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Dritter Teil

Erstes Kapitel

1.

Auf seinem Wege nach Scotland Yard bog Billy von Piccadilly in die St. James Straße ein. Der Polizeidirektor hatte ihn an diesem Morgen angerufen. Er wünschte ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Billy hatte zusagen müssen, umgehend zu kommen. Gott mochte wissen, um was es sich handelte! …

Seit fünf Tagen war Elena bereits verschwunden. Fünf Tage! – ihm schienen es fünf Jahre! Wing Foo war festgenommen worden und hatte ein Geständnis abgelegt: er war es gewesen, der – aus Liebe und Anhänglichkeit zu Billy und seiner Frau – den Brief geschrieben hatte. Er hatte es für seine Pflicht gehalten, sie vor Li-Chang zu warnen. Worin aber dessen Unehrlichkeit bestand, war nicht aus ihm herauszubringen. Doch war es klar, daß zwischen ihm und dem Verstorbenen irgendein Geheimnis bestand – ein Geheimnis so ernster Natur, daß es ihm auch nach dessen Tode noch die Zunge band. Über seinen Sohn, den kleinen Yo, wußte er nichts. Eines schönen Tages, neulich erst, sei er plötzlich verschwunden. Man schenkte ihm aber auch in diesem Punkte wenig Glauben: ein Vater von der Art Wing Foos würde sich nicht ohne weiteres damit abfinden, daß sein Sohn spurlos »verschwand«.

»Dahinter steckt etwas anderes, was er uns verheimlichen will«, hatte McMurton zu ihm gesagt. »Aber wir werden es schon noch aus ihm herausbekommen. Kommt Zeit, kommt Rat!«

Was den Überfall auf das Polizeiauto anging, war man überzeugt, daß der ohren- und nasenlose Chinese dabei im Spiele war. Man hatte nach ihm gesucht, aber ohne Erfolg, und man konzentrierte nun, sowohl in bezug auf ihn, wie auf Elena French, die Nachforschungen auf das Viertel von Causeway.

Elena, arme kleine Elena! Ob wohl das, was die Polizei ihm zu sagen hatte, sich auf sie bezog? Bill hatte gerade seinen Klub auf dem Pall Mall passiert, als er Violet Strefford direkt in die Arme lief. Sie war, was nur selten vorkam, zu Fuß und wie immer etwas auffallend und schick gekleidet. Im Arm trug sie einen Strauß Blumen, deren glühende Farben ihr bleiches Gesicht noch um eine Nuance heller machten. Sie hängte sich resolut in seinen Arm:

»Das ist ja nett, daß ich Sie endlich treffe, Bill. Und jetzt lasse ich Sie nicht wieder los, bevor Sie mir versprochen haben, heute abend ins Trocadero zu kommen. Ich gebe ein kleines, aber pikfeines Souper für einige Freunde, und zu denen darf ich Sie doch wohl auch zählen, nicht wahr?«

Billy machte sich sachte von ihr frei:

»Liebe Violet, Sie müssen verstehen, daß ich jetzt gerade keine große Lust verspüre, an irgendeiner Geselligkeit teilzunehmen … so wie die Dinge stehen.«

»Ach was! sie werden um kein Haar schlimmer oder besser stehen, wenn Sie sich ein bißchen amüsieren! Sie gehen ja noch zugrunde vor lauter Melancholie … Na, ich will Sie nicht länger nötigen. Aber überlegen Sie sich's. Übrigens werde ich einen der nächsten Abende kommen, um nach Ihnen zu sehen, vielleicht schon morgen.«

»Tun Sie das bitte nicht, Violet. Ich bin am liebsten allein … und außerdem zur Zeit von einer tödlichen Langweiligkeit.«

»Ja, aber eben deswegen müssen Sie aufgeheitert werden«, widersprach sie, ohne sich irremachen zu lassen. »Und das werde ich besorgen!«

»Wie ich schon vorhin sagte« … fing er an.

»…; denn Sie werden wohl nicht beißen?« lächelte sie, ängstlich und verführerisch zugleich.

»Manchmal möchte ich es wirklich tun«, sagte Billy hart und rücksichtslos und starrte vor sich hin. Sie wurde blaß unterm Puder, zwang sich aber zu einem Lächeln:

»Das meinen Sie ja gar nicht so ernst, lieber Bill!«

Zuweilen könnte ich die Frau hassen, dachte er.

Es entstand eine kleine drückende Pause. Dann fragte sie:

»Und wohin gehen Sie eigentlich jetzt?«

»Nach Scotland Yard«, antwortete er unwillig.

»Dann begleite ich Sie noch ein Stück.«

Zunächst gingen sie schweigend nebeneinander her, bis Violet wie zufällig sagte:

»Ich traf übrigens den Polizeipräsidenten heute morgen im Hyde Park. Sie werden ja wissen, wir sind beide große Pferdefreunde, und er macht mir den Hof nach allen Regeln der Kunst …«

»Dann wissen Sie vielleicht schon, warum er mich hat rufen lassen?«

Billys Frage war nicht frei von Hohn. Es war bekannt, daß Sir Arthur eine lockere Zunge besaß, namentlich gegenüber der Dame, welcher er momentan die Cour machte, und Violet Strefford war Frau genug, um aus ihm herauszuholen, was sie wissen wollte.

»Ach, es handelt sich um eine ganz unbedeutende Sache«, antwortete sie zurückhaltend. »Nur um einen Brief, den man in Li-Changs Tasche gefunden hat.«

»Einen Brief? Von wem?«

»Von Ihrer Frau«, antwortete sie mit gemachter Gleichgültigkeit, als ob sie die ganze Sache nicht der Rede wert fände.

Billy griff sie hart am Arme:

»Was schwätzen Sie da zusammen, Violet? Heraus mit der Sprache, hören Sie!«

»Na ja, also! Man hat einen Brief von Ihrer Frau gefunden an …« Sie hielt inne, um die Wirkung zu steigern.

»An wen?« Er faßte sie wieder am Arm, noch gröber als vorher.

Sie quietschte scherzhaft auf:

»Aber Billy! Sie zerquetschen mir ja den Arm. Ich zweifle zwar keinen Augenblick, daß Sie mich lieben – aber derartige sadistische Anwandlungen sind nicht meine Sache. – Wenigstens nicht so früh am Tage.«

Er tat einen fürchterlichen Fluch.

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen antun möchte!« murmelte er außer sich vor Wut.

»Aber Billy!« Sie drohte ihm lächelnd. »Seien Sie doch nicht so frivol!«

»An wen war der Brief?« fragte er, indem er sich zur Ruhe zwang. Aber seine Stimme bebte, und er zitterte am ganzen Körper.

Sie wagte es nicht, ihn länger zu reizen. Sie riskierte dabei einen Skandal auf offener Straße.

»An ihren guten Freund, Li-Chang«, antwortete sie gelassen.

»An Li-Chang?« Er starrte ihr verwirrt, fast wie gelähmt ins Gesicht.

»Ja, man glaubt es zum wenigsten. Der Brief hat zwar keine Anschrift und lag in einem alten, beschmutzten Umschlag ohne Adresse. Aber er wurde, wie gesagt, bei dem gelben Gentleman gefunden. Tatsache ist, daß er die Unterschrift Ihrer Frau trägt, und so wird sie ihn wohl auch geschrieben haben – und zwar auf dem gleichen Briefpapier,« stichelte sie weiter, »das Sie selbst für Ihre › billets doux‹ benützen … damals, als Sie Miß Elena kennenlernten.«

»Und was steht in dem Brief?« Er fragte es fast keuchend.

»Er ist höchst dramatisch! Es heißt darin, daß ›er‹ – also wohl Li-Chang – sie angelogen habe … und daß ›sie‹ es nicht machen könnte, darüber ist man bis jetzt vollkommen im unklaren. Aber es wird wohl auch noch ans Licht kommen! … Sie schließt damit, daß sie ›ihn‹ nicht mehr treffen wolle.«

»Aber das ist ja unmöglich«, protestierte Billy. »Es war ja nicht Li-Chang, mit dem sie damals bekannt war, sondern ein ganz anderer.«

»Vielleicht hat sie nebenbei auch Li-Chang gekannt«, lächelte Violet giftig. »Sie ahnen ja nicht einmal im Traume, Billy, wieviel Platz eine Frau in ihrem Herzen hat«, setzte sie noch boshaft dazu.

» Sie vielleicht! Aber nicht Elena!« Sein Ton war so unverhüllt grob und höhnisch, daß er ihr das Blut in die Wangen trieb.

»Wollen Sie mich beleidigen, Bill?« fragte sie mit merkwürdig weicher Stimme. Er blickte sie verwundert an, nahm sich dann zusammen:

»Nein, wozu? Ich möchte Sie aber bitten, Violet, mit etwas mehr … Verständnis … von Elena zu sprechen. Das mit Li-Chang ist nämlich vollkommen ausgeschlossen.«

»Nun, er war doch in seiner Art nicht nur ein hübscher, sondern auch ein sehr gescheiter Mann, habe ich mir erzählen lassen, unter anderem von Ihnen selbst, Billy! Und außerdem war er auch noch reich!«

»Aber ich wiederhole Ihnen, daß es nicht wahr ist!« unterbrach er sie brutal. »Elena hätte Li-Chang nie den Zutritt zu unserem Hause gestattet, wenn das der Fall gewesen wäre. Sie ließ ja auch keine Gelegenheit vorbeigehen, um ihm offen ihre Antipathie zu zeigen.«

»Aber trotzdem nahm sie doch seine Partei, als es sich darum handelte, Ihre Statue auf die Ausstellung zu schicken.«

Es gab ihm einen Stich – wie immer, wenn darauf die Rede kam.

»Die Figur, ja!«

Er wußte nicht warum, aber er fühlte sich mit einemmal entmutigter als je.

»Wenn Sie meine Meinung hören wollen, Billy, frei und ungeschminkt,« sagte sie, »so zweifle ich keinen Augenblick daran, daß Ihre Frau Li-Chang früher gekannt – und daß sie ihn jetzt einfach aus ihrem Dasein gestrichen hat.«

»Getötet, meinen Sie?« Vergeblich versuchte er, die Lage komisch zu nehmen.

