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Ein Familienbild von Goya

Von Paul Ernst

Vor langen Jahren machte ich eine Reise durch Spanien. Ich hielt mich eine Weile in Saragossa auf und besuchte von dort in größerem Umkreis mehrere Landschaften und Orte. Diese Ausflüge nahmen oft mehrere Tage in Anspruch.

Auf einem solchen Ausflug, den ich allein zu Pferde gemacht hatte, kam ich an einem Abend in ein Dorf, wo ich nach den Auskünften, die mir geworden, ein erträgliches Unterkommen erhoffen durfte. Ich fand aber nur einige Bauernhäuser vor, deren Bewohner wohl freundlich und höflich waren, aber dem Nordländer mit seinen fremden Gewohnheiten und notwendigen Ansprüchen kein Nachtlager bieten konnten. Einer der Bauern sagte zu mir: »Kommen Sie, Herr. Ich geleite Sie zum Grafen. Es wird für ihn eine Ehre sein, einen so ausgezeichneten Fremden unterbringen zu dürfen.«

Das Schloß stand auf einem Hügel, dessen Felsen sich schieferten, mit grauen, fensterlosen Mauern und dicken Türmen. Wir schritten über die Zugbrücke in den Hof. Grauer Rasen wuchs dürftig zwischen runden Pflastersteinen. Unsere Schritte hallten leer; die Türen zu den Wirtschaftsgebäuden waren fest verriegelt, und das Gras hob vor ihnen seine Rispen.

»Die Herrschaft war früher sehr reich,« sagte der Bauer, »aber wie das so geht, die neuen Zeiten sind gekommen. Jetzt ist nur noch der Graf da. Er ist unverheiratet, und die Familie stirbt mit ihm aus. Dann fällt der Besitz an den König. Es sind fast gar keine Gründe mehr dabei.«

Wir traten durch eine eisenbeschlagene eichene Tür in das Wohngebäude. In einer gewölbten Halle hingen an den Wänden Rüstungen und Fahnen, an einem häßlichen Hakenbrett dazwischen ein Hut, ein Regenmantel und eine Jagdflinte. Ein Mädchen von zwölf Jahren mit schwarzen, schlauen Augen kam uns barfüßig entgegen, sprang wie ein Kätzchen vor uns die Treppe hinauf und führte uns in das Zimmer des Grafen.

Er stand auf, und ich entschuldigte mich. Der Graf gab mir die Hand, wendete sich mit dankenden Worten zu dem Bauern, daß er mich zu ihm geführt, und entließ ihn. Dann setzten wir uns einander gegenüber.

Der Graf war ein Herr von etwa fünfzig Jahren, mit einem langen, schwarzen, etwas ergrauten Bart, hochgewachsen, mit schwermütigem Gesichtsausdruck. Ein Schreibtisch aus dunklem Eichenholz stand in der Mitte des Zimmers, darauf ein Kruzifix. Der Graf hatte in einem alten Buch gelesen, das noch aufgeschlagen dalag. Auf die geweißten Wände fiel durch das offene Fenster der letzte Sonnenstrahl.

Ich erzählte ihm von meiner Reise, von meinen Gedanken und Eindrücken. Der Graf nickte zuhörend mit dem Kopf und griff sich einmal in den Bart.

Er sagte: »Ja, ich bin nicht viel aus meinem Hause gekommen. In Salamanca war ich als Student, auch einmal zwei Wochen in Madrid. Das ist nicht richtig gewesen, ich weiß es wohl.«

Wir sprachen weiter.

Einmal sagte er: »Durch Sie wird mir manches klar. Sie sind bürgerlich, nicht wahr? Sie wissen von Ihren Eltern, Ihren Großeltern, nachher verschwimmt alles. Für mich war es nicht gut, daß ich zuviel von meinen Vorfahren wußte. Das hinderte mich. Einen andern hätte es vielleicht nicht gehindert. Ich habe in der Halle unten eine Fahne, die aus den Maurenkriegen stammt, und ich weiß allerlei von den Vorfahren. Sie waren Krieger und Hofleute und Staatsmänner. Mein Vater hat schon sein ganzes Leben für sich hier verbracht. Ich bin sein einziger Sohn. Ich habe nicht geheiratet. Weshalb war das so mit meinem Vater und mir? Meine Vorfahren waren alle gute Leute, ich bin es auch.«

Es war, als wenn er zu sich selber spräche: »Es ist ja heute eine andere Zeit. Früher herrschte der Adel, da waren im Adel auch die Besten. Das ist nun heute nicht mehr. Alles ändert sich, Geschlechter kommen und gehen. Es ist nicht so, daß ich einen dummen Adelsdünkel gehabt hätte. Aber ich weiß auch, was der Adel bedeutet hat, was er noch heute bedeutet.«

Der Graf sah plötzlich zu mir auf: »Sie verachten die heutige Zeit auch, nicht wahr?«

Ich erwiderte ihm: »Ja. Aber ich glaube nicht –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, unterbrach er mich. »Ich habe keinen dummen Adelsdünkel. Die Zeit des Adels ist offenbar zu Ende, das spüre ich an mir, denn sonst wäre ich ein anderer Mensch. Nur, ich möchte wissen, wie das geschehen ist, daß das Wissen von meinen Vorfahren mich so drückt, daß es mich unfähig für das Leben gemacht hat. Denn so ist es doch. Oder ist es nicht so?«

Das barfüßige Mädchen huschte herein und rief uns zum Essen. Wir traten in ein kleines Zimmerchen mit gewölbter Decke. Ein glänzendes, scharf gekniffenes Tischtuch war gebreitet, darauf standen silberne Teller. Wir aßen die Suppe. Das Mädchen nahm die geleerten Teller ab und brachte auf einer silbernen Schüssel ein gekochtes Huhn. Der Graf zerlegte es. An den Wänden ringsum waren Wappen gemalt, in den Zwischenräumen Laubwerk und Äste. Der Graf goß mir Wein in das Glas, er selber trank nur Wasser.

