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Als Lazarus aus dem Grabe stieg, wo ihn drei Tage und Nächte lang die rätselvolle Macht des Todes umfangen gehalten, und als er in seine Wohnung zurückkehrte, gewahrte man an ihm lange Zeit nichts von jenen unheilverkündenden Sonderbarkeiten, die mit der Zeit selbst seinen Namen schrecklich machen sollten.
Voll heller Freude liebkosten Freunde und Verwandte unaufhörlich den zum Leben Zurückgekehrten und in ihrer Sorge um Speise, Trank und neue Kleidung erschöpften sie ihre gierige Aufmerksamkeit. Sie kleideten ihn prächtig in die hellen Farben der Hoffnung und des Frohsinns, und als er gleich einem Bräutigam in hochzeitlichem Gewande wieder in ihrer Mitte am Tische saß, wieder aß und trank, da weinten sie vor Rührung und riefen die Nachbarn herbei, um den wunderbar Auferstandenen anzuschauen. Die Nachbarn freuten sich von Herzen, und auch die fremden Menschen, die aus fernen Städten und Dörfern herkamen, drückten in stürmischen Freuderufen ihre Verehrung des Wunders aus. Gleich Bienen summte es über dem Hause Marias und Marthas.
Das Neue, das sich in Lazarus' Gesicht und in seinen Bewegungen zeigte, erklärte man sich auf natürliche Weise als Spuren der schweren Krankheit und der überstandenen Erschütterungen. Offenbar aber war die zerstörende Arbeit des Todes an der Leiche nur durch eine wunderbare Macht unterbrochen, jedoch nicht völlig aufgehoben worden. Was der Tod aus dem Antlitz und dem Leibe Lazarus' gemacht hatte, war wie die unvollendete Zeichnung eines Künstlers unter dünnem Glase.
Auf Lazarus' Schläfen, unter seinen Augen und unter den Höhlungen seiner Wangen lag ein dichtes, erdiges Blau; ebenso erdig-blau waren die langen Finger seiner Hände, und an den im Grabe gewachsenen Nägeln war das Blau violett und dunkel geworden. An den Lippen und am Körper war an manchen Stellen die im Grabe aufgedunsene Haut gerissen, so daß hier feine, rötlich glänzende Spalten zurückblieben, die wie mit durchsichtigem Glimmer bedeckt waren. Lazarus war dick geworden. Der im Grabe aufgeblähte Körper hat jene ungeheuerlichen Dimensionen, jene schrecklichen Wölbungen, hinter denen sich die übelriechende Feuchtigkeit der Zersetzung bemerkbar macht, erhalten. Aber der schwere Leichengeruch, mit dem Lazarus' Grabgewänder und scheinbar auch sein Körper durchtränkt waren, verschwand bald vollkommen; nach einiger Zeit milderte sich auch die Bläue der Hände und des Gesichtes und ebneten sich die rötlichen Risse der Haut, wenn sie auch nie völlig verschwanden.
Außer dem Antlitz schien sich auch Lazarus' Wesen geändert zu haben; aber auch dieses wunderte niemanden. Lazarus war vor seinem Tod beständig fröhlich und sorglos gewesen; er liebte das Lachen und den harmlosen Scherz. Wegen dieser angenehmen und beständig gleichen Fröhlichkeit, die ohne jede Bosheit und Finsternis war, hatte ihn auch der Meister lieb gewonnen. Jetzt aber war er ernst und schweigsam; er scherzte nicht und mit keinem Lachen erwiderte er den Scherz eines andern; die Worte, die er bisweilen aussprach, waren die einfachsten, gewöhnlichsten und notwendigsten Worte, die so sehr des Inhalts und der Tiefe entbehrten, wie jene Laute, mit denen das Tier Schmerz und Lust, Durst und Hunger ausdrückt. Solche Worte kann ein Mensch sein ganzes Leben lang sprechen, und niemals wird man erfahren, worüber seine tiefe Seele Schmerz oder Freude empfand.
So saß er mit dem Angesicht eines Leichnams, über den der Tod drei Tage lang in der Finsternis geherrscht hatte, in prunkvollen Hochzeitsgewändern, die von gelbem Gold und blutigem Purpur glitzerten, schwer und schweigsam, zum Entsetzen schon ein Anderer und Besonderer, aber noch von niemandem Erkannter, am Tische des Festmahls inmitten seiner Freunde und Verwandten. In mächtigen, bald sanft, bald stürmisch rauschenden Wogen umtoste ihn Jubelgeschrei. Blicke warmer Liebe fielen auf sein Antlitz, das noch die Kälte des Grabes bewahrt hatte; eine glühende Freundeshand liebkoste seine blaue, schwere Hand. Man hatte Musikanten herbeigeholt, und sie spielten frohe Weisen: mit Pauken und Flöten, mit Zither und Harfe.
Es war, als ob Bienen summten, Grillen zirpten, Vögel sängen – über dem glücklichen Hause Marias und Marthas.
Ein Unvorsichtiger hob aber ein wenig den Schleier empor. Ein Unvorsichtiger zerstörte mit dem Hauch eines hingeworfenen Wortes den glänzenden Zauber und enthüllte die Wahrheit in häßlicher Blöße. Noch war der Gedanke in seinem Kopf nicht klar, als die Lippen lächelnd fragten:
– Warum erzählst du uns nicht, Lazarus, was dort war?
Betroffen über die Frage, versanken alle in Schweigen, als wäre ihnen eben erst zu Sinnen gekommen, daß Lazarus drei Tage lang tot war. Sie schauten neugierig und warteten auf Antwort. Aber Lazarus schwieg.
– Willst du uns nicht erzählen? – sagte der Fragesteller verwundert. – Ist's denn so schrecklich dort?
Wieder ging der Gedanke hinter dem Worte her; wäre er vorausgegangen, so hätte jener nicht die Frage gestellt, vor der sich in demselben Augenblick sein eigenes Herz aus unerträglicher Furcht zusammenpreßte.
Alle wurden unruhig und erwarteten schwermütig Lazarus' Antwort. Aber er schwieg, kalt und streng, und seine Augen waren herabgesenkt. Und jetzt zum ersten Male schien man wieder die schreckliche Bläue des Gesichtes, die widerliche Dickleibigkeit zu bemerken. Auf dem Tische lag, wie von ihm vergessen, Lazarus' bläulich-rote Hand, und alle Blicke waren unbeweglich und willenlos an sie gefesselt, als erwarteten sie von ihr die gewünschte Antwort.
Immer noch spielten die Musikanten. Aber siehe das Schweigen gelangte auch zu ihnen. Und wie das Wasser zerstreute Kohlen löscht, so erstickte das Schweigen die frohen Töne. Es verstummte die Flöte, die helltönende Pauke, die rauschende Harfe; und gleich als ob eine Saite gesprungen, gleich als ob das Lied selbst erstarrt wäre – so hallte die Zither in bebendem, zerrissenem Ton.
