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Stimmen zur Beurteilung dieses Buches.

Stimmen der Zeit, Freiburg i. Br. 1926/27, Heft 3.

Ein höchst eigenartiges Buch wird uns unter diesem Titel geschenkt, und zwar von jemand, der nicht daran gedacht hat, daß seine Aufzeichnungen einmal gedruckt erscheinen könnten. Der Roman, die Tragödie eines Kindes, von ihm selbst niedergeschrieben.

In der knappen Zeitspanne von dem vollendeten 14. bis kurz vor Vollendung des 17. Lebensjahres spielt sich ein Schicksal ab, das mit staunenswerter Meisterschaft der schlichten Rede, in künstlerisch geschauten Bildern dem Tagebuch anvertraut ist. Als ich zum ersten Mal eine Abschrift des Tagebuches zu Gesicht bekam, weckte die Darstellungskunst meinen Verdacht; ich brach die Lesung nach wenigen Seiten ab, weil ich eine Mystifikation befürchtete. Nachdem ich aber die Handschrift selbst eingesehen und von der Herausgeberin vernommen, wie sie den Dingen nachgegangen und die wichtigsten sachlichen Angaben der Schreiberin als zutreffend befunden hat Einzelheiten, wie die Schilderung der Bordellszene, mögen teilweise Phantasieprodukte sein., ließ mich das merkwürdige Buch nicht mehr aus seinem Banne.

Es ist kein Tagebuch wie andere. Nur selten berichtet es von Dingen, die ebensowohl unerwähnt bleiben könnten. Dieses Mädchen mit seinen künstlerischen Anlagen weiß zu erleben. Es registriert nicht, sondern alles wird ihm zur Geschichte. Sein Erleben mag nicht immer das tiefste, seine Darstellung nicht immer die vollendetste sein – es wollte ja nur schlichte Aufzeichnungen für spätere Jahre niederschreiben –, aber was in Staunen versetzt, das ist die ungeahnte Fertigkeit und der Drang zur künstlerischen Gestaltung bei einem Kinde, das aus allereinfachsten Verhältnissen kommt und nur die Volksschule besucht hat. Und was den Leser erschüttert, das ist die Kunde davon, wie dieses hochbegabte und trotz einer gewissen Flüchtigkeit für das Gute und Schöne begeisterte Kind untergehen mußte.

Von einer verdorbenen Schulkameradin läßt es sich bereden, heimlich das Elternhaus zu verlassen, um in Berlin womöglich Künstlerin zu werden. Trotz aller Not, die es in Berlin durchkosten muß, bleibt es unschuldig. Aber seit dieser Zeit haftet ihm ein Makel an; denn die Eltern hatten ihr Kind mit Hilfe der Polizei suchen müssen. Nach diesem Abenteuer jedoch hatten die Eltern allen Grund, mit dem Betragen des Kindes zufrieden zu sein. Es befremdet sie auch nicht, daß ihre begabte Tochter recht bald von vornehmen Herren umworben ist. Selbst des Lebens nicht völlig kundig und dem guten Kern des Mädchens vertrauend, übersehen sie es, ihr Kind wirksam zu schützen. Sie ahnen nicht, längs welcher Abgründe es sorglos wandelt. Von edlen Menschen gefördert, glaubt es schon einem außergewöhnlich frühen und strahlenden Eheglück entgegenzugehen, da wird es von neidischen Personen der Halbwelt, die es gutmütig und unerfahren in seiner Nähe geduldet hat, der Polizei denunziert. Und nun vollendet sich die Tragik ihres Schicksals. Ein Fehltritt ihrer jungen Liebe hat sie gegen diese Anschuldigungen wehrlos gemacht. Sie wird als krankheitsverdächtige Dirne aufgegriffen und erkrankt tatsächlich schwer; wie sie klagt, infolge der ärztlichen Behandlung. Das Jugendgericht spricht sie frei und übergibt die Todwunde dem Elternhaus. Ihre verzweifelten Anklagen gegen den herzlosen Mechanismus der behördlichen Gewalt, im Krankenhause auf Briefumschläge, Stickmuster und Papierfetzen geschrieben, gehen über in ergreifende Elegien ob der flüchtigen Schuld und der grausamen Buße. – Acht Tage, nachdem sie ihr Kind zur Pflege zurückerhalten, teilen die schwergeprüften Eltern mit, daß ihre »sonnige Margarete« verschieden ist.

