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Nora

D Die Dämmerung war angebrochen und ein melancholisches Novemberwetter trieb sein Wesen auf den Stoßen. Regen und Schnee hatten einen Wettkampf begonnen, und es war nicht zu entscheiden, wer von ihnen Sieger bleiben würde. Schläfrig und grau schaute der Himmel von oben zu, seine bleierne Schwere schien alles erdrücken zu wollen, ja selbst auf das Gemüt des Menschen machte sich der Einfluß dieser herbstlichen Witterung geltend. Ich hatte die Gardinen zugezogen, die Lampe angezündet und das Feuer durch einige Scheite Holz in hellen Brand gesetzt; eine Störung von außen war bei diesem Wetter nicht zu erwarten, und so wollte ich die einsame Stunde benutzen, um vor Jahresschluß meine Briefe zu ordnen und sie dann wieder in das Fach meines Schrankes zu legen, in welchem ich so liebe Erinnerungszeichen aufzubewahren pflege. Bei dieser Arbeit fiel mir ein Päckchen in die Hände mit der Aufschrift »Nora«; ich öffnete die Hülle, und wie Sommersonnenschein schien es über die Blätter und Photographieen zu gleiten, die enthüllt auf dem Tisch vor mir lagen. Eine Reihe schönster Jugendtage blühte vor meiner Seele auf, und Bild um Bild, Blatt um Blatt wob den alten Reisezauber um mich, der mit jenen Blättern so eng verwachsen war.

Mit meinen Eltern reiste ich zum erstenmal in die weite unermeßliche Welt hinein, alles war mir neu, alles war für mich groß und erhaben, und für alles hatte ich ein offenes Auge. Noch nie hatte ich eine Großstadt gesehen; wie mußte mir daher eine Stadt wie München imponieren, die unser erstes Ziel bildete. Noch heute halte ich München für eine der vornehmsten, schönsten Städte: München mit seinen herrlichen Bauwerken, seinen großen wohlgepflegten Plätzen, wo der Rasen so sammetartig, wo die Blumen so farbenglühend prangen. München, mit seinen reichen Kunstschätzen, mit seinen wundervollen Kirchen und seinem Theater, über dessen Bretter so manches Genie seinen Triumphzug gehalten hat. Wir waren schon tüchtig umhergewandert, hatten genußreiche Stunden in den Sälen der Glyptothek und in den Pinakotheken verbracht, hatten die Stunden der Dämmerung angewandt, um den über alles schönen Friedhof kennen zu lernen, wo die trauernde Liebe ihre teuren Gräber mit so sinnigem Blumenschmuck umkleidet und selbst den harten Marmor so zu beleben weiß, daß er dem Schmerze, der Treue oder der Erhebung Gestalt giebt und als herrliches Kunstgebilde die stille Todeszelle verklärt.

Endlich besuchten wir auch noch die Werkstatt eines der berühmtesten Bildhauer, und es war mir von großem Interesse, die Gestaltung eines Nestes kleiner Liebesgötter in drei verschiedenen Stadien seiner Entstehung bis zur Vollendung zu verfolgen.

Das Atelier war noch von einigen Fremden besucht, die meinen enthusiastischen Ausrufen wohl öfter ein Lächeln nachsandten. Abgesondert von dem größeren Trupp von Besuchern, fiel mir eine einsame, fast überschlanke weibliche Gestalt auf, die eine Statue betrachtete, welche als »Mignon« bezeichnet war. Es ergriff mich eine unbeschreibliche Rührung beim Anblick dieser »Mignon«.

Atemlos stand ich dicht hinter der Fremden, welche meine Nähe nicht vermutete, und regte mich nicht, um sie nicht zu stören. Schien sie mir doch selbst eine zweite Mignon zu sein. Die schwermutvolle Vereinsamung drückte sich in der Neigung des feinen Köpfchens unverkennbar gleichmäßig bei beiden Gestalten aus. Mignon lehnt an einem von Reben umrankten Stamm. Das Gewand schmiegt sich gefällig um die zarten Glieder der noch halb kinderhaften Gestalt. Das ganze rührende, schwermutsvolle Wesen »Mignons« ist so warm in tadellosem, weißem Marmor dargestellt, daß die Gestalt zu leben scheint. Wie lange wir beide uns so lautlos in das Anschaun dieser Statue vertieft haben mochten, weiß ich nicht, wir hatten eben alles um uns her vergessen, und erst der Ruf des Namens: »Nora« führte uns in die Wirklichkeit zurück. Bis jetzt hatte ich die Züge der jungen Fremden nicht gesehen, als sie jedoch jetzt den Kopf wandte, sah ich in ein Auge, in welchem eine Thräne schimmerte, ein schönes halbverschleiertes Auge, das mit flüchtigem Blicke an mir hinglitt. Die Familie, der sie sich nun anschloß, mochte eine feine aristokratische sein. Zwei Mädchen von 8 und 10 Jahren mit blonden Zöpfen und kurzen Kleidern hingen sich an ihre Arme und alle entfernten sich aus dem Atelier.

Ich hatte den Fremden nachgeschaut, bis sich die Thür hinter ihnen schloß, und als ich nun meine Blicke wieder auf »Mignon« richtete, schien sie mir plötzlich wie verwandelt. Das Leben schien aus ihr entschwunden zu sein, und ich hatte alles Interesse für das Kunstwerk verloren. Die Eltern begannen aber auch an den Rückzug zu denken, und so strebte ich mit Sehnsucht dem Sonnenlicht draußen und dem frischen, warmen Leben zu.

In dem großen englischen Park suchten wir des Nachmittags Schutz vor der Sommerglut und Hörteil ein gutes Konzert von Gungl, das mit seinen fröhlichen Tanzmelodieen uns in die heitere Stimmung versetzte, die in den Volksgärten Münchens heimisch ist.

Am anderen Morgen winkten uns die Alpen lockend aus der Ferne zu; die Stadt konnte uns nicht länger festhalten, wir bestiegen fröhlich den Schnellzug, der uns an das ersehnte Ziel tragen sollte.

In der Ferne bauten sich, Wolken gleich, die Gebirge auf, zur Linken glänzte aus der Tiefe herauf der Starnberger See mit seinen Villen und Gärten, aber alles glitt nur wie ein Phantom an uns vorüber.

Tief, tiefer in die Berge hinein zog es uns, und in einer jener wundersamen Sommerfrischen, an denen die Gebirgsthäler Bayerns so reich sind, wollten wir für einige Wochen Aufenthalt nehmen und uns dem Zauber der Alpenwelt hingeben. Das Glück begünstigte uns.

In einer reizend gelegenen Villa, in dem gemütlichen Schweizer-Stil erbaut, bekamen wir eine Wohnung ganz nach unseren Wünschen.