– Du willst nicht? – wiederholte der Fragesteller, zu schwach, seine geschwätzige Zunge zu zügeln.
Es herrschte Stille, und unbeweglich lag die bläulich-rote Hand da. Plötzlich rührte sie sich leise, alle atmeten erleichtert auf und erhoben die Augen – schwer und schrecklich, alles mit einem Blick umfassend, schaute sie der auferstandene Lazarus am.
Das war am dritten Tage, nachdem Lazarus aus dem Grabe gestiegen war. Von jener Zeit an mußten viele die verderbliche Macht seines Blickes erfahren; aber weder diejenigen, welche durch sie für immer bezwungen worden, noch die, welche am Urquell des Lebens selbst, das so geheimnisvoll wie der Tod ist, den Willen zum Widerstand gefunden hatten, konnten jemals das Entsetzliche erklären, das regungslos in der Tiefe seiner schwarzen Augensterne lag. Er blickte ruhig und schlicht, ohne den Wunsch, etwas zu verheimlichen, und ohne die Absicht, etwas zu sagen; er blickte sogar kalt vor sich hin, wie einer, der unendlich gleichgültig gegen das Lebendige ist. Viele sorglose Menschen stießen nahe mit ihm zusammen, ohne ihn zu bemerken; dann aber erfuhren sie mit Erstaunen und mit Furcht, wer dieser dickleibige, ruhige Mensch war, der sie mit dem Saum seiner prunkvollen und glänzenden Kleider gestreift hatte.
Die Sonne hörte nicht auf, zu scheinen, wenn Lazarus hinauf sah, der Springbrunnen hörte nicht auf zu rauschen, und der heimatliche Himmel blieb ebenso wolkenlos blau. Aber der Mensch, der unter seinen rätselvollen Blick geriet, empfand nicht mehr die Sonne, hörte nicht mehr den Springbrunnen rauschen, erkannte nicht mehr den heimatlichen Himmel. Manchmal weinte der Mensch bitterlich; ein andermal raufte er sich vor Verzweiflung das Haar auf seinem Kopfe und rief sinnlos die anderen Menschen zu Hilfe. Oft aber begab es sich, daß er gleichgültig und ruhig anfing, zu sterben und so jahrelang, vor aller Augen blütenlos starb, welk und öde wie ein Baum, der schweigend auf steinernem Boden verdorrt.
– So willst du uns nicht erzählen, Lazarus, was du dort gesehen hast? – wiederholte der Fragesteller zum dritten Male.
Aber nun war seine Stimme gleichgültig und farblos geworden und tote, graue Langeweile schaute stumpf aus seinen Augen. Dieselbe tote, graue Langeweile überzog alle Gesichter wie Staub, die Gäste blickten mit stumpfer Verwunderung einander an und konnten nicht verstehen, wozu sie hier versammelt waren und an dem reichen Tisch saßen. Sie hörten auf zu sprechen. Gleichmütig dachten sie daran, daß man wohl nach Hause gehen müsse, aber die zähe und träge Langeweile, die ihre Muskeln geschwächt hatte, konnten sie nicht überwinden und so blieben sie sitzen, voneinander getrennt, wie trübe, über das nächtliche Feld zerstreute Flammen.
Die Musikanten hatte man aber bezahlt, daß sie spielten. Sie griffen wieder zu den Instrumenten und wieder strömten und sprangen mechanisch gespielte lustige, mechanisch gespielte traurige Töne dahin. Immer dieselbe gewohnte Melodie entrollte sich in ihnen, aber die Gäste nahmen sie verwundert auf: sie wußten nicht, wozu es nötig ist und warum es schön ist, wenn die Menschen an den Saiten zupfen, die Backen aufblähen, in dünne Pfeifen blasen und einen seltsamen, unharmonischen Lärm erzeugen.
– Wie sie schlecht spielen! – sagte jemand.
Die Musikanten fühlten sich beleidigt und gingen fort. Hinter ihnen her ging ein Gast nach dem andern, denn es war schon Nacht geworden. Als sie von allem Seiten von der stillen Finsternis umgeben waren und leichter atmen konnten – da stieg plötzlich in einem jeden Lazarus' Bild in drohendem Glanze auf: das blaue Antlitz des Toten, die Kleider des Bräutigams, prunkvoll und glitzernd, und der kalte Blick, in dessen Tiefe starr und unbeweglich schreckliches lag. Wie versteinert standen sie an verschiedenen Enden von Finsternis umringt, und immer heller flammte die schreckliche Erscheinung auf, das übernatürliche Bild dessen, den drei Tage lang die rätselvolle Macht des Todes umfangen gehalten hatte. Drei Tage war er tot; dreimal ging die Sonne auf und unter, und er war tot; die Kinder spielten, das Wasser murmelte über die Steine, der glühende Staub wirbelte auf dem Fahrweg auf, und er war tot. Und jetzt weilt er wieder unter den Menschen, berührt sie, blickt sie an – blickt sie an! – und durch die schwarzen Kreise seiner Augensterne schaut, wie durch dunkle Scheiben, das unergründliche Dort selbst auf die Menschen.
Niemand kümmerte sich mehr um Lazarus, weder die Verwandten noch die Freunde, und die große Wüste, die die heilige Stadt umarmte, rückte selbst bis an die Schwelle seiner Wohnstätte. In sein Haus drang sie, auf sein Lager, wie eine Gemahlin warf sie sich hin und verlöschte die Lichter. Niemand kümmerte sich mehr um Lazarus.
Eine nach der anderen waren seine Schwestern Martha und Maria von ihm gegangen. Lange hatte ihn Martha nicht verlassen wollen, denn sie wußte nicht, wer ihn nähren und bedauern sollte. In einer Nacht aber, als der Wind in der Wüste jagte und die Zypressen über dem Dache sich pfeifend krümmten, kleidete sie sich still an und ging leise fort. Wohl hörte Lazarus, wie die Tür aufschlug, wie sie, unverschlossen, unter den Stößen des Windes hart auf den Pfosten schlug – aber er erhob sich nicht, um hinauszugehen und nachzusehen. Die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen pfiffen die Zypressen über seinem Haupte, knarrte die Türe und ließ die kalte, gierig rasende Wüste in die Wohnung ein.
Alle wichen ihm aus wie einem Aussätzigen, und wollten ihm, wie einem Aussätzigen, ein Glöckchen an den Hals hängen, um ihm bei der Begegnung entgehen zu können. Aber erblassend meinte einer, wie schrecklich es wäre, wenn nachts unter den Fenstern der Klang von Lazarus' Glöckchen hörbar würde – und gleich ihm erblassend, stimmten alle ihm bei.