»Die Leute im Dorf haben ihren Gottesacker«, sagte er. »Ihre Vorfahren haben da unten ihre Hütten gebaut, als mein Vorfahr in den Turm zog, der noch aus der Römerzeit stammt, welcher der älteste Teil dieses Gebäudes ist. Wenn im Dorf unten einer stirbt, so wird er im Gottesacker begraben, ein Hügel wird über dem Grab aufgeworfen und mit Rasen belegt, und die Leute wissen, unter diesem Hügel liegt unser Vater oder Oheim. Die Leute, die das wissen, werden älter und sterben schließlich auch, und der Hügel sinkt ein. Die Enkel wissen noch von ihm. Aber allmählich wird der Hügel dem übrigen Boden gleich, und zuletzt weiß niemand mehr, daß dort ein Grab war. Später wird dann einmal dort wieder ein Grab gegraben, und es finden sich vielleicht noch ein paar Knochen; sie werden in das Gewölbe der Kirche geworfen, wo viele andere Knochen liegen. Ja, diese Leute im Dorf sind wie das Gras auf der Wiese, das blüht und vergeht. Es ist Unnatur, wenn der Mensch mehr sein will.«

Er sah mich fragend an: »Haben Sie nicht auch schon gedacht, daß die Vornehmheit doch eigentlich Entartung ist?«

Ich machte wohl ein erstauntes Gesicht. Er fuhr lächelnd fort: »Ja, das Volk prachert und schachert, um zu essen und zu trinken und sich fortzupflanzen, und wenn ein Mann seine Kinder hochgebracht hat, dann legt er sich hin und stirbt. Dabei hat er immer ein gutes Gewissen. Das schlechte Gewissen, ja, das stellt sich ein, wenn der Mann aus dem Volk vornehm wird. Das habe ich ja nicht. Aber was ich habe, das ist etwas Schlimmeres. Sehen Sie, ich habe eine schnurrige Bildung. Ich habe nichts gesehen und kenne nichts, aber ich habe viel gelesen und viel gedacht. Sie sind nun der erste Deutsche, mit dem ich spreche.

Ich finde, die Deutschen sind die bürgerlichste Nation von der Welt. Meine Vorfahren haben gegen die Protestanten gekämpft; nun, das war die spanische Donquichotterie. Die Deutschen haben den Protestantismus in die Welt gebracht und das schlechte Gewissen. Die Engländer, die sind ja auch Protestanten, aber sie haben ein gutes Gewissen. Die Deutschen sind das bürgerlichste Volk von der Welt. Was für Augen werden die Deutschen machen, wenn erst einmal die Arbeiter die Herrschaft bekommen! Ich könnte mit ihnen fertig werden, aber Sie nicht.«

Wir führten kein Gespräch. Man merkte es, daß der Graf immer für sich gelebt hatte. Er konnte keine Unterhaltung führen, nicht auf die Gedanken des andern eingehen. Er sprach nur immer aus sich heraus; er dachte laut.

Aus dem kleinen Speisezimmer führte ein Türchen in einen großen Saal. An den Wänden hingen Familienbilder. Unter ihnen stand hier und da einmal ein Stuhl, sonst war der Raum ganz leer.

Ich schritt auf ein großes Bild zu, aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, auf dem eine ganze Familie dargestellt war: ein breitschultriger, stattlicher Mann mit lebhaftem Ausdruck, etwas gerötetem Gesicht, seine Gattin, eine behäbig volle Dame, mütterlich und freundlich, und zehn Kinder, von denen das jüngste noch von der Amme getragen wurde, indessen der älteste Knabe, mit klugen Augen und frischem Gesicht, ein Buch in der Hand hielt und den Vater um eine Erklärung bat. »Ein Goya!« rief ich aus. Der Graf lächelte über meine Freude und wies auf eine kleine Radierung, die unterhalb des großen Bildes hing: »Dieselbe Dame als junges Mädchen, fünfzehn Jahre jünger, auch von Goya.«

Überrascht verglich ich die beiden Bilder. Ja, das war dasselbe Gesicht, nur kindlich unreif, schlummernd und verträumt. »Die Frau muß in den fünfzehn Jahren viel erlebt haben?« fragte ich. Er lächelte. »Ich will Ihnen die Geschichte erzählen.«

»Mein Ahn Don Enrique war am Hof zu Madrid etwa um 1770. Damals war eine feindselige Spannung zwischen Spanien und Portugal entstanden, und der König von Portugal schickte einen seiner Herren, Don Manuel mit Namen, um zu erklären und beizulegen. Er hatte mit dem Unterhändler eine recht unglückliche Wahl getroffen, denn Don Manuel, ein blutjunger und unerfahrener Kerl, der zudem wohl nicht gerade der geistreichste Mann seines Volkes sein mochte, verletzte alle Leute durch seinen unerträglichen Hochmut, und wenn nicht die Anordnungen, die er aus Lissabon erhielt, so bestimmt und die friedlichen Absichten in Madrid so fest gewesen wären, so hätte es damals zu einem Unglück kommen können

Sie müssen von Don Enriques Temperament urteilen nach diesem Bild, das ihn doch schon in reiferen Jahren vorstellt.

Als Don Manuel wieder einmal eine seiner Unverschämtheiten vorbrachte, fragte er ihn: ›Herr, sind Sie eigentlich gekommen, um dem König den Krieg zu erklären? Sie können sicher sein, daß jeder Spanier zum Schwert greift, um die Ehre seines Königs zu rächen.‹ Don Manuel hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge und begann eben seine Antwort. Aber das Gespräch fand im Vorzimmer des Königs statt. Der König hörte die lauten Stimmen, öffnete die Tür, erkannte sogleich die Lage und sprach zu Don Enrique: ›Ich befehle Euch, begebt Euch sofort in Eure Wohnung und verlaßt sie nicht vor dreimal vierundzwanzig Stunden.‹ Don Enrique grüßte und ging. Dann sprach der König zu Don Manuel: ›Ich bitte, entschuldigt die Ungeschicklichkeit. Schreibt meinem königlichen Vetter von Portugal, daß ich seinem Abgesandten wohlgewogen bin.‹ Don Manuel blähte sich sichtlich und verneigte sich tief. Der König ging wieder in sein Zimmer zurück.

Eine Stunde nach dem Vorfall bekam Don Enrique ein Schreiben Don Manuels: Don Enrique habe ihn beleidigt, und als portugiesischer Edelmann müsse er ihn dafür züchtigen. Er wolle für diesen Zweck seine Eigenschaft als Gesandter ablegen und erwarte ihn diese Nacht – da das Gebot der Ehre dem Gebot des Königs vorgehe – zu einer bestimmten Stunde, die er angab, an einer Stelle, die er ihm gleichfalls bestimmte, mit den Waffen in der Hand und mit seinen Zeugen.

