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Einleitung

1.

Zwei Herren gingen die Oxford Straße hinunter, gegen den Hyde Park zu. Es war weit über Mitternacht, und der Schnee rieselte leise, aber in dichten Flocken hernieder. Alles war weiß und still, und wie gepolstert mit Schnee. Keine scharfen Konturen und schreienden Farben, kein grelles Licht, kein schriller Laut. Nur ein einziges, großes, weißes Schweigen, unter dem alles abgerundet, gedämpft und verschwommen erschien.

»Man soll aber so etwas nicht in einem Interview aussprechen, wie Sie es heute getan haben, lieber Billy«, meinte der Advokat Strefford. »Bedenken Sie doch ›Daily Mail‹ wird von Hunderttausenden gelesen! Und dann einfach zu erzählen, Sie hätten das ganze Haus voll Geld, und alles offen liegenlassen!«

Sein Begleiter, der Bildhauer William French – Englands »Unerreichter«, wie ihn die Kunstkritiker des Auslandes nannten –, hob die Schultern. »Weiß Gott, Strefford, Sie könnten eigentlich wissen, daß ich derartiges nicht auszuposaunen pflege. Aber Hope liebt es, ›die Suppe entsprechend zu salzen‹, wie er sagt. Ich habe ihm zwar erzählt, daß ich heute aus Frankreich das Honorar erhalten habe – Sie wissen: für die Gruppe im Garten des Premierministers – und daß ich wahrscheinlich keine Zeit haben würde, das Geld noch auf die Bank zu tragen, aber selbstverständlich konnte ich nicht ahnen, daß er diese Mitteilung in das Blatt bringen und noch dazu weiter ausschmücken würde. Ich habe ja sonst nie so große Beträge bei mir zu Haus. Ich muß allerdings gestehen, daß ich nicht immer darauf achte, die Schublade, in der ich Geld aufbewahre, abzuschließen. Übrigens wird mich wohl niemand bestehlen. Rice und die Mädchen sind schon jahrelang bei mir, sie sind unbedingt zuverlässig. Und was die ausgesprochenen Professionals anlangt, die haben mich, bis jetzt jedenfalls, in Ruhe gelassen … Nein, nein! Sie sind viel zu mißtrauisch, Strefford …«

»Und Sie viel zu gutgläubig und zu eigensinnig«, meinte der andere kopfschüttelnd. »Zu sehr Idealist! Aber Sie können sich das ja leisten. Da fällt mir übrigens eine gute Idee ein – zu einer Statue!«

»Was fällt Ihnen ein?« French sah ihn verdutzt an.

»Ja, was sagen Sie dazu: Ein Monument der ›Isolation‹! Ein plastischer Ausdruck des selbstherrlichen Trotzes und der Auflehnung gegen alles und alle?« Er sah ein wenig boshaft dabei aus. »Sie wären der Richtige dazu, das zu schaffen, denn Sie sind ja selbst so eine selbstherrliche Natur, die ihrem eigenen Gesetz folgt und sich jeden Tag in Opposition zu irgend etwas stellt.«

French war stehengeblieben und sah vor sich hin. Er hatte die Ironie, die in dem Vorschlag lag, garnicht bemerkt.

»Sie haben recht! … Eine Darstellung des Glaubens … oder vielmehr … des Glückes! Denn auch das Glück ist ›einsam‹, und dadurch unabhängig von allem und allen ringsum –«

»Jetzt werden Sie mir zu tief, lieber Billy«, warf der Advokat seufzend ein. »Sprechen Sie lieber mit Violet darüber. Ich sollte Ihnen übrigens einen Gruß von ihr ausrichten. Sie wäre gern mit zu dem Vortrag heute abend gegangen, war aber leider schon vorher anderswo eingeladen.«

»So, war sie das!« French paffte ziemlich uninteressiert an seiner Pfeife. »Soviel ich weiß, interessiert sich Ihre Tochter absolut nicht für die Armen, warum hätte sie also hingehen sollen?«

»Vielleicht wegen eines gewissen jungen Herrn«, scherzte der Advokat.

»In den sie verliebt ist«, nickte French. »Ich glaube kaum, daß die Herren, die heute abend da waren, gerade ihr Typ sind.«

»Mein Gott«, sagte Strefford kopfschüttelnd. »Sollten Sie wirklich nicht bemerkt haben, daß sie sich für Sie interessiert?«

»Für mich?« William French sah ihn höchst erstaunt an. »Die mondäne Violet Strefford sollte sich für meine Wenigkeit interessieren! Nein, ich bitte Sie, da sind Sie sicher auf falscher Fährte – selbst wenn man die Möglichkeit zugibt, daß sich Fräulein Violet überhaupt für jemanden begeistern, das heißt in altmodischer Form ›verlieben‹ könnte! Was ich jedenfalls stark bezweifeln möchte, soweit es sich um Menschen handelt! Bei Pferden, Diamanten oder Kleidern dagegen … ja, ich sage das nicht, um Sie zu beleidigen, aber …«

»Und ich glaube, daß Sie meine Tochter vollkommen falsch beurteilen«, erwiderte Strefford. »Denken Sie daran, daß stille Wasser tief sind!«

Er machte halt und bot French die Hand. Er selbst wohnte noch eine Viertelstunde weiter.