Da er selbst auch nicht für sich sorgte, wäre er wohl vor Hunger gestorben, hätten ihm nicht die Nachbarn im Gefühl einer dunklen Furcht Speise vorgesetzt. Kinder brachten sie ihm; die Kinder fürchteten sich nicht vor Lazarus, aber sie lachten auch nicht über ihn, wie sie mit unschuldiger Hartherzigkeit über die Unglücklichen lachen. Sie waren gleichgültig gegen ihn, und Lazarus vergalt das mit der nämlichen Gleichgültigkeit: er hatte weder das Bedürfnis, ihnen für die Gefälligkeiten zu danken, noch den Wunsch, ein schwarzes Köpfchen zu liebkosen und in seine unschuldigen, glänzenden Äuglein zu schauen.
Der Gewalt der Zeit und der Wüste überlassen, fing sein Haus an zu verfallen. Die hungernden, meckernden Ziegen waren längst zu den Nachbarn gelaufen. Seine hochzeitlichen Kleider wurden alt; wie er sie an jenem glücklichen Tage, als die Musikanten spielten, angezogen hatte, so trug er sie noch, ohne sie zu wechseln, wie wenn er den Unterschied zwischen neu und alt, zwischen zerrissen und ganz nicht sehen könnte. Die hellen Farben verblichen und welkten; die bösen Hunde der Stadt, die scharfen Hecken der Wüste hatten das zarte Gewebe in Lumpen verwandelt.
Am Tage, wenn die unbarmherzige Sonne zur Mörderin alles Lebendigen wurde und selbst die Skorpione sich unter die Steine verkrochen und dort vor sinnlosem Verlangen, zu stechen, sich zusammenkrümmten, saß er unbeweglich unter den heißen Strahlen, das blaue Antlitz mit dem struppigen, wilden Bart nach oben gerichtet
Als man mit ihm noch sprach, wurde er einmal gefragt:
– Armer Lazarus! Gefällt es dir, hier zu sitzen und in die Sonne zu schauen?
Und er antwortete:
– Ja, das gefällt mir.
So mächtig war offenbar die Kälte in dem dreitägigen Grabe, so tief seine Finsternis, daß es auf Erden keine Hitze, kein Licht gab, das Lazarus hätte erwärmen und das Dunkel seiner Augen erhellen können – dachten, die ihn fragten und gingen seufzend fort.
Als die purpurrote Scheibe sich zur Erde niedersenkte, Lazarus in die Wüste, gerade auf die Sonne zu, als suchte er sie einzuholen. Immer schritt er auf die Sonne zu und jedem, der Versuchte, seinen Weg zu verfolgen, um zu erfahren, was Lazarus nachts in der Wüste tat, prägte sich unverwischbar die schwarze Silhouette des großen, dicken Mannes auf dem roten Hintergrund der ungeheueren Sonnenscheibe ins Gedächtnis ein.
Die Nacht vertrieb jeden durch ihre Schrecken, und so erfuhr niemand, was Lazarus in der Wüste tat, aber das schwarze Bild auf dem roten Hintergrund hatte sich in das Gehirn eines jeden eingebrannt und schwand nicht mehr. Wie ein Tier, dessen Augen mit Sand überschüttet sind, wütend den Kopf mit den Pfoten reibt, ebenso töricht rieben sie alle ihre Augen, aber das Bild des Lazarus war unauslöschbar und vielleicht erst mit dem Tode zu vergessen.
Es gab aber auch Menschen, die weit in der Ferne wohnten und Lazarus niemals gesehen, sondern nur von ihm gehört hatten. Mit verwegener Neugierde, die stärker ist als die Furcht und von dieser genährt wird, mit heimlichem Spott in der Seele kamen sie zu ihm, als er in der Sonne saß, und fingen ein Gespräch an. Im ersten Augenblick schnalzten sie mit den Fingern und dachten mit Mißbilligung an die Dummheit der Bewohner der heiligen Stadt. Als aber das kurze Gespräch zu Ende war und sie nach Hause kamen, boten sie einen solchen Anblick, daß die Bewohner der heiligen Stadt sie sogleich erkannten und sagten:
– Da ist noch so ein Tor, den Lazarus angeschaut hat.
Da kamen tapfere, furchtlose Krieger, die mit den Waffen klirrten, – es kamen glückliche Jünglinge, lachend und Lieder singend; es kamen bekümmerte, mit Geld klimpernde Händler auf eine Minute gelaufen, hochmütige Tempeldiener stellten ihre Stäbe an Lazarus' Türen auf – und keiner kehrte so zurück, wie er gekommen war. Ein und derselbe schreckliche Schatten legte sich auf die Seelen und verlieh der alten, bekannten Welt ein neues Antlitz.
Und also offenbarten jene, die noch Lust hatten zu sprechen:
Alle Gegenstände, die mit den Augen sichtbar und mit den Händen fühlbar sind, wurden hohl, leicht und durchsichtig – gleich hellen Schatten im Dunkel der Nacht;
denn die große Finsternis, die das ganze Weltall umhüllt, wurde weder von der Sonne, noch vom Mond und den Sternen zerstreut, sondern bedeckte die Erde mit einem endlosen schwarzen Kleid, indem sie sie wie eine Mutter umarmte.
In alle Körper drang sie, in Eisen und Gestein; die kleinsten Körperteilchen verloren ihre Verbindung und blieben getrennt; sie drang in die Tiefe der kleinsten Körperteilchen ein und getrennt blieben die Teile der Teilchen;
denn jene große Leere, die das Weltall umgibt, wurde von dem Sichtbaren nicht angefüllt, weder von der Sonne, noch von dem Monde und den Sternen, sie herrschte uferlos, überall durchdringend, alles scheidend, Körper von Körper, Teilchen von Teilchen.
Die Bäume breiteten ihre Wurzeln im Leeren aus und waren selbst leer; im Leeren erhoben sich, mit trügerischem Einsturz drohend, Tempel, Paläste und Häuser und waren selbst wesenlos; und im Leeren bewegte sich unruhig der Mensch und war selbst leer und leicht wie ein Schatten; denn es gab keine Zeit mehr und der Anfang eines jeden Dinges näherte sich seinem Ende: Noch baute man an einem Gebäude, noch klopften die Erbauer mit ihren Hämmern, da wurden schon die Trümmer sichtbar, und die Leere trat an die Stelle der Trümmer. Eben erst wurde ein Mensch geboren, da fingen schon über seinem Haupte die Grabeskerzen zu brennen an; und schon erloschen sie, und Leere entstand an Stelle des Menschen und der Grabeskerzen; und der von Leere und Finsternis umringte Mensch zitterte hoffnungslos vor dem Entsetzen des Unendlichen.