Violet Strefford nickte:

»Ja, getötet! Ihm das Gift gegeben. Das klingt vielleicht hart und herzlos von mir. Aber so können Sie selbst gelegentlich auch sein«, beendete sie ihren Satz, um sich bald darauf von ihm zu verabschieden:

»An einem der nächsten Abende werde ich also kommen, nicht wahr, Billy?« rief sie ihm noch nach – dann war sie fort …

Billy fühlte sich müde, zum Sterben müde – und so alt! Er hatte sich absichtlich auf keine Diskussion über die Totschlagsaffäre mit ihr eingelassen. Offenbar hatte sie dieselbe Ansicht wie alle anderen. Und er fühlte, wie ihm seine Gegenargumente eines nach dem anderen aus den Händen entschlüpften, sooft er ausholte, um einen entscheidenden Verteidigungsschlag für Elenas Unschuld zu führen. Selbst konnte und wollte er nicht an ihre Schuld glauben – wenigstens noch nicht!

Und er weigerte sich ein für allemal – in noch kategorischer Weise – eine Theorie anzuerkennen, die eine frühere Verbindung zwischen Elena und dem verstorbenen Mandarin unterstellte.

Es war noch denkbar, einen Mann vielleicht in halber Notwehr zu töten. Aber etwas ganz anderes, das Gewebe von Lügen und Komödien zu spinnen, welches man bei Aufrechterhaltung jener fürchterlichen Theorie voraussetzen müßte. Er fühlte sich krank, wenn er nur an eine Möglichkeit dachte. Und lieber wollte er Elena verlieren, als dieser Wahrheit, einer so schmutzigen Wahrheit, ins Gesicht schauen zu müssen.

Bis jetzt wußte man überhaupt nichts Genaues! Noch war alles in Rätsel gehüllt. Aber es graute ihm schon jetzt so vor deren Aufklärung, daß er beinahe versucht war, zu wünschen, sie möchten für alle Ewigkeit im Dunkel bleiben … Und doch wollte er Elena auch wieder um alles in der Welt nicht verlieren. Nur das nicht, nur das nicht!! …

Mit einemmal sprangen seine Gedanken zu Monkey über, der nach dem Verschwinden seiner Herrin auffallend gekränkelt hatte … als ob er alles verstehen könne, als ob ihn mehr als eine bloße Sehnsucht nach ihr bewegte. Aber er war und blieb doch nur ein Affe. Billy hatte ihn eines Tages tatsächlich nur mit Müh und Not davor bewahrt, daß er sich mit seinem neuen Rasiermesser schnitt. Hinterher hatte das Tier sich auf seinem Schoße zusammengekauert, hatte ihn mit seinen kleinen klugen Augen durchdringend betrachtet, und ihm lange vorgemurmelt und gestammelt, als ob er ihm etwas zu erzählen hätte.

Ja, wenn Monkey sprechen könnte!

Und doch, wer weiß, ob er auch tatsächlich etwas zu sagen hätte, etwas von Bedeutung – und, wenn ja – ob es Böses oder Gutes war! Nein, es war wohl doch ganz weise eingerichtet, daß Affen nicht sprechen können!

In diesen Gedankengängen gelangte Billy vor die uralte Fassade des weltberühmten Gerichtsgebäudes.

Er fühlte plötzlich die unabweisbare Gewißheit in sich, daß er vom Polizeipräsidenten eine schicksalsschwere Mitteilung erfahren würde. Und so überwältigend stürmte dieses Gefühl auf ihn ein, daß er – übernervös wie er war – am ganzen Körper zu zittern begann und ein fast unwiderstehliches Verlangen spürte, fortzulaufen – weit fort –, weg von allem, nur weg! … sich irgendwo zu verbergen … um Frieden zu finden! Er nahm sich gewaltsam zusammen und lächelte bitter:

Wie konnte er Frieden bekommen, solange er im unklaren schwebte? Selbst wenn er bis ans Ende der Welt hätte flüchten und sich dort verbergen können, wo er der Unauffindbarkeit und des Alleinseins sicher war: Die Gedanken würden mit ihm fliehen, sie würden sich ihm aufdrängen und ihm keine Ruhe gönnen.

Wo ist sie? würden sie fragen. Und was hat sie verbrochen? Ist sie schuldig oder nicht? Ist sie Li-Chang nähergestanden und hat sie ihm wirklich das Leben genommen? Oder was sonst? Nein! es mußte durchgekämpft werden! Es gab keine andere Möglichkeit.

Mit dem Gefühl einer bisher ungekannten körperlichen Schwere schleppte er sich die Stufen zu dem Polizeigebäude empor, seine Gänge entlang und die Treppen hinauf. Hier herrschte Leben, Tätigkeit, Lärm. Es trat nicht eine einzige Sekunde Stille in dem Getriebe ein, man sah ihn kaum an, als er seinen Namen nannte und angab, auf besonderen Wunsch des Präsidenten gekommen zu sein, zu dem der diensttuende Schutzmann ihn führte und der ihn mit einem freundlichen, aber konventionellen Lächeln empfing. Seiner Stimme merkte man eine gewisse Aufregung an, als er Billy aufforderte, Platz zu nehmen und ihm zurief:

»Ich habe eine große Neuigkeit für Sie, Bill!«

2.

»Wenn Sie damit den Brief meinen, den man bei dem Verstorbenen gefunden hat, dann weiß ich bereits Bescheid – durch Violet Strefford.«

Der Präsident winkte abwehrend mit der Hand:

»Nein, nein, das ist es nicht! Es kann sein, daß dieser Fund von Bedeutung ist, vielleicht auch nicht! Ich hätte Sie jedenfalls nicht deswegen bemüht. Nein, ich glaube kaum … Es ist etwas ganz anderes.«

Billy beugte resigniert den Kopf:

»Etwas Gutes oder Böses?« fragte er so ruhig wie möglich. Aber sein Herz pochte: wenn es sich nun doch auf Elena bezog und so ernster Natur war, daß er es selbst Strefford nicht anzuvertrauen wagte? Der Präsident hob die Schultern:

»Darüber können Sie selbst urteilen.«

»Geht es meine Frau an?«

»Leider nein!«

»Den Verstorbenen vielleicht?«

»Gewissermaßen ja! Es handelt sich nämlich um Ihre Statue in Paris.«

»Meine Statue?«

»Ja! Wie Sie wohl wissen, war doch beabsichtigt, die Figur gestern von der Ausstellung nach Dr. Capons Wohnung zu schaffen.«

»Schon jetzt? Ich dachte, sie sollte längere Zeit auf der Ausstellung bleiben.«

»Nein, Capon hatte es eilig – was ich ihm auch nicht verübeln kann!« fügte er bei mit einem vielsagenden Lächeln, das Billy nicht deuten konnte. »Die Figur wurde also auf den Wagen geladen und zu der Villa Dr. Capons gefahren … Das heißt, ganz so weit kam sie nicht!«

»Wieso? Es ist doch nichts passiert?« stieß Billy ängstlich hervor.

»Nicht mehr und nicht weniger,« lächelte der Präsident zynisch, »als daß sie total in Stücke ging, daß sie zerquetscht und in Scherben zerschlagen wurde.«

»Du lieber Gott!« Billy war wie vom Blitz getroffen.

»Der Wagen stieß nämlich mit einem Lastauto zusammen – oder richtiger gesagt: das Auto, dessen Chauffeur etwas zuviel getrunken hatte, prallte so hart auf den Wagen auf, daß dieser und die Figur und die beiden Führer in den Straßengraben rollten und übel zugerichtet wurden – die Figur aber am allerschlimmsten! Als man sie aus der zerbrochenen Kiste auspackte, ergab sich, daß nicht ein einziges Glied an ihr heil war.«

»Mein Glück!« Billy fühlte beinahe denselben Schmerz, als ob es ein guter Bekannter oder ein Freund gewesen wäre – überhaupt ein lebendes Wesen, dem dieses Schicksal zugestoßen war.

»Und der arme Dr. Capon!«

»Ja, Sie haben, weiß Gott, allen Grund, ihn zu bedauern; denn ihm wird die Geschichte aller Wahrscheinlichkeit nach sehr teuer zu stehen kommen.«

»Oh, ich werde ihm selbstverständlich sein Geld zurückerstatten.«

»Ohne daß die Sache dadurch für ihn viel billiger werden wird!«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Nein, das können Sie auch nicht! Aber es wird schon kommen! Dieser Wing Foo hat doch ganz allein den Guß Ihrer Figur besorgt, nicht wahr?«

»Ja, ganz allein. Der Gipser, mit dem ich gewöhnlich arbeite, hatte zufällig keine Zeit, sich der Sache anzunehmen.«

»Und die Arbeit ist sachgemäß und gut ausgeführt worden, nicht wahr?«

»Ich hätte es mir nicht besser wünschen können.«

»Gut! … Verfolgten Sie die Arbeit aus der Nähe?«

»Nicht länger, als bis ich mich davon überzeugt hatte, daß er seine Sache verstand und sie technisch gut ausführte.«

»Sie haben also keinen speziellen Auftrag gegeben, zum Beispiel wie Sie den Hohlraum in dem Sockel ausgefüllt haben wollten?«

»Nur insofern, als ich die Frage ganz allgemein mit Wing Foo erörterte und daß wir uns einigten, ihn, wie üblich, mit alten Flaschen, Büchsen und so weiter auszustopfen.«

»Aber Sie waren nicht selbst zugegen, als dieser Teil der Arbeit ausgeführt wurde?«

»Nein! … Weshalb fragen Sie eigentlich danach?«

»Das werde ich Ihnen gleich auseinandersetzen: Der Sockel war nämlich nicht mit derlei Zeug, sondern mit etwas anderem und weit Wertvollerem ausgefüllt«, lächelte der Polizeipräsident verschmitzt.

»Mit Wertvollerem?« Billy blickte ihn verständnislos an.