Don Enrique war in einer peinlichen Lage. Nahm er die Forderung an, so hatte er den Zorn seines Königs zu befürchten, der ihm mit Recht vorwerfen konnte, er schaffe durch seinen Ehrenhandel eine politische Gefahr, denn der Dummkopf konnte natürlich nicht selber einfach seine Eigenschaft als Gesandter ablegen, und wenn er unterlag, so war sein Herr in ihm gekränkt. Nahm er die Forderung aber nicht an, so trompetete Don Manuel überall aus, er sei ein Feigling. Und das ist nun der schwache Punkt des Adels: Dem Adligen kann es nicht gleichgültig sein, was andere über ihn denken, mögen sie auch die größten Narren sein. Don Enrique war aber auch nicht der Mann danach, eine vorurteilsfreie Prüfung anzustellen. Die Wut schoß ihm in den Kopf, als er den Brief las, und er ließ durch den Überbringer bestellen, er werde sich pünktlich an dem bestimmten Ort einfinden.

Nun, die beiden Herren trafen sich also. In dem Zweikampf brachte mein Ahn seinem Gegner eine gefährliche Wunde bei. Er sorgte noch zusammen mit den Zeugen dafür, daß er in seine Wohnung geführt und verpflegt wurde, und dann begab er sich wieder in seine Zimmerhaft, um dem König Mitteilung von seinem Ungehorsam zu machen. Er schrieb alles in einem ausführlichen Brief auf, siegelte ihn ein, packte seinen Degen dazu und ließ beides durch einen Freund dem König überbringen.

Der König hätte wohl eine Art finden können, meinem Ahn zu verzeihen, der schließlich in einer Zwangslage gewesen war, und auch der König von Portugal hätte wohl eingesehen, daß nicht die Absicht vorlag, ihn zu beleidigen. Aber wie solche Herren sind, alles, was ihre Absichten durchkreuzt, erzeugt eine Verstimmung bei ihnen. Der König befahl, meinen Ahn in ein Gefängnis zu setzen, wo er für unbestimmte Zeit festgehalten werden sollte.

Zu der Ehre Don Manuels muß ich berichten, daß er alles tat, seinen Gegner zu befreien. Er ließ dem König sagen, er selber habe alle Schuld an dem Vorfall, er habe auf seine Gesandteneigenschaft verzichtet, und er bitte, seinen Gegner, der ihn in ehrlichem Kampf besiegt, loszulassen. Aber diese Fürbitten nützten bei dem erzürnten Fürsten nichts.

In dieser Zeit geschah es, daß ein alter Herr, Don Pedro, mit seiner einzigen Tochter Elena an den Hof kam. Don Pedro war ein vornehmer Mann, der recht begütert war, und Elena war seine einzige Erbin. Don Pedro hatte die Absicht, unter den jungen Herren am Hofe einen Gatten für sie auszusuchen.«

Der Graf nahm die Radierung von Goya in die Hand. »Dies ist sie. Sie sehen ein liebreizendes Gesicht, ein –« er unterbrach sich und hängte das Bild wieder an seinen Nagel. Ein spöttisches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das Bild ist so lebendig, als wäre es eben geätzt. Ich ertappe mich dabei, daß ich alter Mann in meine jugendliche Urgroßmutter verliebt bin. Es ist ein Mißbrauch, daß solche Bilder gezeichnet werden, die jung bleiben, indessen die Zeit vergeht. Aber wenn nach rund hundertunddreißig Jahren das Gesichtchen in der Zeichnung noch so wirkt, dann können Sie sich denken, welchen Eindruck es machte, als es lebendig war. Alle Herren bei Hofe sollen damals in sie verliebt gewesen sein.

Goya war damals ein junger Maler in Madrid, der durch seine Bilder sein Brot verdiente. Don Pedro benutzte seinen Aufenthalt dazu, sich malen zu lassen, dabei sah Goya wohl dessen Tochter und fertigte die Zeichnung an, nach der er die Radierung machte. Sie sehen, das Blatt ist dem Alten gewidmet. Vielleicht ist es auch in seinem Auftrag hergestellt, das weiß ich nicht. Nun, jedenfalls gab Goya Abzüge der Platte heraus. Sie wurden von den verliebten jungen Herren gekauft und verbreiteten sich am Hofe.

Ein Freund, der Don Enrique in seinem Gefängnis besuchte, brachte es mit. Don Enrique hatte eine gewisse Rolle am Hofe gespielt, und es wäre wohl möglich gewesen, daß er die Vielumworbene für sich errungen hätte. ›Welches Pech!‹ sagte der Freund. ›Wenn du frei wärst, dann könntest du eine gute Heirat machen. So wird sie dir wohl ein anderer wegschnappen.‹

Sie kennen die romantischen Geschichten, in denen sich einer in ein Mädchen nach dessen Bild verliebt. Sie sind ja nicht immer ganz wahrscheinlich. Aber denken Sie sich den jungen Mann, der wochenlang allein in seinem Gefängnis sitzt, nur durch selten erlaubte Besuche von Freunden von den Vorgängen draußen hört, und dem nun begeisterte Schilderungen von der Schönheit und Anmut des jungen Mädchens gemacht, Geschichten von Männern erzählt werden, die in sie verliebt sind, der endlich dann das geistreiche Blatt in die Hand bekommt, auf dem ein Meister flüchtig und locker die reizenden Züge festgehalten; dann können Sie sich gewiss vorstellen, wie in langen, einsamen Stunden sich Träume spinnen und das Gespinst sich entwickelt, wie der junge Mann sich als Liebhaber in allen möglichen Lagen sieht und Antwort wie Bewegung des Mädchens dichtet; wie alle die luftigen Vorstellungsgebilde, vielleicht zunächst nur als Spiel betrachtet für den gezwungen müßigen Jüngling, sich schnell mit allen seinen Gefühlen, Sehnsüchten und Trieben vereinigen, und wie denn so eine wirkliche Verliebtheit herauskommt.