So sprachen jene, die noch Lust hatten, zu sprechen, die aber nicht sprechen wollten und schweigend starben, hatten wohl noch mehr zu sagen.
Um diese Zeit lebte in Rom ein berühmter Bildhauer. Aus Ton, Bronze und Marmor schuf er Körper von Göttern und Menschen, und schuf sie in solch göttlicher Schönheit, daß die Menschen sie unsterblich nannten. Aber er selbst war unzufrieden und behauptete, daß es noch etwas gäbe, das in Wirklichkeit das Schönste wäre, das er aber weder in Marmor, noch in Bronze festhalten könne.
– Ich habe den Mondschein noch nicht gesammelt, – sagte er. – Ich habe den Sonnenglanz noch nicht gefaßt – in meinem Marmor ist keine Seele, kein Leben in meiner schönen Bronze.
Und wenn er in Mondnächten langsam auf dem Wege wandelte, die schwarzen Schatten der Zypressen kreuzte und der weiße Chiton im Monde glänzte, lachten die Kobolde freundlich und sagten:
– Willst du nicht das Mondlicht einsammeln, Aurel? Warum hast du keine Körbe mitgenommen?
Auch er lachte und wies auf seine Augen:
– Hier sind meine Körbe, in denen ich das Mondlicht und den Sonnenschein sammle.
Und wahrlich: der Mond schien in seinen Augen, und die Sonne funkelte darin. Aber er vermochte sie nicht in den Marmor hinüberzuleiten und darin lag das große Leiden seines Lebens.
Er stammte aus einem alten Patriziergeschlecht, hatte eine gute Frau und Kinder und litt keinen Mangel.
Als das dunkle Gerücht von Lazarus zu ihm gelangt war, beriet er sich mit seiner Frau und seinen Freunden und unternahm die weite Reise nach Judäa, um den wunderbar Auferstandenen zu sehen. Er empfand in jenen Tagen etwas Langeweile und er hoffte, durch die Reise seine erschlaffte Aufmerksamkeit zu schärfen. Was man ihm von dem Auferstandenen erzählt hatte, schreckte ihn nicht: er hatte immer viel über den Tod nachgedacht und liebte ihn nichts aber er liebte auch jene nicht, die ihn mit dem Leben vermengen. Im Diesseits das prächtige Leben, im Jenseits der rätselvolle Tod, dachte er, und der Mensch kann nichts Besseres ersinnen, als sich lebend am Leben und an der Schönheit des Lebendigen zu erfreuen. Er hatte sogar den ehrgeizigen Wunsch, Lazarus von der Wahrheit seiner Ansicht zu überzeugen und seine Seele dem Leben zuzuführen, wie sein Leib ihm wieder zugeführt worden war. Das schien um so leichter, weil die Gerüchte von dem Auferstandenen, so schreckhaft und seltsam sie auch waren, nicht die volle Wahrheit über ihn berichteten und nur dunkel vor etwas Schrecklichem warnten.
* * *
Schon erhob sich Lazarus vom Steine, um der in die Wüste eilenden Sonne nachzugehen, als sich ihm der reiche Römer, begleitet von einem bewaffneten Sklaven, näherte und tönend rief:
– Lazarus!
Lazarus erblickte ein schönes, stolzes, von Ruhm strahlendes Gesicht, helle Kleider und Edelsteine, die unter der Sonne glitzerten. Die rötlichen Strahlen verliehen dem Haupt und Angesicht des Römers eine gewisse Ähnlichkeit mit matt glänzender Bronze – das sah auch Lazarus. Gehorsam setzte er sich auf seinen Platz und senkte erschöpft die Augen.
– Nein, du bist nicht schön, mein armer Lazarus – sagte der Römer ruhig, mit seiner goldenen Kette spielend. – Du siehst sogar schrecklich aus, mein Freund: der Tod war nicht träge an jenem Tage, wo du ihm so unvorsichtig in die Hände gerietest. Aber du bist dick wie ein Faß, und dicke Leute pflegen nicht böse zu sein, sagte der große Cäsar. Ich verstehe nicht, warum die Menschen dich so fürchten. Du erlaubst mir doch, daß ich bei dir übernachte? Es ist schon spät, und ich habe kein Obdach.
Nie noch hatte jemand Lazarus gebeten, bei ihm eine Nacht zubringen zu dürfen.
– Ich habe kein Lager, – sagte er.
– Ich bin ein Kriegsmann und kann im Sitzen schlafen, – antwortete der Römer. – Wir zünden ein Feuer an ...
– Ich habe kein Feuer.
– Dann werden wir uns im Dunkeln wie zwei Freunde unterhalten. Ich denke, es wird sich etwas Wein bei dir finden ...
– Ich habe keinen Wein.
Der Römer lachte auf.
– Jetzt verstehe ich, warum du so finster bist und dein zweites Leben nicht liebst. Du hast keinen Wein! Nun, was tut es? Wir können auch ohne Wein bleiben: es gibt ja Reden, die den Kopf nicht weniger schwindeln machen als Falerner.
Mit einer Handbewegung entließ er den Sklaven, und sie blieben allein. Abermals hub der Bildhauer zu reden an, aber gleich als schwände mit der untergehenden Sonne das Leben aus seinen Worten, wurden sie blaß und leer, wie wenn sie sich auf schwachen Füßen bewegten, ausglitten und berauscht von dem Weine des Kummers und der Verzweiflung niederfielen. Schwarze Abgründe taten sich zwischen ihnen auf, – wie ferne Anspielungen auf die große Leere und die große Finsternis.
– Jetzt bin ich dein Gast, und du wirst doch die Gastfreundschaft nicht verletzen, Lazarus! – sagte er. – Die Gastfreundschaft ist eine Pflicht auch für die, welche drei Tage tot waren. Drei Tage lang hast du doch, wie man mir gesagt hat, im Grabe verweilt. Dort muß es kalt sein ... und von dort hast du wohl die schlechte Gewohnheit mitgebracht, ohne Wein und Feuer auszukommen. Ich liebe das Feuer, hier wird es so schnell dunkel ... Die Linie deiner Brauen und deiner Stirne ist sehr interessant: gleich Trümmern von Palästen ist sie, die nach einen: Erdbeben mit Asche überschüttet wurden ... Aber warum steckst du in einer so seltsamen und unschönen Kleidung? Ich habe in deinem Lande manchen Bräutigam gesehen; diese tragen solche Kleidung – solche komische – solche schreckliche Kleider ... Bist du denn ein Bräutigam?
Schon war die Sonne untergegangen. Ein schwarzer gigantischer Schatten lief von Osten her – es schien, als ob nackte, ungeheuer große Füße über dem Sande schlürften, und der Luftzug dieses raschen Laufes wehte kalt über den Rücken.