»Allerdings, ja!« Der Präsident behielt immer noch sein schlaues Lächeln bei. Billy schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was der andere meinen konnte. Eine kleine Pause entstand. Draußen im Gange patrouillierte der Wärter auf und ab, den neuen Schlager vor sich hinsummend, der in ganz London gesungen, gespielt und gepfiffen wurde:

»Ich liebe das Kokain, seinen weißen Schnee,
Das schneeige Weiß!
Das feuriger ist als Wein –«

Ein breites Lächeln lag über dem Gesicht des Präsidenten: plötzlich fiel es Billy wie Schuppen von den Augen:

»Aber das ist ja unmöglich! … Ist es … war es am Ende Kokain?«

»Für die nette Summe von hunderttausend Pfund Sterling! … Die größte Kokainschiebung, die überhaupt je vorgekommen ist!«

Billy starrte den Präsidenten an. Endlich brachte er stöhnend hervor:

»Und darüber haben die Zeitungen noch keine Silbe gebracht!«

»Noch nicht! nein! Aber es wird kommen … Heute abend schon wird die Bombe platzen! Dieses eine Mal hat die Polizei vorgezogen, vorerst vierundzwanzig Stunden ungestört arbeiten zu können.«

»Und Wing Foo?«

»Er hat nach langem Drehen und Wenden gestanden. Nachdem die Sache entdeckt war, sei doch alles einerlei, meinte er. Er habe sich früher nichts darüber zu sagen getraut. Es hätte ihm sonst das Leben kosten können, wenn er wieder auf freiem Fuße war … Ja, Dr. Capon ist selbstverständlich auch arretiert worden. Er leugnet vorläufig noch. Weder wir noch die französische Polizei, mit der wir in diesem Falle sehr eng zusammenarbeiten, hegen den leisesten Zweifel, daß wir einer Monstre-Schmuggelaffäre gegenüberstehen, in der Ihre Statue nur einen Fall von vielen darstellt.«

»Sie meinen, daß noch andere …?«

»Allerdings! Die Sache liegt so, daß verschiedene ausländische Bildhauer eingeladen wurden, an der Ausstellung teilzunehmen. Und wir haben schon in Erfahrung gebracht, daß mehreren unter ihnen dasselbe widerfahren ist wie Ihnen: Zu irgendeinem Zeitpunkt hat ein Kunstfreund dem Betreffenden eine Gefälligkeit erwiesen, die zu einem Gegendienst verpflichtete. Und dieser wurde – wahrscheinlich in allen Fällen – zu demselben ›Trick‹ ausgenutzt, dem auch Sie zum Opfer gefallen sind. Ich für meine Person bin überzeugt, daß sich – wenn erst einmal die Affäre aufgeklärt ist – überall das gleiche Bild ergeben wird: ein generöses Angebot, einen tüchtigen Gipser zu besorgen, der soeben bei dem besagten Manne war, und der, obwohl fleißig und in seinem Fache eine Kapazität, doch ein armer Schlucker und gerade arbeitslos ist. Der Künstler kann das Anerbieten nicht abschlagen … teils aus Rücksicht auf jene Gefälligkeit … teils weil sein eigener Arbeiter zufällig keine Zeit hat.«

»Dann sollte also auch die Episode mit meiner Frau in Limehouse nichts anderes als eine Komödie gewesen sein, die von dem Verstorbenen inszeniert wurde?«

»Zweifellos, ja! … übrigens ist die Idee als solche beinahe genial. Auf Grund des Verbotes ist nämlich die Nachfrage nach Kokain in Frankreich ganz enorm. Man würde jede Summe dafür zahlen, die verlangt wird. Und niemand kommt auf den ausgefallenen Gedanken, die von berühmten Künstlern eingesandten Bildwerke daraufhin zu untersuchen, was sie möglicherweise in ihrem Inneren enthalten können.«

»Deswegen also hatte Li-Chang so großes Interesse daran, meine Statue in die Ausstellung zu bringen«, murmelte Billy bitter vor sich hin.

»Ja, und es besteht auch kein Zweifel für mich, daß er selbst einer der Anführer dieser ingeniösen und mächtigen Schmugglerbande war. Übrigens haben wir noch etwas herausgebracht, was, mit gewissen anderen Faktoren zusammengehalten, den Verstorbenen beinahe in einem idealen Licht erscheinen läßt: Er war nämlich ein Vetter des verstorbenen Sun-Pat-Sen aus Kanton, des bolschewikenfreundlichen Herrschers, der mit allen Kräften darauf hinarbeitete, die fremdländischen Elemente aus China zu vertreiben, uns Engländer nicht in letzter Linie! und es steht fest, daß Li-Chang, seit er vor mehreren Jahren hier in England auftauchte, einzig und allein das Ziel vor Augen hatte: Geld für diese politische Propaganda aufzutreiben. Selbstverständlich wissen wir bei weitem noch nicht über alles Bescheid. Aber wir haben insofern Glück gehabt, als Li-Chang offenbar nicht damit gerechnet hat, dieses Jammertal so plötzlich verlassen zu müssen. Deswegen gelang es uns, bei der sofort erfolgten Haussuchung wertvolles Material zur Beleuchtung seines Charakters und der ganzen Verhältnisse zu beschlagnahmen …«

Der Präsident wechselte plötzlich seinen Ton. Er hatte bis setzt mit einer gewissen Leichtigkeit gesprochen:

»Dabei ist aber noch ein Punkt, der mir Sorge macht – Ihretwegen, lieber Billy! Wir halten es nämlich für wahrscheinlich, daß Ihre Frau – wie soll ich mich ausdrücken? – von den Gelben entführt worden ist … Und wir haben uns wohl alle die Frage vorgelegt: warum haben sie das getan? was kann sie dazu veranlaßt haben, das gewiß nicht geringe Risiko auf sich zu nehmen: ein Polizeiauto aufzuhalten, einen Polizisten im Dienst niederzuschlagen – und, wie gesagt, eine weiße Frau zu entführen! Mit der Absicht auf pekuniären Gewinn ist die Aktion sicher nicht zu erklären. Sonst hätten Sie längst einen Erpressungsbrief oder sonst irgendeine Nachricht erhalten, welche Summe als Lösungsgeld verlangt wird. Die Kerle wissen ja, daß Sie ziemlich zahlungsfähig sind!«

Der Präsident räusperte sich, sichtlich verlegen:

»Dann haben wir noch den nasen- und ohrenlosen Mann, den wir ja alle mehr und mehr für den Anstifter der Entführung halten, und den ja sowohl Sie wie Ihre Frau an dem betreffenden Abend in Ihrem Garten herumschleichen sahen. Tai-Ling, wie er sich nennt! Er war zwar allem Anschein nach dem Verstorbenen sehr ergeben, wie so viele andere. Aber warum hat gerade er sich zu dem kühnen Streich entschlossen, und auf welche Weise ist es ihm gelungen, andere einflußreiche Freunde für den Plan zu gewinnen; wahrscheinlich sogar Leute, die alle sozial weit über ihm stehen? Ja, Sie zucken mit den Achseln, und selbstverständlich läßt sich ein solcher Fragenkomplex nicht im Handumdrehen beantworten. Eins aber scheint sicher:

Tai-Ling muß an jenem Abend einen umfassenden Eindruck von der Rolle gewonnen haben, die Ihre Frau in Li-Changs Schicksal gespielt hat – und dieser Eindruck muß von außerordentlich drastischer Art gewesen sein, da er sofort darauf reagiert hat. Denn ein einfacher Kuli wird so etwas im allgemeinen eben nur dann tun, wenn etwas ganz Welterschütterndes passiert ist.«

»Und was könnte wohl geschehen sein, um diese Wirkung hervorzurufen?« fragte Billy, der sehr gut darüber im klaren war, auf was der Präsident anspielte. Der machte eine vielsagende Bewegung:

»Hm ja! was geschehen sein mag? Ganz undenkbar wäre es ja nicht, daß der Bursche den Eindruck erhielt …« Er stockte. »Ja, also … daß Ihre Frau … an Li-Changs Tod schuld sein könnte.«

»Sie sind leider derselben Meinung – wie alle anderen«, sagte Billy düster.

»Ich? Lieber Freund, ich habe noch gar keine ›Meinung‹. Ich weiß nichts. Ich vermute nur!«

»In diesem Falle würde demnach die Entführung als ein Racheakt zu betrachten sein?«

»Hoffentlich nicht!« versuchte der Präsident den Gedanken dieser brutalen, aber leider sehr wahrscheinlichen Theorie abzuschwächen.

»Aber wir müssen auf das Schlimmste gefaßt sein! … Übrigens habe ich von diesem Gesichtspunkte aus ein Heer von hundert Detektiven in Bewegung gesetzt. Sie sollen heute nacht noch eine Razzia in Limehouse vornehmen, hauptsächlich um Causeway herum, welchem Viertel wir ja schon immer unsere besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Auch unsere gewöhnlichen Spitzel sind eingesetzt, aber bis jetzt leider umsonst. Aber ich hoffe bestimmt, daß sich der Erfolg heute nacht einstellen wird.«

Er stand auf, und Billy folgte seinem Beispiel:

»Wing Foo«, beendete er das Gespräch, »hat uns übrigens gebeten, nach seinem Sohn, dem kleinen Yo, zu suchen. Sollten Sie etwas von ihm erfahren, wären wir Ihnen für eine diesbezügliche Mitteilung dankbar. Wing Foo ist sehr niedergeschlagen. Er fürchtet, daß der Knabe vielleicht das Opfer seiner ›Warnungen!‹ geworden sein könnte. Seines ›Verrates‹, wie es die anderen nennen. Er hat aber immer noch Hoffnung. Denn er hat von jeher versucht, seinen Sohn von seinen schmutzigen Geschäften fernzuhalten, und deswegen hofft er, daß ›man‹ ihn überhaupt nicht kennen wird … Außerdem ist die Liga wahrscheinlich auch von einem solchen Umfange, daß ein Mann wie Wing Foo nur ein untergeordnetes Rädchen in der Maschine darstellt … Hier ist Wing Foos letzte Adresse, wenn Sie in die Nähe kommen sollten.

Und dann nur noch ein Wort zum Schluß:

Es ist mir bekannt, daß Sie sich dann und wann meinen Polizisten angeschlossen haben, wenn wir in Causeway arbeiteten, und ich weiß auch, daß Sie, allen unseren Warnungen zum Trotz, auf eigene Faust in diesem gefährlichen Revier gearbeitet haben. Mit Rücksicht auf heute nacht möchte ich Ihnen aber dringend raten, sich diesmal fernzuhalten. Eine Polizeirazzia an einem derartigen Ort kann zu mancherlei führen, und es täte mir leid, wenn ich Sie erst bei … Ihrem eigenen Begräbnis wiedertreffen würde!«

Er begleitete Billy lächelnd zur Tür und drückte ihm zum Abschied die Hand.

