkeit gewichen. Man gab sich ganz offen den schlimmsten Ausschweifungen hin, und die Chronik berichtet, daß oft genug Gläserklirren und freches Gelächter die ganze Nacht hindurch die Nachbarschaft empörte. Es muß eine Art von Wahnsinn gewesen sein, eine Raserei, die das ganze Kloster angesteckt hatte und die Nonnen zu den wildesten Orgien anstachelte. Oft genug sahen die Bürger auch die Kirche selbst erleuchtet, und an dem Lärm war zu hören, daß man das Gotteshaus zur Stätte des Gelages erkoren hatte. Als Teilnehmer an diesen Orgien wurden die Geistlichen der Stadt herangezogen, und wenn sie anfangs nur bei Nacht und heimlich in das Kloster Einlaß fanden, so kamen sie später ganz offen auch am hellen Tage. Man sah die Männer oft wankend, mit gedunsenen Gesichtern das Haus verlassen, und man sah betrunkene Nonnen in den Höfen und im Klostergarten herumtaumeln. Den frommen Bürgern, denen dieses Treiben ein Greuel war, ist es nicht zu verdenken, daß sie die Anzeige beim Bischof machten. Der Bischof kam zur Untersuchung selbst herbei, aber er fand nichts als eine Schar frommer Nonnen, die in diesem Kloster ein beschauliches, dem Gebet geweihtes Leben führten, wie es sich für Bräute Christi schickt. Und eine Umfrage bei der Geistlichkeit der Stadt ergab nur die Bestätigung dieser Beobachtung. Die verleumderischen Anzeiger wurden vor ein Gericht gestellt, das sie unter dem Druck der bischöflichen Autorität zu harten Strafen verurteilte. Als der Bischof der Stadt den Rücken gekehrt hatte, begann das unverschämte Treiben von neuem. Aber es wagte niemand mehr, eine Anzeige zu machen, aus Furcht, selbst in Strafe zu verfallen. Unter allen den lockeren Nonnen war Schwester Agathe die ärgste. Ihr genügten die im Kloster veranstalteten Orgien bald nicht mehr. Es muß ein ganz seltsames Weib gewesen sein, von einer entsetzlichen, teuflischen Brunst, die alles an sich riß und vernichtete. Sie muß die Unersättlichkeit eines Raubtieres besessen haben; denn die Chronik erzählt von ihr, daß sie oft auf heimlichen Wegen das Kloster verließ und sich nachts in der Stadt herumtrieb. In den Frauenhäusern und den Spelunken der Vorstädte war sie zu Gast und saß unter dem Gesindel, unter den Spielern und Trunkenbolden, als ob sie zu ihnen gehöre. Dabei war sie von adeliger Geburt, aus einer der vornehmsten Familien des Landes. Alle durch Generationen sorglich verhehlten Laster ihres Geschlechtes waren in ihr in widerliche Erscheinung getreten. Wenn ihr ein junger Mann gefiel, so umklammerte sie ihn und ließ ihn nicht mehr frei, wüst und wild wie eine Bacchantin riß sie ihn zu sich herab. Man kannte sie bald in der ganzen Stadt und sprach von ihr wie von einem Alpdrücken, einem Gespenst. Man nannte sie nur die ›arge Nonn'‹. Nun geschah es, daß die Luftseuche in die Stadt verschleppt wurde. Auch Agathe wurde von ihr ergriffen, aber sie war nicht imstande, ihren Trieben Einhalt zu tun und setzte ihr Leben fort. Nach wie vor tanzte sie in den Schenken, saß unter dem Gesindel und fiel wie ein Vampyr junge Männer auf der Straße an.«

»Was haben Sie?« unterbrach sich Doktor Holzbock, »Sie sehen so krank aus.«

Ich wehrte ab und bat ihn, einen Augenblick mit seiner Erzählung einzuhalten, um den Fortschritt der Arbeiten zu prüfen. Rings um den ungeheuren Schrank war der Fußboden aufgerissen, an den Wänden war der Mörtel abgekratzt, aber es war nicht gelungen, den Schrank auch nur um eine Linie zu verrücken. »Ich glaub' halt,« sagte der Polier, »der Kasten is in der Wand verankert.«

Es konnte nicht anders sein, aber dann mußte man ihn gleich damals mit der Wand verbunden haben, als man die Sakristei anbaute. Dann war entweder unser Plan eine Mystifikation oder –

Wir sahen uns an, und der Archivar sprach meinen Gedanken aus: »Der Weg geht durch den Schrank hindurch.« Ich war aufgeregt, außer mir vor Ungeduld über den neuen Aufenthalt und wütend über so viel Hindernisse.

»Wie sollen wir aber herausfinden, wo man hindurchging? Wir müßten den ganzen Kasten in Stücke brechen und das dürfen wir nicht, da er Kircheninventar ist. Was sollen wir tun?« Der Archivar war fast ebenso ungeduldig wie ich.

Während Doktor Holzbock nachsann, suchte ich den ganzen Kasten ab, drückte auf alle vorspringenden Ornamente, zog alle Schubfächer auf, sofern sie nicht versperrt waren und maß alle Dimensionen ab, um vielleicht aus irgendeinem seltsamen Verhältnis auf verborgene Türen schließen zu können.

»Geben Sie sich keine Mühe,« sagte der Archivar, »dieser Kasten, der sicher ganzen Generationen von Neugierigen sein Geheimnis vorenthalten hat, wird es auch uns nicht ohne weiteres verraten. Wir müssen in den Archiven suchen, vielleicht …«

Ich hörte nicht weiter zu; denn, indem ich mit den Augen die Höhe des Kastens abschätzte, war mein Blick auf das darüberhängende Bild gefallen. Und plötzlich war es mir, als würde mir dieses Bild den Schlüssel geben müssen. Zur Verwunderung des Archivars befahl ich, eine Leiter an den Schrank zu legen und kletterte hinauf. In so großer Nähe des blassen Gesichtes, Auge in Auge mit ihm, wollte das Grauen der Nacht wieder über mich kommen. Aber ich bezwang mich und begann, das Porträt zu untersuchen. Die dicke Schmutzschicht ließ selbst in dieser Nähe wenig mehr erkennen, als daß die Dargestellte ein nonnenartiges Gewand trug, während der Kopf von Bändern oder Hauben frei war und von Haaren umringelt schien. Seltsam genug waren diese Haare, eher wie Schlangen durcheinandergewirrt, wie man wohl den Kopf einer Medusa malen mochte. Aber der schlechte Zustand des Gemäldes ließ kein sicheres Urteil zu. Um den Hals trug sie an einer Schnur einen Schmuck. Kein Kreuz, wie man es sonst wohl bei Nonnen finden mag, sondern eine Art Brosche, eine bloße Verzierung, ein Ornament. Es sah wie eine Lilie aus, die in ein Polygon eingeschlossen ist. Es war mir, als hätte ich dieses Ornament auch unten auf dem Kasten gesehen, die Lilie bald in einem Sechseck, bald in einem Rhombus und dann wieder in einem Fünfeck wie hier.