– In der Dunkelheit erscheinst du noch größer, Lazarus. Man möchte glauben, du seist in diesen Minuten dicker geworden. Du nährst dich doch nicht von der Finsternis? ... Ich hätte gern ein Feuer gehabt, und wär es nur ein ganz kleines, ganz kleines. Mich friert ein wenig, bei euch herrschen so barbarisch kalte Nächte ... Wäre es nicht so dunkel, würde ich sagen, du schaust mich an, Lazarus. Ja, ich glaube, du schaust ... Wirklich, du schaust mich an, ich fühle es – du hast ja gelächelt.
Die Nacht brach herein und tiefes Schwarz erfüllte die Luft.
– Wie schön ist es, wenn die Sonne morgen wieder aufgeht ... Du weißt doch, daß ich ein großer Bildhauer bin – so nennen mich wenigstens meine Freunde. Ich schöpfe, – ja, das heißt schöpfen ... aber dazu muß es Tag sein. Dem kalten Marmor verleihe ich Leben, ich schmelze die klingende Bronze am Feuer, am Hellen, glühenden Feuer ... Warum hast du mich jetzt mit der Hand berührt! ..
– Gehen wir,– sagte Lazarus. – Du bist mein Gast.
Sie gingen in das Haus. Die lange Nacht legte sich auf die Erde.
* * *
Der Sklave wartete nicht auf seinen Herrn. Er kam, nach ihm zu sehen, als die Sonne schon hoch stand. Er sah Lazarus und seinen Herrn nebeneinander gerade unter den sengenden Sonnenstrahlen sitzen: sie schauten in die Höhe und schwiegen. Der Sklave fing an zu weinen und rief laut:
– Herr, was ist mit dir! Herr!
An demselben Tage reisten sie nach Rom zurück.
Auf dem ganzen Weg war Aurel nachdenklich und schweigsam. Er betrachtete alles aufmerksam, Menschen, Schiff und Meer, als suchte er im Geiste etwas festzuhalten. Auf dem Meere wurden sie von einem starken Sturm gepeitscht; Aurel hielt sich indessen beständig auf dem Deck auf und schaute begierig auf die sich heranwälzenden und zerfallenden Wogen.
Zu Hause erschrak man über die seltsame Veränderung, die mit dem Bildhauer vorgegangen war, aber er beruhigte seine Hausgenossen, indem er vielbedeutend sagte:
– Ich habe es gefunden.
In derselben schmutzigen Kleidung, die er auf dem Wege nicht gewechselt hatte, machte er sich an die Arbeit, und der Marmor tönte gehorsam unter den schallenden Schlägen des Hammers. Er arbeitete lang und eifrig, ließ niemanden ein und eines Morgens endlich sagte er, das Werk sei beendet. Er ließ seine Freunde herbeirufen, alles strenge Schätzer und Kenner der Kunst. Er erwartete sie und zog prächtige, helle Festkleider an, die von echtem Gold und roter Purpurseide glitzerten.
– Hier ist, was ich geschaffen habe, – sagte er nachdenklich.
Die Freunde sahen hin, und ein Schatten tiefen Kummers überzog ihre Gesichter. Das war etwas Ungeheuerliches, das keine dem Auge bekannte Form hatte, aber gleichzeitig wies es auf eine neue, unbekannte Form. Auf einem dünnen, gekrümmten Zweig, – oder seiner verstümmelten Nachbildung, – lag in gekrümmter Stellung eine blinde, unförmig ausgestreckte Masse von etwas nach innen Gekehrtem, nach außen Gedrehtem, eine Masse von wilden, abgerissenen Stücken, die machtlos von sich loszukommen strebten. Unter einem der wild schreienden Vorsprünge bemerkter! Aurels Freunde zufällig einen wunderbar ausgehauenen Schmetterling mit durchsichtigen Flügeln, die unter dem kraftlosen Verlangen zu fliegen, zu beben schienen.
– Was soll dieser wunderbare Schmetterling, Aurel? – fragte einer unsicher.
– Ich weiß nicht, – antwortete der Bildhauer.
Aber man mußte die Wahrheit sagen, und einer der Freunde, der Aurel am meisten zugetan war, sagte entschlossen:
– Das ist häßlich, mein armer Freund! Das muß vernichtet werden. Gib den Hammer her!
Mit zwei Schlägen zerstörte er die ungeheuerliche Masse und ließ nur den wunderbar ausgehauenen Schmetterling bestehen.
Von jener Zeit an schuf Aurel nichts mehr. Mit tiefem Gleichmut blickte er auf den Marmor, die Bronze und seine früheren, göttlichen Schöpfungen, auf denen unsterbliche Schönheit ruhte. Um seine alte Arbeitsglut in ihm zu wecken, seine abgestorbene Seele zu beleben, zeigte man ihm fremde prächtige Erzeugnisse – aber er blieb ebenso gleichgültig, und kein Lächeln erwärmte seine geschlossenen Lippen. Erst als man mit ihm lange und viel von Schönheit gesprochen hatte, versetzte er müde und schlaff:
– Es ist doch alles Lüge.
Am Tage, wenn die Sonne schien, ging er in seinen reichen, künstlerisch ausgestatteten Garten, suchte sich einen schattenlosen Ort aus, und gab sein unbedecktes Haupt und seine trüben Augen dem Glühen und Gleißen der Sonne preis. Rote und weiße Schmetterlinge flatterten umher, plätschernd floß aus dem gekrümmten Mund eines selig trunkenen Satyrs Wasser in ein marmornes Bassin, aber er blieb unbeweglich, wie das blasse Abbild dessen, der in weiter Ferne, an der steinernen Pforte der Wüste, ebenso regungslos unter der feurigen Sonne saß.
Nun rief der große, göttliche Augustus selbst Lazarus zu sich.
Man legte Lazarus wieder prächtige, feierliche Hochzeitsgewänder an, wie wenn sie die Zeit zum Gesetz gemacht hätte und er selbst bis zu seinem Tode der Bräutigam einer unbekannten Braut hätte bleiben sollen. Es war ein Anblick, als hätte man einen alten, verfaulenden Sarg, der schon im Begriffe war, auseinanderzufallen, frisch vergoldet und mit neuen, farbigen Quasten behängt. Feierlich führte man ihn; alle waren geschmückt und glänzten, als ob sich wirklich ein Hochzeitszug daherbewegte; die Vorangehenden bliesen Trompeten, um den Gesandten des Kaisers den Weg zu bahnen. Aber Lazarus' Wege waren öde: das ganze Land verfluchte schon den Namen des wunderbar Auferstandenen, das Volk stieb bei der Kunde seiner schrecklichen Annäherung auseinander. Einsam tönten die kupfernen Trompeten, und nur die Wüste antwortete mit ihrem langgedehnten Echo.