»Hoffen wir also auf heute nacht! Addio, lieber Freund, und auf Wiedersehen!«

3.

Als Billy unten auf der Straße ankam, war er noch ganz benommen. Du lieber Gott, was für Neuigkeiten! Seine Statue zerschlagen! Er selbst als Strohmann für einen Kokainschmuggel mißbraucht! Li-Chang ein Verbrecher, wenn man ihm auch gewisse ideelle Milderungsgründe nicht absprechen konnte! Und doch: Was hatte dies alles zu bedeuten im Vergleich mit der Tatsache, der er nach des Präsidenten Ansicht ins Auge sehen mußte, daß Elena das Opfer eines Racheaktes geworden war … ein unschuldiges Opfer! er würde darauf einen Eid leisten … einer Rache, deren Perspektiven er gar nicht auszudenken wagte … und daß Elena im besten Falle nun in Gefangenschaft dieser gelben Teufel schmachtete, in einer ihrer verpesteten und stinkenden Spelunken unten im Themse-Dock-Viertel! Halb von Sinnen rief er ein vorüberfahrendes Auto an:

»Charing Croß!« befahl er dem Chauffeur, und kaum eine Viertelstunde später saß er schon in der Untergrund auf dem Wege nach Limehouse …

Wenn er sich später an diese Fahrt erinnerte, war es ihm immer unverständlich, wie er alle die Alltäglichkeiten hatte erledigen können: Bezahlen des Autos, Lösen des Billetts, Treppen hinauf und hinab, das Einsteigen und rechtzeitige Aussteigen in Station Limehouse.

Bei dieser Traumfahrt gab es noch ein zweites Auto, das ihn nach Causeway brachte, wo er sich plötzlich zu ungewöhnlicher Tageszeit und über sich selbst erstaunt, herumstreunend fand!

Andere Leute mochten ihn wohl für betrunken gehalten haben, denn es geschah mehr als einmal, daß er harmlose Passanten anrempelte. Ja, ihm war, als ob er beständig mit jemandem zusammengestoßen wäre, obwohl die Straßen fast menschenleer waren. Zuletzt wußte er gar nicht mehr, ob er träumte oder wachte! Was zum Teufel war mit ihm los? Er nahm sich mit Gewalt zusammen. Weshalb war er überhaupt hierher gefahren?

Doch, jetzt erinnerte er sich wieder – und zugleich stellte er fest, daß er sich ganz unbewußt durch die richtigen Straßen und Gassen bis zu Wing Foos letzter Wohnung zurechtgefunden hatte.

Er war um Yo Foos willen gekommen, über den er Nachforschungen einziehen wollte. Und nun stand er vor dem Hause seines Vaters, vor einer baufälligen und schmutzigen Hütte mit finsteren Gängen und üblen Gerüchen, in lauernder Stille. Er trat ein und war bald vom Dunkel verschluckt. Irgend etwas schien vor ihm zurückzuweichen, auch hinter seinem Rücken fauchte es: Grauen und Gefahr!

Er lachte laut: Hier war niemand, der ihm auflauerte! Und doch: was hatte sich nicht alles in diesen feuchten, unheimlichen Gängen zugetragen! Aber er fand sich zuletzt doch durch bis zu dem Schlupfwinkel oben unter dem Dache, in dem Wing Foo zuletzt gehaust hatte, bevor er von der Polizei geholt worden war. Die Luft war zum Ersticken, und dunkel war es auch. Aber endlich stieß er in einer Ecke der Bude auf einen alten, unappetitlichen Chinesen, der auf einem Haufen Lumpen lag und ihm auf seine Frage zur Antwort gab, niemand im ganzen Hause oder in der Umgegend habe seit langer Zeit etwas von Yo gesehen. Billy wankte wieder die Treppe hinunter. Halb betäubt von der Pestatmosphäre des Zimmers. Er atmete erst wieder frei auf, als er auf die Straße kam. Was sollte er nun tun? Auf den nie verstummenden Ruf zum Handeln horchen, auf die nie ermüdende Stimme in seinem Innern lauschen, die ihm befahl: suche, suche, bis du gefunden hast! löse das Rätsel ihres Verschwindens! finde sie, finde sie um jeden Preis! … O Gott im Himmel! Finden mußte er sie, sie retten und sie lieben! Niemals wieder von sich lassen! Elena! Elena!! …

Aber was half hier der Wille allein! Hier in dieser Gegend, von der er nur eine sehr unvollkommene Kenntnis hatte.

Niemand hatte ihm helfen können – weder die Polizei noch einer seiner vielen Schützlinge im äußersten East End, obgleich er fast täglich Beweise dafür bekam, daß sie ihn nicht im Stiche ließen und zur Hilfe bereit waren. – Durch die Gasse, die er passierte, schrillte plötzlich der Aufschrei einer weiblichen Stimme, tierisch und wild! Er kam aus dem Haus, vor dem er gerade stand … kam näher. Wie gehetzt und verfolgt. In wachsender Stärke, Wildheit und Zügellosigkeit. Er hörte mehr als er sah, daß alles um ihn herum lebendig wurde, in den langen finsteren Gängen, hinter geschlossenen Fensterläden und in den unheimlich schielenden Torbogen. Wie Pilze wuchsen diese eingeschrumpften gelben Grimassen aus den elenden Behausungen hervor. Neugierig horchend, mit stillstehenden Gesichtern, in denen nur die Augen Aufmerksamkeit verrieten. Und jetzt kam der Schrei aus unmittelbarer Nähe, so daß er unwillkürlich zur Seite trat. Eine Frau in mittleren Jahren taumelte fallend aus dem Gang heraus, gerade vor seine Füße in die Gosse geschleudert von einem schweigsamen Chinesen, dessen kleine gelbe Fäuste man eben noch verschwinden sah.

Bill starrte wie hypnotisiert auf die Gestalt: eine weiße Frau! In diesem Viertel und in einer solchen Situation!

Die ärmlichen Kleider hingen ihr in Fetzen vom Leibe und entblößten einen häßlichen, über und über zerschlagenen Körper; ihre grauen Haare flatterten zerzaust und ungekämmt um ihren Kopf. Aus ihrem Blick sprach Haß … ihre Stimme war lallend, wenn ihr tierisches Heulen für Augenblicke zu einem müden Wimmern herabsank … mordlüstern wie Raubtierklauen ihre blutigen und zitternden Hände. Ihr ganzer Körper zitterte wie im Delirium, während sie im Schmutz der Straße wühlte. Ihr zahnloser Mund geiferte ohne Unterlaß die gemeinsten, unflätigsten Worte aus.

»Stehen Sie doch auf«, sagte Billy tief erschüttert und beugte sich unwillkürlich zu ihr hinab: aber sie antwortete nur mit einer bodenlosen Gemeinheit, die bei den Umstehenden einen großen Heiterkeitserfolg auslöste. Die Gänge und die mit Laden versperrten Häuser hatten nach und nach ihren ganzen menschlichen Inhalt ausgespien. Es war ein großer Menschenauflauf um die Frau herum entstanden, und man schien sich offenbar glänzend dabei zu amüsieren.

»Aber wie ist es nur soweit mit ihr gekommen«, fragte Billy einen alten, schmutzigen Chinesen, der beschaulich, seine Pfeife rauchend, in völliger Gemütsruhe dem abscheulichen Auftritt zusah. Der Alte zuckte geringschätzig die Schulter:

»Opium!« sagte er – und dann bekam Bill in kurzen Umrissen ihre Geschichte zu hören: Sie hatte einen Gelben betrogen, ihn dem Spott des ganzen Viertels ausgeliefert … und das hier war die Rache dafür! Tiefer und tiefer war sie gesunken. Nicht nur eine Hure war sie geworden, sondern auch eine Säuferin und Raucherin:

»Aber jetzt wird es nicht mehr lange dauern«, grinste der Chinese.

»Ja, ja,« fuhr er gehässig fort, »wir Gelben wissen uns zu rächen! … Nicht mit Gewalt … sondern indem wir einfach das Schicksal wirken lassen.«

Billy schauderte zusammen: Er erinnerte sich plötzlich, schon früher von den unmenschlichen Strafen der Chinesen gehört zu haben, auch von den scheußlichen Wirkungen, die sie manchmal auf metaphysischem, dem Westländer vollkommen unbekannten Wege erzielten. Wenn nun Elena, seine geliebte kleine Elena, von diesen Barbaren auch so gepeinigt würde, daß sie zuletzt dem Irrsinn verfiel! Er sah sie, gemartert und zerstört. Aus ihren Augen war Farbe und Leben entflohen … sie starrten blind und hoffnungslos ins Weite … ihre Hände, die süßen, kleinen Hände tasteten fieberheiß ins Leere … und wilde Krämpfe durchzuckten ihren Körper, welche Folterqualen sich ins Unerträgliche steigerten … und wieder stieg ihm die Erinnerung an alle die grausamen Strafen auf, von denen er gelesen und gehört hatte – eine entsetzlicher, unmenschlicher und unbeschreiblicher als die andere – und Elena als Opfer von allen: blutend, besudelt, mit dem Wahnsinn in ihrem verwüsteten, lieben Antlitz … ihrem in Weinen erstarrten Munde, und ein Paar Augen, die trotz aller Hoffnungslosigkeit doch noch die eine Hoffnung nährten, daß alles bald vorbei sein würde – – alles, alles vorbei!

Er hätte vor Angst und Schmerz, vor Haß und Wut aufschreien können. Aber er stand verloren und gebrochen da und starrte regungslos auf die Unglückliche in der Gosse vor sich: eine Angehörige seiner Rasse! eine weiße Frau wie Elena!

Unmöglich, unfaßbar!

Er wollte nicht mehr daran denken. Er glich einem Greise, als er endlich ganz erschöpft nach Hause kam. Was würde die Nacht bringen?

Zweites Kapitel

1.

Aus verschiedenen Gründen wurde die geplante Razzia im Chinesenviertel einige Tage verschoben. Endlich, in der fünften Nacht darauf, klingelte Billys Telephon.