Von dem Balkon aus, auf welchem wir durch eine Glasthür aus unserem Salon gelangten, hatten wir den Blick auf ein wunderbar schönes Thal.

Es leuchtete uns entgegen, mit dem frischesten Grün geschmückt, belebt durch unzählige Heustadel. Ringsum bauten sich Gebirge großartig auf.

Hinter dem anmutigen Vorgebirg ragten, stolz und schroff, blendende Kalkalpen hervor, deren Häupter mit leuchtendem Schnee gekrönt waren.

Auf diesem Balkon konnte ich nun stundenlang mich in die wundervolle Natur versenken, und täglich fand ich neuen Stoff zur Bewunderung. Die ewig wechselnde Beleuchtung, die sinkenden oder steigenden Nebel, die ziehenden Wolken, sie gaben dem Ausblick einen immer neuen Reiz. Unter unserem Balkon breitete sich ein anmutiger Garten aus, in welchem wir manche Stunde verbrachten; schattige Sitzplätze luden zu beschaulichem Verweilen ein.

Eines Abends entstand eine ziemliche Unruhe in unsrer ländlichen Villa; ein Reisewagen fuhr vor, Koffer und Reiseutensilien wurden abgeladen, und auf meine Nachfrage erfuhr ich, daß eine fremde Herrschaft eingezogen sei und die erste Etage bewohne. Ich konnte von unserem Balkon aus ein wenig in die Zimmer unter uns schauen, denn die Thür, die auf den unteren Balkon führte, stand offen, und ein sanftes Lampenlicht drang durch die Öffnung. Bald hörte ich auch ein geschäftiges Aus- und Eingehen in den Zimmern unter mir, und ein Stimmengewirr drang zu mir herauf. Unterdessen war der Mond aufgegangen und warf sein silbernes Licht über die gewaltigen Bergriesen. Unter mir trat eine leichte, zarte Gestalt an das Geländer, das mit Reben umrankt war; unwillkürlich entschlüpfte mir ein halblauter Ausruf: »Mignon«! Überrascht wandte die Gestalt mir das Antlitz zu; der volle Mondschein lag auf ihrem Gesicht und ich sah ein liebliches Lächeln um ihren Mund spielen.

Sie grüßte mich und trat in das Zimmer zurück.

So wohnten wir denn unter einem Dache und ich sollte dem lieblichen Geschöpfe, das meine Gedanken seither so viel beschäftigt hatte, näher treten; ich fühlte, daß ich sie lieben lernen würde, ja daß ich sie mit der ganzen Schwärmerei eines siebzehnjährigen Mädchens lieben würde, und klopfenden Herzens sah ich der ersten Begegnung mit Nora entgegen.

Die erste Bekanntschaft mit Nora und deren Begleitung fand im Speisesaal statt; oft trafen wir uns im Garten, unsre Familien schlossen sich aneinander an und Nora und ich wurden Freundinnen. Kam auch Nora meinem liebedurstigen Herzen nicht mit gleicher Glut entgegen, so wurde ich doch mehr und mehr davor: überzeugt, daß sie meine Liebe mit einer innigen, mildfreundlichen Zuneigung erwiderte. Wie alt sie eigentlich sei, darüber war ich mir nicht klar. Bei einer so zarten Gestalt mit einem so fein geschnittenen Köpfchen, das so ungemein jugendlich aussah, überraschte mich doch der Ernst, der auf der blendend weißen Stirn ruhte; auch hatte sie ein gereiftes Urteil und eine gründliche tiefgehende Bildung. In der Familie, in welcher sie sich bewegte, nahm sie eine eigentümliche Stellung ein; sie war Erzieherin, Gesellschafterin, Freundin und das gegenseitige Verhältnis schien ein ganz freiwilliges zu sein.

Noch nie hatte mich ein junges Mädchen so angezogen wie Nora.

Hier bemerkte man kein kindisches Wesen wie bei so vielen jungen Mädchen; man hörte von ihr kein lautes Lachen, kein albernes Geschwätz, aber sie war eine heitergraziöse Gesellschafterin, und ging gern auf kleine, harmlose Neckereien ein.

Bei aller bescheidenen Zurückhaltung wurde sie doch immer der Mittelpunkt der Gesellschaft, die sie anmutig zu beleben und anzuregen wußte.

Unter den Kindern aber war sie selbst wie ein harmloses Kind, und wir tollten lustig mit ihnen im Garten umher.

Dieses Zusammenleben brachte uns ganz unvergeßlich schöne Tage, und ich schloß mich fest und fester an Nora an; sie besaß in kurzer Zeit mein unbegrenztes Vertrauen, und für alles, was mein junges Herz bewegte, so unwichtig es gewiß auch oft war, schenkte sie mir eine immer gleiche Teilnahme, und ich fühlte mich in ihrer Nähe wie unter einem schützenden Obdach.

Trotzdem trat sie mir nicht in gleicher Weise nahe, wie ich schon früher erwähnte; sie selbst schien das Bedürfnis der Mitteilung nicht zu kennen; es lag etwas Unnahbares in ihrem Wesen und auch nur von fern eine unbescheidene Frage an sie zu richten, hätte ich nie den Mut gehabt. Diese Eigenart ihres Seins trat am deutlichsten im Verkehr mit jungen Männern hervor, die ihr großes Interesse widmeten.

Sobald ihr aber eine wärmere Huldigung dargebracht wurde, verwandelte sich ihre herzliche Freundlichkeit alsbald in ein so kaltes und schroffes Zurückweisen, daß sie oft bitter verletzte.

In dem Kreise, mit dem wir verkehrten, befand sich ein junger Mann, Günther mit Namen, ein hochgewachsener, ernster, kluger und feingebildeter Mann, der sich gern und angelegentlich mit Nora unterhielt, und wie er den Stoff der Unterhaltung immer in geistvoller Weise beherrschte, wußte er auch uns Mädchen in einer Weise heranzuziehen, daß wir ungezwungen und ohne Zagen unsre Gedanken und Urteile aussprechen konnten.

Wir berührten in lebhaftem Gespräch die ernstesten Gebiete, und seine liebenswürdige Art verbarg es, daß er uns belehrte, ohne daß wir es bemerkten.