»Doktor,« rief ich, indem ich die Leiter herabstieg, »ich glaube, ich bin dem Rätsel auf der Spur.«

»Und die Spur haben Sie da oben auf dem Bild gefunden?«

»Ich glaube es. Die Lilie im Fünfeck ist der Schlüssel. Suchen wir.«

Obzwar ich ganz genau wußte, das Ornament gesehen zu haben, war ich dennoch so verwirrt, daß ich es nicht sogleich wiederfand. Wie in einem Nebel verschwammen mir die Bestandteile des Schrankes und vergebens kämpfte ich gegen die Müdigkeit an, die ich mir jetzt, im Augenblick der Entscheidung nicht zu erklären wußte. Es war ungefähr so, wie es einem Erfrierenden zumute sein muß. Da rief der Archivar neben mir aus: »Hier ist eine Lilie im Fünfeck. Und was nun?«

Meine Spannkraft war plötzlich wieder zurückgekehrt, als stünde ich nun vor einem Unabwendbaren, wo kein Zweifel über den Ausgang mehr steht. Ich untersuchte die Lilie, während uns die Arbeiter neugierig umstanden. Es war mir, als gebe das Holz unter meiner Hand nach, ich drückte mit aller Kraft – da ging ein Ächzen durch den alten Schrank, ein tief aus dem Innersten kommendes Ächzen und ein schmaler Spalt zerschnitt den Schrank von oben bis unten. Wir stemmten die Schultern an, aber die rostigen, jahrhundertelang nicht gebrauchten Angeln gaben nur widerwillig nach. Ruckweise mußten wir die Tür öffnen und hatten so Zeit, den sinnreichen Geheimmechanismus zu bewundern. Äußerlich folgte auch dieser Teil des Schrankes der Breitengliederung, beim Druck auf die Lilie aber vereinigten sich die scheinbar getrennten Flächen zu einer Tür. Im selben Maße, in dem sich diese öffnete, schoben sich die Fächer des Schrankes nach links und rechts auseinander und wir standen vor der Hinterwand des Kastens. Hier war es nicht schwer, den Knopf zu finden, auf den wir drücken mußten, um auch diese Tür offen zu haben.

Die dunkle Mündung eines Ganges lag dahinter. Ich wollte mich hineinstürzen, aber der Archivar hielt mich zurück. »Geduld, wir müssen erst erproben, ob die Luft da drinnen atembar ist.« Eine Kerze wurde an einen Stock gebunden, angezündet und in den Gang gehalten. Sie brannte mit einer wilden Flamme, das geschmolzene Stearin fiel in großen Tropfen in die Dunkelheit.

Wir betraten den Gang.

Einige Stufen hinab, dann geradeaus, dann wieder einige Stufen hinab und geradeaus. »Ich glaube, wir befinden uns auf dem geheimen Weg der ›argen Nonn'‹,« flüsterte der Archivar. Er glaubte es bloß, ich war dessen gewiß. Trotzdem die Luft hier verhältnismäßig frisch war, war mir doch sehr beklommen zumute.

»Marandjosef,« sagte plötzlich der Arbeiter, der mit der Kerze voranging und blieb stehen. Die Wände sprangen hier in die Dunkelheit zurück, der Gang mündete in eine Art Gruft, in deren Mitte auf Holzgestellen vier hölzerne Särge standen. Ganz einfache, schmucklose Särge, deren Form und Zuschnitt gleichwohl um einige Jahrhunderte zurückwies. Der Archivar hob einen der Deckel ab, eine Nonne lag darin mit einem mumienartig eingetrockneten Gesicht, die Hände über der Brust gekreuzt, die Kleider waren zerfallen, so daß an manchen Stellen das Fleisch, das der Verwesung widerstanden hatte, durch die Löcher sichtbar wurde.

Wir hoben auch von den übrigen Särgen die Deckel ab. In dem vierten Sarge lag Agathe, die »arge Nonn'«. Ich erkannte sie sofort, es war das Weib, das nachts verfolgt von einer Schar wütender Männer an meinem Haus vorüberlief, es war das Urbild des Gemäldes in der Sakristei.

Da sagte der Archivar neben mir: »Wissen Sie auch, daß hier unter diesen Leichen auch Schwester Agathe, die ›arge Nonn'‹ sein dürfte?«

»Ich weiß es; diese dort ist es. Ich erkenne sie wieder. Sehen Sie nur, wie viel besser sie aussieht als die andern. Man merkt, daß die andern wirkliche Leichname sind, daß aber diese …«

Doktor Holzbock faßte meine Hand und sagte: »Wir wollen trachten, bald wieder aus diesem Gange herauszukommen, die Luft hier unten scheint doch gefährlich zu sein. Vorwärts!«

Es ging nicht mehr weit vorwärts. Nach dreißig Schritten mußten wir haltmachen. Ein Teil der Decke war hier eingestürzt und hatte den Gang verschüttet. Nach meiner Berechnung befanden wir uns hier unter der Straße und ich sah, daß der Einsturz erst vor kurzem erfolgt sein mußte, wahrscheinlich infolge der Erschütterung durch die schwer beladenen Lastwagen, die den Schutt des alten Gebäudes wegschafften. Da die Gefahr bestand, daß noch andere Teile nachstürzen konnten, gab ich den Auftrag, augenblicklich einen Schacht von der Straße aus durchzustoßen, alles genau zu untersuchen und alle Vorkehrungen zu treffen, um einen Unglücksfall zu verhüten. Dann kehrten wir durch die Gruft zurück. Im Vorbeigehen überzeugte ich mich davon, daß meine Beobachtungen richtig gewesen waren. Sie sah wirklich anders aus als die drei andern. Fast als ob sie noch lebte. Ihre Haut war noch gespannt, hatte einen Schimmer von Farbe und ihre glatte Stirn leuchtete. Sie war noch immer schön, und es schien mir im Licht der Kerze, als blinzle sie unter den Augenlidern hervor, als verfolge sie unser Tun mit listigen, verstohlenen Blicken.

Als wir in der Sakristei angelangt waren, mußte ich mich niedersetzen. Ich war atemlos und meine Beine zitterten.