Ernste Fragen und Probleme bestürmen den Leser. Sie sollen hier nicht erörtert werden. Nur den braven Eltern sei dafür gedankt, daß sie sich die Einwilligung zum Druck des Tagebuches abringen ließen. Sie können sich mit dem Gedanken trösten, der auch den Leser mit diesem Schicksal versöhnt: Das Kind, das einen so schweren Kreuzweg zu gehen hatte, feiert jetzt schon geistigerweise Auferstehung. Sein oft ausgesprochener Wunsch, möglichst vielen Menschen Gutes zu tun, geht mit diesem Buch in Erfüllung. Sein tragisches Geschick sichert ihm eine Wirksamkeit und eine Bedeutung, die ihm wohl nie beschieden worden wäre, wenn es das irdische Glück, das es schon fest in seinen Händen glaubte, wirklich erreicht hätte.

Johannes L. Lindworsky S. J.

Freiburger Tagespost. Freiburg i. Br. 1926.

Ein Opfer mechanischer Wohlfahrtspflege.

Dieser Tage erschienen die Bekenntnisse eines Kindes »Vom Leben getötet«, das eine furchtbare Tragödie uns enthüllt. Es handelt sich um ein Mädchen, das aus kleinen Verhältnissen herauskommt, außerordentlich künstlerisch begabt, regsamen Geistes allem Schönen aufgeschlossen, in einem Tagebuch von ihrem 14. Lebensjahre an, vom 20. Mai 1922 bis wenige Tage vor ihrem ergreifenden Tod bis zum 9. Mai 1924 ihr kurzes, schweres Schicksal darlegt. Das Tagebuch, das die Lehrfrau Maria Ignatia Breme, mit einer kurzen Einleitung versehen, herausgegeben hat, ist echt. Die letzten Teile mit den furchtbaren Anklagen gegen den herzlosen Mechanismus der behördlichen Wohlfahrtspflege einer modernen Großstadt fand man auf Papierfetzen, Briefumschläge, Stickmuster geschrieben, nach ihrem Tode unter der Matratze ihres Bettes.

Es handelt sich um ein durchaus unverdorbenes Mädchen, gegen das der Schein sprach und die böse Zunge falscher Freundinnen. Schon die Art, wie dieses Kind von der Polizei aus dem Schoße der Familie herausgerissen wird unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, gibt uns zu denken. Denn die Art, wie diese unverdorbene Menschenblüte kurzerhand lediglich auf Anklagen und Vermutungen hin auf die Station für Geschlechtskranke als der Ansteckung verdächtig ohne weitere ärztliche Untersuchung (!) gelegt wird. Dann wird das arme Kind mit 13 Salvarsaneinspritzungen regelrecht vergiftet, trotzdem die Rückenmarkpunktation negativ reagierte! Welcher Abgrund von Herzlosigkeit und Unmenschlichkeit tut sich da vor uns auf, wenn wir die verhaltenen Klagen lesen, die die letzten Tagebuchblätter wiedergeben. »Man hat mich behandelt wie ... einen herrenlosen Hund, man heißt den Ort Wohlfahrt, und doch weiß keiner der Herren und Damen, die mich schändeten, daß ich ein Herz im Leibe hatte, und daß sie mit Hohn und Schande meine Seele mordeten. Niemand wollte von meinen Eltern hören, daß ich ihre gute Tochter sei, sie blieben bei dem Standpunkt, ich sei so, wie so viele andere Mädchen, Auswurf der Menschheit ...« (S. 231.) »Jetzt liege ich schon neun Tage ohne gewissenhafte Untersuchung ... Der Doktor hat die Behandlung abgelehnt, weil er nur für Hautkrankheiten ist. Einen andern Arzt holte man nicht. Die Mädchen sind empört und sagen, man habe mir zu viel Gift gegeben, das könne mein junger Körper nicht ertragen. Jetzt läßt man mich liegen wie einen Hund ... Man nimmt uns das Recht, um Hilfe zu schreien ... Soll ich denn sterben wie ein Tier?« usw. (S. 233.)