Ich ahnte es bald, daß Nora Eindruck auf ihn machte; er blieb jedoch zurückhaltend und beobachtend im Verkehr mit ihr, was bei Nora die Folge hatte, daß sie sich um so ungezwungener dein Reiz seiner Unterhaltung hingab. Es wurden fast täglich weitere Partieen gemacht. Günther fehlte nie und es war schon als fest angenommen, daß er der stete Begleiter, ja selbst Beschützer von uns war, da nicht alle Wanderungen im Gebirge von Gefahren frei waren. Fehlte er ja einmal, so empfanden wir die Lücke lebhaft, und es wurde uns dann der Genuß der landschaftlichen Schönheiten sehr geschmälert, denn unter seinem Urteil bekam auch das Geringere einen Wert, wie das Großartige eine höhere Bedeutung gewann. Es war mir außer Zweifel, daß auch Nora unter diesem Einfluß stand, zugleich befremdete mich aber auch die Wahrnehmung, daß sie darunter zu leiden schien, ja daß sie sich sichtlich bestrebte, sich von dieser Beeinflussung zu befreien. Günthers feines Gefühl ließ ihm dies gelegentliche Zurückziehen sehr leicht merken, und er zeigte dann oft eine empfindliche Reizbarkeit, die bei dem fast magnetischen Zuge, der beide immer fast gegen ihren Willen zu einander hinzog, ein für alle Teile peinliches Wechselspiel herbeiführte.

Mir war das Benehmen dieser beiden unbegreiflich; warum sträubten sie sich so heftig gegen eine Neigung, die nach meiner Ansicht eine ganz gerechtfertigte war? War doch Günther ein Mann von sittlichem Ernst und gereiftem Charakter; auch seine äußeren Verhältnisse schienen recht günstige zu sein. Und war nicht Nora dagegen so lieblich und reizend, so klug und gebildet, und so ganz dazu geschaffen die Zierde eines wohlbegründeten Hausstandes zu sein? So oft ich auch den Schlüssel zu diesem rätselhaften Benehmen suchte, ich fand ihn nicht, denn Nora vermied es sichtlich mit mir über Günther zu sprechen. Was sie mir aber auch zu verbergen suchte, ich las es in ihren Zügen, ich merkte es an der Blässe ihres Antlitzes, und an dem getrübten Blick ihrer sonst so glänzenden Augen, daß sie litt.

Unser Aufenthalt ging seinem Ende entgegen; wir beabsichtigten, die schon herbstlich werdenden Tage tiefer im Süden zuzubringen und zwar an dem schönen Comer-See. So traurig ich auch war, mich von Nora trennen zu müssen, so suchte ich mich doch in das Scheiden zu finden. Da die Verhältnisse unseres kleinen geselligen Kreises durch das sonderbare und auffällige Benehmen der beiden mehr oder weniger beklemmend geworden waren, so beklagte ich unser Scheiden nicht in dem Maße, wie es noch vor kurzem der Fall würde gewesen sein. Der letzte Abend vor unsrer Abreise sollte gemeinsam von uns allen verlebt werden; unsre Gemüter waren bewegt durch den nahestehenden Abschied, und wir fanden uns fürs erste im Gartensalon zusammen, dessen Thüren nach dem Garten zu weit geöffnet waren. Da es ein milder Abend war, zogen wir es vor, noch einige Zeitlang auf den Kieswegen im Garten auf und ab zu wandeln.

Die Sonne war bereits untergegangen, aber auf dem Himmel lag noch ein Widerschein von ihr, und leise fingen die Berge an sich zu färben, bis die weißen, leuchtenden Kalkalpen in flammendes Rot gekleidet vor unsern Augen lagen. Günther hatte sich zu uns gesellt; das Großartige dieser Naturerscheinung überwältigte uns. Wir sprachen vom Scheiden und Wiedersehen, vom Diesseit und vom Jenseit, von Gottes Erhabenheit und Größe und von unserem eigenen kleinen Ich.

Wir redeten von der Liebe Gottes und von der Liebe der Menschen, wie wunderbar man sich oft zusammenfände und wie oft ein einziger Blick hinreichend sei, um ein Band fürs Leben zu knüpfen.

Günthers Stimme klang bewegt. Ich warf einen scheuen Blick nach ihm – der seine hing gerührt an Noras Zügen, aber Noras Blicke waren verhüllt durch die langen Wimpern, von denen einzelne Thränen niedertropften. Wie hätten wir uns aus dieser bewegten Stimmung wieder herausfinden sollen, hätten uns nicht rufende Stimmen daran erinnert, daß wir in der Gesellschaft und am Pianino erwartet würden. Unsre kleine Gruppe löste sich alsbald auf, und wir wollten eben den Garten verlassen, als Günther Noras Hand ergriff und leise und innig zu ihr sprach: »Nora, wann darf ich Sie allein sprechen; ich muß ein ernstes Wort mit Ihnen reden!«

Bei diesen Worten war es, als wenn Nora vom Blitz getroffen würde; ein Zug des Schreckens flog über ihr Antlitz und während ein glühendes Rot Hals und Wangen übergoß, zog sie hastig ihre Hand aus der seinen und rief rauh und hart: »Nie, nie werde ich Sie anhören!« Sie eilte von uns weg, und ließ uns in einer tiefen Verwirrung und Pein zurück. Günther sah ihr mit einer Trauer nach, als ob sich mit einem Schlag die Thore des Paradieses vor ihm geschlossen hätten, und sich zu mir wendend, fragte er: »Können Sie Nora verstehen?«

Ich sah ihn halbbetäubt an, schüttelte schweigend den Kopf, und so gingen wir still nebeneinander dem Hause zu.

Im Salon hatte man unterdessen schon angefangen zu musizieren, ich konnte daher unbemerkt hinter die Gruppen schlüpfen und versuchte beim Servieren des Thees meine Erregung zu bemeistern. Günther kam erst später in den Salon und, abgesehen von einer tiefen Blässe, bemerkte man wenig von dem innern Kampf an ihm, den er soeben bestanden.

Noch später erschien Nora. Sie flüchtete sich wie ein scheues Reh hinter den Schatten dunkler Blattpflanzen und stickte eifrig an ihrer Handarbeit. Wer von den Anwesenden irgendwie musikalisch war, mußte seine Kunst zeigen und Spiel und Gesang wechselten untereinander ab. Dies half uns über die Pein dieses Abends hinweg. Am andern Morgen früh wollten wir abreisen, deshalb wurde der Abend auch nicht so lange, wie sonst wohl, ausgedehnt. Günther drückte mir im Vorübergehen die Hand, grüßte die andern und verschwand. Wir andern nahmen sehr herzlich Abschied voneinander; Nora aber wollte mir später noch ein letztes Lebewohl sagen, wenn alles zur Ruhe sei. So stieg ich denn einstweilen hinauf in mein Zimmer, packte noch das Letzte zusammen und trat dann hinaus auf den Balkon, um noch einen letzten Blick in die schweigende Landschaft zu senden.