Sie müssen auch denken, daß die Menschen damals bei uns noch anders waren, als sie heute sind. Ein Herr wie mein Ahn stand dem Mittelalter näher als unseren Zeiten. Heute hätte ein solcher junger Herr die Rechte studiert und wäre in einer amtlichen Stellung, und es gehörte zu seiner Bildung, daß er manches gelesen hätte. In seinem Gefängnis würde er Bücher haben und entweder sich in seinem Wissen vervollkommnen oder, je nachdem, gute Dichter oder dumme Romane lesen. Das war damals anders, wenigstens bei uns zulande. Mein Ahn hatte nicht studiert und las auch nicht. Dafür hatte er eine Laute bei sich, und seine Gefühle, die keinen andern Ausweg finden konnten, ergossen sich in eine selbstgedichtete Romanze über sein Gefängnis und seine Liebe.

Don Manuel erholte sich inzwischen von seiner Wunde. Sein erster Gang war an den Hof zum König, dem er zu Füßen fiel, um nochmals selber Verzeihung für seinen Gegner zu erflehen. Der König erwiderte ihm, daß er Don Enrique gewiß nicht zum Tode verurteilen werde, aber er halte es für angemessen, daß er doch noch einige Wochen Muße habe, um ungestört über seine Handlung nachzudenken. Don Manuel wurde verlegen; er begann so ungefähr zu verstehen, was der König über ihn selber denken mochte.

Die Herren am Hof hatten naturgemäß andere Ansichten als der König. Don Manuel war bei ihnen nicht beliebt gewesen wegen seines Benehmens; aber daß er so frisch und frei den Gesandten vergessen und vom Leder gezogen hatte, das verschaffte ihm bei den jungen Männern doch wieder einen Stein im Brett. Man vergaß, was man früher an ihm auszusetzen gehabt, und fand in ihm einen offenen, mutigen und ehrenhaft gesinnten Ritter. Blutverlust und Krankenlager hatten ihn etwas gebleicht und ihm eine interessant erscheinende Müdigkeit gegeben, und die Beschämung über das unausgesprochene Urteil des Königs bewirkte, daß er weniger laut war. So fand er sich denn auch bei den Damen sehr beliebt und angesehen. Man konnte sagen, daß Don Manuel als der erste Mann in der Hofgesellschaft betrachtet wurde.

Es war natürlich, daß er seine Aufmerksamkeit auf die gefeierte Donna Elena richtete, daß diese die Aufmerksamkeit des gefeierten Don Manuel besonders hoch einschätzte. Beide waren junge Leute, in dem Alter, da man heiratet, und so kam es denn leicht, daß Don Manuel mit dem alten Don Pedro einig wurde. Der König sah die Ehe gern, denn Don Manuel stand an dem Lissaboner Hof in Ansehen, und er nahm an, daß er an ihm und seiner Gattin Freunde haben werde. Es lagen keine Gründe zu einem langen Brautstand vor, und so wurde denn die Hochzeit mit allem Glanz, wie es damals war, angemessen gefeiert.

Am Tage nach der Hochzeit sagte der König zu Don Manuel: ›Ich habe nun Ihren Wunsch erfüllt, Don Enrique ist aus seiner Haft entlassen. Ich wünsche, daß er zunächst noch Hof und Hauptstadt meidet; er ist heute auf dem Wege zu seiner Besitzung, wo er sich ein halbes Jahr lang die Zeit mit Jagen vertreiben mag, ehe er wieder nach hier kommt.‹

So verstrichen einige Monate, in denen das junge Paar vermutlich recht glücklich war, indessen Don Enrique sich hier bei seinem Vater aufhielt, vermutlich allerhand Belehrungen des alten Herrn auszustehen hatte und den Unmut über die getäuschte Liebe und das gleichmäßige Landleben zu überwinden suchte, indem er auf Jagd ging.

In der Eintönigkeit seines Lebens, bei dem seine durch nichts sonst beschäftigte Vorstellungskraft sich beständig mit seiner Liebe zu der Niegesehenen beschäftigte, kam er auf den Gedanken, in Verkleidung heimlich nach Madrid zu reisen, um wenigstens einmal in seinem Leben des Anblicks der Geliebten teilhaftig zu werden, denn es lief die Rede, daß sie mit ihrem Gatten, dessen Sendung beendet war, demnächst nach Portugal gehen werde.

Ein junger Bauer, sein Milchbruder, hing ihm treu an. Dieser verschaffte ihm einen bäuerlichen Anzug. Da die Bauern keinen Degen trugen und die heimliche Fahrt doch nicht ohne Gefahren war, so steckte jeder ein paar Pistolen in die Tasche. An einem frühen Morgen, als alles noch schlief, setzten sich die beiden auf ihre Maultiere und ritten fort.

Sie fanden in Madrid in einem bäuerlichen Gasthof ein Unterkommen. Der Diener kundschaftete die Gelegenheit aus, und bald fand sich, daß die junge Frau des Don Manuel die Gewohnheit hatte, zu einer bestimmten Nachmittagsstunde in einem Sommerhäuschen ihres Gartens zu sitzen und auf das Geschwätz ihrer Dienerin zu hören. Der Gärtner wurde durch eine reichliche Gabe bestochen, und Don Enrique und sein Getreuer versteckten sich hinter einem dichten Lorbeergebüsch, durch das sie einen Blick auf das Häuschen hatten.

Donna Elena kam mit ihrer Dienerin, die prächtig gestickte Kissen trug. Sie hielt einen roten Sonnenschirm aufgespannt, und die Sonne warf durch ihn einen rötlichen Schein auf ihre weißgekleidete Gestalt und ihr anmutig bewegtes Gesicht. Ein Springborn rauschte und blitzte, die Bäume standen still, und das Schwatzen und Lachen der Dienerin klang heiter und unbesorgt schon von weitem an das Ohr der Lauschenden.

Die Dienerin richtete in dem offenen Häuschen auf der Bank ein bequemes Lager, für sich selbst warf sie ein Kissen auf den Boden. Donna Elena machte es sich behaglich auf ihrem Lager. Sie legte die Arme unter das Köpfchen und dehnte sich mit halbgeschlossenen Augenlidern, deren Wimperschatten zierlich auf ihre zarten Wangen fielen. Sie betrachtete ihre goldenen Schuhe, lockerte einen, schnellte ihn in die Höhe und fing ihn mit dem Fuße wieder auf. ›Was meinst du?‹ fragte sie die Dienerin ›Sei ehrlich. Sag' mir die Wahrheit. Bin ich schöner geworden?‹ Das Mädchen auf dem Kissen beugte sich vorwurfsvoll zurück und hob die Hände: ›Aber, Herrin, wie könnt Ihr so etwas sagen! Viel schöner seid Ihr geworden!‹ Ein glückliches Lächeln überhuschte Donna Elenas Gesicht von den Augen her bis zum Mund und blieb in den Mundwinkeln sitzen. Sie schloß die Augen, und ihre Nüstern blähten sich. Es war, als ob sie die Antwort einsaugen wollte. Mit geläufiger Zunge pries das Mädchen nun ihre Schönheit im einzelnen und sprach sachkundig von Nase und Mund, von Haaren und Zähnen, von Händen und Füßen und von allerhand Einzelheiten sonst, die ihr bekannt geworden beim Ankleiden, bis Donna Elena errötend rief: ›Höre auf, höre auf!‹ und das Mädchen, lustig lachend, schwieg.