Zu spät kommt die Entscheidung des Jugendgerichtes, das das Kind seinen Eltern wieder zuspricht. Das Unrecht ist geschehen. Die Mutter erhält eine Sterbende zurück, die am 1. Juni 1924 hinscheidet.

Die Veröffentlichung dieses Tagebuches ist ein Verdienst in jeder Hinsicht. Es bietet dem Psychologen und Pädagogen reiche Anregung. Am meisten Ausbeute aber verspricht es den Vertretern der caritativen Fürsorge. Es ist ein Beleg dafür, wie furchtbar ein gewisser behördlicher Mechanismus schaden kann, wenn er, wie in diesem Falle, ungehemmt durch andere Faktoren sich auswirkt. Treiben wir doch keine Vogelstraußpolitik solchen Fällen gegenüber, indem wir sie möglichst harmlos zu erklären suchen! Wenn auch nur ein Mensch heute in unserem viel gerühmten Wohlfahrtsstaate so elend zu Grunde gehen muß an dem behördlichen Schema, dann dürfen wir nicht ängstlich beiseite stehen und die näheren Umstände dafür verantwortlich machen. Es gilt vielmehr aufzuräumen mit dem mechanischen System selbst. Wir müssen den öffentlichen Mechanismus menschenwürdig zu gestalten suchen dadurch, daß wir ein derartiges Vorgehen in Zukunft zu verhindern trachten. Wenn die private Fürsorge nicht ausreicht, dann müssen eben der Sittenpolizei amtliche Organe zur Seite gegeben werden, die mit mehr Verständnis und Feingefühl die Untersuchung solcher Fälle in die Hand nehmen und nicht durch zynische Roheit Seelen morden statt retten.

Wir wollen nicht einzelne Persönlichkeiten und Behörden hier beschuldigen oder gar Steine auf sie werfen. Wir wenden uns lediglich gegen das mechanische System in der öffentlichen Wohlfahrtspflege. Unser moderner Staat läßt sich die öffentliche Wohlfahrtspflege viel kosten. Dafür darf aber auch das steuerzahlende Volk verlangen, daß die entsprechenden Einrichtungen besser ausgestaltet und durchgebildet werden. Die nachgeordneten Organe der Behörden müssen so erzogen werden, daß sie auch bei starker Inanspruchnahme nie vergessen, Menschen menschenwürdig zu behandeln.

Univ.-Prof. Dr. Franz Keller, Freiburg i. Br.

Frankfurter Zeitung, Frankfurt a. M., 9. Jan. 1927.

Ein Kind armer Leute, eben aus der Schule entlassen, gerät in das Räderwerk der unheimlichen Maschine Gesellschaft und wird, sechzehn Jahre alt, von ihm zermalmt. Nach seinem Tode findet man unter alten Schulheften ein Tagebuch, das es seit zwei Jahren geführt und während der Katastrophe auf allerlei Zetteln fortgesetzt hatte. Die Mutter zeigt die Aufzeichnungen einigen Menschen, um sie zu überzeugen, »daß ihr Kind unglücklich, aber nicht schlecht war«. Diese, erschüttert durch die wahnwitzige Zerstörung eines reich veranlagten, hochgestimmten Menschen, die aus den Blättern vor ihnen lebendig wird, entschließen sich widerstrebend, das Tagebuch drucken zu lassen. Es ist, herausgegeben von M. I. Breme, bei Herder in Freiburg erschienen und führt den Titel: »Vom Leben getötet. Bekenntnisse eines Kindes.«

Der Wert einer solchen Veröffentlichung hängt ganz von ihrer unbedingten Echtheit und Unverfälschtheit ab. Erinnerungen an frühere Täuschungen legen es nahe, diese Grundvoraussetzung anzuzweifeln, und es würde nicht schwer sein, Gründe dafür zu finden. Vor allem: Das Buch, das doch nach der Versicherung der Schreiberin aus einem zufälligen Anlaß und zu einem zufälligen Zeitpunkt begonnen wurde, könnte nicht besser komponiert sein, wenn es mit kunstvollster Absicht geschrieben worden wäre. Die Skepsis wird indes dadurch widerlegt, daß bei dieser Veröffentlichung die konkreten Umstände des Falles eine Garantie der Wahrheit bieten. Es sind katholisch-kirchliche Kreise, die die Herausgabe des Buches »trotz der Unverhohlenheit der Schilderungen« veranlaßt haben. Wenn man an die tiefe Abneigung dieser Kreise gegen erotische Erzählungsliteratur denkt, so wird man ihnen glauben, daß hier kein Spiel der Phantasie vorliegt, dem durch eine vorgespiegelte Realität erhöhter Sensationsgehalt gegeben werden soll, sondern ein menschliches Dokument, das eine Aufgabe zu erfüllen hat und das nur um dieser Aufgabe willen der Öffentlichkeit unterbreitet wurde. Die Herausgeberin versichert, daß das Original des Tagebuches bis auf das kleinste, abgegriffenste Zettelchen vorliege und daß, mit Ausnahme des Namens, nichts an ihm geändert worden sei.