»Ja, nun sind Sie bald zu Hause, Sie Glücklicher! Denn Sie werden wohl kaum Lust haben, mich noch ein Stück zu begleiten? Oder …? … Dann also, gute Nacht und schönen Dank für den gemütlichen Abend. Und noch etwas: Vergessen Sie ja nicht, am Freitag zu uns zu kommen. Wir haben jour fixe, wissen Sie, und meine von Ihnen so verkannte Tochter würde sicher sehr schlechter Laune sein, wenn Sie ihr nicht Ihre Aufwartung dabei machen würden. Dann können Sie meinetwegen sagen und glauben, was Sie wollen!« lächelte er und war schon auf dem Weg gegen den Hyde Park zu, wo er bald im Schneetreiben verschwand …

French trabte die Park Lane hinunter. Er hörte eine Turmuhr schlagen, blieb gedankenvoll stehen und horchte – mit geschlossenen Augen. Welcher Friede! Einen Augenblick vernahm er einen Laut wie von knisternden Fußtritten, wie von jemandem, der sich rasch entfernte. Aber was ging das ihn an? Der Weg war frei für jedermann.

So, jetzt war er zu Haus! … hier war das Gartentor. Müde griff er nach der Klinke – aber er fand sie nicht. Seine Hand traf auf etwas Lebendiges: einen Menschen, der vollkommen zugeschneit war!

War es der, den er noch eben gehen gehört hatte? Nein! Der Laut war ja vom Hyde Park hergedrungen! Auch konnte der Betreffende unmöglich in der kurzen Zeit hierher gekommen sein.

»Hallo, wer da?« rief French und ging wieder einen Schritt auf ihn zu. Da aber der Unbekannte keine Antwort gab, begann er, ihn zu schütteln … ließ jedoch sofort wieder davon ab, als ob er sich verbrannt hätte:

Es war kein Mann – es war eine Frau!

2.

Er trat zurück, um sie vorbeigehen zu lassen.

Aber sie rührte sich nicht – sie blieb stehen, unbeweglich, schweigsam, immer dicht an den kalten Zementblock des Tores gelehnt. Sie schien müde, todmüde. Dann plötzlich fing sie an, in sich zusammenzusinken, langsam, ganz allmählich, als ob sie vergeblich gegen eine unüberwindliche Schwäche ankämpfe – bis sie zuletzt, leise aufstöhnend, wie ein schwarzes Häufchen auf dem weißen Schnee dalag.

French beugte sich behutsam über sie und faßte sie leise am Arm: »Sind Sie krank?« fragte er.

Sie antwortete nicht, und an der Regungslosigkeit ihrer Glieder und ihrer anhaltenden Schweigsamkeit erkannte er, daß sie ohnmächtig geworden war. Einen Augenblick stand er ratlos, ganz überwältigt von der Situation. Dann hob er sie auf und schleppte sie, halb tragend, halb ziehend, bis zur nächsten Laterne.

Sie war jung, wie er sah, kaum mehr als achtzehn oder neunzehn Jahre, mittelgroß, und in ein unansehnliches blaues Straßenkleid gekleidet, das die scharfe Kälte nur unvollkommen abzuhalten vermochte. Ihre Hände waren wie Eis, und die Füße sicher ebenso, wie man nach den schadhaften Schuhen urteilen konnte.

Er fing an, sie behutsam aufzurütteln:

»Fräulein, kleines Fräulein! Wachen Sie doch auf, hören Sie!«

So, jetzt half es – endlich!

Sie hatte plötzlich ihre Augen weit aufgerissen, große kastanienbraune Augen, mit demselben seidenen Glanz ihrer Haare, aber unruhig und von ekstatischem Feuer.

»Wo bin ich?« murmelte sie und blickte ängstlich um sich, wirr und verstört. Dann fing sie mit einemmal die Blicke Frenchs auf … sie wurde sich bewußt, daß sie in seinen Armen lag … wollte ihn wegstoßen … schwankte aber und fiel wieder auf ihn zurück … müde und schwer.

»Entschuldigen Sie mich bitte, aber ich bin so …! ich dachte, Sie seien …« Sie brach plötzlich ab, verbarg dann das Gesicht in ihren Händen und fing an zu schluchzen. »O Gott! O Gott!«

French stand steif und verwirrt da: Er war sich nicht klar, was er tun sollte; er wußte nur, daß sie wieder umfallen würde, wenn er sie losließ.

»Ich weiß nicht, Fräulein, ob …« fing er an, aber im selben Augenblick kam ihm eine ziemlich naheliegende Idee:

»Übrigens, Sie sind vielleicht nicht allein?«

»Doch!«

»Aber Sie erwarten vielleicht jemanden?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann wäre es wohl das beste, wenn ich nach einem Wagen telephonierte … wenn einer zu haben ist! … und daß ich Sie nach Hause bringe … aber nur, wenn es Ihnen recht ist?«

Sie schüttelte wieder den Kopf. Sie weinte nicht mehr. Merkwürdig, wie steif sie in seinen Armen lag, wie leblos. Sie sah ihn nicht einmal an, sondern vermied seinen Blick.