Nach einer kleinen Pause sagte das Mädchen schmeichelnd: ›Herrin, ich habe die Abschrift der Romanze bekommen, die der arme Don Enrique gedichtet hat, als er im Gefängnis saß und Euch unglücklich liebte, weil er Euer Bild gesehen. Soll ich sie singen?‹ Schon stimmte sie die Laute.

Die Herrin antwortete nicht, und ihr Schweigen als Aufforderung nehmend, begann das Mädchen zu singen.«

Der Graf schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ja, durch die nordischen Völker ist die Welt anders geworden. Anderthalb Jahrhunderte ist es her, daß mein Ahn, als Bauer verkleidet, hinter der Lorbeerhecke saß und sein Lied hörte, wie es die Dienerin der Geliebten vorsang. Auf dieser Radierung ist diese Geliebte in all ihrem jugendlichen Reiz festgehalten, auf dem Familienbild ist sie als Mutter und reife Frau gemalt. Nun ist sie seit über hundert Jahren tot, und ihr in ein kostbares Kleid gehüllter Körper ruht unten in unserer Gruft. Ich bin ihr ganz entfernter Enkel, und von diesen zehn Kindern auf dem Bilde hier ist keine einzige Nachkommenschaft mehr übrig außer mir. Die Welt von damals ist versunken. Und doch fühle ich alter Mann ein jugendliches Rühren im Herzen, wenn ich mir vorstelle, wie mein Ahn sein Lied hört und die Geliebte dabei sieht. Das ist doch bloß Natur, es ist nichts anderes, als wenn der Fink auf einen Ast flattert und seinen Schlag hören läßt, um das Weibchen zu fesseln. Mein Ahn wußte wenig und hatte wohl noch weniger gedacht. Wieviel weiß ich, wieviel habe ich gedacht! Deshalb bin ich wohl der Letzte meines Geschlechts, und ich kann nicht erwarten, daß ein Sohn mich besucht und seine Kinder mitbringt.«

Es hatte mir zuweilen geschienen, als ob die Gedanken des Grafen in Sprüngen gingen. Nun wurde mir immer klarer, daß das nicht ein sprunghaftes Denken war, sondern ein verschiedenartiges Aufleuchten von einzelnen Punkten aus seinem Leben. Ich dachte mir: Er hat wohl recht mit seinem Urteil über unsere heutige Zeit. Sollte nicht auch unser festgeschlossenes Denken ein Mißbrauch sein? Dieser Mann hat sein Leben immer denkend beobachtet; nun hält er ein Selbstgespräch, in dem der Gehalt seines Lebens immer durchscheint. Wenn man die einzelnen Gedanken verbände, so erhielte man ein Schicksal, ein inneres Schicksal – das Schicksal des vornehmen Mannes in der bürgerlichen Gesellschaft, der nicht mehr nach seinen Trieben leben kann und dadurch abstirbt. Er ist wie eine Pflanze, die in falsche Erde gesetzt ist.

Aber wie? Hatte er nicht recht, als er so betonte, daß ich bürgerlich bin? Ich hätte wohl nicht die Torheiten des Don Enrique begangen. Aber ertappe ich mich nicht auf einer süßen und lässigen Sehnsucht, wenn ich höre, wie er hinter der Lorbeerhecke lauscht? Ist es so, daß auch ich vergessen möchte? Ich weiß noch viel mehr und habe noch viel mehr gedacht als der Graf. Was hilft mir das nun? Wie selig ist der Vogel auf seinem Zweig, der seinen Schlag schmettert! Und ich? Mir ist, als müßten mir die Tränen stürzen, wenn ich an den Finkenschlag denke, an Jugend, Liebestorheit, an Selbstvergessen und Leben ohne Denken.

Ich weiß nicht, ob ich von meinen Gedanken etwas verraten habe. Der Graf fuhr fort:

»Das Mädchen beendete das Liebeslied, die Augen Donna Elenas hatten sich mit Tränen gefüllt. ›Armer Don Enrique‹, sprach sie leise. Dann lachte sie auf: ›Wie lächerlich ist es doch, wenn die Männer so um uns verzweifeln! Was haben sie von uns?‹ Sie beantwortete die Frage mit einem Satz, den eine junge Frau aus niedrigern Ständen heute nicht sagen würde, weil er ihr unanständig schiene.

Während die beiden dieses Gespräch führten, kam Don Manuel. Das Mädchen verstummte, auch die Herrin war verlegen. Don Manuel war ohne Arg gekommen. Als er die Verlegenheit der beiden bemerkte, wurde er mißtrauisch. ›Was ist gewesen?‹ fragte er. Donna Elena suchte ihn zu begütigen. Er spähte mit den Augen umher, ging hinter das Gebüsch, und da sah er den verkleideten Don Enrique mit seinem Diener sich erschrocken aufrichten. Er erkannte seinen Gegner sofort, er hatte wohl auch von der Verliebtheit und der Romanze gehört. Plötzlich erfaßte ihn eine blinde Eifersucht; er zog den Degen und drang auf Don Enrique ein. ›Halt!‹ rief Don Enrique, ›ich habe keine andere Waffe‹, und hielt das geladene Pistol vor. Aber Don Manuel hörte nichts. Schon war die Spitze seines Degens nur wenige Zoll von der Brust des andern entfernt, da schoß der. Die Kugel traf mitten in das Herz. Don Manuel stieß einen Schrei aus; der Tod schnitt ihm den Schrei ab. Er stürzte vornüber zu Boden.

›Schnell, schnell, wir müssen uns retten, Herr!‹ rief der Bauer. Mit großen Sprüngen eilten die beiden an den Frauen vorbei, die sprachlos dastanden und noch nicht Zeit gefunden hatten, das Geschehene zu fassen. Als die Flüchtigen die Mauer überkletterten, hörten sie den ersten Schrei.