Mit welchem Ungestüm und welcher Sehnsucht hatte sich die kleine Grete Machan dem Leben geöffnet! Die Notizen, die sie schreibt, enthalten bisweilen Stellen von etwas papierener Sentimentalität, aber in ihrem kindlichen Schwärmen liegt doch von vornherein ein starker Ton, und es spricht aus ihm ein rührender Drang nach Überwindung der Enge, in der sie lebt, der geistigen Enge noch weit mehr als der materiellen. In der Mutter, einer Frau von wundervoller Wärme, findet die Tochter Geist von ihrem Geist. Sie bewundert die Mutter, die so beherrscht durchs Leben geht, aber sie ist viel zu unbändig, als daß sie dem Beispiel der Mutter folgen könnte. Noch ist sie nicht fünfzehn Jahre, als sie mit einer Bekannten nach Berlin durchbrennt, wo sie ein paar abenteuerliche Wochen verbringt, in die Heimat zurückgeholt, ist sie doch nicht mehr so wie vorher in das häusliche Genügen eingespannt. Sie ist, wie die Leute sagen, ein schönes Mädchen mit wunderbaren Augen, die Männer werden von diesen Augen und von dem Reiz, der von dem übermütig nachdenklichen, unschuldig verlangenden Wesen des Mädchens ausgeht, heftig angezogen, und Gretchen folgt Ihnen, das Glück und die reine Liebe und das »Große« suchend. Menschen der verschiedensten Art lernt sie kennen: Freunde und Freundinnen, die es gut mit ihr meinen, lüsterne Raubtiere, denen sie mit Not heil entkommt, leichtfertige Mädchen und Dirnen, die sich an sie hängen. Einer, der sie gewinnt, weil er auf ihre seelische Höhe eingeht und weil sein Geigenspiel sie bis zur Besinnungslosigkeit bezaubert, will sie heiraten; auch sonst scheint manches sehr gut zu gehen. – in Wahrheit aber ist sie von Verhängnissen umlauert.

Die Krise vollendet sich, als die Sittenpolizei, zum zweiten Mal, in ihr Leben eingreift. Schon einmal, nach dem Berliner Abenteuer, hatte die Polizei die Hand nach ihr ausgestreckt, weil sie es für eine ausgemachte Sache hielt, daß ein mittelloses Mädchen sich nicht fünf Wochen in Berlin herumtreiben könne, ohne sich mit Männern abzugeben. Damals wurde ihr, wie sie es ausdrückt, die Kindheit genommen, weil sie sich vor dem Arzt entblößen und von ihm untersuchen lassen mußte, aber diese Untersuchung, schamlos, wie sie war, hatte ihre Unschuld festgestellt und sie gerettet. Ihre Bekanntschaft mit einem Kontrollmädchen weckte dann von neuem den Verdacht der Polizei, – und diesmal entdeckte der Arzt eine frische syphilitische Ansteckung. Damit scheint jeder Zweifel beseitigt: sie kommt ins Polizeihospital, lebt dort zwei Monate unter Dirnen und wird als Dirne behandelt; endlich gibt der Jugendrichter sie den Eltern wieder; sie kehrt krank nach Hause zurück und ist acht Tage später tot. Ihre letzten Aufzeichnungen aus dem Hospital sind die verzweifelten Schreie eines seelisch gemarterten Menschen.

