Leonid Andrejew
Das rote Lachen
Leonid Andrejew

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Achtzehntes Fragment

Heute morgen, als ich in der Zeitung das endlose Verzeichnis der Gefallenen durchlas, fiel mir ein bekannter Name auf: der Bräutigam meiner Schwester, der zugleich mit meinem Bruder als Offizier eingezogen worden war, hatte den Tod auf dem Schlachtfelde gefunden. Und eine Stunde später übergab mir der Briefträger einen Brief, der an meinen Bruder adressiert war, und auf dem Kuvert erkannte ich die Handschrift des Gefallenen: der Tote schrieb an den Toten! Aber das ist noch nicht so grausam wie jener andere Fall, in dem ein Toter an einen Lebenden schrieb: man hat mir eine Mutter gezeigt, die einen ganzen Monat hindurch Briefe von ihrem Sohne erhielt, nachdem sie in der Zeitung die Nachricht von seinem schrecklichen Ende gelesen hatte: er war von einer Granate zerrissen worden. Er war ein sehr liebevoller Sohn gewesen, und jeder seiner Briefe war voll zärtlicher Worte, voll ermutigender Tröstungen, voll jugendlicher, naiver Hoffnung auf irgend ein unbekanntes Glück. Nun war er tot – und jeden Tag schrieb er mit unheimlicher Pünktlichkeit immer nur vom Leben, daß die Mutter schließlich aufhörte, an seinen Tod zu glauben; und als dann ein Tag, und noch ein zweiter und dritter verging, ohne daß ein Brief von ihm kam, als das endlose Schweigen des Todes eintrat – nahm sie den großen, alten Revolver des Sohnes von der Wand, hielt ihn mit beiden Händen gegen die Brust und jagte sich eine Kugel durch den Leib. Sie ist, glaub' ich, am Leben geblieben – Bestimmtes kann ich nicht sagen...

Lange betrachtete ich das Kuvert und dachte: er hat es in der Hand gehalten, er hat es irgendwo gekauft, hat seinem Burschen Geld gegeben und ihn in irgend einen Laden danach geschickt, hat es sorgfältig geschlossen und dann vielleicht selbst in den Briefkasten gesteckt. Der komplizierte Apparat, den man die Post nennt, ward in Bewegung gesetzt, und an Wäldern, Fluren und Städten vorüber flog der Brief immer weiter, von Hand zu Hand wandernd, jedoch dabei unverwandt seinem Ziele zustrebend. Der ihn geschrieben hatte, zog eines Morgens zum letzten Male seine Stiefel an – und der Brief flog weiter; er wurde getötet – und sein Brief flog weiter; er wurde in eine Grube geworfen, wurde mit Leichen und Erde bedeckt – und der Brief flog immer noch vorüber an Wäldern, Fluren und Städten, als ein greifbares, lebendiges Gespenst in einem grauen, überstempelten Kuvert. Und nun halte ich ihn in der Hand.

Hier ist der Inhalt des Briefes. Er ist mit Bleistift auf kleine Papierfetzen geschrieben und unbeendet; irgend etwas muß dazwischen gekommen sein.

»... Jetzt erst habe ich die große Freude des Krieges begriffen, diese altehrwürdige, ursprüngliche Lust am Menschenmord, an der Ausrottung dieser klugen, listigen, pfiffigen Geschöpfe, die unvergleichlich interessanter sind als die verschlagensten Raubtiere. Immer nur töten, töten – das ist zum mindesten ebenso erhebend, wie mit Planeten und Fixsternen Lawn-Tennis spielen. Armer Freund, wie bedauere ich, daß du nicht mit uns sein kannst und dich in der faden Alltäglichkeit des Spießbürgerlebens langweilen mußt! Hier, in der Atmosphäre des Todes, würdest du finden, wonach dein ruheloses, hochgemutes Herz immer gestrebt hat. »Im Blute schwelgen« – diese etwas abgenutzte Metapher enthält die volle Wahrheit. Wir waten bis an die Knie im Blute, und wir werden schwindelig von diesem »Rotwein«, wie meine braven Kerle sich scherzhaft ausdrücken. Das Blut des Feindes trinken – nein, das ist gar kein so törichter Brauch, wie wir annehmen: sie wußten sehr gut, was sie taten ...

»... Die Raben krächzen. Hörst du? Die Raben krächzen! Der Himmel ist schwarz von ihren Schwärmen. Sie lassen sich ruhig zwischen uns nieder, sie haben alle Furcht verloren, sie begleiten uns überallhin; wir wandeln unter ihnen wie unter einem riesigen schwarzen Spitzenschirm, wie unter einem beweglichen, schwarzbelaubten Baume. Einer von ihnen flog neulich dicht an mein Gesicht heran und hackte nach mir mit dem Schnabel – er hat mich wohl für einen Toten gehalten. Die Raben krächzen. Und das beunruhigt mich ein wenig. Woher kommen ihrer nur so viele?

»... Gestern überfielen wir den Feind im Schlafe. Wir schlichen uns leise, kaum den Boden mit den Füßen berührend, an sie heran – ganz wie auf der Trappenjagd. Wir krochen so vorsichtig, so listig heran, daß wir nicht einen Leichnam berührten, nicht einen Raben aufscheuchten. Wie Schatten schwebten wir dahin, und die Nacht verbarg uns. Ich selbst überfiel den Vorposten: ich warf ihn zu Boden und erwürgte ihn mit meinen Händen, damit kein Lärm entstände. Du begreifst doch: der leiseste Schrei, und der ganze Coup wäre vereitelt gewesen. Aber er schrie nicht. Er fand, glaub' ich, gar keine Zeit, sich darüber klar zu werden, daß man ihn tötete.