Dann fuhren sie ihn über das Meer, mit dem schönsten und traurigsten Schiff, das sich je in den azurblauen Wellen des mittleren Meeres gespiegelt hatte. Es befanden sich viele Leute auf dem Schiffe, aber es war still und schweigend wie ein Grabmal. Wie hoffnungslos weinte das Wasser, das den jähen, schön geschweiften Schiffskiel bespülte. Dort saß Lazarus einsam, das unbedeckte Haupt der Sonne darbietender hörte dem Rauschen der Wasser zu und schwieg; fern von ihm lagen, wie eine verworrene Schar trübem Schatten, schwach und matt, die Seeleute und die Abgesandten des Kaisers. Wenn in dieser Zeit ein Blitz eingeschlagen, wenn der Sturm die roten Segel zerrissen hätte, wäre das Schiff wahrscheinlich verloren gewesen; denn keiner von allen, die auf ihm waren, hätten die Kraft oder die Lust besessen, um das Leben zu ringen. Mit der letzten Anstrengung waren einige an Bord gekommen, um mit gierigem Blick in den blauen, durchsichtigen Grund zu schauen, ob nicht in den Wellen die rosige Schulter einer Najade schimmere oder ob nicht ein sinnlos heiterer, trunkener Zentaur mit seinen Hufen die Wogen aufschäume und vorbeijage. Aber das Meer war öde und sein Grund stumm und leer.
Gleichgültig betrat Lazarus die Straßen der ewigen Stadt, als wäre all ihr Reichtum, alle Herrlichkeit der gigantisch aufgeführten Gebäude, der Glanz, die Schönheit und die Musik des verfeinerten Lebens nur der Nachklang des Windes in der Wüste, der Wiederschein der heißen, beweglichen Sandmassen. Es eilten Wagen, es bewegten sich Mengen starker, schöner und stolzer Menschen dahin, die Erbauer der ewigen Stadt und die stolzen Teilnehmer an ihrem Leben. Lieder ertönten – die Springbrunnen lachten und die Frauen mit ihrem perlmuttergleichen Lachen – Betrunkene philosophierten – lächelnd hörten ihnen die Nüchternen zu – und Hufe schlugen, Hufe schlugen auf dem Steine des Pflasters auf. Und auf allen Seiten von fröhlichem Lärm umgeben, bewegte sich gleich einem Flecke des Schweigens inmitten des Lärms ein dicker, schwerfälliger Mensch, der auf seinem Wege Ärger, Zorn und trüben, saugenden Kummer säte. Wer wagt es, in Rom traurig zu sein? – sagten die Bürger unwillig und verdrießlich, – und nach zwei Tagen wußte schon das ganze, schnellzüngige Rom von dem wunderbar Auferstandenen und wich scheu vor ihm aus.
Aber auch hier gab es viele kühne Menschen, die ihre Kraft erproben wollten. Lazarus leistete ihrer sinnlosen Einladung gehorsam Folge. Der mit Staatsangelegenheiten beschäftigte Kaiser verzögerte den Empfang, und der wunderbar Auferstandene ging gerade sieben Tage lang bei den Menschen herum.
Einmal kam Lazarus zu einem lustigen Trunkenbold, der ihn mit dem Lachen seiner roten Lippen empfing.
– Trink', Lazarus, trink'! – schrie er. – Augustus wird lachen, wenn er dich betrunken sieht!
Die entblößten betrunkenen Weiber lachten, und Rosenblätter fielen auf Lazarus' blaue Hände. Da blickte ihm der Trunkenbold in die Augen – und sein Frohsinn war auf immer dahin. Sein ganzes Leben blieb er betrunken, wohl trank er nichts mehr, aber er blieb betrunken, und an Stelle der lustigen Phantasieen, die der Wein erzeugt, umschatteten schreckliche Träume sein unglückliches Haupt. Schreckliche Träume wurden die einzige Nahrung seines geschlagenen Geistes. Schreckliche Träume bannten ihn Tag und Nacht in den Dunst ihrer ungeheuerlichen Gebilde, und der Tod selbst war nicht schrecklicher als die Art, wie seine grimmigen Vorboten erschienen.
Nun kam Lazarus zu einem Jüngling und einem Mädchen, die einander liebten und schön waren in ihrer Liebe. Stolz und fest umarmte der Jüngling die Geliebte und sagte mit leisem Mitleid:
– Schau' uns an, Lazarus, und freue dich mit uns. Gibt es etwas Mächtigeres als die Liebe?
Und Lazarus blickte sie an. Sie fuhren fort, einander zu liefen; ein ganzes langes Leben hindurch liebten sie einander, aber ihre Liebe war traurig und trübe geworden, wie jene Grabzypressen, die ihre Wurzeln von der Fäulnis der Gräber nähren und in der stillen Abendstunde mit ihren scharfen, schwarzen Gipfeln vergeblich den Himmel zu erreichen suchen. Sie waren von einer unbekannten Lebenskraft in stete Umarmung gebannt, sie mischten ihre Küsse mit ihren Tränen, die Lust mit dem Schmerz, fühlten sich doppelt Sklaven: als gehorsame Sklaven eines anspruchsvollen Lebens und als wortlose Diener eines streng schweigenden Nichts. Ewig vereint, ewig getrennt, glimmten sie wie Funken und erloschen in endloser Finsternis als Funken.
Nun kam Lazarus zu einem stolzen Weisen, und der Weise sagte zu ihm:
– Ich weiß schon alles, was du Schreckliches sagen kannst, Lazarus. Womit kannst du mich noch erschrecken?
Aber kaum war eine Weile verflossen, da fühlte der Weise schon, daß die Kenntnis des Schrecklichen noch nicht das Schrecklichste ist, daß die Erscheinung des Todes noch nicht der Tod ist. Er fühlte, daß die Weisheit und die Dummheit völlig gleich sind vor dem Angesicht des Unendlichen, denn das Unendliche kennt sie nicht. Es schwand die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Oben und Unten, und sein formloser Gedanke schwebte im Leeren. Da griff er sich an das graue Haupt und fing rasend an zu schreien:
– Ich kann nicht denken! Ich kann nicht denken!
So ging unter dem gleichgültigen Blick des wunderbar Auferstandenen alles, was zur Bejahung des Lebens, seines Sinnes und seiner Freuden dient, zugrunde. Man sagte schon, es wäre gefährlich, ihn zum Kaiser vorzulassen, es wäre besser, ihn zu töten, heimlich zu begraben und zu sagen, er halte sich an einem unbekannten Ort verborgen. Schon schärfte man Schwerter, und dem Wohle des Volkes ergebene Jünglinge bereiteten sich aufopfernd vor, die Mörder zu werden, da befahl Augustus, daß Lazarus am nächsten Morgen vor ihm erscheine und zerstörte so die grausamen Pläne.