»Hier Polizeipräsident Crafton! … Sind Sie es, Freund? … Ja, jetzt haben wir es hinter uns, aber leider wieder erfolglos. Weder von dem Knaben noch von Tai-Ling oder Ihrer Frau irgendeine Spur. Das Teehaus, in dem Sie vorgestern waren, haben wir auch nicht gefunden. Aber wir lassen nicht locker und hoffen auf das nächste Mal! … Gute Nacht!«

*

Billy saß stumpf und grübelnd mehrere Stunden lang in seinem Schreibtischstuhl, bis der Tag graute. Aber er ließ sich nicht unterkriegen. Im Gegenteil: jetzt packte ihn der Trotz der Verzweiflung. Das Schicksal lag auf der Lauer, um ihn zu verderben, aber es sollte nicht über ihn triumphieren!

Er erhob sich und ging ins Atelier, wo er vor dem verhüllten Entwurf seines zur Tragik gewordenen »Glücks« innehielt. Ein Strom der verschiedensten Gefühle drängte in ihm nach Befreiung. Schmerz und Sehnsucht, Liebe und Haß. Er riß das Leinen herab und fing an, sich alles vom Herzen zu arbeiten, wie man Unkraut aus dem Garten jätet.

So verging der Tag. Jane kam mehrmals herein: Der gnädige Herr muß doch etwas essen! Aber er winkte ihr ab … am Spätnachmittag fing es an zu regnen, es dunkelte, aber er wollte trotzdem nicht aufhören. Die Arbeit wirkte heilend und beruhigend. Plötzlich dachte er an Rice. Armer, guter Rice! Wie es ihm wohl ginge – mit seinem gebrochenen Bein. Dr. Lansing hatte ihn ins Spital bringen lassen. Er hatte sich noch nicht einmal nach ihm erkundigt. Obgleich sich sein braver Keller- und Haushofmeister nur seinetwegen vorgestern abend als Begleitung bei seiner Streife nach Limehouse aufgedrängt hatte. »Auch ich möchte Ihnen beweisen, wie ich die gnädige Frau verehre«, hatte er gesagt und dabei für einmal seine äußere Würde abgelegt.

Dann waren sie zusammen in das Chinesenviertel gefahren und dort in ein Teehaus gekommen, wo Billy glaubte, Tai-Ling verschwinden gesehen zu haben. Als er aber nach ihm fragte, wollte niemand ihn kennen. Und unmittelbar danach waren er und Rice von sechs bis sieben verdächtigen Burschen überwältigt und in bewußtlosem Zustande in eine ganz andere Gegend verschleppt worden. Er selbst blau und grün geschlagen, Rice mit einem gebrochenen Bein. Und bis jetzt hatte er ganz vergessen, zu fragen, wie es ihm ginge. Er klingelte nach Jane, die sofort kam.

»Haben Sie etwas von Rice gehört?«

»Ja, ich habe im Spital angefragt. Es geht ihm soweit ganz gut, aber es wird lange dauern, bis er heraus darf … Miß Strefford hat auch eben angerufen.«

»So? Miß Strefford?« Billys Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln, das Jane überraschte. Sie konnte ja auch nicht wissen, wie unwillkommen ihm die Besuche dieser Dame waren, die gegen alles unempfindlich schien. Ja, er hatte sogar das Gefühl, als ob seine herben Worte und sein wenig rücksichtsvolles Benehmen sie eher anzöge.

Und obwohl sie ihn ärgerte, machte sie ihm doch auch wieder künstlerische Freude, wenn sie, in sein Sofa hingegossen, mit einem Berg voll Kissen hinter sich, die Zigarette zwischen ihren blutroten Lippen balancierend, über Pferderennen und Politik plauderte (ohne daß er zu antworten brauchte), die beiden einzigen Dinge, für die sie – abgesehen von allem Sensuellem – Verständnis und Interesse hatte. Eine gewisse Grazie lag auch im Spiel ihrer Hände, die, beringt, schmal und aristokratisch waren, wollüstig und grausam zugleich; und ihre Augen konnten sowohl verschleiert sein und doch auch in einem eigenartig suggerierenden Feuer aufleuchten, wenn sie mit burschikoser Ungeniertheit irgendeine gewagte erotische Frage aufschlug. Und das war immer ihr Lieblingsthema, wenn sie ihn besuchte. Sie brachte eine fremde Welt mit sich ins Zimmer, die ihn trotz seines Widerstandes dann und wann bestrickte. Im Grunde aber war sein Gefühl für sie das maskuliner Verachtung. Er hatte nach ihrem letzten Besuch, wobei er ihr unverblümt seine Meinung gesagt hatte, eigentlich erwartet, daß sie sich künftig von ihm fernhalten würde. Darin hatte er sich also getäuscht.

»Ist sonst noch etwas?« fragte er Jane.

»Ja, es ist ein Paket gekommen.« Sie reichte es ihm. »Von Herrn Rechtsanwalt Strefford. Ich wollte vorhin nicht stören, aber …«

»Danke schön, Jane. Es ist gut.«

Er hatte schon das briefähnliche Paket geöffnet, während die Tür hinter dem Mädchen zufiel. Es enthielt ein kleines blaues Heft mit Elenas charakteristischer Handschrift: »Mein Tagebuch!« stand vorne auf dem Umschlag. Außerdem lag noch ein Brief von Strefford bei. Billy stellte sich an das Fenster der Veranda und las.

2.

»Lieber Billy!

Als dem juristischen Berater Ihrer Frau hat mir die Polizei heute nachmittag das mitfolgende Tagebuch geschickt. Einer der Detektive namens Burke hegte seit langem den Argwohn, daß Ihre Frau in der Nacht, in der sie entführt wurde, sich krampfhaft bemühte, irgendeinen Gegenstand verschwinden zu lassen. Jetzt ist es ihm gelungen, denselben ans Tageslicht zu bringen. Und zwar fand er ihn in der Apotheke, vor der damals das Polizeiauto haltmachte, versteckt zwischen der Rücken- und der Seitenlehne des Sofas. Es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß die Polizei eine beglaubigte Abschrift von dem Inhalt des Buches genommen hat. Die Sache wird jedoch – das hat mich der Polizeipräsident ausdrücklich gebeten, Ihnen zu sagen – mit größter Diskretion behandelt werden, und der Inhalt soll nur in dem Falle benutzt werden, wenn es wirklich zu einer Mordanklage gegen Ihre Frau in der Sache Li-Chang kommen sollte.

Wie Sie beim Durchlesen sehen werden, lieber Billy, habe ich recht behalten mit der Behauptung, die ich Ihnen gegenüber in jener Winternacht vor anderthalb Jahren machte: Das von uns besprochene Interview in der ›Daily Mail‹ hat damals tatsächlich zur Folge gehabt, daß der Maler Guy Ashow – der ehemalige Bräutigam Ihrer Frau – auf die Idee kam, Sie um hundert Pfund Sterling zu bestehlen. Er suggerierte Ihrer Frau, daß dieser Diebstahl nichts anderes als ein Vergeltungsakt sei, weil Sie ihm denselben Betrag einige Abende vorher im Hasard im Klub ›Herz ist Trumpf‹ abgenommen hatten. In diesem Spiel habe er, so gestand er seiner Braut, auch ihre ganzen Ersparnisse, welche ungefähr dieser Summe entsprachen, eingesetzt, um womöglich so viel zu gewinnen, daß sie bald heiraten könnten. In Wirklichkeit verhielt sich die Sache jedoch so, daß er das ganze Geld für Kokain verwendet hatte, dessen Genuß er rettungslos verfallen war. Er hatte es zuwege gebracht, von Ihnen, lieber Billy, ein Bild in so krassen Farben zu malen, daß Sie für Miß Elena – moralisch – wie ein Verbrecher dastanden. So hätten Sie zum Beispiel auf Ashows Verzweiflungsausbrüche über seine nun völlig zerschlagenen Zukunftshoffnungen nur ein Hohnlachen übriggehabt: ›Das ginge Sie gar nichts an, wenn er sich wie ein Schuft benommen hätte. Er könne Ihretwegen zur Hölle fahren! …‹

Ebenso hätten Sie, als er an Ihre bekannte Wohltätigkeit appellierte, unter zynischem Lachen erklärt, es gehöre schon eine große Portion Dummheit dazu, wenn er nicht verstünde, daß die ganze Wohltätigkeit von Ihnen nur eine Reklamegeste sei! …

Kurz und gut: er redete so lange auf Miß Elena ein, bis sie zuletzt vollkommen davon überzeugt war, daß es gar keine Sünde sei, Ihnen das Geld zu stehlen. Und nachdem sie vorher selbst schon davon gesprochen hatte, sich mangels anderer Beschäftigung als Modell anzubieten, war es ihm ein leichtes, sie dazu zu überreden, die Stellung bei Ihnen zu suchen. Wenn sich dann Gelegenheit gab, sollte sie das Geld nehmen und durch das Fenster in den Garten werfen, wo er darauf wartete.

Es hat sogar den Anschein, daß er ihr zu verstehen gab, es sei an jenem Abend im Klub nicht ganz ehrlich zugegangen. Es steht nicht mit klaren Worten in dem Tagebuch, aber man kann es zwischen den Zeilen lesen. Sie sehen also, lieber Billy, daß er den Boden bei Miß Elena gut vorbereitet hatte und daß das Interview in der ›Daily Mail‹ von ihm dazu benutzt wurde, um die Saat zur Reife zu bringen. Denn er konnte argumentieren:

Wenn ein Mann so leichtsinnig in seinen Geldangelegenheiten verfährt, hat es ihm wahrscheinlich auch nicht zuviel Mühe gekostet, das Geld zu verdienen!

Sie werden weiter aus dem Buche erfahren, daß es nicht lange gedauert hat, bis Ihre Frau zu der Erkenntnis kam, in wie unglaublich gemeiner Weise sie von ihrem Bräutigam hinters Licht geführt worden war und daß sie – anstatt des Geldes jenen Brief zum Fenster hinauswarf, der jetzt bei Li-Chang gefunden wurde. Sie werden auch die Geschichte jenes Briefes kennenlernen, sowie die Macht, die Li-Chang durch ihn auf Ihre arme Frau ausübte. Auch ihre Seelenkämpfe und ihre Angst vor einer Begegnung mit Guy Ashow (dessen Tod sie ja erst durch den Times-Artikel erfuhr), ihren Widerwillen gegen das ihr aufgezwungene Lügen- und Komödienspiel gegenüber Ihnen! Ihren festen Entschluß, Ihnen die Wahrheit zu gestehen – ihren Versuch dazu, den Sie selbst vereitelten, und so weiter.