»Ich habe kein Heim«, sagte sie endlich, so leise, daß er es kaum hören konnte.

»Armes Mädchen! Was dann? … Haben Sie keine Freunde, bei denen Sie die Nacht zubringen könnten?«

»Ich kenne niemand,« sagte sie, »ich bin ganz allein auf der Welt. Ich bin heute abend hierher gekommen, um Arbeit zu suchen; da niemand zu Hause war, wollte ich warten. Es war meine letzte Hoffnung.«

»Arbeit, hier im Park Lane?« fragte er erstaunt.

»Ich wollte mich als Modell anbieten.«

»Als Modell?! So war es also ein Bildhauer, den Sie …?«

Sie nickte nur.

»Aber hier in Park Lane wohnt außer mir kein anderer Bildhauer … War es William French, den Sie aufsuchen wollten?«

Sie nickte wieder.

»Aber das bin ich ja selbst!«

Er beobachtete, daß Sie bei dieser Mitteilung weder überrascht noch froh erschien.

»Und dann sind Sie vielleicht mehrere Stunden dagestanden, um auf mich zu warten?«

»Ja, aber nun werde ich gehen.« Sie nahm sich mit aller Anstrengung zusammen, löste sich von ihm und nickte ihm schüchtern zu …

»Wohin wollen Sie gehen?« fragte er. »Sie sind ja gar nicht imstande dazu.«

»Doch, nur Hunger habe ich«, entschlüpfte es ihr.

»Hunger haben Sie! Aber wissen Sie was: Kommen Sie mit herein.« Wie er sie durch die Tür führen wollte, hatte er plötzlich die Empfindung, als ob ihn jemand am Rücken streifte. Er wandte sich schnell um. »Ist noch jemand da?« rief er und spähte auf die andere Seite hinüber. Aber es war niemand zu sehen. »Haben Sie nichts gehört?« fragte er, sie aber schüttelte nur den Kopf. Es war ihm, als zittere ihr Arm. »Vielleicht ein Schutzmann«, murmelte er. Er wunderte sich selbst darüber, daß er das so wichtig nahm.

»Der Schutzmann?« sagte sie ängstlich. Gleichzeitig fühlte er, wie sich ihr Arm nervös an den seinen drückte. »Gehen wir doch hinein«, flüsterte sie mit heiserer Stimme.

Er öffnete das Tor.

3.

Ein breiter Gang führte zum Haus. Als sie die Mitte erreicht hatten, versuchte sie, ihren Arm zurückzuziehen, aber sie stolperte und griff aufs neue nach dem seinen.

»Sie sind ja vollkommen von Kräften,« sagte er mitleidig, »aber warten Sie nur, wenn Sie im warmen Zimmer sind und etwas zu essen und zu trinken bekommen haben, wird es gleich besser gehen. Und morgen werde ich Sie mir ansehen; zufällig suche ich nach einem Modell für meine neue Arbeit, wir werden uns sicher einigen.«

Sie nickte bloß, aber sagte nichts. Als sie bis an das Haustor gekommen waren, ließ er sie fürsorglich in eine Ecke treten, während er seine Schlüssel hervorholte, um aufzusperren. Sie sank halb in sich zusammen und stand matt und frierend mit gesenktem Kopf da:

»Entschuldigen Sie,« flüsterte sie, »ich bin so müde.«

»Aber bitte!« Er öffnete die Tür. Zugleich wurde das Licht in der Halle aufgedreht, und Rice, der Diener, erschien, schlaftrunken, aber mit würdiger Miene. Er fuhr etwas zusammen, als er French in Gesellschaft einer fremden, armen jungen Dame gewahrte, faßte sich aber sofort wieder.

Bill zog seinen Mantel aus und warf ihn dem Diener zu:

»Frau Hunter ist wohl schon zu Bett gegangen, Rice?«

»Ja, sie sowohl wie Jane, Herr!«

»Dann bleibt nichts anderes übrig, als daß Sie, Rice, versuchen, uns etwas Eßbares zu verschaffen. Die junge Dame hier ist nämlich hungrig … Was gibt es übrigens? … kaltes Huhn, hm! ganz gut. Dann machen Sie noch ein Omelette, und geben Sie uns eine Flasche Wein dazu. Und später eine Tasse Tee!«

»Jawohl, Herr French!« Rice nickte hoheitsvoll, schloß die Tür und verschwand, während Bill seinen nächtlichen Gast fürsorglich durch die monumentale Halle mit dem riesigen Kamin, den breiten Chesterfieldstühlen und den kleinen Renaissancetischchen hindurchlotste. Die Wände waren mit alten Stichen, Kupfergefäßen und einigen Jagdtrophäen geschmückt. Der ganze Raum war in einem dunklen, satten, aber warm wirkenden Ton gehalten. Rechts und links führten Türen zu Keller und Küche hinab, weiter vorn in der Halle lag die Treppe zu den oberen Stockwerken.