Wenn es unmöglich war, Lazarus zu beseitigen, so wollte man wenigstens den quälenden Eindruck seines Antlitzes mildern. Zu diesem Zweck versammelte man die geschicktesten Künstler, Meister, Barbiere, die sich die ganze Nacht mit dem Kopfe des Lazarus zu schaffen machten. Sie stutzten ihm den Bart, kräuselten ihn und verliehen ihm ein sauberes und hübsches Aussehen. Abstoßend war die Totenbläue aus Lazarus' Gesicht und Händen: sie entfernten sie mit Farben: sie färbten die Hände weiß und die Wangen rot. Ekel erregten die Leidensfalten, die das alte Gesicht durchfurchten; sie schmierten sie zu, färbten und glätteten sie vollständig; auf dem reinen Grund zeichneten sie kunstvoll mit feinem Pinsel die kleinen Fältchen eines gutmütigen Lachens und heiterer, harmloser Fröhlichkeit.
Allem, was man mit ihm machte, fügte sich Lazarus gleichgültig; bald war er in einen natürlich dicken, hübschen Greis, in einen ruhigen und gutmütigen Großvater zahlreicher Enkel verwandelt. Noch war das Lächeln, mit dem er spaßhafte Märchen erzählte, nicht von seinen Lippen geschwunden, noch hielt sich im Winkel seiner Augen eine greisenhafte, stille Zärtlichkeit versteckt – so schien er. Nur die Hochzeitsgewänder wagten sie ihm nicht wegzunehmen, und seine Augen konnten sie nicht verwandeln – die dunklen und schrecklichen Gläser, durch welche das unerreichbare Dort selbst auf die Menschen blickte.
Die Pracht der kaiserlichen Gemächer rührte Lazarus nicht. Als ob er den Unterschied zwischen seinem zerfallenen Hause, das der Wüste ausgesetzt war, und dem steinernen, festen, schönen Palast nicht bemerkte – so gleichgültig schaute er, da er die Gemächer durchschritt. Der harte Marmor des Bodens unter seinen Füßen wurde dem lockeren Sand der Wüste ähnlich, und die Menge der prächtig gekleideten, stolzen Menschen glich der Leere der Luft unter seinen Blicken. Man schaute ihm nicht ins Antlitz, wenn er vorüberging; denn alle fürchteten sich, dem schrecklichen Einfluß seiner Augen ausgesetzt zu sein. Wenn sie an dem Ton seiner schweren Tritte errieten, daß er an ihnen vorüberging, hoben sie die Köpfe in die Höhe und betrachteten mit schüchterner Neugierde die Figur des dicken, großen, leicht gekrümmten Greises, der langsam in das Herz des kaiserlichen Palastes eindrang. Wäre der Tod selbst vorbeigegangen, hätten die Leute nicht mehr erschrecken können: denn bisher war es so, daß den Tod nur der Tote und der Lebendige nur das Leben kannte, und es gab keine Brücke zwischen beiden. Aber dieser ungewöhnliche Mensch kannte den Tod, und rätselhaft und schrecklich war sein verfluchtes Wissen.
– Er wird unseren großen, göttlichen Augustus töten, – dachten die Hofleute voll Angst und schickten machtlose Verwünschungen Lazarus nach, der langsam und gleichgültig immer tiefer und tiefer eindrang.
Der Cäsar hatte schon erfahren, wer Lazarus war, und bereitete sich zu seiner Begegnung vor. Er war ein beherzter Mensch, fühlte seine ungeheuere, unbesiegbare Kraft und wollte in dem verhängnisvollen Kampfe mit dem wunderbar Auferstandenen sich nicht auf die schwache Hilfe der Menschen stützen. Allein, Gesicht gegen Gesicht, kam er mit Lazarus zusammen.
– Richte deine Blicke nicht auf mich, Lazarus! – befahl er dem Eintretenden. – Ich habe gehört, daß. dein Kopf einem Medusenhaupt ähnlich ist und jeden, den du ansiehst, in Stein verwandelt. Aber ich will dich betrachten und mit dir sprechen, ehe ich in Stein verwandelt werde, – fügte er königlich scherzend hinzu, nicht ohne Furcht.
Er ging nahe an Lazarus heran und betrachtete aufmerksam sein Gesicht und seine seltsame, feierliche Kleidung. Er wurde durch die Kunst der Maler und Barbiere getäuscht, obwohl er einen scharfen und weiten Blick hatte.
– Nun, von Angesicht bist du nicht schrecklich, verehrter Greis. Um so schlimmer für die Menschen, wenn sie ein so ehrbares und angenehmes Äußere für schrecklich halten. Jetzt wollen wir uns ein wenig, unterhalten.
Augustus setzte sich nieder, fing ein Gespräch an und forschte seinen Gast mit Blicken und Worten aus:
– Warum hast du mich nicht gegrüßt, als ich eintrat?
Lazarus antwortete gleichgültig:
– Ich wußte nicht, daß dies nötig ist.
– Bist du Christ?
– Nein.
Augustus nickte beifällig mit dem Kopfe.
– Das ist gut. Ich liebe die Christen nicht. Sie schütteln den Baum des Lebens, ohne ihm gewährt zu haben, sich mit Früchten zu bedecken, und zerstreuen seine wohlriechenden Blüten im Winde. Aber wer bist du denn?
Mit einiger Anstrengung antwortete Lazarus:
– Ich war tot.
– Ich habe davon gehört. Aber wer bist du jetzt?
Lazarus zögerte mit der Antwort, um schließlich gleichgültig und finster zu wiederholen:
– Ich war tot.
– Höre mich an, Unbekannter, – sagte der Kaiser klar und streng und fügte hinzu, was er schon früher gedacht hatte: – Mein Reich ist ein Reich von Lebendigen und nicht von Toten. Du bist überflüssig hier. Ich weiß nicht, wer du bist, ich weiß nicht, was du dort gesehen hast; wenn du aber lügst, hasse ich deine Lüge, wenn du die Wahrheit sprichst, hasse ich deine Wahrheit. In meiner Brust fühle ich das Beben des Lebens; in meinen Armen fühle ich die Kraft, und meine stolzen Gedanken durchfliegen wie Adler den Raum. Und dort, hinter meinem Rücken, unter dem Schutze meiner Macht, unter dem Schatten der von mir geschaffenen Gesetze leben, arbeiten und freuen sich die Menschen. Hörst du diese wundervolle Harmonie des Lebens? Hörst du diesen Kriegsruf, den die Menschen der Zukunft ins Gesicht schleudern, mit dem sie sie zum Kampfe fordern?