»Sie schliefen alle an den verglimmenden Lagerfeuern, schliefen ruhig, wie daheim in ihren Betten. Ueber eine Stunde dauerte unsere blutige Arbeit, und nur wenige erwachten, bevor sie den Todesstoß empfingen. Sie winselten wohl, röchelten, baten um Schonung. Sie bissen auch nach uns. Einer von ihnen biß mir den kleinen Finger der linken Hand ab, mit der ich unvorsichtigerweise seinen Kopf festhielt. Nun, er hatte mir den Finger abgebissen – und ich hieb ihm dafür glattweg den Kopf vom Rumpfe; so waren wir doch quitt – was meinst du? Daß sie gar nicht erwachten bei der Metzelei! Man hörte das weiche Schwappen des Fleisches, wenn unser Stahl einhieb, und das Knirschen der Knochen. Dann zogen wir sie nackt aus und verteilten, wie es im Evangelium heißt, ihr Gewand unter uns. Nimm mir den frechen Scherz nicht übel, lieber Freund. Du wirst in deiner pedantischen Korrektheit vermutlich sagen, unser Verhalten sehe arg nach Marodieren aus – aber wir laufen ja selbst halb nackt herum, unsere Uniformen sind ganz aufgetragen. Ich trage schon lange eine Art Frauenleibchen und sehe einer .... weit ähnlicher als einem Offizier unserer glorreichen Armee.

»Apropos: Du bist ja verheiratet, und darfst eigentlich nichts »Derartiges« lesen. Aber ... verstehst Du? Die Weiber! Teufel noch eins, ich bin doch ein junger Kerl, und ich sehne mich so nach Liebe! Du zeigtest mir 'mal das Bild eines jungen Mädchens und fügtest, es sei Deine Braut; es waren da ein paar ergreifende, so schwermütige, tief melancholische Zeilen aufgeschrieben, und Du weintest, als Du sie lasest. Das ist schon recht, recht lange her, aber ich erinnere mich noch daran. Hier im Kriege haben wir natürlich zu solchen Dingen kaum Zeit, aber damals weintest Du – so schwermütig, so traurig war, was auf dem Bilde geschrieben stand ... Wie kann ein Offizier nur weinen?!«

»... Die Raben krächzen. Hörst Du, Freund: die Raben krächzen! Was mögen sie nur wollen? ...«

Die weiteren, mit Bleistift geschriebenen Zeilen waren ganz verwischt, und auch die Unterschrift war unleserlich.

Seltsamerweise empfand ich nicht das geringste Mitgefühl für den Gefallenen. Ich stellte mir ganz deutlich sein Gesicht vor, in dem alles so weich und zart war wie bei einer Frau: die rosigen Wangen, die hellen, morgenklaren Augen, das weiche, flaumige Bärtchen, das auch einer Frau ganz gut gestanden hätte. Er war ein Freund von Büchern, von Blumen, von Musik, er hatte eine natürliche Scheu vor allem Rohen und schrieb Verse, und mein Bruder meinte als ehrlicher Kritiker, daß seine Verse recht gut seien. Und mit alledem und allem, was ich sonst noch von ihm wußte, vermochte ich die krächzenden Raben, das nächtliche Blutbad und seinen Tod nicht in Einklang zu bringen.

... Die Raben krächzen ...

Und plötzlich glaubte ich für einen einzigen, unsagbar glücklichen Augenblick des Wahns ganz deutlich zu sehen, daß alles nur Lüge und Täuschung sei, daß es gar keinen Krieg gebe. Es gab keine Toten, keine Leichen, keinen grausigen Zusammenbruch des hilflos schwankenden Denkens. Ich liege auf dem Rücken und habe einen schrecklichen Traum, wie in meiner Kindheit: diese unheimlichen, schweigsamen, vom Schauer des Todes erfüllten Zimmer, sie sind nur ein Traum, und ich selbst, samt dem seltsamen Brief, den ich in der Hand halte – ich bin nur eine Traumgestalt. Mein Bruder lebt, und sie sitzen alle dort drinnen beim Tee, und man hört das Teegeschirr klirren ...

Nein, es ist doch wahr. O unglückliche Mutter Erde, es ist doch wahr! Die Raben krächzen. Das ist kein bloßer Einfall eines eitlen Skribenten, der nach billigen Effekten hascht, oder eines wahnbefangenen Narren. Die Raben krächzen. Wo ist mein Bruder? Er war so gut, so edel und wünschte niemandem etwas Böses. Wo ist er? Euch frage ich, ihr verruchten Mörder! Vor der ganzen Welt frage ich euch, ihr verruchten Mörder, ihr Raben, die ihr auf dem Aas sitzt, ihr unseligen, schwachsinnigen Bestien! Ihr Bestien! Warum habt ihr meinen Bruder gemordet? Wenn ihr ein menschliches Antlitz hättet, würde ich euch ohrfeigen – aber ihr habt kein menschliches Antlitz, ihr habt nur die Schnauze eines Raubtieres. Ihr spielt die Rolle von Menschen – aber unter den Handschuhen sehe ich eure Krallen, und unter dem Hute den flachen Schädel des Tieres; hinter euren verständigen Reden höre ich den heimlichen Wahnsinn, das Klirren rostiger Ketten. Und mit aller Kraft meines Grames, meines Schmerzes, meines geschändeten Denkens verfluche ich euch, ihr unseligen, schwachsinnigen Tiere!


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