»Ich muß Ihnen erklären,« sagte der Archivar, »wie ich zu der Behauptung komme, daß eine der Mumien dort unten Schwester Agathe ist. Meine Chronik gibt die Erklärung dafür in der Fortsetzung ihrer Geschichte dieses Klosters. Die Seuche, deren Priesterin Agathe war, griff um sich und endlich brach eine furchtbare Empörung der Bürgerschaft aus. Man lauerte der Nonne auf und wollte sie erschlagen. Aber es war, als ob die Gefahr ihrer Lust nach Abenteuern noch einen Ansporn gegeben hätte. Sie trieb es noch toller als vorher, und es ist seltsam, daß sie eine Menge von Beschützern fand, von jungen Männern, die sie liebten, trotzdem sie wußten, daß sie von ihr vergiftet wurden. Ich sagte schon, daß sie ein fürchterliches Weib gewesen sein muß. Ihre Macht über die Leiber war schrankenlos. Eines Tages aber zog ein bewaffneter Haufe vor das Kloster und verlangte die Auslieferung der Schwester Agathe. Die Wut des Volkes war aufs Äußerste gestiegen, und man drohte, das Kloster zu stürmen und anzuzünden, wenn die ›arge Nonn'‹ nicht herausgegeben würde. Da sah sich die Äbtissin gezwungen, mit den Aufrührern zu verhandeln. Sie versprach, Agathe zu bestrafen und erbat sich eine Frist von drei Tagen. Den Besonneneren unter den Stürmen gelang es, die Annahme dieses Anerbietens durchzusetzen. Nachdem die drei Tage abgelaufen waren, erschien der Haufe wieder vor dem Kloster und vernahm von der Äbtissin, daß Schwester Agathe plötzlich erkrankt und gestorben sei. Die Chronik läßt es unklar, ob wirklich ein Zufall der Äbtissin zu Hilfe kam oder ob man, um die Bürger zu beruhigen einen Mord beging. Die Zeiten waren danach angetan, daß man das letztere mit ebensoviel Wahrscheinlichkeit annehmen kann als das erstere. Aber die erhoffte Beruhigung trat nicht ein. Trotzdem ein Begräbnis stattgefunden hatte und ein Sarg in die Erde versenkt worden war, trotzdem man sich davon überzeugen konnte, daß ein Stein mit dem Namen der ›argen Nonn'‹ auf diesem Grabe errichtet worden war, tauchten Gerüchte auf, Schwester Agathe lebe noch, wie es früher häufig vorkam, daß man an den Tod sehr verruchter oder sehr geliebter Personen nicht glauben konnte, so war es auch mit ihr. Man wollte die Nonne da und dort noch gesehen haben, man berichtete von den Streifzügen, die sie unternahm, auf denen sie junge Männer überfiel, und endlich war man davon überzeugt, daß die Äbtissin eine Komödie gespielt habe, um die drohende Gefahr abzuwenden. Andere, die geneigt waren, den Tod der Schwester Agathe zu glauben, fanden, daß es eine Entweihung der heiligen Friedhofserde sei, ihren Leichnam neben die Körper braver und frommer Bürger zu betten. Die Gläubigen und die Mißtrauischen vereinigten sich in dem Verlangen, daß das Grab geöffnet werden müsse, um sich zu überzeugen, daß die Nonne darin sei. Es muß ein furchtbarer Haß gewesen sein, der dieses Weib verfolgte. Als man im Kloster von der Absicht der Wütenden erfuhr, nahm man zur Nachtzeit den Leichnam aus seinem Grab und brachte ihn in das Kloster zurück. Meine Chronik schildert die ganze Geschichte so, als ob es sich um einen ernsthaften Aufstand gehandelt habe, der die Bürger fortriß, wieder vor das Kloster zu ziehen, als sie das Grab leer fanden. Man zeigte ihnen von einem Fenster aus den Leichnam der Nonne. Steine und Holzstücke flogen gegen die Tote, ein Schuß wurde gegen sie abgefeuert. Und die Chronik fügt hinzu, daß unter den Empörten die jungen Männer die Empörtesten waren, die sie geliebt hatten, als sie noch lebte. Da man im Kloster erkannte, daß die Schwester Agathe auch durch den Tod nicht vor dem Haß ihrer Verfolger geschützt war, behielt man den Leichnam und setzte ihn in einer Gruft bei, in der man sonst solche Nonnen verbarg, die man aus irgendeinem Grunde getötet hatte. Diese Gruft haben wir heute gefunden. Sie liegt auf dem Wege, auf dem sie sonst zu ihren Abenteuern ausging.«

»So ist es,« sagte ich.

»Und nun müssen Sie mir sagen, wie Sie auf den Gedanken kamen, daß wir die ›arge Nonn'‹ gefunden haben. Sie hatten ja noch nicht den Schluß meiner Geschichte gehört? Und wie Sie gerade die eine der Mumien als Schwester Agathe bezeichnen konnten? Und was Sie darauf brachte, gerade jenes Bild dort um ein Zeichen zu befragen, wie wir weiterkommen sollten?«

Was sollte ich dem Archivar sagen? Konnte ich ihm von meinen nächtlichen Erscheinungen erzählen? Ich suchte ihn durch eine Gegenfrage auf die Spur zu bringen: »Haben Sie nicht eine Ähnlichkeit zwischen diesem Bild und der Toten dort unten gefunden?«

»Nein,« sagte Doktor Holzbock und betrachtete das Bild, das jetzt im hellen Vormittagssonnenschein recht deutlich sichtbar war, »übrigens müßte man es ganz in der Nähe betrachten« … und er legte die Leiter an, die noch von vorher in der Ecke lehnte. Aber er war nicht imstande, das Bild von der Wand herabzunehmen. Ich – ich – weigerte mich, ihm zu helfen. Ich rief zwei Arbeiter zu seiner Unterstützung herein und verließ ihn, denn ich konnte mich des abergläubischen Gedankens nicht erwehren, daß dieses Bild besser an der Wand bleiben sollte. Wieder gewannen die Erscheinungen meiner Nächte auch am hellen Tage in solcher Weise über mich Gewalt. Ich sah mich in eine sehr absonderliche Geschichte verstrickt und ich fühlte mit Grauen, daß ich mich nicht befreien konnte. Es lag wie Schlingen um mich. Als ich im hellen Sonnenschein, im Staub und Lärm der Arbeit draußen stand, faßte ich den Entschluß, unbekümmert um das, was nach mir geschah, mich morgen krank zu melden und einen Urlaub anzutreten. Aber vorher wollte ich noch diese Nacht meine Beobachtungen zu Ende bringen; denn ich war überzeugt, daß eine Art Entscheidung fallen mußte.

Nach einer Viertelstunde kam der Archivar mit seinen beiden Arbeitern und erklärte, daß es auf keine Weise gelungen sei, das Bild von der Wand herabzubringen, wenn man nicht etwa den Rahmen zerbrechen oder die Leinwand herausschneiden wollte. »Zucken Sie nicht mit den Achseln,« sagte er, »Sie tun, als ob Sie mehr von allen diesen merkwürdigen geheimnisvollen Dingen wüßten, als meine Chronik. Sie werden mir noch Ihre Ansicht über alles das sagen müssen, denn ich beabsichtige, über unsere Funde einen Aufsatz für die ›Blätter des Geschichtsvereins‹ zu schreiben.«

Damit ging er und hinterließ mir den Eindruck eines sehr braven, gelehrten, von romantischen Neigungen nicht sehr geplagten Mannes.

Dieser Tag war mir endlos. Alle Stunden hatten graue Gesichter und schlichen an mir vorüber, wie gelangweilte, träge Schatten. Als der Abend kam, merkte meine Frau meine Aufregung, und ich konnte sie nur durch das Versprechen beruhigen, mich schon morgen der Arbeit zu entziehen. Es wurde elf Uhr und noch immer brannte das Licht am Bett meiner Frau. Gerade heute schien sie nicht einschlafen zu können, und ich war außer mir vor Angst, daß mein Vorhaben vereitelt werden könnte. Endlich, es ging schon gegen zwölf, beugte sie sich noch einmal über mich, und da ich tat, als schlafe ich, löschte sie mit einem Seufzer das Licht aus und war zwei Minuten später nicht mehr imstande, zu hören, wie ich mich leise erhob und das Zimmer verließ. Eben, als ich vor die Haustür trat, schlug es auf dem Turm der alten Klosterkirche zwölf Uhr. Ich hörte den Schrei, dann das Geräusch laufender Menschen und nun flog das Weib an mir vorüber – es war Agathe, die furchtbaren, glimmenden Augen sahen mich an – dann kam die Meute der Verfolger.