»Nur noch ein paar Schritte, und wir sind am Ziel.« Bill sprach zu ihr wie zu einem kranken Kinde. Sie nickte nur und hing wie leblos an seinem Arm. »Armes Mädel«, dachte er.

»Hier müssen wir hinein«, setzte er sein Selbstgespräch fort und öffnete die Tür zu einem Zimmer, dessen schwere, gediegene Ausstattung man im flackernden Schein des im anstoßenden Salon brennenden Kamins nur undeutlich erkennen konnte.

»Das hier ist das Kabinett«, erklärte Billy, nur um etwas zu sagen – und drehte das Licht im Salon auf. »Jetzt müssen Sie zuallererst Ihre Kleider ablegen, damit sie trocknen können, Sie können das hinter dem Schirm tun«, sagte er, in die Ecke deutend. »Ich werde einstweilen versuchen, ein paar Kleidungsstücke für Sie zu finden, in die Sie hineinschlüpfen können, bis die Ihrigen wieder trocken sind.«

Auf dem Wege zum Wandschirm blieb sie plötzlich stehen:

»Sie sind doch der Herr, der immer so gut zu den Armen ist, nicht wahr?«

French lächelte:

»Ja, man nennt mich gelegentlich einen Philanthropen.«

»Aber in Wirklichkeit sind Sie es vielleicht gar nicht?« Es flammte plötzlich in ihren Augen auf.

»Ach nein, Sie müssen nicht alles glauben! Das wenige, was ich habe helfen können, ist nicht der Rede wert. Ich habe ja trotzdem im Überfluß … wenn ich ganz ehrlich sein soll,« schloß er in seiner charakteristischen Selbstverleugnung, »so bin ich eher ein Geizhals. Aber das glauben Sie vielleicht wieder nicht?«

Sie sah vor sich hin und nickte kaum merkbar.

»Ich werde bald wieder da sein«, winkte er ihr zu – und fort war er. Sie rückte den Schirm etwas zur Seite, so daß sie das ganze Zimmer übersehen konnte und kleidete sich rasch aus. French hörte sie oben herumwirtschaften, wie er Schubladen herauszog und wieder schloß. Sie horchte angespannt – schlich leise bis in die Mitte des Zimmers, wo sie unbeweglich stehenblieb, immer noch nach oben horchend, ihr Gesicht dem dunklen Kabinett nebenan zugewandt, als ob ihr Blick hypnotisch von irgendeinem schillernden Gegenstand da drinnen angezogen würde … Aber jetzt hörte sie French die Treppe wieder herunterkommen und die Tür zu dem Kabinett öffnen. Sie konnte noch eben hinter den Schirm flüchten, als er eintrat, eine Menge Decken, ein Seidenpyjama und verschiedene andere Sachen mit sich schleppend.

»Er wird natürlich zu groß sein«, lachte er, indem er ihr den Pyjama über den Schirm zuwarf. »Es ist einer von mir! … Aber trocken und warm ist er bestimmt … Und hier sind Decken en masse! … Greifen Sie zu, bitte! …« Und er ließ die Decken dem Pyjama folgen. »Glauben Sie, Sie können die Sachen brauchen?«

»Ja, vielen Dank! es …!« Sie hüstelte.

»Das ist recht, denn sonst müßte ich Jane zu Hilfe rufen. Wickeln Sie sich nur gut ein; Sie haben sich ja ekelhaft erkältet –«

Sie hustete wieder, aber trat schon hinter dem Schirm hervor, in seinem zu großen Pyjama verloren, und schlotternd in seinen großen Slippers, die sie kurz entschlossen abstreifte.

»Es ist ja gar nicht nötig, etwas an den Füßen zu haben – auf diesem wunderbaren Teppich.« Sie fing an, die Pyjamaärmel umzubiegen, um sich so schick wie möglich zu machen. Die Decken ließ sie unbenutzt liegen: »Die brauche ich nicht.«

»Aber halten Sie ja die Füße warm«, mahnte er sie.

Sie bohrte sie in den Teppich und stand einen Augenblick mit geschlossenen Augen da – alles um sich vergessend:

»Mir ist, als stünde ich mitten in hohem, seidenweichem Grase,« flüsterte sie, »auf das die Sonne scheint«, und öffnete die Augen, die den ganzen Raum umfingen: »Wie schön hier alles ist!«

French nickte:

»Ich finde selbst, daß ich mich gemütlich eingerichtet habe«, und dabei deutete er auf eine niedrige, aus nur drei Stufen bestehende Treppe, die zu einem großen Erker in der Ecke des Zimmers emporführte:

»Wenn Sie sich da auf die Treppe hinsetzen, dann …«

Sie tat es und lehnte sich an das kunstvoll geschnitzte Geländer. Das ganze gemütliche Interieur mit dem Erker hinter ihr übte eine eigenartig wohltuende Wirkung auf sie aus: Die prachtvolle geschnitzte Truhe mit den weichen, warmen Kissen, der niedrige, schwere Tisch und das Regal, das voll alter Folianten stand.