Don Enrique floh mit seinem Diener nach Frankreich. Durch die Vernehmung des Gärtners stellte sich schnell heraus, daß Don Enrique der Mörder gewesen war. Der erzürnte König ließ bekanntmachen, daß er dem Tode verfallen sei, wenn er es wagen sollte, zurückzukehren.

Donna Elena war die Erbin ihres getöteten Gatten, dem sehr große Besitzungen in Portugal gehörten. Aber sie mochte nicht in dem fremden Lande leben und zog wieder zu ihrem Vater, mit dem sie erst vor ein paar Monaten von ihrem Hause fortgereist war. Kaum war sie wieder einige Wochen mit ihm zusammen, als Don Pedro in eine hitzige und schwere Krankheit verfiel, die ihn in einigen Tagen dahinraffte. So stand sie denn ohne Gatten und Vater allein in der Welt; auch nähere Verwandte hatte sie nicht. Sie war sehr reich, ganz unabhängig, jung und schön; aber sie wußte nicht, was sie mit ihrem Leben beginnen sollte. So blieb sie denn unschlüssig, planend, verwerfend und allerhand wirre Zukunftshoffnungen hegend in ihrer altgewohnten Umgebung, wo alles seinen alten Gang weiterging.

Die heutigen Menschen haben die Vorstellung, daß die Liebe solch ein fester Begriff ist wie etwa das Viereck oder der Kreis, und Donna Elena würde nun wohl eine trauernde Witwe gewesen sein, in schwarzen Kleidern und langem schwarzen Schleier. Sie dachte naturgemäß viel an ihren toten Gatten, an das Leben mit ihm, das doch viel freier war als ihr früheres und jetziges Leben, an Besuche, Feste, Vorführungen aller Art, an das bewegte Dasein in Madrid überhaupt, und ein heftiger Groll befiel sie, daß das alles durch Don Enrique zerstört war. Es konnte wohl geschehen, daß sie in plötzlichem Zorn auf ihre erschrockene Gesellschafterin losfuhr und ihr Vorwürfe machte, daß niemand sich um sie kümmere, daß sie als junge Frau in dem alten Kasten ihr Leben verbringen solle, daß die Männer alle dumm seien, und daß die Gesellschafterin auch keinen Verstand habe. Diese bekreuzigte sich dann oder hielt ihr auch beschwörend das Kruzifix vor, um die Wut zu bannen, die aus der Herrin sprach.

Inzwischen hatte Don Enrique in dem fremden Land ein verdrießliches Leben. Spanier und Franzosen werden sich nie verstehen. Menschen und Einrichtungen kamen ihm lächerlich und verächtlich vor, und es reizte ihn alles so, daß er den Franzosen gegenüber ungeschickt und verlegen war. Eine solche Lage war ganz danach angetan, seine romantische Liebe zu Donna Elena zu erhalten und zu verstärken. Tausendmal sprach er mit dem treuen Diener alles durch, wie es gewesen war in dem Garten, was Donna Elena gesagt hatte, ob sie errötet war, als die Zofe das Lied sang. Er fragte, ob sie ihn wohl gesehen habe, als er mit Don Manuel kämpfte, ob sie vielleicht noch wisse, wie er aussehe, ob es wohl möglich sei, daß sie den Mörder ihres Gatten lieben könnte.

An einem Abend sagte er zu dem Diener: ›Morgen früh reiten wir ab. Ich will Donna Elena wiedersehen. Wir verkleiden uns als Bauern wie damals. Niemand wird uns erkennen, wenn wir vorsichtig sind.‹

Der treue Mann bereitete in der Nacht alles vor für eine heimliche Rückkehr nach Spanien, und so machten sich die beiden am andern Morgen auf den Weg.

Unterwegs führten sie allerhand Gespräche. So sagte Don Enrique: ›Die Liebe ist das Vorrecht edler Seelen und hochgeborener Personen. Du würdest sehr irren, Gil, wenn du annähmest, daß das, was unsereins fühlt, auch in euren Kreisen sein könnte.‹ Gil war damit im allgemeinen einverstanden, fand aber doch, daß Ausnahmen vorkämen. So hatte sich der Schulzensohn in ein Mädchen verliebt, das schon einen andern hatte und ihn deshalb nicht wollte. Er war schwer krank geworden. Wohl war er durch einen klugen Arzt gerettet worden, aber er hatte doch nachher nicht geheiratet, obgleich er den schönsten Hof im Dorf hatte und ihn jedes Mädchen gern genommen hätte. Und während die beiden solche Gespräche führten, ging die Sonne auf, und die Vögel begrüßten sie mit anmutigen und heiteren Liedern. Die Maultiere schnauften und schüttelten die schellenbehangenen Köpfe, und der Tau verschwand vor den Strahlen der Sonne zusehends von den Wiesen.

Die beiden Reiter gelangten ohne Unfall über die Grenze und zogen weiter. Schließlich kamen sie in das Dorf, wo das Kastell der Donna Elena lag. Da war ein großes Wirtshaus mit einem beflissenen Wirt. Hier kehrten sie ein. Sie ließen sich ein Zimmer geben und kamen dann in die Küche hinunter, um das Essen zu bestellen. Der Wirt sagte, daß er ihnen einen vorzüglichen Kaninchenpfeffer vorsetzen könne. Sie waren einverstanden und warteten, daß er zubereitet wurde. Inzwischen setzte sich der Wirt zu ihnen, um sie mit Gesprächen und Erzählungen zu unterhalten.

Als sie gegessen hatten und wieder auf ihr Zimmer gegangen waren, sprach der Wirt zu seiner Frau: ›Mit diesen beiden Reisenden hat es eine Bewandtnis. Sie verbergen ein Geheimnis. Sie sind nicht, was sie scheinen wollen. Weshalb verlangten sie ein Zimmer für sich allein, statt, wie wirkliche Bauern, im allgemeinen Schlafraum zu übernachten? Hast du gesehen, wie der eine den andern bediente? Hast du gesehen, wie der, der bedient wurde, in deinem Kaninchenpfeffer herumstocherte, als ob er nicht gut genug für ihn sei? Der ist feinere Speisen gewohnt. Ich sehe an ihrem Sattelzeug, daß sie aus Frankreich gekommen sind. Sie wollen hier spionieren, sie sind heimliche Abgesandte des Königs von Frankreich. Aber ich werde schon hinter ihre Schliche kommen, und unser König knickert nicht, wenn man ihm wichtige Nachrichten bringt.‹

Es kann für einen Gastwirt immer wichtig sein, was seine Gäste miteinander sprechen. So war in dem Haus auch eine Einrichtung, durch die unser Wirt in bequemer Lage die beiden belauschen konnte, als sie die Kleider ablegten, um ins Bett zu gehen, bei welcher Gelegenheit, wie er aus Erfahrung wußte, häufig der Tageslauf besprochen wird und Entschlüsse für den folgenden Tag gefaßt werden.