Ist nun dies ganze die Tragödie eines schlecht behüteten Kindes? Wohlmeinende Menschen haben, wie in einem dem Tagebuch beigegebenen Vorwort erzählt wird, oft gefragt, wie die Mutter ihr Kind in so offensichtliche Gefahren habe hineingehen lassen können. Die Mutter könnte antworten: »weil ich selbst zu gut behütet worden bin!« Bis zu ihrer Verheiratung hatte sie unter der Aufsicht einer Mutter von strenger Frömmigkeit schwer arbeiten müssen. Während ihrer zweijährigen Verlobungszeit wurde ihr – so etwas hat es gegeben! – niemals erlaubt, mit dem Manne, den sie heiraten wollte, allein zu sprechen. In ihrer Ehe lebte sie dann in der gleichen Abgeschlossenheit weiter. So kam es, daß sie »erst durch das Geschick ihres Kindes die Gefahren und die Schlechtigkeit der Welt kennen lernte«. Es war ein ganz richtiges Gefühl, das sie veranlaßte, bei ihrem Kinde die Anwendung des Rezeptes der luftdichten Abschließung gar nicht erst zu versuchen; das dämonische Element, das in dem Kinde steckte, machte diese Methode bei ihm unanwendbar. Da aber die Mutter selbst vom Leben nichts wußte, konnte sie ihrem Kinde auch kein Führer ins Leben sein; unwissend stürzte sich die Tochter in das verführerische Geheimnis der Welt und der Menschen. Wohl begrübelte ihr schwacher Verstand das, was um sie war, aber sie kam über ein unsicheres Tasten nicht hinaus. Trotzdem wäre vielleicht alles gut gegangen, und sie hätte aus den Wirrnissen ihres ersten Ausbruchs in die Welt doch einen Weg ins Freie gefunden, wenn nicht täppische Hände, die sie biegen wollten, sie in Wahrheit zerbrochen hätten.

Walter Kamper.

Berliner Tageblatt, Berlin, 11. Januar 1927.

Die Tragödie eines bremischen Kindes.

Der Verlag von Herder & Co. in Freiburg veröffentlichte vor einigen Wochen unter dem Titel » Vom Leben getötet, Bekenntnisse eines Kindes«, ein Buch, das ein ganz ungewöhnliches Aufsehen erregte. Es enthält die Tagebuchaufzeichnungen eines Mädchens, das am 1. Juni 1924, kaum siebzehnjährig, starb, nachdem es durch die Sittenpolizei zur Straßendirne gestempelt und, mit den niedrigsten Vagantinnen der käuflichen Liebe zusammengesperrt, in der »Abteilung D« des Krankenhauses wochenlang gewaltsam mit Salvarsan behandelt und schließlich durch das Jugendgericht seinen Eltern wieder zugesprochen worden war. Eine klare und unantastbar vornehme Einleitung der Herausgeberin, M. I. Breme, erklärt, daß die Aufzeichnungen der Toten, wie sie sich in einem Schulheft und auf abgerissenen, aber sorgsam datierten Zetteln fanden, wortgetreu wiedergegeben sind, zweifelnde Kritiker, die eine in bester ethischer Absicht geschaffene Mystifikation oder einen Schlüsselroman vermuteten, überzeugten sich von der Wahrheit dieser Behauptung und fanden durch Nachforschungen den Tatsachenstoff des Buches in ganzem Umfange erhärtet. Das Schicksal der Liesbeth K., die in dem Buche »Margarethe Machan« genannt wird, ist ein menschliches Dokument von sinnbildlicher Kraft, eine Anklage von unerhört wuchtiger Gewalt.