Wie dunkle, drohende Wolken starrten mich jetzt in mitternächtiger Stunde die geheimnisvollen Bergmassen an, über die der weite Sternenhimmel seinen Mantel friedevoll und erhaben ausbreitete. In der Reinheit und Klarheit dieser Luft, strahlten die Sternbilder in einem Glanz, wie ich sie noch nie gesehen. Das Herz zitterte mir noch von der Aufregung, in die mich der Abend versetzt hatte, aber der Frieden, der aus diesem stillen Sternenhimmel zu mir sprach, legte sich besänftigend um mich, und recht wie ein tröstender Zuspruch in Sternenschrift geschrieben tauchten die Worte in meiner Seele auf: »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen; wenn dem nicht so wäre, wollte ich hingehen, euch die Stätte zu bereiten.« Da fühlte ich eine weiche Wange sich an die meinige legen, und Nora stand neben mir, mich bebend umarmend.

»Gute Nacht, liebes, teures Herz!« flüsterte sie mir zu, »laß uns den Abschied kurz machen, meine Kraft reicht nicht aus zu solchem Schmerz. Lebewohl und verzeihe mir, denn auch dir habe ich heute weh gethan, ohne meine Schuld, aber ich konnte nicht anders.«

»Nora!« rief ich, und meine ganze Liebe drängte mich ihr entgegen, »Nora, gehe so nicht von mir, sei nicht so hart, laß mich nur einmal die Rechte der Freundin genießen, bleibe nur noch eine Minute und sage mir, was dich quält und warum« – ein flehender Blick von ihr wollte mir abermals das Wort bannen, aber unter Thränen rief ich: »Warum quälst und kränkst du ihn so schrecklich? Hast du allein kein Herz?«

Nora antwortete: »Wenn du es wüßtest, wie schmerzlich diese deine Frage mir ist, du würdest sie nicht gethan haben; ich habe keine Antwort darauf, weder für dich, noch für ihn; ihr werdet es mir nie verzeihen, daß ich mich nicht offen aussprechen kann, und ich muß es dulden, von euch beiden verkannt zu werden; ich will mich selbst verbannen, ich gehe fort von diesen lieben Menschen allen, um meinen Kummer in der Einsamkeit zu verbergen, aber dennoch bin ich schuldlos, das sei mein letztes Wort.«

»Das ist Selbstqual,« warf ich ihr ein, »und ist unsinnig, ich lasse dich nicht von mir, bis du mir dein Herz geöffnet hast; so darfst du mir nicht entschlüpfen!«

»Nun denn, es sei,« sagte sie mühsam und ihre Stimme war klanglos. »Höre: Ich bin schon einem andern verlobt!«

Mit diesen Worten riß sie sich aus meinen Armen und ehe ich aus meiner Betäubung erwachte, war sie hinweg. Mir war zu Mut, als hätte sich eine Eisdecke über mein Herz gelegt. Langsam entkleidete ich mich, legte mich todesmüde zu Bett und fühlte mich um ein halbes Jahrhundert älter geworden. Am anderen Morgen reisten wir, es war noch dämmrig und das ganze Thal glich einem Nebelmeer; so grau und farblos war es auch in meinem Innern, und es hätte mich nur noch wehmütiger gestimmt, hätte ich mein liebes Thal noch einmal im Schmuck und Glanz sehen müssen. Noch einen flüchtigen Blick richtete ich nach Noras Fenster; es war mir, als bewege sich die Gardine. Der Wagen rollte fort, alles war vorüber, ich lehnte mich in die Wagenkissen und schloß die müden, verweinten Augen.

Nach mancherlei Unterbrechungen und Extrafahrten that sich das schöne Land Italien vor unsern Blicken auf. Es macht einen gar wunderbaren Eindruck, wenn man, auf den Hochalpen angelangt, abwärts reist, aus der Höhe, wo alles in Erstarrung liegt, wo jede Vegetation erstorben ist, wo kein Baum mehr wächst, nicht einmal das traurige Knieholz mehr vorkommt, wo kein Vogel mehr zwitschert, kein bunter Falter über Blumen gaukelt – und nun stufenweis hinab in die blühende Region des Südens gelangt. Wie freut man sich, wenn man erst wieder die leuchtenden Alpenblumen im Grün der Matten erblickt und die verknorpelte Kiefer der stattlichen Arve den Platz eingeräumt hat; wenn dann Italiens üppige Weingelände am Wege hinziehen und die niedrigen, armen, aber malerischen Dorfschaften im Schatten dichtbelaubter Bäume ruhen. Aber weit auf thut sich das Herz, wenn ganz plötzlich der Comer-See, in seiner ganzen bezaubernden Schönheit mit seinem glitzernden Wellengekräusel vor den Augen liegt. Italiens tiefblauer Himmel scheint sich in seiner Flut zu baden. Reich bewaldete Berge umgeben ihn, weiße Villen mit düstern Cypressen und malerische Dörfer, sowie kleine Städte spiegeln sich vom Ufer aus in seinen blauen Wellen.

Das Dampfschiff trug uns nach der Krone des Seees, nach Belaggio, wo wir Wohnung nahmen. Es waren schöne träumerische Tage, die ich dort verlebte. Es giebt nichts Angenehmeres, als sich in einem jener kleinen zierlichen Kähne hinaustragen zu lassen in die Mitte des Seees. Von den Ufern her tönt melancholisches Glockenläuten aus den unzähligen Kirchen der Umgebung, sonst aber ist alles still. Ausgestreckt im Kahn liegend träumt man sich hinein in den tiefblauen Himmel und läßt sich von den Wellen schaukeln. In den frühen Morgenstunden wanderten wir entlang der schönen Ufer, betrachteten die geschmackvollen Villen inmitten großer Parkanlagen und bewunderten so manches plastische Kunstwerk. Aus den dunkeln Baumgruppen leuchten oft herrliche Marmorgruppen hervor, zu deren Füßen Teppichbeete in glühenden Farben sich ausbreiten. Die heißen Mittagstunden verdämmerten wir hinter dicht geschlossenen Jalousieen ruhend, aber die späteren Nachmittagsstunden ließ ich selten vergehen ohne jene einsame Kahnfahrt, und diese Augenblicke gaben dem Tage für mich den schönsten Abschluß.