›Morgen werde ich sie wiedersehen,‹ sagte Don Enrique, indem er seine Hosen auszog und an einen Nagel hängte. ›Wird sie mich erkennen? Und wenn sie mich erkennt, wird dann der Groll auf den Mörder ihres Gatten übermächtig sein?‹

Der Wirt spitzte die Ohren.

Gil gähnte. ›Der Kaninchenpfeffer war gut. Etwas schärfer hätte er sein können. Er muß im Gaumen brennen.‹

An der Wand hing eine Laute. Don Enrique nahm sie, setzte sich im Hemd, mit nackten Beinen auf den Bettrand und schlug ein paar Töne an. Sie war verstimmt, und er schraubte.

›Ich wette meinen Kopf, daß Donna Elena Euer Gnaden nicht erkennen‹, sagte Gil.

Der Wirt wusste genug. Leise zog er sich aus seinem Versteck, huschte mit nackten Füßen die Treppe hinunter und rief seiner Frau zu: ›Schnell den Sonntagsanzug, die guten Schuhe! Ich muß gleich aufs Schloß.‹ Seine Frau fragte erregt, er antwortete: ›Bekümmere du dich um deine Töpfe, ich muß aufs Schloß, schnell!‹

Er kam eben noch vor dem Zubettgehen auf dem Schloß an und berichtete dem Haushofmeister, daß Don Enrique bei ihm wohne, daß er mit einem verdächtig aussehenden Mann gekommen sei, und daß er die Absicht habe, Donna Elena zu entführen. Aber er, der Wirt, habe gewacht. Donna Elena könne ihn gefangennehmen und ihn für den Mord und die geplante Entführung den Gerichten ausliefern. Er liege im Bett und schlafe, und wenn man zielbewußt vorgehe, so könne man ihn mit dem Genossen seiner Verbrechen ohne Gefahr verhaften.

Der Haushofmeister führte den Mann sogleich zu Donna Elena.

Sie hörte die Erzählung, und ihre Augen blitzten. ›Der Unverschämte!‹ rief sie aus. ›Ist es ihm nicht genug, mich zur Witwe gemacht zu haben? Will er sich noch weiter ins Unglück bringen? Will er sich an meinem Unglück weiden? Aber‹ – und hier nahm sie einen kleinen spitzen Dolch, der auf ihrem Tischchen lag und schwang ihn – ›er soll sehen, daß auch Weiber Mut haben können. Niemandem will ich meine Rache anvertrauen. Ich selbst will meinen Haß in seinem Blute kühlen.‹ Alle Männer des Schlosses wurden aufgeboten; ihnen voran ging mit beflügeltem Schritt Donna Elena. Der Haushofmeister ließ die Eingänge des Gasthauses besetzen, und leise erstieg man die Treppe. Der Wirt öffnete die Tür des Schlafzimmers mit einem Nachschlüssel, und Donna Elena, in der Linken eine Laterne, in der Rechten den Dolch, schritt hinein, hob die Laterne, um das Gesicht des schlafenden Don Enrique zu beleuchten. Sie war entschlossen, dem Mörder den Dolch in das Herz zu stoßen.

Aber als sie ihn so ruhig im ersten Schlaf, mit dem Ausdruck des friedlichsten Gewissens von der Welt liegen sah, da versagte ihr plötzlich der Wille. Es schien ihr, als könne sie nicht den Schlafenden ermorden. Sie rief ihn mit Namen: ›Don Enrique, erwacht, macht Euch bereit!‹

Don Enrique schlug die Augen auf, tiefblaue Augen, und sah sie in seiner Schlaftrunkenheit erstaunt an. Plötzlich überflog seine Züge ein Ausdruck des höchsten Entzückens. ›Donna Elena!‹ rief er und breitete die Arme weit aus. Sie schaute ihn entgeistert an, und der Dolch fiel klirrend auf den Boden.

Die Männer stürzten vor, um sich auf Don Enrique zu werfen. ›Halt!‹ rief sie aus. ›Daß ihm keiner ein Leid zufügt! Nehmt ihn gefangen und führt ihn aufs Schloß!‹

Wieder stellt sich die Schwierigkeit heraus, zu bestimmen, was ›Liebe‹ ist. Man muß wohl sagen: die junge Frau war in den Jahren, wo sie empfänglich für die Liebe eines Mannes war; sie war eine junge Witwe und hatte erfahren, was das Zusammenleben mit dem Mann ist, und Don Enrique liebte sie zärtlich und war ein schöner und stattlicher Jüngling – wie hätte sie imstande sein sollen, ihn zu töten oder ihn von andern töten zu lassen?

Don Enrique und sein Begleiter wurden gefesselt und auf das Schloß geführt. Donna Elena gab Anweisung, sie nicht im Gefängnis unterzubringen, sondern in festen und vergitterten Zimmern, so daß der Diener immer seinem Herrn die nötigen Handreichungen leisten konnte.

Sie hätte jetzt an das nächste königliche Gericht schreiben müssen, um ihm die Gefangenen auszuliefern. Aber von Tag zu Tag schob sie das auf. Sie wollte sich vorher erst noch über alle Umstände des Mordes vergewissern, damit sie dem Gefangenen nicht etwa unrecht tue. Ihr Gemahl sei sehr hitziger Natur gewesen, und es sei doch möglich, daß Don Enrique ursprünglich gar nicht die Absicht gehabt habe, ihn umzubringen, daß vielmehr der Mord nur in der Verteidigung gegen einen unerwarteten Angriff geschehen sei. Schließlich sei der Verdacht Don Manuels auch beleidigend für sie gewesen, denn eine Frau aus gutem Hause weiß doch, was sie sich und ihrem Gatten schuldig ist. Jeden Abend beschloß sie, zu den Gefangenen zu gehen und ihn zu fragen, wie er zu seiner Leichtfertigkeit gekommen sei; aber dann scheute sie sich doch immer und schob das Gespräch mit ihm wieder auf.