Ich raste hinterdrein.

Es war wieder dasselbe traumhafte Gleiten und Schweben, in dem mir die Häuser links und rechts wie steile Wände erschienen, die unseren Lauf bestimmten. Nur zweierlei sah ich mit voller Deutlichkeit. Die Gruppe der Verfolger vor mir und den Nachthimmel über uns, der von vielen einzelnen weißen Wolkenschollen bedeckt war, wie ein Fluß mit Eisschollen zur Zeit der Schneeschmelze. In den Spalten und Rissen der Wolkenschollen tauchte von Zeit zu Zeit die Mondsichel auf, ein Boot auf dem dunkeln, abgründigen Wasser des Himmels.

Nun ging die Jagd neben der Planke des Trümmerplatzes hin, und nun verschwanden die Gestalten vor mir. Aber es war kein unschlüssiges Hin- und Herlaufen der Verfolger wie sonst, sondern sie schienen wie von einem Trichter verschlungen. Es war mir, als wirbelten sie durcheinander und empor wie eine Rauchsäule und würden dann von der Erde eingesogen. Da stand ich auch schon vor dem Schacht, der im Laufe des Tages auf meinen Befehl gegraben worden war. Die ausgehobene Erde lag um seine Mündung, einige Bretter und zwei rote Laternen gaben den Vorübergehenden eine Warnung. Aber die Bretter über der Öffnung, die zu der Gruft hinunterführte, waren zur Seite geworfen. Ich riß die Türe des Zaunes auf und lief – ohne erst den Nachtwächter zu suchen, der auf irgendeinem anderen Teil des ausgedehnten Platzes sein mochte – zwischen den Schutthaufen hindurch dem großen Hof zu, der noch durch Reste der umgebenden Gebäude bezeichnet war. Ich weiß nicht, welche Stimme mir sagte, daß ich hier sein müsse; es war ein Zwang, dem ich mich nicht entziehen konnte. Kaum hatte ich ein Versteck hinter dem Rest eines großen Laubenbogens gefunden, als ich schon den Hof von Gestalten erfüllt sah.

Was ich nun erblickte, ist fast unmöglich zu beschreiben. Es war alles wie im Traum und doch vollkommen deutlich. Die Gestalten kamen von der Kirche her, die ich im Mondlicht vor mir sah. Ob sie aber durch die Türe kamen, die weit offen stand, oder ob sie aus den Wänden quollen, vermag ich nicht anzugeben. Es schien mir nur, als wären ihrer so viele, daß sie nicht auf einmal hätten aus der Türe kommen können. Das Seltsamste aber war, daß ich sie alle in lebhaftester Bewegung sah, in einem Durcheinander von Gebärden, daß ich sah, wie sie aufeinander einschrien, wie sie sich zuriefen, sich zur Seite stießen und unter wilden Gestikulationen vordrängten, ohne daß ich mehr vernahm, als das Geräusch vieler Schritte. Keines der Worte, die ich doch sprechen sah, wurde laut, keiner der Rufe drang bis zu mir. Ich hatte den Eindruck, als sähe ich die Vorgänge auf einer Bühne, von der ich durch eine dicke, für den Schall undurchlässige Glaswand getrennt war, so daß ich die Handlung bloß sehen, aber keinen Ton hören konnte. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, daß die Akteure dieser aufgeregten Szene im Kostüm erschienen. Sie trugen zumeist das behagliche und bequeme Bürgergewand des sechzehnten Jahrhunderts, einige von ihnen aber waren lockerer, wie Studenten oder ernster und feierlicher, wie Ratsherren gekleidet.

Es gibt ein gewisses Maß des Entsetzens, bei dem alle Besorgnis um das eigene Ich verschwunden ist und man nur durch die Augen lebt, während alle anderen Sinne gleichsam ausgeschaltet scheinen. Dieses Maß hatte ich erreicht, und ich kann mich dafür verbürgen, daß sich alles das, was ich sah, auch wirklich zutrug. Der ganze Hof war von Gestalten erfüllt, und einige Male kamen einzelne von ihnen so nahe an meinem Versteck vorüber, daß ich deutlich ihr etwas starres Gesicht sehen konnte. Nach einer Weile aufgeregten Durcheinanderlaufens richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf das offene Tor der Kirche, und aus ihm kam eine Gruppe von Männern hervor, in deren Mitte ein Weib geführt wurde. Man stieß sie mit Fäusten vorwärts, schlug ihr ins Gesicht und zerrte an dem Strick, den man um ihren Hals gelegt hatte. Ich sah sie mit den Schultern zucken, als ob sie bloß ein lästiges Insekt abwehren wollte. Einer der Studenten drängte die übrigen zurück, stürzte vor, schien ihr irgendeine Beschimpfung ins Gesicht zu schleudern, und schlug sie mit der Breite des blanken Raufdegens zweimal über den Kopf. Da hob das Weib die glatte, weiße Stirn und sah den Mann mit dunklen, flammensprühenden Augen an. Es war Schwester Agathe, die arge Nonn'. Unter unaufhörlichen Schlägen und Fußtritten zerrte man sie bis in die Mitte des Hofes, wo eine Anzahl schwarzgekleideter Ratsherren stand. Hochaufgerichtet sah ich ihre Gestalt in einem blassen, ängstlichen Mondlicht vor einer Gruppe von Männern, in der der gemeinsame Haß der ganzen wütenden Menge verkörpert schien. Das weiße Tuch war vom Kopf der Nonne zurückgeglitten und sie sah so aus, wie auf dem Bild in der Sakristei. Jetzt trat einer der Ratsherren vor, und während die Menge von allen Seiten herandrängte, brach einer ein weißes Stäbchen über dem Kopf der Nonne und schleuderte es ihr mit einer Gebärde des Abscheues vor die Füße. Da wich das Volk zurück und ließ einen Platz frei, auf dem die Nonne neben einem Block stand; von dem Block erhob sich ein Mann in einem roten Mantel. Ich sah alle Einzelheiten der schauerlichen Exekution. Ich sah, wie der Mann ein blankes, breites Schwert hervorzog und den roten Mantel abwarf, wie er das Kleid der Nonne öffnete, so daß der weiße Hals und die schönen Schultern sichtbar wurden, und wie er sie vor dem Block in die Knie zwang. Ich hätte schreien mögen und war doch dankbar, daß die dunkeln drohenden Augen endlich von mir abgewendet waren, die sich in den letzten Minuten starr nach meinem Versteck gerichtet hatten, als hätten sie mich dort erblickt. Nun lag der Kopf auf dem Block, nun sah ich das Richtschwert in hohem Schwung im Mondschein, und nun sprang ein Blutstrahl auf. Aber er fiel nicht zur Erde, zerstäubte nicht in einzelne Tropfen, sondern blieb in der Luft stehen, als wäre er im Augenblick erstarrt, während der Kopf vom Block fiel und, als folge er einem letzten Antrieb der Gerichteten, geraden Wegs auf mich zurollte. Da schleuderte die Menge ihre Hüte in die Luft und brach in einen ungeheueren Jubel aus, dessen Gebärden ich deutlich sah, obwohl ich keinen Laut vernahm, und wie in einer plötzlichen Eingebung stürzten sie sich alle auf den Leichnam los, stießen, schlugen und zerrten ihn herum, als wäre ihre Wut noch immer nicht ganz befriedigt. Der Kopf aber rollte indessen weiter, ohne seine Richtung zu verändern, auf mich zu, und blieb endlich dicht vor meinem Versteck liegen. Die dunkeln, flammensprühenden Augen sahen mich an, und ich hörte Worte, die ersten während der ganzen schrecklichen Szene, Worte aus dem Munde des Kopfes …: »Du sollst der argen Nonn' gedenken.« – Da verschwand alles vor mir, das Getümmel der Menge, der Kopf, der Henker samt dem Block, und nur die rote Sichel des erstarrten Blutstrahles schwebte einen Augenblick im grünen Mondlicht.