Ich schreibe so ausführlich, lieber Billy, weil der Inhalt des kleinen Buches mich tief ergriffen hat – wie es jedem rechtlich denkenden und mitfühlenden Menschen bei der Lektüre ergehen wird! – und ich bitte Sie, mein aufrichtiges Mitgefühl entgegenzunehmen, sowie den Ausdruck meiner uneingeschränkten Bewunderung für Ihre arme, heldenmütige Frau.

Ihr ergebener
B. Strefford.«

*

Billy öffnete mit unsicherer Hand die Verandatüre. Er mußte Luft haben, Luft! Aber einen Augenblick später saß er doch über das Tagebuch gebeugt, dessen zitterige Schriftzeichen er verschlang, fieberhaft, atemlos. Jetzt wußte er also alles! Arme kleine Elena! Aber er verstand sie, unter allen Umständen! Für sie hätten die hundert Pfund alles bedeutet! für ihn nichts! Und sie hatte sie dennoch nicht genommen! Im Gegenteil: sie hatte lieber mit dem Manne gebrochen, der, wenn er sie auch angelogen hatte, doch damals ihr einziger Freund war – trotz allem!

Bill schluchzte tränenlos. Er erhob sich und wankte zu der offenen Türe, wo er sich in einen Stuhl niedersinken ließ und lange Zeit sinnend in die Dämmerung hinausstarrte. Die Regenkühle tat ihm wohl, und die würzige Luft, in der sich der Geruch von feuchter Erde mit dem Duft der nassen Blumen mischte, erfrischte seine angestrengten Nerven.

Ein leichtes Geräusch hinter ihm ließ ihn aufhorchen: es war Monkey, armer Monkey. Die Mädchen ließen ihn die letzte Zeit frei herumlaufen. Er fühlte plötzlich des Affen Pfote an seiner Wange. Wie eine kindliche Liebkosung! … Dann nahm er das Tier auf seinen Schoß. Es war abgemagert und sah krank aus: es vermißte seine Herrin, sehnte sich nach ihr … so wie er selbst!

»Elena, Elena!«

Impulsiv drückte er den kleinen Affen an sich:

»Wir zwei …« seufzte er. »Wir zwei … Einsamen!«

Drittes Kapitel

1.

Bill hatte bis in den Abend hinein gearbeitet, aber jetzt war er müde und trat zurück, um sein Werk zu betrachten:

Der Sockel ging seiner Vollendung entgegen und befriedigte ihn vom künstlerischen Standpunkte aus. Aber für die Hauptfigur hatte er bisher vergebens nach einem weiblichen Akt gesucht, der seinen Anforderungen in bezug auf Rhythmus des Körpers und Adel der Züge genügt hätte. Er kam damit nicht recht vorwärts. Mit einem tiefen Seufzer deckte er die Figur zu, zündete eine Pfeife an und ging in den Garten.

Park Lane lag kühl und vornehm vor ihm im Scheine eines schon stark herbstlichen Abendrots – und das, obwohl man erst Anfang August schrieb! Auch die Blumen strömten einen durchdringenden Geruch aus, der an baldiges Sterben mahnte. Nur die Rosen prangten rot, weiß und gelb, wie in erster Blüte.

Es war so merkwürdig still hier! Oder war er es selbst, der diese Stille mit sich herumtrug? Übrigens war die Straße ja an sich den ganzen Sommer über sehr ruhig, da neun Zehntel der Bewohner ihre Stadthäuser verließen und den Sommer auf den Gütern und Landhäusern verbrachten.

Dann und wann flog ein Auto beinahe lautlos vorbei. Nur drüben in Hyde Park pulsierte etwas Leben. Das Summen menschlicher Stimmen und vereinzeltes Lachen klangen zu ihm herüber. Aber alles war gedämpft – wie unter dem Eindruck des scheidenden Sommers. Bald würde er am Ende seiner Kräfte angelangt sein – wie er selbst!

Elena, Elena, wo bist du?

So hörte er es klagen und flehentlich fragen in seinem Inneren. Aber sein Gesicht gab seine Gefühle nicht preis. Er starrte mit versteinerten Zügen und leerem Blick vor sich hin.

Wie sollte das alles enden?!

Er wurde sich plötzlich bewußt, daß der Mond schien. Aber als er emporblickte, war der Mond unsichtbar. Eine Wolkenwand hatte ihn verdeckt. So, jetzt kam er wieder zum Vorschein, mit Strahlen so spitz wie ein Dolch – um gleich wieder hinter einer neuen Mauer blauschwarzer Wolken zu verschwinden. Der Tag war drückend heiß gewesen, und der Himmel deutete auf ein nahes Gewitter. Der Wind hatte sich auch gedreht … Nun war es wohl Zeit, hinaufzugehen und in den ›Limehouse-Dreß‹ zu schlüpfen. Diese Streifzüge boten ihm doch immerhin einige Chancen. Einmal würde es vielleicht gelingen. Einmal würde er vielleicht heimkehren!

O Gott, welches Glück!

Er wandte sich zum Gehen, als ihn ein Ruf, der von der Straße kam, zum Bleiben veranlaßte:

»Hallo, Billy!«

Er drehte sich unwillig um. Es war Violet Strefford!

»Ja, ich bin es«, sagte sie lächelnd und versuchte, das Gartentor zu öffnen. »Ich bin mit einem Wagen gekommen, aber Sie waren so in Gedanken versunken, daß Sie mich weder hörten noch sahen.«

Er nickte gleichgültig und blieb stehen, wo er war.

»Wollen Sie mich gar nicht hereinlassen?« lachte sie unbekümmert und drückte das Gartentor langsam auf. »Warum sagte man mir übrigens vorhin, als ich anrief, daß Sie nicht zu Hause seien?«

»Weil ich Order dazu gegeben hatte,« antwortete er mit Seelenruhe, »weil ich nicht zu Hause bin, für niemanden.«

Sie nickte unberührt und steckte ihren Arm unter den seinen:

»Ich muß etwas mit Ihnen besprechen, Bill.« Sie zog ihn langsam und sanft mit sich durch den Garten gegen das Haus. Er warf ihr einen Blick zu, halb Ungeduld, halb Resignation. Schön war sie, das konnte man nicht leugnen, in ihrem leichten Maulwurfpelz, der so weit zurückgeschlagen war, daß man das blendend weiße Charmeusekleid mit der glitzernden Stickerei darunter sehen konnte. Er bemerkte auch, daß sie tief dekolletiert war und daß das Kleid nur von zwei Schulterbändern zusammengehalten wurde, die aus strahlenden, echten Perlschnüren bestanden. Als sie den Mantel noch mehr öffnete, schimmerte auch eine große Perlagraffe über ihrer linken Hüfte. Und als Ohrenschmuck trug sie ebenfalls wunderbare längliche Perlen. Er war sich nicht klar, warum er diese Beobachtungen mit einem gewissen Wohlbehagen machte. Er, der sich sonst nicht im entferntesten für Damenkleider zu interessieren pflegte, ausgenommen was Elena betraf. Aber es war wohl das Bildmäßige an dem Kostüm, was ihn anzog, und dann die Perlen, von denen es vollkommen beherrscht wurde.

Er öffnete ihr die Tür und ließ sie offenstehen. Zum Teil wegen der schwülen Luft … teils weil sie dadurch – auch bildlich gesprochen – nicht so ganz für sich allein blieben. Ganz unempfindlich dem Zauber gegenüber, der von ihr ausging, war er nicht. Er sah zwar nicht das siegessichere Aufblitzen ihrer Augen, aber er spürte den Duft ihrer Haare und ihres Körpers. Das betäubende Parfüm, das aus ihren Kleidern ausströmte und ihre ganze Person umgab.

Sie lächelte, während sie ihren Pelzmantel abnahm und ihn in einen der Stühle warf:

»Ich bleibe ein wenig da und möchte, wie gesagt, über etwas Besonderes mit Ihnen sprechen, Billy!«

Sie ließ sich mit der Grandezza einer Königin nieder:

»Aber so setzen Sie sich doch auch, Billy! Man wird ja ganz nervös, wenn Sie so dastehen und wie ein Schornstein qualmen.«

Billy setzte sich. Er hatte seine Pfeife im Munde. Es war, als ob sie ihm etwas von der Unsicherheit und Verlegenheit, die ihn plötzlich angewandelt hatten, abnehmen würde.

»Und was ist es, was Sie mir zu sagen haben, Violet?«

»Es betrifft Ihre neue Statue, Ihr neues – Glück! Ich habe nämlich in der Stadt gehört, daß Sie kein passendes Modell für die junge Frauenfigur finden können.«

»Das stimmt!« nickte Billy. »Können Sie mir vielleicht helfen?«

»Ich glaube, ja!«

Bill wurde mit einem Male interessiert:

»Sie würden mir einen unschätzbaren Dienst damit erweisen.«

»Ja, nicht wahr?« Sie lächelte wie eine Sphinx.

»Und wen haben Sie im Auge …?«

Sie blickte rasch zu ihm auf:

»Mich selbst!«

Er starrte sie sprachlos an.

»Oder meinen Sie nicht, daß Sie mich dazu brauchen könnten?« Ihr Lächeln war siegesgewiß. Sie erwartete keine Zurückweisung.

»Sie? dazu …? Zu dieser Idealgestalt! Glück, Unschuld, Reinheit …« Er lachte laut auf, ohne darüber nachzudenken.

»Bin ich Ihnen vielleicht nicht hübsch genug?« Sie stellte sich in ihrem ganzen verführerischen Reiz vor ihn hin, jede Linie in ihrem Körper und jede Bewegung ihrer Erscheinung voll Versuchung.

»Und sollte es mir wirklich nicht gelingen können, Sie davon zu überzeugen, daß auch ich Gefühl und Seele habe?«

»Aber Sie sind ja gar nicht der Typ, den ich mir vorgestellt habe.«

»Was tut das zur Sache? Wenn ich nur die Frau bin, die – trotz Klatsch und Bosheit der Welt, inmitten grenzenlosen Unglücks, allein und nackt, auf einem Felsen draußen im unendlichen Ozean, tausend Meilen entfernt von Ufer und Freunden, von Schmerzen und Tod bedroht –, die doch imstande ist, für ihr Glück zu danken; daß alles andere nichts ist gegenüber dem Bewußtsein, geliebt zu werden und selbst zu lieben! und die keinen Augenblick daran zweifelt, daß es so für immer bleiben wird …! Wenn ich nur diese Frau bin, Billy, glauben Sie auch dann nicht, daß Sie mich brauchen können?«

»Aber das sind Sie ja gar nicht in Wirklichkeit, Violet.«

»Doch, das bin ich – oder wenigstens: ich könnte es werden … für den, den ich liebe, und der mich liebt … alles, alles

Es sprühte Leidenschaft um sie, ein Meer entfesselter Leidenschaft! Billy wagte kaum, sie anzublicken. Er fühlte Angst, Scham und Schwäche zugleich und kämpfte mit aller Kraft dagegen an.