»Hier sitzen Sie sicher auch selbst sehr oft und freuen sich über alle Ihre schönen Sachen«, sagte sie … als Übergang zu etwas ganz anderem.

»Richtig«, lächelte er. »Aber Sie sind hungrig und ich nicht weniger. Vielleicht sollte ich mal nach Rice schauen.«

»Sie sind wahrscheinlich gewohnt, sehr spät zu essen, nicht wahr?«

»Ja, dann und wann!«

»Oft vielleicht! Ich meine: ein Künstler, wie Sie, geht wohl viel aus. Und verkehrt in den verschiedensten Kreisen, bei hoch und niedrig … privat und in öffentlichen Lokalen …?«

»In öffentlichen Lokalen? Sie meinen Theater und …«

»…; und auch in Klubs?«

»In Klubs?«

Es lag etwas Forschendes in ihrer Frage. French war, als ob er vor Gericht vernommen würde.

»Ich verkehre nur in meinem eigenen Klub«, sagte er. »In dem der Bildhauer.«

»In keinem anderen?« Ihre Stimme zitterte leise.

French schüttelte den Kopf.

»Ich habe mir vorgestellt, daß ein Verein, wie zum Beispiel der ›Coeur-ist-Trumpf-Klub‹, von allen Künstlern frequentiert würde.«

»Der ›Coeur-ist-Trumpf-Klub‹? Ich habe diesen Namen überhaupt noch nie gehört. Kennen Sie ihn?«

»Ich kenne ihn nur vom Hörensagen, sonst nicht. Es wird dort getanzt und gespielt.«

»Klavier?«

»Nein, Karten! … Bridge, Hasard und dergleichen.«

»Ich danke, dann hat er für mich keinen Reiz. Ich rühre nie eine Karte an.«

»Niemals?« Ihre Frage hatte einen schicksalsschweren Klang. Er fühlte es und wunderte sich.

»Nein, wenigstens seit Jahr und Tag nicht mehr.«

»So, dann muß ich ganz falsch unterrichtet sein«, sagte sie langsam und sah von ihm weg.

»Wieso? …«

»Oh, jemand erzählte mir, daß Sie vorgestern … Es war, als ich sagte, ich wolle die Stellung bei Ihnen suchen …«

»Daß ich vorgestern … was?«

»Ja, daß Sie vorgestern gespielt hätten … gerade in jenem Klub … und daß Sie gewonnen hätten … über hundert Pfund in einem einzigen Spiele.«

French betrachtete sie mit wachsendem Erstaunen:

»Ich sollte …! aber wer in aller Welt hat Ihnen das erzählt?«

»Oh, das ist ja einerlei! … Aber der Betreffende hat scheinbar die Namen verwechselt.«

Sie schaute immer zur Seite, aber er merkte ihr trotzdem an, daß sie aufgeregt war. Warum? Doch nicht wegen des Spielens?

»Ja, das hat er unleugbar«, lächelte er. »Ich war es unter keinen Umständen … Aber rücken Sie doch näher an den Kamin heran, daß Sie richtig durchwärmt werden. Ich laufe dann hinunter, um Rice etwas Dampf zu machen.« Er führte sie selbst zum Kamin. Sie machte einen schlaffen und gebrochenen Eindruck, so daß er sich veranlaßt sah, sie wieder zu stützen.

»Sie werden doch nicht wieder ohnmächtig?«

Sie schüttelte den Kopf; ein bleiches Lächeln stahl sich über ihr Gesicht.

»Ich bin nur müde und …« Sie sah plötzlich bewußt zu ihm empor und sah ihn sekundenlang forschend und durchdringend an.

»Warum sehen Sie mich denn so an?« fragte er verwundert.

»Oh, ich mußte nur an …« Sie vollendete den Satz nicht, kauerte sich in dem Stuhle zusammen, in dem er sie untergebracht hatte …

Kurz darauf war sie wieder allein! Zum zweitenmal in dieser Nacht in diesem Hause! …

*

Als er nach einer Viertelstunde mit dem Diener zurückkehrte, saß sie noch so wie er sie verlassen hatte in den großen Sessel geschmiegt, nahe am Kamin.

»Hier ist endlich Rice mit dem Essen!« lächelte er und warf geschickt einige große Eichenklötze auf das Feuer. »Wir wollen doch lieber nicht frieren, nicht wahr? Und hier ist's verdammt kalt!«

Sie nickte nur, aber er bemerkte, daß sie plötzlich zusammenschauerte. Das Rot kam und floh aus ihren Wangen. Und, weiß Gott! eben ging ein Frösteln durch ihren ganzen Körper!

Woher kam plötzlich der Luftzug? Er sah sich spähend um; sein Blick blieb an dem Fenster oben im Erker hängen.

»Sie haben doch nicht das Fenster da aufgemacht?«

Sie schüttelte krampfhaft und energisch den Kopf.

»Aber da liegt ja Schnee auf dem Fensterbrett und auf dem Boden!« setzte er seine Untersuchung fort und wandte sich ihr erstaunt wieder zu.