Es bleibt nichts mehr übrig, als hinzuzufügen, daß man am nächsten Morgen den Körper der Schwester Agathe in der Gruft in einem schrecklichen Zustand auffand. Er war durch Stöße und Schläge entstellt, alle Glieder waren gebrochen und der Kopf durch einen glatten Schnitt vollkommen vom Rumpf getrennt. Man vermutete einen Fall sexuellen Wahnsinns und stellte die eingehendsten Untersuchungen an, in deren Verlauf auch ich vernommen wurde. Aber die Nachforschungen der Behörden ergaben kein Resultat, denn ich hütete mich wohl, zu erzählen, was ich nachts gesehen hatte.«


Ein fürchterliches Verbrechen versetzte am Morgen des 17. Juli 19.. die ganze Stadt in Aufregung. Als das beim Ingenieur und Baumeister Hans Anders bedienstete Mädchen nach mehrfachem vergeblichen Klopfen an der Schlafzimmertür ihrer Herrschaft endlich gegen zehn Uhr vormittags noch einmal an der Tür rüttelte, fand sie, daß diese unversperrt sei, und betrat das Schlafzimmer. Die junge Frau lag in ihrem Bett, inmitten einer Blutlache. Von dem Herrn war nichts zu sehen. Schreiend lief das Mädchen davon, bekam einen Weinkrampf, und als man endlich mühsam aus ihr herausgebracht hatte, was sie gesehen, schickte der junge Student aus dem dritten Stock, der Besonnenste unter den aufgeregten und entsetzten Hausgenossen, sofort nach der Rettungsgesellschaft und nach der Polizei. Die Kommission erschien und stellte fest, daß ein Verbrechen vorliege. Die junge Frau war schon seit mehreren Stunden tot; der Kopf war durch einen mit ungeheurer Kraft geführten Schnitt glatt vom Rumpfe getrennt. Sonst war alles in Wohnung in Ordnung geblieben, nur eines der Bilder im Schlafzimmer war von der Wand herabgenommen und vollständig zertrümmert. Der Rahmen in kleine Stücke zerschlagen, die Leinwand in Fetzen zerrissen. Keine Spur deutete auf das Eindringen eines Mörders von außen, das Dienstmädchen bestätigte, daß die Herrschaften gestern abend wie sonst zu Bett gegangen seien. Als man sie fragte, ob sie vielleicht in der letzten Zeit Zwistigkeiten zwischen Anders und seiner Frau bemerkt habe, sann sie einen Augenblick nach und erklärte dann, daß ihr nichts aufgefallen sei, als eine zunehmende Schweigsamkeit beider und manchmal ein nervöses Zittern der Frau. Trotz dieser Aussage blieb nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß Frau Anders aus bisher nicht erkennbaren Gründen von ihrem Mann ermordet worden, und daß dieser dann entwichen sei. Die Beobachtungen der Hausgenossen stimmten mit denen des Dienstmädchens überein, aber aus allen diesen Angaben ließ sich kein Schluß auf ein ernstes Zerwürfnis ziehen, aus dem eine solche furchtbare Tat hätte folgen können. Der Gerichtsarzt aber erklärte, daß man durch einen Mangel an äußerlichen Anzeichen eines Zwistes nicht verführt werden dürfe, an eine vollständige Übereinstimmung der Gatten zu glauben; denn gerade bei Menschen von hoher Kultur, wie Hans Anders und seine Frau gewesen seien, spielten sich solche Katastrophen geräuschlos und nach innen ab; und dadurch bestärkte er nur die Ansicht des Polizeikommissars, der sofort die eifrigsten Nachforschungen nach dem Gatten der Ermordeten anordnete.

Man fand Hans Anders nachmittags auf einer Bank im Stadtpark, mit bloßem Kopf, Hut und Spazierstock neben sich, eben damit beschäftigt, eine Zigarette zu drehen. Ohne Widerstand folgte er der Aufforderung des Wachmannes, indem er sagte, er habe selbst schon daran gedacht, auf die Polizei zu gehen und eine Aufklärung des Vorfalles abzugeben. Lächelnd und in bester Laune betrat er das Amtszimmer des Polizeikommissars und bat ihn um einen Augenblick Gehör, er wolle ihm mitteilen, warum er dem Weibe den Hals abgeschnitten habe.

Entsetzt starrte ihn der Kommissar an: »Herr, Sie geben zu, Ihre Frau ermordet zu haben?«

Anders lächelte: »Meine Frau? – Nein!« Und nun gab er eine so seltsame und unverständliche Erklärung ab, daß weder der Kommissar, noch der Untersuchungsrichter, dem der Fall noch am selben Abend abgetreten wurde, daraus etwas zu verstehen imstande war. Nur so viel konnte man daraus entnehmen, daß Hans Anders bekannte, der Frau mit dem türkischen Handschar aus seiner Waffensammlung den Kopf abgeschnitten zu haben, daß er jedoch behauptete, daß diese Frau nicht seine Frau gewesen sei. Als er sah, daß man ihn durchaus nicht verstehen wollte, berief er sich auf seinen Bekannten, den Archivar Doktor Holzbock, der durch seine Aussagen alles bestätigen werde. Ehe man jedoch noch den Archivar vorgeladen hatte, erschien er selbst freiwillig vor dem Untersuchungsrichter und gab folgende Aussage ab:

»Ich erachte es für meine Pflicht, durch meine Angaben in die furchtbare Geschichte des Hans Anders etwas Licht zu bringen, soweit sich eben in eine so geheimnisvolle und höchst sonderbare Angelegenheit Licht bringen läßt. Seit langer Zeit mit ihm bekannt, fand ich mich fast alltäglich auf dem Trümmerfeld der ehemaligen Jesuitenkaserne ein, wo Anders die Demolierungsarbeiten leitete. Meine historischen und archäologischen Arbeiten sind Ihnen ja bekannt, und ich hoffte, auch bei der Abtragung des mehrere Jahrhunderte alten Bauwerkes wieder einiges Interessante zu entdecken. Gewisse Anzeichen brachten mich auf die Spur eines geheimen Ganges, und Anders, dessen Tüchtigkeit als Baumeister außer Frage steht, folgte dieser Spur mit so viel Scharfsinn und Glück, daß es uns gelang, eine alte Gruft mit einigen mumifizierten Leichen zu entdecken. Sie werden sich erinnern, daß man eine dieser Leichen am Tage nach Auffindung der Gruft in einem Zustand antraf, der auf ein Verbrechen schließen ließ. Die Untersuchung aber hat damals bekanntlich kein Resultat ergeben. Einige Tage später kam Hans Anders zu mir. Ich muß vorausschicken, daß mir schon in der letzten Zeit an ihm sein verändertes Wesen aufgefallen war; er war unruhig, ganz gegen seine sonstige energische und doch liebenswürdige Art manchmal wie geistesabwesend und dann wieder mürrisch auffahrend, manchmal aber zitterte er, als ob er von einer schrecklichen Angst gefoltert werde. Dieser Zustand fiel mir bei diesem Besuch ganz besonders auf, und als ich ihn fragte, was ihm fehle, gab er mir eine ausweichende Antwort. Nach einer Weile endlich, als er nicht länger seine Unruhe zu bemeistern vermochte, begann er: ›Heute ist mir ihr Bild ins Haus geschickt worden.‹ – Welches Bild?‹ – ›Das Porträt der Schwester Agathe, der argen Nonn'.‹ – ›Was Ihnen nicht einfällt, das hängt in der Sakristei fest, so fest, daß man es nicht von der Wand nehmen kann.‹ – ›Nicht wahr,‹ sagte er, ›Ihnen ist es nicht gelungen, das Bild herabzunehmen? Aber ich schwöre Ihnen, daß es jetzt in meiner Wohnung hängt.‹ – ›Wer hat es denn in Ihr Haus gebracht?‹ – ›Ich weiß es nicht, es kam in meiner Abwesenheit. Ein fremder Mann brachte es, hängte es an die Wand und ging wieder, ohne zu sagen, wer ihn geschickt habe.‹ – ›Aber es muß doch auszuforschen sein, wer ihn beauftragt hat. Ihnen das Bild zu bringen!‹ – ›Das ist es eben, ich kann das nicht feststellen. Ich ging endlich zum Pfarrer, aber auch der wußte nichts davon; als ich ihn fragte, ob er keine Ansprüche darauf erhebe, da das Bild doch zum Kircheninventar gehöre, entgegnete er, er sei froh, das Bild los zu sein, und er habe sich schon längst vorgenommen, es einmal zu entfernen. Das Furchtbare ist aber, daß ich das Porträt nicht einmal zurückstellen könnte, selbst wenn ich wollte.‹ – ›Warum?‹ – ›Weil es jetzt an meiner Wand ebenso fest hängt, wie früher in der Sakristei. Es ist unbegreiflich, aber dennoch unbestreitbar, und ich bitte Sie, mich zu besuchen, um sich davon zu überzeugen, daß ich die Wahrheit spreche.‹ – ich muß gestehen, daß mir diese Mitteilung des Baumeisters recht sonderbar vorkam; denn das Bild, um das es sich handelte, war nach der Behauptung des Hans Anders das Porträt der Schwester Agathe, einer der Nonnen, deren Mumien wir in der Gruft gefunden hatten. Um den Aufgeregten zu beruhigen, versprach ich ihm, ihn an einem der nächsten Tage zu besuchen und erinnerte mich meines Versprechens, als ich gegen Ende der Woche einmal zufällig an seiner Wohnung vorbeiging. Hans Anders war ausgegangen, aber ich traf seine Frau daheim an. ›Ach, ich freue mich sehr,‹ sagte sie, ›daß Sie zu uns kommen; ich war schon entschlossen. Sie aufzusuchen. Sie sind der einzige Bekannte meines Mannes, mit dem er näher verkehrt; er hält sehr viel von Ihnen und ich hoffe darum, daß Sie etwas Einfluß auf ihn haben werden.‹ Als ich meine Bereitwilligkeit ausgedrückt hatte, ihr zu Diensten zu sein, begann sie mir unter Tränen zu klagen, daß ihr Mann krank sein müsse. Er gehe so seltsam verstört herum, spreche tagsüber kaum ein Wort und werfe sich nachts schlaflos im Bett hin und her. Er habe ihr schon vor mehreren Tagen versprochen, sofort Urlaub zu nehmen und abzureisen, denn er sei sichtlich überarbeitet und müde, aber er sei jetzt nicht dazu zu bewegen, die Stadt zu verlassen. ›Mein Gott,‹ sagte sie, ›ich wage es kaum mehr, vom Arzt zu sprechen. Bei diesem Wort fährt er auf und macht mir Vorwürfe, als ob ich ihm irgendeine erniedrigende Handlung zumute.‹ Ich bestätigte Frau Blanka, daß man trachten müsse, ihren Gatten zu einer Reise zu bewegen. Wenige Augenblicke später kam Anders nach Haus.