So war ich denn auch eines Nachmittags hinaus gerudert auf den See und lag träumerisch ausgestreckt im Kahn. Die Augen halb geschlossen, ließ ich aus den vergangenen Wochen Bild um Bild an mir vorüberziehen. Eine tiefe Sehnsucht nach Nora und der Wunsch, etwas von ihr zu hören, regte sich in mir. Ihr dunkles, mir so rätselhaftes Geschick lag schwer auf mir; es kam mir vor, als habe sich ein trüber Schleier um ihr Bild gelegt; ich erblickte es nicht in seiner früheren ungetrübten Klarheit, und alles Sinnen und Grübeln brachte mich nicht weiter. Die sechste Stunde des Nachmittags nahte, das war die Zeit, wo das Dampfschiff von Colico kommend über den See fährt und bei Belaggio landend die Fremden absetzt; diese Stunde erwartete ich sehr gern in meinem kleinen Kahn, der dann, von den rauschenden Wellen gefaßt, die das Dampfschiff verursachte, auf und nieder schwankte: auch war es immer sehr interessant, zu erforschen, ob unter den vielen Reisenden, die vom Bord aus in die schöne Landschaft schauten, nicht ein mir bekanntes Gesicht zu finden sei.

Schon sah ich die Rauchwolke, näher und näher rauschte das Schiff, das Rad wälzte die Wassermassen mit gewaltigem Brausen, ich aber blickte hinaus nach dem Schiffsrand, und wie verzaubert blieb mein Blick hängen an einer kleinen Gruppe in der Nähe des Steuerruders.

Eine junge Dame lehnte traulich Hand in Hand mit einer hohen Männergestalt am Bord; plötzlich fielen ihre Blicke auf meinen Kahn. »Nora!« rief ich, und »Luci!« rief es von oben – ein Augenblick, das Schiff war vorüber, und nur ein weißes wehendes Tuch gab mir ein Zeichen, daß man mich von dort aus noch grüßte.

Nora und Günther, sie waren es, daran konnte kein Zweifel aufkommen, und beide in so traulichem Beisammensein und so glückstrahlend; was sollte ich davon denken?

Hatte sie mir nicht selbst gestanden, daß sie verlobt sei? wie war nach solchen Kämpfen ein solches Verhältnis möglich? Wie konnte Nora nach all den Vorgängen mit so glücklicher, heiterer und harmloser Miene in die Welt hineinfahren und zwar mit einem Manne, den sie noch vor wenigen Wochen zurückgestoßen hatte? Nora erschien nur jetzt in einem ganz neuen, wenig günstigen Lichte; ich mußte sie eines ganz unverzeihlichen Leichtsinns beschuldigen, während diese Eigenschaft doch gar nicht zu dem früher gewonnenen Eindruck paßte. Ich wußte nicht, was ich von all dem denken sollte?

Natürlich ruderte ich scharf nach dem Landungsplatz, das Schiff aber fand ich nicht mehr, denn es war nach kurzem Aufenthalt weiter gerauscht, und nur ein wirrer Menschenknäuel bewegte sich dem Landungsplatz entlang, nach den Hotels drängend. Von meinem Paare war nichts zu sehen, nur ein zerlumpter Knabe stand noch auf der Landungsbrücke, als erwarte er mich. Er blickte mich fragend an, indem er meinen Namen nannte, und als ich nickte, gab er mir eine Karte in die Hand, kehrte mir den Rücken und lief fort. Auf der Karte aber standen die Worte: »Bald erhältst Du einen Brief von Deiner glücklichen Nora.« Also war sie nicht ausgestiegen, und ich mußte mich wer weiß wie lange noch gedulden, ehe der ersehnte Brief mir das Rätsel lösen sollte, das mich fort und fort beschäftigte.

Unterdessen reisten auch wir weiter und trafen Anordnungen, daß ankommende Briefe uns nachgesandt werden sollten. Unser Weg führte uns auf verschiedenen Umwegen endlich wieder der nördlichen Heimat zu. Im Süden hatten wir nicht bemerkt, wie wir allmählich in den Herbst gekommen waren. Dort blühten noch die Rosen und Myrten, von warmen, schmeichelnden Lüften umweht. In unserm rauhen Norden blühte nur noch hier und da die blaue zarte Glockenblume auf einsamem Feldrain; dort prangten noch lockende Früchte an den Bäumen, hier fielen schon bei kaltem Regen die gelben und rotgesprenkelten Blätter zur bereiften Erde, und naßkalt strich der Wind über kahle Stoppelfelder hin, verfing sich wehklagend und ächzend in den Rauchfängen, klapperte des Nachts unheimlich an Thüren und Fenstern und löschte neckisch die blöde Stalllaterne aus, mit der unser alter Kutscher über den dunkeln Gutshof hinkte.

Die Gegensätze waren groß, und man brauchte einige Zeit, um sich wieder an das nordische Klima zu gewöhnen. Und doch, wenn mir die Wahl freigegeben würde, ob ich mein Leben ganz im Süden oder im Norden verbringen möchte, ich würde meine trauliche nordische Heimat nicht um alle blendende Pracht Italiens vertauschen.

Es war kurz vor Weihnachten, an einem jener Dezembertage, wo man nicht weiß, wann die Nacht anfängt oder aufhört. Der graue Himmel sah aus, als wollte er einstürzen, und in dichten Flocken fiel der Schnee.

Schon um 4 Uhr des Nachmittags mußte ich meine Handarbeit beiseite legen und schaute träumend hinaus in das weiße Flockengewimmel. Eine einzige Stunde hatte hingereicht, alles in Schnee einzuhüllen. Die Säulen am Thor hatten hohe Schneekoppen aufgesetzt; die Bäume ließen ihre Zweige aus dem Garten über die Hofmauer hängen, welche sich unter der Last bogen und wie große Bärentatzen schwerfällig übereinander lagen.

Da schlug der große Hofhund an und ein Mann, dick beschneit, trabte über den Hof. Mit Freuden erkannte ich den Postboten in ihm und eilte ihm frohlockend entgegen, denn auf dem Lande ist an solch einsamem Wintertag die Erscheinung des Postboten ein Ereignis. Er wurde in die Gesindestube geführt, um sich am warmen Ofen bei einer Tasse Kaffee gütlich thun zu können; bevor er sich niederließ, entleerte er seinen Briefbeutel, in welchem sich auch für mich ein Brief befand. Ich zog mich sogleich mit meinem Schatz in mein trauliches kleines Stübchen zurück, um mit ungestörtem Behagen meinen Brief zu studieren, brannte mir die Lampe an, und erbrach das Couvert. Grunwald in Schlesien stand über dem Briefe und, o Jubel, es war Noras Handschrift. Sie schrieb: »Geliebte Luci! Du vor allen sollst zuerst einen langen Brief von Deiner Nora bekommen, es hätte freilich schon früher geschehen sollen, doch die Gründe, die mich nicht dazu kommen ließen, Dir zu schreiben, liegen so nahe, daß ich sie Dir nicht erst aufzählen will. Ehe ich Dir aber von der schönen Gegenwart erzähle, laß mich zurückgreifen in die Vergangenheit; ich bin Dir eine Aufklärung schuldig über mein auffallendes Benehmen, und wenn Du, geliebtes Mädchen, nicht ganz irre an mir geworden bist, so ist es nur Dein liebevolles Herz, das Nora nicht ganz verurteilen konnte. Meine Kindheit wurde schon früh getrübt durch den Verlust des besten, zärtlichsten Vaters, der im Krieg untüchtig geworden, als Oberst pensioniert worden war und sich mit der Mutter und mir in die Stille des Landlebens zurückgezogen hatte.