Sie hob als Antwort kaum die Schultern … Rice hatte mittlerweile einen kleinen Tisch gedeckt. Bill nickte ihm zerstreut zu. »Es ist gut, Rice. Wenn ich Sie noch brauche, werde ich klingeln.«

»Jawohl, Herr!« … Rice machte eine kleine Verbeugung und ging.

»Es ist wirklich merkwürdig.« Bill konnte das mit dem Schnee da oben im Erker nicht verstehen. Sein Blick wanderte von ihm zu ihr und wieder zurück –. Aber plötzlich sah er noch etwas, was ihn zusammenfahren ließ:

»Wie kommt wohl das hierher?« Er deutete mit dem Finger darauf.

Und obwohl sie gerade von ihm weggeblickt hatte, schrak sie doch zusammen. Dann warf sie einen Blick auf ihre Schulter – auf sie hatte er hingedeutet.

Sie war voll Schnee!!!! Sie auch!!! –

4.

»Ja, doch«, gestand sie ein. »Ich habe das Fenster wirklich vorhin einen Augenblick offengehabt.«

»Aber warum in aller Welt?«

»Ich wollte nachsehen, ob es noch schneit!«

Er schüttelte besorgt den Kopf.

»Hoffentlich sind Sie nicht zu lange im Zug gestanden … So, hier ist noch eine Decke. Nehmen Sie sie.« Er deckte sie sorgfältig zu.

»Und jetzt endlich zum Essen!« Er bot ihr die Herrlichkeiten an. »Jetzt müssen Sie ordentlich zugreifen! und den Schnee von den Haaren abschütteln … Und keine Fensterguckerei mehr heute nacht, wenn ich bitten darf! Sonst könnten Sie sich eine ordentliche Lungenentzündung holen, und das wollen wir doch lieber vermeiden, nicht wahr?«

Sie zuckte mit den Achseln, müde und mutlos:

»Und wenn schon? Mehr wie sterben kann man nicht … Ist das Leben so wertvoll?«

»Für uns, die wir jung und gesund sind, allerdings! und ich fühle mich jung, obgleich ich wahrscheinlich doppelt so alt bin wie Sie –. Für uns ist das Leben trotz allem …«

»Oh, ich weiß nicht!« unterbrach sie ihn. »Ich bin zwar jung und nicht direkt krank … aber ich wünsche mir doch manchmal, daß alles vorbei wäre.«

»Sie, in Ihrer Jugend!« Er blickte sie erstaunt und mitleidig an.

»Ja, was hat das Alter mit dem Leben und dem Tod zu tun? Oder vielmehr mit der Liebe zum Leben … oder zum Tod?«

»Na, einen Grund zum Leben hat man doch immer, solange man jung ist: die Hoffnung!«

»Sie haben leicht reden! Aber ich …« Sie vollendete den Satz nicht, hob aber die Schultern mit einer vielsagenden Miene und begann zu essen.

»Ich«, sagte er beinahe weich: »Ich liebe das Leben.«

»Sie haben auch allen Grund dazu, wie mir scheint! Sie haben einen Weltruf als Künstler. Sie haben Arbeit, soviel Sie wollen, Freunde und Geld genug … ein schönes Heim … Und Sie wissen nicht, was es heißt, hungrig herumlaufen zu müssen und sich über alle Maßen einsam zu fühlen …«

»Heute nicht mehr«, warf er gedankenvoll ein.

»Aber ich weiß ein Lied davon zu singen … Sie hatten wenigstens ein Ziel vor Augen, aber ich habe nicht einmal das … Und dann ist das Leben überhaupt wertlos … Vielleicht kann man sich mit der Zeit daran gewöhnen, wie an so vieles andere. Doch ich glaube, man muß dazu geboren sein.«

»Und das sind Sie nicht?«

Sie schüttelte den Kopf:

»Nein! Ich habe auch – und es ist nicht einmal so fürchterlich lange her – ein Heim gehabt … beinahe ebenso schön wie das Ihrige … und einen Vater, den ich vergötterte. Die Mutter starb, als ich noch ganz klein war …«

»Und ist Ihr Vater jetzt auch tot?«

Sie nickte kaum merklich und starrte vor sich hin. Es entstand eine Pause, in der sie sich beide dem Essen widmeten. Dann fragte er, um das Gespräch auf ein weniger trübes Thema zu bringen:

»Sie sind wohl Ausländerin, nicht wahr?«

»Ja, ich bin Russin. Mein Vater war Schriftsteller, und wir wohnten in Moskau, bis vor zwei Jahren.«

»Und sind damals nach England geflohen?«

»Ja. Vater glaubte, sich sein Leben auch dort mit Schreiben verdienen zu können. Sein Name war ja über ganz Europa bekannt. Im Anfang fehlte es ihm auch nicht an Aufträgen. Aber sie wurden nach und nach spärlicher … Wir hatten eine kleine Wohnung in South Street gemietet. Da haben wir unsern letzten Heller verbraucht, und da ist er auch gestorben …«