Er begrüßte mich sichtlich erfreut, gab auch seiner Frau einen Gruß, aber irgendeine Ahnung sagte mir, daß etwas zwischen den beiden Gatten stehe. Ein Schatten, ein wesenloses Ding, ein unsichtbarer Einfluß, der auf beide wirkte und sie trennte. Auf Frau Blanka wirkte dieser Einfluß als Angst und auf Anders – ich glaubte zuerst mich zu irren, aber ich sah meine Beobachtung bestätigt – als Abscheu vor seiner Frau. Ein mit Furcht gemischter Abscheu. Das erschien mir höchst seltsam, da ich wußte, daß Anders seine Frau früher ungemein geliebt hatte. Nach einer kurzen, gleichgültigen Unterredung zog sich Frau Blanka zurück, um mir für meine versprochene Einwirkung auf Hans Gelegenheit zu geben. Kaum war sie draußen, so faßte mich Anders am Arm und zog mich nach dem Schlafzimmer mit sich. ›Kommen Sie,‹ flüsterte er, ›Sie sollen sie sehen.‹ Über einer Ottomane hing – den Betten gegenüber – das Bild aus der Sakristei. Ein grüner Vorhang hing zurückgezogen neben ihm. Es ist ein etwas unheimliches Bild, ein Gesicht, das von wilden Sünden zu erzählen scheint, und wenn es wirklich die Schwester Agathe vorstellen sollte, so entspricht es wohl allem, was eine alte Chronik von dem lästerlichen Treiben dieser Nonne berichtet. Ich ging auf das Bild los, mit der Absicht, den Versuch zu machen, es herabzunehmen. Denn ich wollte Anders beweisen, daß seine unsinnigen Einbildungen der Wirklichkeit weichen müßten. Aber da sprang er auf mich zu, mit so zorniger Gebärde, daß ich erschrak, und stieß mich zurück. ›Was fällt Ihnen ein, es ist unmöglich. Nun hängt es einmal an der Wand dort und keine Macht der Welt bringt es von dort weg.‹ Er hatte offenbar vergessen, daß er mich vor wenigen Tagen selbst ersucht hatte, mich in seiner Wohnung von der Richtigkeit seiner Erzählung zu überzeugen. ›Aber warum‹ – fragte ich – ›haben Sie das Bild gerade in Ihrem Schlafzimmer anbringen lassen? Dieses Gesicht kann in die friedlichsten Träume Verwirrung bringen.‹ – ›Ich sagte Ihnen schon,‹ antwortete Anders, ›daß ich nicht zu Hause war, als das Bild kam. Der Mann, der es brachte, hängte es, ohne weiter zu fragen, hierher, und ich kann es nun nicht mehr entfernen. Ich habe es versucht, einen Vorhang über das Bild zu ziehen. Aber‹ – und seine Stimme wurde vor der Aufregung ganz heiser – ›sie duldet den Vorhang nicht. Wenn ich ihn abends vorziehe, so ist er um Mitternacht wieder zurückgezogen. Sie sieht mich immer an, immerfort an, mit diesen entsetzlichen Augen. Ich kann es nicht ertragen. Und wissen Sie, warum sie mich so ansieht? Ich will es Ihnen sagen.‹ Er zog mich von dem Bild fort und flüsterte mir zu, so leise, daß ich ihn kaum verstand: ›Sie hat mir Rache geschworen, und sie hält Wort. Sie plant etwas Furchtbares, und ich glaube, zu ahnen, was sie will.‹ Und plötzlich unterbrach er sich durch eine, wie mir damals schien, mit seinen Gedanken unzusammenhängende Frage: ›Haben Sie meine Frau genau angesehen?‹ Aber ehe ich antworten konnte, fuhr er schon wieder fort: ›Unsinn! Es ist ein Unsinn, was ich mir manchmal einbilde,‹ und dann kehrte er wieder zurück: ›Sie will mich vernichten, weil ich den unterirdischen Gang aufgedeckt habe, weil ich den Durchstich zur Straße anordnete und ihren Verfolgern dadurch die Möglichkeit gab, in die Gruft zu dringen.‹ Meine Einwände wies Anders mit einer Handbewegung zurück: ›Glauben Sie mir nur, Doktor, es ist so. Ich habe die Sache genau erwogen, und wenn Sie gesehen hätten, was ich gesehen habe, so würden Sie mir zustimmen.‹ Ich sollte erst später erfahren, was Anders mit diesen dunkeln Anspielungen meinte. Die Worte dieser Unterredung prägten sich meinem Gedächtnis mit größter Treue ein, das Gesicht des Baumeisters, das er flüsternd dicht an das meine brachte, werde ich immer vor mir sehen. Aus seinem ganzen Gebaren gewann ich den Eindruck, daß er sehr krank sei, aber mein Zureden, er möge die Stadt verlassen und auf einige Wochen in die Berge gehen, war umsonst. ›Ich muß aushalten,‹ sagte er, ›es wäre vergebens, ihr entfliehen zu wollen. Sie würde mich in dreitausend Meter Höhe ebenso auffinden wie hier.‹ Das Unheimlichste an seinem Wesen war, daß er offenbar mit irgendeiner gespenstigen Vorstellung wie mit einer realen Macht zu kämpfen hatte, und ich machte Frau Blanka darauf aufmerksam, daß sie hier zuerst ihren Einfluß geltend machen müsse. ›Einfluß?‹ sagte sie, und die Tränen waren der armen Frau nahe, ›ich habe nicht einmal so viel Einfluß, daß er mich den Arzt holen läßt.‹ Um der Frau einen Gefallen zu tun, sandte ich am nächsten Morgen meinen Freund Doktor Engelhorn zu Anders. Aber der Baumeister bekam einen Wutanfall, und Engelhorn mußte schleunigst seinen Rückzug antreten. Gerade damals mußte ich verreisen; denn ich wollte einer wichtigen Urkunde wegen das Archiv des Schlosses Pernstein durchsuchen. Es dauerte einige Tage, bis ich die Urkunde gefunden hatte, beim Suchen aber hatte ich einige andere, höchst interessante Stücke entdeckt, so daß sich mein Aufenthalt noch um einige Tage verlängerte. Für den Rückweg benutzte ich die Bahn nur einige Stunden weit und stieg dann aus, um in einem frischen Marsch quer durch schöne Wälder die Stadt zu erreichen. Als ich an dem Wirtshaus eines beliebten Ausflugsortes vorüberkam, blickte ich zufällig über den Zaun des Gartens und sah Hans Anders an einem Tisch sitzen. Ich muß gestehen, daß mir seine Geschichte vor meiner Arbeit vollkommen in den Hintergrund geraten war, und in diesem Augenblick fiel es mir schwer aufs Herz, daß ich meine Freundespflicht so sehr vernachlässigt hatte. Um wenigstens sofort zu erfahren, wie es um ihn stand, trat ich in den Wirtshausgarten und begrüßte ihn. Ich sah, daß Anders viel getrunken hatte, und weil dies bei dem sonst sehr nüchternen Mann ganz ungewöhnlich war, brachte ich es sofort mit seiner dunkeln Geschichte in Zusammenhang. ›Oh, Doktor, Archivarius,‹ rief er mir entgegen, ›ich freue mich sehr, wirklich außerordentlich, und begrüße Sie im Namen der Wissenschaft.‹ Anders sprach viel und so laut, daß er die Aufmerksamkeit der zehn oder zwölf im ganzen Garten verteilten Gäste erregte. Während ich mein Viertel südmährischen Weines trank, trank er deren drei, und erst, als es schon dämmerte, gelang es mir, ihn zum Heimmarsch zu bewegen. Wir gingen längs des Flusses und sahen durch den das Tal erfüllenden Nebel die Lichter der Königsmühle vor uns, als Anders endlich von dem zu sprechen begann, was ihn, wie ich bemerkte, doch unausgesetzt beschäftigte: ›Nun endlich weiß ich, was sie will.‹ – ›Aber so sprechen Sie doch nicht immer von »ihr«,‹ fuhr ich auf, ›als ob Sie es mit einer wirklichen Person zu tun hätten.‹ Hans Anders sah mich an und verstand meinen Einwand nicht, so sehr war er bereits in seinen Vorstellungen heimisch. ›Und wissen Sie, was vor meinen Augen geschieht? Es ist furchtbar. Sie hat sich meiner Frau bemächtigt.‹ ›Also, was soll das wieder heißen.