Eine kleine, lichte Villa war unser Heim: von dunklen Tannen beschattet, lag es so traulich und geborgen zwischen dem Grün, wie ein Vogelnestchen. Dort verlebte ich meine Kindheit, fröhlich und harmlos, aber auch verwöhnt und verzärtelt von meinen Eltern, die mir alle Freiheit gewährten und nur Liebkosungen für mich hatten. Als ich 12 Jahr alt war, starb der geliebte Vater und mit ihm war der lichte rosige Kindertraum ausgeträumt. Trüb und traurig, wie das Trauerkleid, das meine Mutter nie wieder ablegte, war von da an die Grundstimmung in unserem Häuschen. Meine gute Mutter hatte allen Halt mit dem geliebten Manne verloren und diese beständig gedrückte Stimmung der Mutter legte sich schwer auf meinen strebsamen Geist. Ich hatte ja selbst den größten Verlust erlitten, und mein Schmerz war anfangs grenzenlos, aber ein Kind kann nicht immer traurig sein; ich bedurfte des Sonnenscheins, der Freude zu einer kräftigen Entwicklung, und ebenso war mir die männliche Leitung notwendig.

Meiner Mutter energielose Schwermut hemmte mich; meiner Lernbegier und dem Drange nach jugendfrischem Leben wurde keine Nahrung mehr geboten.

Nun lebte ein Bruder meiner Mutter nicht allzufern, der ein kinderloser Witwer und Besitzer eines schönen Landgutes war; dieser wurde mein Vormund und kam öfter zu meiner Mutter, um ihre Geldgeschäfte zu ordnen und über ihre Lage mit ihr zu beraten. Dies war für mich immer eine sehr willkommene Unterbrechung unseres einförmigen Lebens. Er nahm sich meiner warm an und überzeugte sich, daß ich unter solchen Verhältnissen nicht gedeihen könne, weshalb er denn oft des Abends, wenn ich mich in das nebenan liegende Schlafzimmer zurückgezogen hatte, noch lange beratend mit der Mutter zusammensaß. Da hörte ich denn öfter, bevor ich eingeschlafen war, wie der Onkel der Mutter Vorschläge machte, die diese kummervoll verwarf. Meine Zukunft sollte ins Auge gefaßt werden, und der Onkel wollte, daß ich in eine wohlgeordnete und vorzüglich eingerichtete Erziehungsanstalt käme, aber meine gute Mutter konnte sich in den Gedanken der Trennung nicht finden. Des Onkels Gründe siegten schließlich, und sie mußte ihre Zustimmung zu dessen Plane geben. Eines Abends war ich denn auch noch lange wach, und mußte wider meinen Willen atemlos auf das Zwiegespräch der Beiden lauschen und vernahm, wie mein Oheim einen Plan auseinandersetzte, der zwar aus dem wohlwollendsten Herzen kommend, dennoch meine Freiheit, die mir über alles ging, gänzlich untergrub und mich innerlich förmlich empörte.

Dieser Widerwille wuchs noch dadurch, daß man mich keines Wortes über die Entscheidung, die man über meine Zukunft traf, würdigte. Dieser Plan war zwar in eine unbestimmte Ferne hinausgeschoben, aber ich sah darin nur ein mir verhaßtes Ziel, das mich mit Ketten bedrohte. So begann denn in mir ein Kampf wider die Bestimmung, welche die Meinigen über mich getroffen hatten. Doch auch ich hüllte mich in Schweigen, wie man mir gegenüber schwieg. Mit Freuden sah ich der Zeit entgegen, zu welcher ich in die Anstalt kommen sollte, wo meine Lernbegier Befriedigung zu finden hoffte, und mir zugleich Mittel und Wege geboten werden konnten, meine eignen Pläne zu verwirklichen und mir Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erringen. Ich wollte Erzieherin werden und mir meinen Lebensweg selbst bahnen. Die Zeit rückte dann auch endlich heran, wo ich in die Anstalt übersiedelte, und ich fühlte mich glücklich und zufrieden dort. Es herrschte zwar eine eiserne Gesetzlichkeit daselbst und eine unnachsichtliche Strenge, aber man war gerecht und ich sah ein, daß unser Bestes erstrebt wurde, und deshalb fügte ich mich willig in eine Zucht, an die ich bis jetzt nicht gewöhnt war, die aber für meinen unruhigen, fessellosen Sinn sehr heilsam wurde. Da ich fleißig und gut begabt war, gewann ich die Zufriedenheit meiner Vorgesetzten; sie wußten, auf welches Ziel ich lossteuerte und gewährten mir Vorteile, die ich eifrig bemüht war, mir zu nutze zu machen. Meine Ferien verlebte ich alljährlich einmal in meinem mütterlichen Heim, öfter verbrachten wir auch gemeinsam einen Teil der Ferien bei dem Oheim, auf dessen schönem Gute sich meine Mutter besonders gern aufhielt. Auch ich war sehr gern dort. Nach Herzenslust konnte ich in den großen, endlosen Nadelwäldern umherschwärmen. Mit dem frühsten Morgen schon flog ich aus, und suchte mir das stillste, verborgenste Winkelchen, wo ich ungestört lesen oder träumen konnte. Ein Lager, aus weichem Moos gebaut, die Tannenzweige zu einem dichten schützenden Dach verwoben, diente mir zur Ruhestätte: kein menschlicher Fuß betrat außer mir diese Schlupfwinkel. Die kleinen, behenden Eichkätzchen kamen neugierig und zutraulich bis auf die letzten Zweige herunter und schauten ihren neuen Kameraden mit schwarzen Äuglein an. Das Vogelleben in den Baumkronen, der Gesang, ja schon das Gezwitscher der Vögel war mir ein interessantes Studium. Ja, selbst die schüchternen Rehe kamen oft ganz in meine Nähe, durch mein ruhiges Verhalten dreist gemacht, und ich feierte dann immer einen stillen Triumph. Öfters auch wählte ich mir einen landschaftlich schönen Ausblick, um ihn aufzunehmen, oder zeichnete Baumstudien; denn die Zeichenmappe trug ich immer bei mir auf meinen Ausflügen.