Sie schwieg abermals, schaute ins Leere. Der Wind pfiff draußen und peitschte den Schnee gegen die Fenster. Im Kamin knisterten und loderten die Holzscheite. Sie seufzte, als sie fortfuhr:

»Da stand ich, ohne Essen und Kleider, ohne Heim oder Freunde, ganz allein. Wir hatten ganz für uns gelebt, alles war durch Vaters Krankheit draufgegangen … Wie sollte ich mich weiter durchbringen? … In den Geschäften wollten sie nichts von mir wissen. Die Tochter eines Schriftstellers hat wenig Aussicht, wo man heute Fürstinnen haben kann, soviel man will.« Sie lächelte bitter und doch nicht ohne Humor …

»Ich versuchte an einem kleinen Theater als Choristin anzukommen. Ich habe eine ganz nette kleine Stimme. Aber das haben andere auch … und so war es auch mit dem Theater nichts … Endlich landete ich in einem Kabarett sechsten Ranges: ›Das weiße Pferd‹, in derselben Straße, in der wir früher wohnten. Ich sang russische Volkslieder und begleitete mich dazu auf der Laute. Ein mageres Auskommen, aber ich konnte immerhin davon leben … bis mir eines Tages gekündigt wurde … Heute abend habe ich zum letzten Male dort gesungen!«

»Und dann kam Ihnen der Gedanke, hierherzugehen, um Stellung zu suchen?«

»Ja, ich war früh fertig … und ich mußte irgend etwas unternehmen, bevor es Nacht wurde. Ich hatte … aus verschiedenen Gründen … meine Gage im voraus aufgenommen, und so war ich vollkommen blank, als ich meine Stellung verließ.«

Sie wollte lächeln, aber es blieb bei dem Versuch.

French nickte:

»Ich kenne alles das aus eigener Erfahrung: keine Freunde, kein Geld, nichts zu essen und kein Dach über dem Kopfe! Die Armut ist eine der raffiniertesten Qualen in der Welt … Aber wir wollen schauen, Ihnen wieder auf die Beine zu helfen, nun essen Sie erst mal tüchtig.«

»Nein, danke, ich bin schon vollkommen satt.«

»Aber eine Tasse Tee müssen Sie noch trinken. Er ist nach meinem eigenen Rezept gebraut. Fast ganz russisch.« Er lachte und schenkte ihr ein.

»Hier sind Zigaretten, gute alte Russen!«

Er reichte ihr Feuer; sich selbst zündete er eine Pfeife an:

»Wie heißen Sie übrigens?«

»Elena Sidorowitsch.«

»Ach, dann kenne ich ja sogar Ihren Vater, dem Namen nach, und habe auch verschiedenes von ihm gelesen. Fedor Sidorowitsch, nicht wahr?«

Sie nickte wehmütig.

»Er war im Grunde genommen Philosoph! Wie alle Russen – damals!«

Sie nickte wieder. Ihre Züge entspannten sich. Sie fühlte sich so wohl! Das Vergangene schien so fern.

In diesem Augenblick läutete das Telephon.

Aufschreckend kehrte Elena Sidorowitsch in die Wirklichkeit zurück. Er bemerkte es nicht. Etwas erstaunt ging er zum Apparat und hob den Hörer ab:

»Hallo! Wer da?« Er hörte nur ein Summen. »Hallo«, wiederholte er.

Und jetzt brach eine Stimme durch, stockend und nervös:

»Ist dort William French?«

»Ja!«

»Spreche ich mit Herrn French selbst?«

»Ja, ich bin am Apparat.«

»Mein Name ist …« Es war ein unverständliches Murmeln. French konnte ihn nicht verstehen.

»Es handelt sich um Fräulein Elena Sidorowitsch … Könnte ich sie vielleicht sprechen?«

»Sie sprechen … Fräulein Elena Sidorowitsch …?«

French wandte sich schnell nach ihr um. Ihr Gesicht war aschgrau. Sie stand da wie vom Schlage getroffen. Er dämpfte unwillkürlich seine Stimme:

»Soll ich sagen, daß Sie hier sind?«

»Um Gottes willen, nein!« winkte sie ab.

»Nein, sie ist nicht hier …«, antwortete French ins Telephon.

»Ich hatte sie doch so verstanden,« stotterte der Mann, »daß sie Sie heute abend noch aufsuchen wolle. Ist sie überhaupt nicht bei Ihnen gewesen?«

»Hier gewesen?« French wandte sich wieder fragend an Elena Sidorowitsch. Aber diesmal genügte, sie anzusehen: sie nickte lebhaft.

»Doch, gewiß ist sie da gewesen. Aber sie ist schon fortgegangen, schon vor längerer Zeit! … Wann? … Ja, so genau kann ich das nicht sagen … Um was hätte es sich gehandelt?«

Der Mann zögerte und räusperte sich verlegen:

»Es ist wegen ihres Bruders, er ist krank geworden.«

»Ihr Bruder?«

»Ja, sehr krank, ernstlich krank. Sonst hätte ich nicht so spät angerufen … Aber wenn sie nicht mehr bei Ihnen ist … dann …«

French drehte sich um. Elena Sidorowitsch hatte seine Schulter berührt. Sie gab ihm durch Zeichen zu verstehen, daß er ihr den Apparat reichen solle. Er tat es und trat selbst zurück. Einen Augenblick stand sie wie gebannt, den Hörer gegen das Ohr gepreßt. Dann gab sie ihn zurück. Ihre Hände zitterten.