Augustus streckte, wie im Gebet, die Arme aus und rief feierlich:
– Sei gesegnet, du großes, göttliches Leben!
Aber Lazarus schwieg, und der Kaiser fuhr mit gesteigerter Strenge fort:
– Du bist hier überflüssig. Du kläglicher Überrest, vom Tode noch nicht Verzehrter, du flößest den Menschen Kummer und Lebensekel ein, du bist wie eine Raupe auf den Feldern, du nagst die dicke Ähre der Freude ab und scheidest den Schleim der Verzweiflung und Trübsal aus. Deine Wahrheit gleicht dem rostigen Schwert in den Händen eines nächtlichen Mörders, und wie über einen Mörder verhänge ich über dich das Todesurteil. Aber vorher will ich in deine Augen blicken. Vielleicht fürchten sie nur die Feiglinge, und im Tapferen erwecken sie Durst nach Kampf und Sieg. Dann bist du nicht des Todes, sondern einer Belohnung würdig ... Sieh mich an, Lazarus!
Im ersten Augenblick wollte es dem göttlichen Augustus scheinen, als blicke ihn ein Freund an – so weich, so anziehend, so süß bezaubernd war Lazarus Blick. Nicht Entsetzen, sondern stille Ruhe versprach er; eine zarte Geliebte, eine mitleidige Schwester, eine Mutter schien das Unendliche. Aber immer stärker wurden seine zärtlichen Umarmungen, schon erwürgte sein nach Küssen gieriger Mund den Atem, schon drangen seine stählernen Knochen, zu eisernem Kreis sich zusammenschließend, durch das Gewebe des Körpers – und stumpfe, kalte Krallen berührten das Herz und senkten sich matt hinein.
– Es schmerzt mich, – sagte der göttliche Augustus erblassend. – Aber schau mich an, Lazarus, schau mich an!
Und es war, als täte sich ein von Ewigkeit geschlossenes Tor langsam auf, und durch den aufgehenden Spalt ergoß sich kalt und ruhig der grausame Schrecken des Unendlichen. Gleich zwei Schatten zogen die unermeßliche Leere, die unermeßliche Finsternis herein, löschten die Sonne aus, raubten den Füßen die Erde und dem Haupte das Dach. Und das erstarrende Herz empfand keinen Schmerz mehr.
– Schau mich an, schau mich an, Lazarus! – befahl Augustus im Taumel.
Die Zeit stand füll, und schrecklich näherte sich der Anfang aller Dinge ihrem Ende. Der eben erst errichtete Thron des Augustus fiel schon zusammen, und Leere war schon an der Stelle des Thrones und des Augustus. Geräuschlos zerfiel Rom, eine neue Stadt entstand an seiner Stelle und wurde von der Leere verschlungen. Wie gespensterhafte Riesen zerfielen und verschwanden rasch die Städte in der Leere, ebenso die Staaten und Länder und gleichgültig verschlang sie, ohne satt zu werden, der schwarze Bauch des Unendlichen.
– Halt ein! – befahl der Kaiser. Schon erklang Gleichgültigkeit aus seiner Stimme, kraftlos hingen seine Arme herab und in vergeblichem Kampfe mit der hereinbrechenden Finsternis flammten und erloschen seine Adleraugen.
– Du hast mich getötet, Lazarus! – sagte er trübe und matt.
Und diese Worte der Hoffnungslosigkeit retteten ihn. Er gedachte seines Volkes, zu dessen Beschirmung er berufen war, und scharfer, heilungbringender Schmerz durchdrang sein erstarrtes Herz.
Sie sind dem Untergang geweiht, – dachte er voll Kummer. – Helle Schatten im Dunkel des Unendlichen, – dachte er voll Entsetzen. – Zarte Gefäße mit lebendigem, stürmendem Blut, mit einem Herzen, das Trübsal und große Freude kennt, – dachte er voll Zärtlichkeit.
So nachdenkend und fühlend neigte er die Wage bald auf die Seite des Lebens, bald auf die des Todes und kehrte langsam zum Leben zurück, um in seinen Leiden und Freuden eine Verteidigung gegen die Finsternis, die Leere und die Schrecken des Unendlichen zu finden.
– Nein, du hast mich nicht getötet, Lazarus, – sagte er fest – aber ich werde dich töten! Geh'!
An jenem Abend genoß der göttliche Augustus mit besonderer Freude Speise und Trank. Aber die erhobene Hand erstarrte in der Luft, und matter Glanz war an die Stelle des gelben Scheines seiner Adleraugen getreten – das Entsetzen zog in eisiger Welle zu seinen Füßen vorbei. Besiegt, aber nicht getötet, kalt seine Stunde erwartend, stand es, ein schwarzer Schatten, das ganze Leben lang an seinem Lager, beherrschte die Nächte und trat gelassen die hellen Tage den Leiden und Freuden des Lebens ab.
Am andern Tage brannte man Lazarus auf Befehl des Kaisers die Augen mit glühendem Eisen aus und sandte ihn zurück in die Heimat. Ihn zu töten, konnte sich der göttliche Augustus nicht entschließen.
* * *
Lazarus zog sich in die Wüste zurück, und sie nahm ihn mit pfeifendem Windeswehen und glühender Sonnenhitze auf. Wieder saß er auf dem Steine, den zottigen, wilden Bart nach oben gerichtet, und zwei schwarze Höhlen blickten an Stelle der ausgebrannten Augen stumpf und schrecklich in den Himmel. In der Ferne rauschte und bewegte sich ruhelos die heilige Stadt, in der Nähe war es menschenleer und stumm: niemand näherte sich dem Orte, wo der wunderbar Auferstandene sein Leben beschloß, und längst schon hatten die Nachbarn ihre Häuser verlassen. Sein verfluchtes Wissen, das vom glühenden Eisen in die Tiefe seines Schädels gebannt war, versteckte sich dort wie in einem Hinterhalt, und wie aus dem Hinterhalt saugte es sich mit tausend unsichtbaren Augen in den Menschen ein. Niemand waget mehr, Lazarus anzublicken.
Und abends, wenn sich die Sonne errötend und sich weitend zum Untergang neigte, ging ihr langsam der blinde Lazarus nach. Er stolperte über die Steine und fiel; dick und schwach wie er war, erhob er sich schwer wieder und ging weiter. Auf dem roten Schleier der Abendröte gewährten sein schwarzer Körper und die ausgestreckten Arme das ungeheure Bild des Kreuzes.
Da geschah es, daß er eines Tages hinausging und nicht wiederkehrte. So endete wohl das zweite Leben Lazarus', der drei Tage lang in der rätselvollen Gewalt des Todes gewesen und wunderbar auferstanden war.