Sie erhob sich plötzlich. Irgend etwas fiel dabei zu Boden. Aber weder sie noch Billy gaben darauf acht:

»Was meinen Sie, Billy … so reden Sie doch!«

Er nickte verwirrt.

»Wo kann ich mich auskleiden?« fragte sie, und ihre Augen brannten in die seinen. »Dann können Sie ja sehen, ob …«

Bill räusperte sich heiser – er rang immer noch mit sich selbst:

»Was beabsichtigen Sie eigentlich, Violet …? Was wollen Sie?« brachte er endlich staunend über die Lippen, brutal und unsicher zugleich.

2.

»Ihnen helfen, Billy! So oder so! In einem und in allem!«

Sie näherte sich ihm, und von neuem übten ihr Blick und ihr Atem ihre Zaubermacht auf ihn aus. Er sah sich verwirrt und wie nach Hilfe suchend um, zugleich beschämt über die heikle Situation, in die er geraten war. Dann fiel sein Blick zufällig auf den Gegenstand, der vorhin vom Tische gefallen war.

Eine Photographie von Elena! Er atmete tief und erleichtert auf:

Was für ein Schwächling er doch war. Dann aber bemächtigte sich seiner auch eine reine Freude darüber, daß er sich besiegt hatte, wenn er es auch nur Elenas Bild zu verdanken hatte! Er hob es auf und stellte es an seinen Platz:

»Ich kann Ihr Anerbieten leider nicht annehmen, Violet«, sagte er ruhig und freundlich.

»Warum nicht?« fragte sie mit umflorter Stimme.

Er hob die Schultern:

»Weil ich keinen Glauben in Sie habe – ob mit Recht oder nicht!«

»Aber ich liebe Sie doch, Billy! Ich liebe Sie …! Küssen Sie mich! – so nehmen Sie mich doch, Sie dummer, dummer Mann!«

Einen Augenblick fühlte er eine beseligende, aber unmännliche Schwäche in sich. Ihr sirenenhafter Blick hypnotisierte ihn, ihre Lippen brannten ihm entgegen wie feurige Flammen – ihr Duft drohte ihm die Besinnung zu rauben, und ihre blendende und wilde Schönheit, die zur Hingabe bereit war, bereitete ihm ein sündiges Entzücken. Erweckte Sehnsüchte, auf die er später nur mit Schamröte zurückblicken würde. Aber er zweifelte keinen Augenblick, daß sie ihn auf ihre Weise liebte, und zwar schon seit längerer Zeit.

Aber Elena, Elena! …

Nein, er wollte und konnte sie nicht in so niedriger Weise täuschen und betrügen. Die Situation war beinahe lächerlich. Er hätte nie geglaubt, daß er einmal die Rolle des keuschen Joseph spielen würde. Aber jetzt war es eingetreten.

»Lassen Sie uns vernünftig sein. Sie lieben mich ja gar nicht und ich nicht Sie!«

Es war, als ob ihre Leidenschaft mit einem Male ausgestrichen, ausgelöscht sei. In ihrem Innern litt sie Höllenqualen. Aber sie zeigte es nicht. Sie hatte das Spiel verloren – aber sie wußte es zu tragen:

»Sie haben recht, Billy!« sagte sie, halb seufzend, halb lächelnd – und ging gelassen zu dem Stuhle, auf dem ihr Pelzmantel lag. »Übrigens habe ich fürchterliche Kopfschmerzen. Haben Sie vielleicht ein Pulver oder irgend so etwas?«

»Aber natürlich, drinnen in meiner Hausapotheke. Soll ich Ihnen eines holen?«

»Danke, ich kann es ja selbst tun.«

»Es ist Azetyl-Salizyl«, erklärte er. »Aber nehmen Sie sich in acht, daß Sie die Gläser nicht verwechseln. Nebendran steht nämlich eines mit Zyankali. Ja, das von jenem Abend. Ich bekam es vor einigen Tagen von der Polizei zurück und habe es in Gedanken da hineingestellt.«

Violet lächelte überlegen:

»Haben Sie keine Angst, Billy, daß ich Sie kompromittieren werde. Wenn ich mir das Leben nehmen will, soll es schon an einem neutralen Ort geschehen. Das verspreche ich Ihnen.«

Sie verschwand in das Kabinett.

Es war dunkler und dunkler geworden in der Wohnung. Als Billy hinaus zum Himmel blickte, war er ein einziges, blauschwarzes Meer drohender Gewitterwolken. Die Hitze war beinahe unerträglich geworden. Er pustete unwillkürlich und wollte noch einige Fenster aufmachen. Aber statt dessen fing er an zu horchen:

Man konnte doch niemals wissen …! Freilich hätte er das Fläschchen schon längst an seinen Platz im Photographieschrank zurückstellen müssen. Aber es ging ja im ganzen Haus alles drunter und drüber. Hm, jetzt hörte er, wie sie den Schrank öffnete und wie die Gläser klirrten. Sie hatte nicht einmal das Licht angezündet. Zuweilen hatte es ja auch sein Gutes, im Halbdunkel zu bleiben. Aber was war das? Hatte sie irgend etwas erschreckt? Er hörte sie aufschreien.

»Was ist los?« rief er, nach dem Atelier eilend.

»Ach, es war nur Monkey, das kleine Biest!«

»Haben Sie das Pulver gefunden?«

»Ja, danke, jetzt habe ich es.«

»Es stehen auch eine Wasserflasche und ein Glas daneben.«

»Ja, ich habe es schon gesehen!«

In dem äußerst spärlichen Licht konnte sie gerade noch die beiden Gläser voneinander unterscheiden, das mit Azetyl und das mit Zyankali. Sie nahm einen kleinen Löffel voll von dem ersteren und trank einen Schluck Wasser darauf … merkte dann plötzlich, daß sie ihre Handschuhe an den Händen hatte, zog sie rasch aus und warf sie nachlässig auf einen Stuhl. Dann kam sie in den Salon zurück.

»Nun muß ich wohl allmählich ans Fortgehen denken«, sagte sie.

»Sie haben wohl den Wagen nicht warten lassen?«

»Nein, ich wußte ja nicht, wie lange …« erwiderte sie, wobei sie gegen ihren Willen errötete.

»Ja, dann wird es gut sein, wenn Sie sich etwas beeilen«, half er ihr darüber hinweg. »Denn es wird bald losbrechen.« Er deutete dabei nach dem Himmel, der nicht mehr blau war, sondern wie eine schwarze Wand über ihnen stand. »Soll ich Ihnen nicht lieber einen Wagen kommen lassen?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf:

»Nein, danke, ich ziehe es vor, zu gehen. Ich werde schon noch trocken nach Hause kommen … Aber wo habe ich meine Handschuhe?«

»Mir war es, als ob Sie sie noch angehabt hätten,« erinnerte sich Bill, »als Sie das Pulver holten.«

»Ach ja, das ist wahr«, fiel ihr ein. »Ich habe sie in den Stuhl hier gelegt«, sagte sie, indem sie die Portiere zur Seite schlug und sich über den Stuhl beugte. Aber es waren keine Handschuhe darinnen. »Das ist aber doch merkwürdig!« Sie kam wieder zurück. »Sollte ich sie am Ende doch hier …?«

Sie schwieg plötzlich – und im selben Moment blickten sie sich gegenseitig an. Man hörte ein leises Geräusch vom Kabinett her, als ob jemand einen Schlüssel in einem Schloß umdrehte. Dann folgte ein Klirren wie von Glas!

Billy legte seinen Finger warnend auf die Lippen und ging auf den Zehenspitzen zum Vorhang, den er leise zurückschob … Er fuhr betroffen zusammen, wandte sich zu Violet – aschfahl im Gesicht und mit klopfendem Herzen – und doch zugleich so glückselig vor Freude, daß er dem Weinen nahe war. Er winkte sie an seine Seite:

»Kommen Sie, Violet,« flüsterte er, »kommen Sie, sehen Sie selbst!«

3.

Es war fast Nacht in dem Zimmer. Nur ein leichter Schimmer drang von der Straße herein, von einer Bogenlampe, die eben angezündet worden war, und über welcher nun drohend und niedrig die Wolken des heranziehenden Unwetters hingen. Zuerst konnte Violet nichts anderes sehen als das Dunkel und den schwachen Lichtschein selbst. Aber allmählich erkannte sie wechselnd bewegte Schatten … drüben in der Ecke beim kleinen Medizinkasten … und oberhalb des großen Sessels, in dem man Li-Chang tot aufgefunden hatte … und sah, wie Monkey, der Affe – der aufrecht auf dessen Rückenlehne und vor dem geöffneten Schränkchen stand –, mit einer Geste, die vollkommen ihren eigenen Bewegungen glich, nach dem Migränegläschen griff, das klirrend mit anderen zusammenstieß.

Es war offenbar seine Absicht – wie er es vorher bei ihr beobachtet hatte –, von dem Pulver etwas in das Wasserglas zu tun, aus dem sie eben getrunken hatte. Das Gefäß mit dem Azetyl-Salizyl war ihm jedoch zu dick. Er konnte es mit seiner kleinen Hand nicht umspannen. Außerdem glitt es ihm auch durch die Finger, weil er ihre Handschuhe übergestülpt hatte …

Und so langte er – immer noch sie, Violet Strefford, imitierend – nach dem viel schlankeren Zyankaliglas … öffnete es und streute mit großen Runzeln auf der Stirne, als ob er von heftigsten Kopfschmerzen geplagt würde, einige Gramm des fürchterlichen Gifts in das Wasserglas, das er in der rechten Hand hielt, während er mit der linken das Gift wieder auf seinen Platz stellte.