Das Tatsächliche ist bald erzählt: Liesbeth K. war die Tochter einer katholischen Schuhmacherfamilie polnischer Abstammung. Die Eltern sind fromme, stille Leute von ängstlich gehüteter Rechtschaffenheit; sie glaubten unerschütterlich an die Reinheit ihres Kindes und standen in hilflosem Entsetzen vor seinem Schicksal. Das schöne Mädchen, heiter, warmherzig, phantasiebegabt, übermächtig bewegt von sehnsüchtigem Ehrgeiz, war früher schon Verfolgungen und Verführungen ausgesetzt, denen sie in ihrer kindlichen Arglosigkeit wie durch ein Wunder entrann. Ihr Unheil begann, als sie sich von einer etwas bedenklichen Freundin zu einer abenteuerlichen Reise nach Berlin verlocken ließ, wo die beiden Mädels, vom Galan jener Freundin im Stich gelassen, furchtbare Hungerwochen verlebten, um schließlich von Liesbeths Mutter zurückgeholt zu werden. Nun hätte alles gut werden können; aber eine polizeiliche Vernehmung von unsagbar plumper Grobheit, eine schonungslose ärztliche Untersuchung reißt Liesbeth K. in die Hölle ihres Martyriums. »Daraufhin muß ich mich entblößen und muß untersucht werden – ich schäme mich – schon beim Schreiben werde ich rot.« – Der Arzt lächelt: »unberührt«. Zum ersten Mal grinst der Beamte: »Da haben Sie aber Schwein, fünf Wochen in Berlin und noch unschuldig.« So wurde ich aufgeklärt über mein Dasein und meinen Zweck auf Erden.« Von da ab vergiftet der Klatsch bösartiger Nachbarn ihr Leben. Diese Menschen – der Mann ein lüsternes Vieh, die Frau eine verleumderische Vettel – läßt Ihr keinen Tag mehr Ruhe. Eine Kundin ihrer Mutter, angebliche Regierungsrätin, in Wahrheit Schlepperin für einen Lebemannsklub, verlockt sie in eine Orgie – ein Kapitän rettet sie vor der Vergewaltigung durch einen – Polizeikommissar. Liesbeth K. hat auch warmherzige und hilfsbereite Menschen kennen gelernt; aber sie haben sie nicht retten können. Ihr Verhängnis vollendet sich, als ihre grenzenlos gutmütigen Eltern einem Straßenmädchen Zuflucht gewähren, das am Tage darauf von der Sittenpolizei verhaftet wird. Es wird vielleicht niemals aufgeklärt werden, ob überhaupt und durch wen Liesbeth K. »angesteckt« worden ist – ob durch ihren Verlobten, dem sie sich in einer leidenschaftlichen Stunde hingegeben hatte, ob durch jenes Mädchen – oder in der Krankenanstalt, Abteilung für geschlechtskranke Dirnen. Ein Beamter holt sie eines Tages ohne Grundangabe aus dem Hause und geht schon unterwegs mit ihr um, als hätte er eine Prostituierte niedrigsten Grades vor sich. Nach flüchtiger Untersuchung steckt man sie in die »Abteilung D«; ohne Stationsuntersuchung hält man sie fünf Tage fest; in den folgenden Wochen bekommt sie dreizehn Salvarsanspritzen. Das Ergebnis ist negativ; ein entscheidender Termin beim Jugendgericht stellt ihre Unschuld fest und spricht sie ihren Eltern zu. Nun aber zeigt sich bei ihr ein Salvarsanekzem, und bald darauf soll sie plötzlich g.-krank sein. Ihre Aufzeichnungen enthalten furchtbare Beschuldigungen gegen die behandelnden Ärzte. »Jetzt läßt man mich liegen wie einen Hund.« Schließlich bekommt sie Aligol zur Fiebererzeugung. Man schafft die völlig Entkräftete ins Elternhaus. Acht Tage später stirbt sie. Todesursache: Nierenschrumpfung.

Man muß das Buch lesen, um den herzerschütternden Eindruck dieser Aufzeichnungen ermessen zu können. Liesbeth K. hat in ihrem Tagebuch, das aus einem ganz kindlich ehrgeizigen Mitteilungsbedürfnis erwuchs, kein Wort um äußerer Wirkung willen geschrieben; jedes Wort atmet innere Wahrhaftigkeit. Erstaunlich ist die wachsende plastische Sicherheit des Ausdrucks, die rückhaltlose Offenheit der Darstellung, der natürliche Herzenstakt bei der Behandlung heikler Dinge. Dieses Kind in seiner unberührbaren Lauterkeit des Denkens und Empfindens hat in seinen aus unabweisbarem Schaffenstrieb geborenen Aufzeichnungen ein Buch gestaltet, das tiefer ergreift als Dichtung, weil jede Seite von Herzblut eigenen Erleidens überronnen ist. Kein Wort der Empörung ist stark genug, wenn man bedenkt, welch ein wertvoller Mensch, welch ein verheißungsvolles dichterisches Können hier geopfert wurde.

Karl Lerbs.


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