So war nun Don Enrique etwa seit einer Woche im Schloß der Donna Elena gefangen. Er wurde gut gehalten, es fehlte ihm nichts als die Freiheit. Deren Mangel war ihm allerdings doppelt schwer, da er wußte, daß er unter einem Dach mit der Geliebten verweilte. Der Mann, der ihn und seinen Diener versorgte, brachte ihm eine Laute, und er drückte seine Gefühle und Gedanken in einer neuen Romanze aus. Die Zofe lauschte unter seinem Fenster und wußte sie bald auswendig; sie trug sie ihrer Herrin vor, die unwillig errötete, und schwärmte von dem blassen Gesicht und den verliebten Augen des Ritters, denen sie, die Zofe, nichts würde verweigern können, wenn sie so zärtlich geliebt würde.

Da geschah es, daß der König in die Nähe von Donna Elenas Schloß kam, und da er Don Pedro immer hoch geschätzt hatte und das schwere Los der ohne jeden Schutz dastehenden und unerfahrenen Witwe ihm naheging, so beschloß er, eine Nacht hierzubleiben, sich nach allem zu erkundigen und zu sehen, ob er nicht, als der natürliche Vormund, ihre Verhältnisse wieder in Ordnung bringen könnte, etwa durch eine Heirat mit einem ordentlichen Mann, bei dem sie mit ihrem großen Besitz gut aufgehoben war.

Er wurde empfangen, wie es sich gebührt, und wie es der Ehre entsprach, die er erwies. Er gab Befehl, daß er mit Donna Elena allein speisen wolle, und so wurde im großen Saal nur für ihn und die Dame des Hauses ein Tisch gedeckt.

Als sie allein waren, brachte er das Gespräch darauf, daß sie doch nicht dauernd so leben könne, daß eine Frau nicht imstande sei, eine so große Verwaltung zu führen, daß die vornehmen Familien auch für ihre Erhaltung sorgen müßten, denn sie wären ja die eigentlichen Stützen des Königs. Die hocherrötende Donna Elena merkte gar wohl, wohinaus der König wollte.

Sie hatte Don Enrique nur ein einziges Mal gesehen, bei dem Licht ihrer Laterne. Aber sie hatte früher schon manches von ihm gehört, und jetzt hatte die Dienerin immer von ihm geschwatzt. So war denn allerhand Traum und Vorstellung um sein Bild gerankt. Man würde unrecht tun, wenn man plump irgendeine Absicht, einen Gedanken annähme; aber es war doch so, daß sich die Gestalt Don Enriques immer vor ihre Augen schob, als der König seine Worte vorbrachte.

Sie erwiderte nichts auf die Fragen des Königs, sondern sie erzählte ihm unvermutet, Don Enrique, der durch ein Mißverständnis in Kampf mit ihrem verstorbenen Gatten geraten sei und ihn dabei getötet habe, sei in ihre Gegend gekommen; sie habe es für ihre Pflicht gehalten, ihn gefangenzunehmen, und bitte den König, daß er ihn vor sich kommen lasse, um ihn über seine Tat zu befragen.

Der König war zuerst verwundert und geärgert über das Abschweifen der Frau. Aber dann merkte er ihre Verlegenheit, ihr Erröten, und es durchblitzte ihn: Da ist ja der Eheherr schon gefunden! Er unterdrückte ein Lächeln und befahl, daß ihm der Gefangene sofort vorgeführt werde.

Don Enrique kam. Donna Elena saß blutübergossen dem König gegenüber und stocherte mit der Gabel auf ihrem Teller herum. Auch Don Enrique wurde rot bis an die Schläfen.

Der König stand auf, und eine eigene Rührung über die beiden jungen Leute überkam ihn. Er sagte: ›Don Enrique hat jugendliche Torheiten begangen, die ein Unglück zur Folge hatten. Ich habe ihm längst verziehen. Nun befehle ich Euch, Donna Elena, daß auch Ihr ihm seine Tat verzeiht, die er nicht mit Absicht und Überlegung getan hat. Und als Euer Lehnsherr, der berechtigt ist, über Eure Hand zu verfügen, damit Eure Güter Diener für mich erhalten, gebe ich Euch dem Don Enrique als Gattin.‹ Er nahm ihre Hand, die sie ihm willenlos ließ, und legte sie in die Hand Don Enriques, der ihn mit runden Augen groß ansah.«

Die Erzählung war beendet, und der Graf schwieg eine Weile. Ich sah auf das Familienbild, auf die blühende Frau mit den gesunden und heiteren Kindern, auf den stattlichen Mann.

»Ja, eine große Familie wurde es«, sagte der Graf. »Jedem der Kinder fiel aus dem großen Besitz ein Erbe zu, und das Blut der beiden könnte heute in hundert, ja in tausend vornehmen Männern und Frauen pulsen. Anderthalb Jahrhunderte sind es her, daß die beiden ihren Ehebund schlossen und der Älteste geboren wurde, dessen letzter Sproß ich bin. Ich bin der letzte; und von keinem der andern Kinder leben heute noch Nachkommen.

Wenn ich sterbe, dann wird das, was hier von meinen Vorfahren her noch vereint ist, in alle Richtungen zerstreut werden. Dieses Bild wird dann wohl nach Madrid in das Museum kommen. Die Radierung nimmt man wahrscheinlich aus dem Rahmen und vergleicht sie mit dem Stück, das man in der Kupferstichsammlung hat; den besseren Abdruck behält man, und der andere wird verkauft und kommt in den Handel. Vielleicht legt ihn ein Sammler in Nordamerika in seine Mappe. Um das große Bild herum aber stehen die Museumsdirektoren und Kunsthistoriker und geben ihr Urteil ab – ja, die Welt ist bürgerlich geworden. Auch Madrid ist ja jetzt eine Großstadt von heutiger Art mit neuen Stadtvierteln, Straßenbahnen, elektrischem Licht, und bald wird wohl auch Spanien seine Arbeiterregierung haben, und in Volkshochschulen wird man dem bildungshungrigen Proletariat mitteilen, daß Goya ein großer Maler gewesen ist.«


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