Auch durfte ich mir ein Ponygespann anschirren. Meine Mutter nahm öfters teil an meinen Lustfahrten und vertraute sich meiner Führung an, und ich fuhr sie oft auf sonnenbeschienenen Waldwegen tief hinein in die Wildnis. Es waren reizende Tage, an die ich mit besondrer Vorliebe zurückdenke. Mein Oheim hatte seine helle Freude an meinem frischen, sich kräftig entwickelnden Wesen, und bezeigte mir gern seine Zufriedenheit. Oft erzählte er mir von einem entfernten Neffen, der zuweilen auf einige Wochen zu ihm kam; ich bemerkte wohl die Absicht dabei, daß er bei mir Interesse für denselben zu erwecken wünschte, aber dies gerade erregte in mir eher eine Abneigung gegen ihn und ich suchte absichtlich einer Begegnung mit diesem Neffen vorzubeugen. War derselbe doch der mir zugedachte Gemahl, was ich einst erlauscht hatte, und war doch seit jener Zeit mir der Gedanke an ihn unangenehm.

Als ich kurz vor meinem Examen stand, kam wie ein Blitz aus heiterm Himmel die Nachricht von dem Tode meines Oheims. Meine Mutter teilte sie mir tieferschüttert mit. Sie war an sein Krankenbett geeilt, um ihn zu pflegen, aber nur kurze Zeit hatte sie diesen Trost gehabt; ihre Liebe und Hingebung konnte ihm nur die letzten schweren Tage erleichtern. Ich sollte zu ihrer Beruhigung schleunigst zu ihr kommen; das war indes des Examens wegen nicht möglich, denn jede Stunde, jede Minute mußte von mir benutzt werden, und ich mußte mich gedulden, bis die Examenzeit vorüber war.

Schwere Tage hatte ich in jener Zeit durchzumachen. Mit voller Gewalt stürmte es auf meine junge Seele ein; ich hatte den Anker noch nicht gefunden, der mich gehalten hätte, sondern suchte in mir allein den mir so nötigen Halt. Sobald das Examen überstanden war, eilte ich zu meiner Mutter.

Das Begräbnis war vorüber und die Verwandten waren wieder abgereist. Auch der Vetter war zugegen gewesen, aber gleichfalls nach der Eröffnung des Testaments abgereist. Meine Mutter umarmte mich unter vielen Thränen; wir gingen zusammen an des Onkels Grab, das reich mit Blumen geschmückt war, redeten viel von seiner Liebe und Güte und kehrten in tiefer Trauer wieder zurück.

Als es anfing zu dämmern, nahm mich meine Mutter mit in ihr Stübchen: ich mußte mich zu ihr auf das Sofa setzen, und nun teilte sie mir den Inhalt des Testamentes ihres Bruders mit.

Was ich damals erlauscht, war nun zur That geworden. Mein Oheim, in seiner großen Fürsorge und Liebe für mich und die Mutter, hatte einen Weg gesucht, welcher unser Glück begründen sollte, der aber, nach meiner Ansicht, für mich das größte Unglück war. Seine Bestimmung ging dahin, daß sein Neffe, oder vielmehr der Neffe seiner verstorbenen Frau, deren Eigentum das Gut gewesen, sich mit mir vermählen sollte, damit das schöne Besitztum in unsre Hände gemeinsam gelangen könnte. Meiner Mutter sollte dadurch eine behagliche Heimat gesichert werden, indem sie ihren Wohnsitz dort nehmen sollte; seiner beiden Lieblinge Lebensglück glaubte er aber durch seine Verfügung gesichert zu haben. Sollten wir uns indessen weigern, diese Verbindung einzugehen, dann sollte das Gut in die Hände des Staates übergehen.

Ich war außer mir. Also geopfert sollte ich werden, nur um äußerer Vorteile willen eine Verstandesheirat schließen. Ich sprach meinen Abscheu davor offen aus und beteuerte, nie hierein zu willigen. Die Mutter aber machte mir heftige Vorwürfe über Mangel an Liebe zu ihr. Jetzt, wo ihr kärgliches, kummervolles Dasein ein Ende finden solle und der Abend ihres Lebens ein sorgenfreier und glücklicher zu werden verspreche, jetzt weigere ich mich, meine Einwilligung zu geben zu einer Bedingung des Onkels, die lediglich mein Glück ins Auge gefaßt habe. Als sie sah, daß ich hartnäckig blieb, beschwor sie mich nicht mehr, sie war nur traurig; nicht mein Glück wolle sie zum Opfer gebracht sehen, lieber wolle sie von allen Wünschen absehen, die größte Armut würde sie einem Leben voll Behagen vorziehen, wenn ich ein Opfer dafür bringen müßte.

Was Vorwürfe bei mir nicht erreicht hatten, bewirkte ihre Resignation, das Aufgeben ihres eignen Wohles um meinetwillen: ich fiel ihr weinend um den Hals, und versprach mich ganz in ihre Wünsche zu fügen.

In der Stille erkundigte ich mich, wie sich der mir bestimmte Gemahl gezeigt, erfuhr aber nur, daß er die Klausel schweigend und düster aufgenommen und, ohne sich zu äußern, abgereist sei; fürs erste habe er die ganze Verwaltung in den Händen des alten, treuen Inspektors gelassen, der von je die Vertrauensperson im Hause und die uneigennützigste Seele der Welt war.

Einen gewissen Trost bot mir die Klausel in meines Oheims Testament, daß die Vollstreckung des Testaments erst stattfinden solle, wenn auch ich meine Volljährigkeit erreicht haben würde. Bis dahin sollte uns vollständig Zeit gelassen werden, uns kennen zu lernen und selbst zu prüfen, ob wir auch innerlich unsre Zustimmung geben könnten. Bis dahin sollten wir uns unsrer Freiheit bewußt bleiben, das Leben und die Menschen kennen lernen und nur vor einem uns hüten, ein festes Band zu schließen, bevor die von ihm bestimmte Zeit gekommen sei. Er wolle unser Glück nur mit unsrer freudigen und freien Zustimmung begründen.

So war ich nun frei und doch innerlich gebunden, und manche Nacht lag ich schlummerlos auf meinem Pfühl; das Herz war mir so schwer und meine Augen brannten. Ich beschloß wieder in mein Institut zurückzugehen, eine Lehrerinstelle von dort aus zu suchen und die Jahre der Freiheit zu benutzen, um mir eine befriedigende Wirksamkeit zu schaffen und für alle Fälle meine und meiner Mutter einstige Existenz nicht von jenem unglücklichen Testament abhängig zu machen.