‹ – ›Sie hat sich meiner Frau bemächtigt und vor meinen Augen geht die Verwandlung vor sich. Bei den Augen hat es begonnen, ein fremder, lauernder Blick tauchte in ihnen auf, mit dem sie mich beobachtete, mein Gehen und Kommen, jede meiner Bewegungen, wenn ich etwas sagte, dann glomm es in diesen furchtbaren Augen wie Hohn. Dann aber änderte sich auch die Gestalt. Meine Frau war kleiner und stärker, das Weib, das jetzt neben mir sitzt und schläft oder tut, als ob sie schlafe, denn unter den geschlossenen Lidern beobachtet sie mich, ist schlanker und größer. Sie umkreist mich, spinnt mich ein. Sie hat mir mein Weib gemordet und von ihrem Leib Besitz ergriffen, um mir ganz nahe zu sein, und an dem Tage, an dem sie dem Bild an der Wand vollständig gleicht, wird sie sich meiner ganz bemächtigen. Aber ich bin entschlossen, ihr zuvorzukommen.‹ – Ich erkannte mit Entsetzen, daß die nervöse Aufregung des Mannes bereits solche Fortschritte gemacht hatte, daß man fast schon von einer Geistesstörung sprechen konnte. Es war höchste Zeit, mit Energie einzuschreiten, und ich sann am nächsten Tage mit meinem Freund Doktor Engelhorn eben darüber nach, was zu tun sei, um der armen Frau zu helfen, als Frau Blanka bei mir eintrat. Sie sah sehr angegriffen aus, blaß, mit tiefliegenden, unsteten Augen und war mager geworden, so daß sie mir etwas größer vorkam. ›Ich weiß alles, gnädige Frau,‹ sagte ich. Da begann sie zu weinen: ›Ach, was können Sie wissen. Sie können nicht entfernt auch nur ahnen, was ich leide. Mein Leben ist mir zur Hölle geworden. Das ist in meinem Fall keine Phrase, sondern bittere Wahrheit. Ich halte es nicht länger aus; mein Mann hat sich ganz verändert, ich sehe deutlich, daß er einen Abscheu vor mir hat. Er beobachtet mich unaufhörlich, immer fühle ich seine schrecklichen Blicke auf mir, und er tut, als erwarte er von mir etwas Böses. Manchmal wendet er sich plötzlich und mit grimmiger Gebärde um, als glaube er, daß ich ihm nachschleiche. Dabei spricht er fast gar nichts, und wenn ich ihn anrede, so antwortet er, als sei jedes Wort eine Falle. Und wenn ich es versuche, den Grund seines sonderbaren Benehmens zu erfragen, so lacht er so fürchterlich … Gestern abend nun, er war den ganzen Nachmittag fort gewesen und kam etwas berauscht nach Haus – als ich eben im Begriff war, mich auszukleiden, stand er plötzlich hinter mir. Er war vorher in seinem Zimmer gewesen, und ich hatte durch die Glastür gesehen, daß er in einem Heft las und blätterte. Auf einmal aber stand er hinter mir. Ganz unhörbar war er mir nachgegangen, und als ich mich nun umwandte, faßte er mich am Halse und sagte: »Ein schöner Hals und schon einmal durchschnitten.« Da fürchtete ich mich und wollte wissen, was er damit meine. Er aber lachte nur wieder so gräßlich und wies auf das alte Bild, das in unserem Schlafzimmer hängt: »Frage die dort, oder besser, frage dich selbst.« Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und dachte über seine seltsamen Worte nach. Am Morgen aber stand ich auf und ging nach seinem Zimmer, um das Heft zu holen, von dem mir schien, als müsse es in irgendeinem Zusammenhang mit seinem veränderten Wesen stehen. Es lag noch auf dem Schreibtisch und war von meinem Mann fast ganz vollgeschrieben. Ich erinnerte mich, daß er in den letzten Wochen in diesem Heft geschrieben hatte, in seltsamer Hast, oft wie verstört und so gereizt, daß ihn jedes Geräusch in seiner Nähe außer sich brachte, und ich hätte etwas darum gegeben, wenn ich gewußt hätte, welche Arbeit ihn da so sehr fesselte und erregte. Als ich aber beginnen wollte, zu lesen, kam eine schreckliche Angst über mich und überwand meine Neugierde. Ich wagte nicht, es auch nur aufzuschlagen, weil ich … nun weil ich fürchtete, etwas Entsetzliches zu erfahren. Darum bringe ich Ihnen dieses Heft und bitte Sie, es zu lesen und mir dann zu sagen, was zu tun ist. Teilen Sie mir so viel davon mit, als Ihnen gut dünkt.‹ Damit überreichte sie mir dieses Heft, dieses Heft, das ich Ihnen hier übergebe, Herr Landgerichtsrat; Sie werden höchst merkwürdige Aufzeichnungen darin finden, und ich überlasse es Ihrem Scharfsinn, sich in dieser Geschichte, die mir dadurch noch verwickelter wird, zurechtzufinden Wir haben die Aufzeichnungen des Hans Anders an den Beginn dieses Berichtes gestellt.. Doktor Engelhorn und ich versuchten der Frau ihre Besorgnisse auszureden und, obzwar wir überzeugt waren, daß die Gefahr ganz nahe sei, taten wir so, als habe sie nichts zu befürchten; so erreichten wir, daß sie einigermaßen beruhigt nach Hause ging, nachdem wir ihr versprochen hatten, die Aufzeichnungen ihres Mannes zu lesen und ihr gleich am nächsten Morgen darüber zu berichten. Und das war ein unverzeihliches Versäumnis. Dieser Mangel an Geistesgegenwart, an energischer Entschlossenheit ihrer Freunde, hat der armen Frau das Leben gekostet. So ist es mit uns Menschen, wir sehen die Gefahr ganz deutlich, aber wir unterlassen es, ihr rechtzeitig zu begegnen. Als wir – Doktor Engelhorn und ich – das Heft durchgelesen hatten, sahen wir uns an. ›Er ist irrsinnig,‹ sagte ich. Aber Doktor Engelhorn ist ein sonderbarer Mensch. Obzwar er der Vertreter einer exakten Wissenschaft ist, hat er sich daneben doch eine Art von Aberglauben an allerlei ›Nachtzustände‹ der menschlichen Seele bewahrt. Er pflegt bei jeder Gelegenheit das Wort ›es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde usw.‹ zu zitieren, und wenn die medizinische Wissenschaft vor einem Rätsel steht, gibt es niemand, der sich mehr darüber freut als Doktor Engelhorn. Ich war daher auch gar nicht besonders erstaunt, als er mich zweifelnd ansah: ›Irrsinnig? Ich weiß nicht, ob ich dir recht geben soll. Er macht nicht diesen Eindruck auf mich. Es gibt Zustände, die dem Irrsinn verzweifelt ähnlich sehen und doch nicht Irrsinn sind. Um dir das zu erklären, müßte ich aber …‹ – ›Nun, was soll es denn sonst sein?‹ unterbrach ich ihn. Aber er zuckte bloß mit den Achseln: ›Ich weiß es nicht.‹ – Diese Unterredung, Herr Landesgerichtsrat, fand am späten Abend statt. Am nächsten Morgen hörte ich, daß Frau Blanka ermordet worden sei. Was der furchtbaren Tat unmittelbar vorhergegangen ist, können wir nur von Hans Anders selbst erfahren. Wir können nur vermuten, daß er sich durch den Mord von seinem Gespenst befreien wollte, und die Zertrümmerung des Bildes läßt sich damit ganz wohl in Zusammenhang bringen. – Es wird die Sache des Gerichts sein, darüber zu entscheiden, ob das letzte Wort in dieser seltsamen Geschichte nicht doch der Psychiater zu sprechen haben wird.«

Soweit die Aussage des Archivars Doktor Holzbock.

Der mysteriöse Fall des Hans Anders wurde zwei Tage später durch den Tod des Baumeisters zu einer Art von Ende gebracht. Man fand ihn im Untersuchungsgefängnis in sitzender Stellung, an die Wand zurückgelehnt, eine Hand auf dem Herzen, den rechten Arm schlaff herabhängend, in einer so seltsam verdrehten Art, daß der Gefängnisarzt ihn kopfschüttelnd zu untersuchen begann. Er stellte fest, daß der Arm mehrfach gebrochen und verrenkt war, als sei er von einer furchtbaren Gewalt zermalmt worden. Als eigentliche Todesursache aber erkannte der Gefängnisarzt einen Herzschlag infolge plötzlichen Schreckens.


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