»Ja, mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen«, schloß French das Gespräch.

»Ich bitte um Entschuldigung wegen der Störung.«

French hängte den Hörer ein und wandte sich langsam zu ihr. Es fiel ihm auf, wie sehr sie sich in den letzten Minuten verändert hatte. Eine böse Erinnerung schien sie verwandelt zu haben.

»Warum wollten Sie nicht mit dem Manne sprechen?« fragte er.

Sie gab ihm keine Antwort, sondern blickte stumm vor sich nieder.

»Wer war es?« fragte er wieder. »Und wie verhält sich das mit Ihrem Bruder?«

»Ich habe nie einen Bruder gehabt«, antwortete sie nach langer Pause.

»Dann hat der Mann also gelogen?«

Sie nickte bejahend.

»Aber warum?«

»Er wollte mich von hier weglocken!«

»Ist es vielleicht … Ihr Bräutigam …?«

Sie nickte:

»Ich habe ihn geliebt …!«

»Sie sagen geliebt?« Er betrachtete sie mit wachsender Teilnahme. »Ist es denn aus zwischen Ihnen?«

Sie nickte wieder und fing an zu schluchzen, schmerzerfüllt und hoffnungslos. French starrte sie halb erstaunt, halb ergriffen an, ging einige Schritte auf sie zu, gab es aber dann auf: was konnte er dabei helfen?

»Sie werden unter diesen Umständen dem Mann heute abend nicht mehr gern begegnen?« fragte er.

Ihre Wangen glühten fiebrig, als sie emporschaute:

»Ich werde ihn nie mehr sehen, niemals!« stieß sie hervor. »Wenn ich daran denke, was er getan, könnte ich ihn hassen! … Ich kann Ihnen das nicht näher erklären. Aber es ist nicht so, wie Sie vielleicht glauben. Er hat mich zwar belogen und betrogen, aber nicht mit einer anderen Frau. Es ist weit schlimmer, viel, viel entsetzlicher.«

»Und Sie können sich mir nicht anvertrauen?«

Ein Ausdruck des Entsetzens huschte über ihr Gesicht:

»Mich Ihnen anvertrauen … Ihnen?!« Sie vergrub das Gesicht wieder in den Händen. »Oh, es ist so blödsinnig alles … so furchtbar!« Sie lächelte halb, halb schluchzte sie, wie zum Tode verzweifelt und in grenzenloser Bitterkeit.

French hob die Schultern.

In der Stimme des Mannes hatte etwas seltsam Flehendes gelegen. Als ob sich hinter den Worten eine verzweifelte Bitte verborgen hielte, eine bebende Angst! … zwar verhalten und vielleicht gerade deswegen um so eindrucksvoller! … Was hatte er im Sinn gehabt? Was wollte er erflehen … vor was hatte er Angst? Er schob die Fragen beiseite. Es war ja auch ganz aussichtslos, die Antwort zu erraten.

»Sie können die Nacht hierbleiben«, sagte er freundlich. »Ich werde Rice Order geben, daß er eines der Gastzimmer für Sie herrichtet. Sie stehen immer bereit, es muß nur eingeheizt werden.«

Elena Sidorowitsch nickte:

»Wenn es Ihnen möglich ist, mich zu beherbergen …« Sie war etwas ruhiger geworden.

»Mit größter Freude!«

Rice war auf das Klingeln herbeigeeilt. Er hatte seine Befehle entgegengenommen, und als Bill sie eine Viertelstunde später zu dem Fremdenzimmer geleitete, flammte bereits das Feuer freundlich im Kamin und verbreitete Gemütlichkeit und wohltuende Wärme.

Elena Sidorowitsch war sehr blaß. Seit dem Telephongespräch wurde ihr Körper ununterbrochen von konvulsivischen Krämpfen durchzuckt. Ihre Gefühle hatten sich allmählich zu einem bohrenden Schmerz gesteigert, so daß sie sich kaum enthalten konnte, laut aufzuschreien: Wenn er nur gehen wollte! Wenn er nur gehen wollte!

»Ja, dann gute Nacht also!« nickte er freundlich, »und schlafen Sie wohl!«

Sie versuchte zu lächeln, aber sie vermochte es nicht. Als er fort war, lief sie zum Bett und bohrte das Gesicht stöhnend in die Kissen. Und so blieb sie eine geraume Zeit liegen.

Allmählich beruhigte sie sich, hob den Kopf und horchte auf den fallenden Schnee. Ihre Augen brannten – ihr Gesicht fühlte sich kalt wie eine Totenmaske an.

»Schnee, Schnee!« flüsterte sie. »Ach, wenn er mein Leben auslöschte wie draußen Weg und Pfad!«


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