Dem mir bestimmten Gemahl wollte ich fürs erste ganz aus dem Wege gehen; vor meiner Mündigkeit wollte ich ihn weder sehen, noch von ihm gesehen werden. Mein Urteil über ihn sollte ganz unbeeinflußt bleiben; erst wollte ich die Welt, die Menschen kennen lernen und dann erst seine Persönlichkeit auf mich wirken lassen. Mit Hülfe guter Empfehlungen fand ich denn auch bald eine Stellung, die ganz meinen Wünschen entsprach. Bei jenen lieben, prächtigen Menschen, die Du ja kennen lerntest, fand ich eine Stätte des Friedens: ich hatte einen Beruf, der meine ganze Kraft in Anspruch nahm, ich war zugleich Erzieherin, Lehrerin und Freundin, lebte mitten in einer bewegten Welt und konnte mich doch nach Wunsch in die stillste Einsamkeit flüchten. Ich lebte, ich lernte – und prüfte.

In die gewähltesten und besten Kreise wurde ich eingeführt, und lernte viele edle und geistvolle ältere Männer und Frauen kennen. Auch viele junge talentvolle Männer verkehrten in unserm Haus in einer ungezwungenen Weise.

So sehr dies alles mich anzog und ganz meiner Individualität entsprach, hielt ich mich doch immer mehr zurück, und im lebhaftesten Treiben fühlte ich mich oft vereinsamt.

Im Sommer reisten wir in die Berge: das war uns allen das Liebste: die Wanderungen auf die Berge, die Fahrt mit dem Kahn auf blauer Flut, das Studium von Land und Leuten ging uns über alles. Dabei flog die Zeit flüchtig an mir vorüber und immer näher rückte die mir so verhängnisvolle Mündigkeit. Immer ernster wurde mein Sinn, immer düstrer wurden die Bilder meiner Zukunft. Um diese Zeit lerntest Du mich, lernte ich Dich kennen; vor Mignon sahen wir uns zuerst; dort hatte ich mich ganz in die schwermutvolle Einsamkeit versenkt, die aus der ganzen rührenden hülflosen Erscheinung sprach, und Du magst wohl schnell mit richtigem Gefühl herausgefunden haben, was mich zu Mignon hinzog, denn an jenem Abend, als wir uns abermals begegneten, war es der Ausruf: »Mignon!« der es mir verriet, daß ich erkannt worden war.

Von den Tagen und Wochen, die wir nun zusammen verlebten, brauche ich weiter nichts zu erwähnen: wir haben ja die schönsten gemeinsamen Erinnerungen daran. Du weißt es auch, wie Günther in unsern Kreis eintrat, wie seine edle feste Männlichkeit und Einfachheit uns gewann, und wie das Interesse für ihn von Tag zu Tag wuchs. Mit Schrecken ward ich mir bewußt, daß seine Aufmerksamkeit und Annäherung mir durchaus nicht mehr gleichgültig war: ich suchte mich zurückzuziehen, ich verschanzte mich hinter meine künstlich erhaltene Ruhe und Kälte, aber es war schon zu spät, mein Herz war bereits dabei beteiligt.

So kam jener Abend, an dem ich mühsam einer Erklärung seinerseits entfloh und mir das Herz zu brechen drohte. Ich gelobte mir, ihn nie wiederzusehn, und als ich Abschied von Dir nahm, verriet ich es Dir, daß ich bereits gebunden sei.

Mehrere Tage wußte ich seiner Annäherung zu entgehen, aber täglich versuchte er, mich zu einer Aussprache zu bewegen, bis es denn doch dahin kam, daß ich ihm nicht länger ausweichen konnte. In dieser von mir so gefürchteten Stunde sollte sich alles aufs herrlichste klären, und ich erkannte, wie treu eine höhere Hand mich geführt und alles zu meinem Besten gelenkt hatte. Günther, mein Verlobter selbst, warb um meine Hand. Er war meiner Spur gefolgt und hatte mich kennen lernen wollen, ehe ein Vorurteil unser gegenseitiges Verhältnis trüben oder entstellen konnte. Er wäre mir nicht nähergetreten, hätte sein Herz nicht laut für mich gesprochen und ich würde ihn dann nie wieder gesehen haben; ohne Kränkung für mich würde er zurückgetreten sein von einem Bund, der nur auf äußere Glücksgüter gegründet werden sollte. An jenem Abend war er einen Augenblick irre an mir geworden und hatte geglaubt, ich empfinde eine Abneigung gegen ihn: allmählich aber ward ihm die Sachlage klar, und er suchte um jeden Preis eine Aussprache herbeizuführen.

Unser Glück war unbeschreiblich, als sich alles aufgeklärt hatte, und der Tag meiner Volljährigkeit, der so nahe vor der Thür war, sollte uns für immer vereinen. Meine edlen Freunde ließen es sich nicht nehmen, unsre Hochzeit selbst auszurichten; meine gute, nun überglückliche Mutter eilte in unsre Arme und so ward der Segen über ein Paar gesprochen, das sich geflohen und doch nun für immer verbunden hatte.

Ehe wir indessen unser liebes, schönes Heim beziehen wollten, beschlossen wir, eine Hochzeitsreise nach Italien anzutreten, und dort, auf dem herrlichen Comer-See, tauchtest Du unerwartet auf. Aus Deinen erstaunten, ja vorwurfsvollen Blicken konnte ich doch trotz der Schnelligkeit des Fahrens herauslesen, was durch Deine Seele für Gedanken gingen. Leider konnte ich Dir damals nur einen flüchtigen Gruß zukommen lassen: wir wollten am Abend noch in Mailand eintreffen, wo wir Logis und Theaterbillets bestellt hatten. Ich mußte deshalb eine weitläufige Erklärung verschieben, bis ich Zeit und Muße dazu fände.

Diese fand sich aber nicht so schnell, denn zuerst mußten wir in unsrer Heimat festwurzeln.

Darüber ist es Winter geworden, und wir sind vollständig eingeschneit. Trotzdem mußt Du mir es hoch anrechnen, daß ich mir die Zeit zu einem so langen Brief genommen habe, denn die Stunden sind kostbar und jede verlangt ihr Recht. Unser Haus ist unsre Welt, und nimmt uns jeden Tag aufs neue ganz und ungeteilt in Anspruch. Unsre Neigungen, unser Geschmack sind wunderbar gleich gerichtet auf das Gute, Hohe und Schöne im Reiche des Geistes und selbst im rein Praktischen begegnen wir uns in so auffallender Weise, daß wir zu der Überzeugung gelangt sind, unser lieber Onkel habe sein Testament nur deshalb so eingerichtet, weil er wußte, wie herrlich wir für einander passen. Auch mein Mütterchen ist so erfüllt von dieser Überzeugung, daß sie täglich des Oheims Weisheit preist. Nun will ich weiter nichts hinzufügen, als: Komm und prüfe, ob sich alles so verhält, wie ich Dir es schreibe, und wenn es an dem ist, dann nenne mich

Deine glückliche Nora.«

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Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.

 


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