Violet Strefford war im Begriff, hineinzulaufen und ihm das Glas zu entreißen. Aber Billy hielt sie am Arm zurück:

»Nein, bleiben Sie da, bitte«, flüsterte er heiser und außer sich vor Spannung.

Der Affe warf den Kopf zurück, genau wie es Violet zu tun pflegte, leerte das Glas in einem Zuge – und stürzte im selben Augenblick auf den Teppich nieder! … Das Glas kollerte über den Boden, stieß gegen das Stuhlbein und ging in Scherben … Und in dem nebligen, unausgesprochenen Lichtkegel der Straßenlampe lag Monkey, der kleine Affe, armselig anzuschauen … über seine kleinen, verrunzelten und erstarrten Hände die duftenden, aber mit Zyankali bestäubten Handschuhe gestülpt – leblos, tot!

Violet schluchzte auf, ein unbändiger Zorn gegen Billy stieg in ihr auf:

»Warum ließen Sie das zu?« brauste sie auf, »und warum haben Sie mich daran gehindert, ihn zu retten?«

»Weil es sein mußte … Weil ich Gewißheit haben wollte!«

Billy war selbst in zweifacher Hinsicht erschüttert: Er kniete vor dem Affen und liebkoste seinen kleinen Körper:

»Ja, Sie finden es wohl sehr grausam von mir, und vielleicht ist es auch so. Aber hier galt es Elena oder das Tier. Deswegen konnte es für mich keine Wahl geben! … Armer kleiner Monkey.« Er klopfte ihm noch einmal auf den Rücken – und blickte rasch in die Höhe: »Nun wissen wir also, wie es sich zugetragen hat … oder hegen Sie noch irgendeinen Zweifel?«

»Wieso Zweifel?« Sie sah ihn verständnislos an.

»Na, natürlich darüber … wie alles kam … damals an jenem Abend … als Li-Chang getötet wurde.« Seine Worte überstürzten sich vor innerer Erregung.

»Ich begreife nicht, wie das …«, fing sie an.

»Aber doch, Violet, verstehen Sie denn nicht,« versuchte er sie zu überzeugen, »daß sich heute abend genau dasselbe abgespielt hat wie neulich; nur mit dem Unterschied, daß es Elena war und nicht Sie, die das Azetyl nahm – sie litt nämlich auch an Kopfweh –, und daß es Li-Chang und nicht Monkey war, der an dem Abend davon betroffen wurde.«

»Sie meinen also, daß Monkey auch Elena seinerzeit beobachtet hat?« fragte Violet unwillig.

»Ja, gewiß! Und auch sie hatte ihre Handschuhe angehabt, als sie das Pulver hervorsuchte – sie hatte sich nämlich vorher mit ihren Blumen beschäftigt – und vergessen, sie auszuziehen.«

»Und auch das sollte der Affe beobachtet haben?«

»Ja, weil er ihr immer und überallhin folgte wie ein Schatten.«

»Sie glauben also, daß er die Handschuhe selbst geholt hätte …?«

»Ja, und dann hat er sie nach der Tat in der Halle weggeworfen, wo man sie später verkrümpelt am Boden liegend fand …«

»…; und sie mit Zyankali bespritzt, als er Li-Chang das Pulver in das Portweinglas schüttete.«

»Genau so, wie Sie sagen, ja! … Verstehen Sie jetzt, wie ich es meine?«

Violet Strefford nickte nachdenklich. Ihr Blick wurde kälter und kälter.

»Gewiß verstehe ich Sie, Billy. Aber es muß bewiesen werden können!«

»Bewiesen?! … Das ist es doch bereits!«

Ein mächtiger Donnerschlag verschlang beinahe seine Worte. Eine Sekunde darauf schlugen die Blitze über den Himmel, der Regen entlud sich mit tropischer Gewalt und Plötzlichkeit. Aber Billy bemerkte nichts mehr. Er war eifrig damit beschäftigt, Tinte und Papier hervorzuholen:

»Sie müssen es bezeugen, Violet … daß alles so vor sich gegangen ist«, wiederholte er fortwährend.

Violet lächelte schmerzlich:

»Das hat doch wohl Zeit, lieber Billy! Oder glauben Sie vielleicht, daß ich falsches Zeugnis ablegen würde, wenn ich darum befragt werde?«

Er antwortete nicht. Was sollte er ihr auch antworten? Das war es ja gerade, was er befürchtete. Und selbst, wenn sie nicht direkt falsch aussagen würde, so konnte sie doch soviel Zweifel und Unklarheiten dabei zum Ausdruck bringen, daß ihre Zeugenaussage dadurch einen großen Teil ihres Wertes einbüßen konnte. –

Billy hatte angefangen zu schreiben. Sie legte daher ihren Pelzmantel wieder ab und zündete sich eine Zigarette an. Es war ja außerdem gar nicht daran zu denken, in diesem Wetter nach Hause zu gehen! Und wer konnte wissen, welche Chancen ihr vielleicht diese Situation bringen konnte!

»Sie dürfen mich nicht mißverstehen,« er sah in einer kleinen Schreibpause zu ihr hinüber, »aber das Dokument hier wird ja von ungeheurer Bedeutung sein. Und jetzt, da ich weiß, was ich weiß, werde ich erst recht keine Opfer scheuen, Elena aufzufinden. Es hat keinen Zweck, hier wohnen zu bleiben, meilenweit entfernt von dem Orte, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach gesucht werden muß. Wenn ich jetzt dieses Protokoll, von Ihnen und mir unterschrieben und von den beiden Mädchen beglaubigt, zur Polizei geschickt habe, werde ich mein Haus bestellen und es seinem Schicksal überlassen … das heißt, Jane kann es ja einstweilen allein betreuen … Aber ich selbst will dort sein, wo es zum Klappen kommt!«

Sie fuhr unwillkürlich zusammen:

»Sie werden sich doch nicht mitten unter den Gelben niederlassen wollen?«

Bill nickte entschlossen:

»Doch, es geht nicht anders! Übrigens kann es keine Ewigkeit dauern. Es ist schon ziemlich lange Zeit verstrichen, ein Resultat muß sich doch endlich einmal ergeben. Schon deswegen bitte ich Sie, dieses Attest zu unterschreiben. Denn es könnte ja sein, daß mir etwas zustößt. Man hat doch schon oft derartiges gehört«, lächelte er gedankenvoll. »Und vorausgesetzt, daß Elena heil herauskommen sollte, dann würde es von entscheidendem Werte sein, wenn in diesem Bericht schon bewiesen wird, daß sie an dem Tode Li-Changs keine Schuld trifft!«

Violet Strefford beugte ihren Kopf. Er hörte sie weinen.

»Warum weinen Sie, Violet?«

Sie blickte auf – ihre Augen stand voll Tränen:

»Ach Bill, Bill! – Wie Sie sie lieben müssen! … Wie schön muß es sein, so zu lieben … und so geliebt zu werden!« Sie trocknete ihre Augen und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich glaube beinahe, Sie haben mich sentimental gemacht, Billy – wie eine zweite Kameliendame.«

Er nickte dankbar und reichte ihr, was er geschrieben hatte.

»Lesen Sie es bitte durch, und sehen Sie, ob Sie alles unterschreiben können. Ich werde mittlerweile Jane und Mary herbeirufen, daß sie es beglaubigen können … Wie froh Jane darüber sein wird!«

Er läutete und schrieb die Adresse auf den Umschlag. Die beiden Mädchen kamen auch sofort. Und Violet hatte ihren Namen darunter gesetzt. Er zeigte Jane das Dokument:

»Was sagen Sie dazu, Jane?«

Jane weinte, als sie es gelesen hatte:

»O Gott sei Dank! Meine arme, liebe, gnädige Frau! Jetzt besteht ja nicht der leiseste Zweifel mehr!«

»Nein, jetzt gilt es nur noch, sie zu finden!«

»Jetzt wird alles wieder gut werden!« lächelte Jane unter Tränen.

Billy drückte ihr die Hand mit solcher Heftigkeit, daß es ihr ordentlich weh tat:

»Ja, nun wird alles gut werden!« Er fühlte sich plötzlich von einem eigenartigen, neuen und starken Glücksgefühl beseelt: Jane hatte es gesagt – dann würde es sicher so werden!«

»Aber dieser Brief muß heute noch nach Scotland Yard kommen!« überlegte er. »Und ich selbst muß nach Limehouse …«

»Ich werde ihn schon besorgen, sowie es das Wetter nur einigermaßen erlaubt«, erbot sich Jane.

Sowohl sie als Mary hatten ihre Beglaubigung hinzugefügt. Violet war mittlerweile ans Fenster getreten und stand mit dem Rücken gegen dasselbe. In diesem Augenblick drang ein starkes Geräusch von außen herein: Hatte nicht soeben jemand das Gartentor aufgerissen?

Sie wandte sich um, aber sie konnte durch die regenbeschlagenen Fensterscheiben nichts erkennen. Bill half ihr, das Fenster zu öffnen, das ihr der Sturm beinahe aus den Händen gerissen hätte. Beide wurden im Laufe weniger Sekunden tropfnaß im Gesicht und auf den Schultern. Sehen konnten sie nichts. Aber man hörte, wie sich jemand laufend näherte, stöhnend und pustend, als ob es das Leben gälte … Bill schlug das Fenster wieder zu. Seine Nerven, die schon durch die Ereignisse des Abends bis aufs äußerste gespannt waren, drohten zu versagen. Es gab für ihn keinen Zweifel, daß die hereinstürmende Person irgendwie in Verbindung mit Elena, seiner geliebten Elena, stand. Er merkte kaum, daß er Jane fast umrannte. Ebenso entging ihm vollkommen der seltsame und hoffnungslose Ausdruck, mit dem sich Violets Augen umflorten. Wie eine entfesselte Naturgewalt fegte er durch die Zimmer in die Halle und riß die Tür ungestüm auf. Wie eine Mauer stand der Regen im Garten und drohte, alles in seinen Fluten zu begraben … ein furchtbarer Blitz zerriß die Nacht … der Donner polterte hinterdrein! …

Eine Sekunde schreckte er zurück. Dann ließ er die Türe los, die vom Wind gegen die Halle zurückgeworfen wurde, und kämpfte sich gegen das geheimnisvolle Stöhnen und Pusten durch, das zwar näher und näher kam – aber auch dem Erlöschen nahe schien!

Wer konnte es sein?

Und was würde es ihm bringen?


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