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Oft schon war Jesus Christus vor Judas Ischariot gewarnt worden; man sagte von ihm, er sei ein Mensch von schlechtem Rufe, vor dem man sich hüten müsse. Einige unter den Jüngern, die in Judäa gewesen waren, kannten ihn gut, andere hatten häufig von ihm reden hören, und es gab niemand, der etwas Gutes von ihm zu sagen wußte. Und wenn die Guten ihn tadelten und erklärten, Judas sei habsüchtig, tückisch, zur Lüge und Verstellung geneigt, so schmähten ihn auch die Bösen, wenn sie nach ihm gefragt wurden, mit harten und strengen Worten. »Er sät beständig Zwietracht unter uns«, sagten sie und spieen verächtlich aus; »er sinnt immer auf Böses; er schleicht sich still ins Haus wie ein Skorpion und verläßt es laut und lärmend. Auch die Diebe haben ihre Freunde und die Räuber ihre Kameraden; selbst die Lügner haben Frauen, denen sie die Wahrheit sagen, Judas aber spottet in gleicher Weise über die Diebe wie über die ehrlichen Leute, obwohl er selbst ein gewandter Dieb ist; und er ist häßlicher denn alle Bewohner Judäas. Nein, er gehört nicht zu uns – dieser rothaarige Judas Ischariot« sprachen die Bösen und erregten damit das Staunen der Guten, für die es keinen großen Unterschied zwischen ihm und den übrigen schlechten Menschen in Judäa gab.
Ferner erzählte man sich, Judas habe sein Weib schon lange verlassen, und die Arme lebe nun in Hunger und Elend auf den drei steinigen Schollen, welche Judas' ganzen Besitz bilden, indem sie sich vergeblich abmühe, ihnen die notdürftigsten Lebensmittel abzuringen. Unterdessen treibe er sich ziel- und zwecklos unter allerlei Volks umher, ja man sagte sogar, er sei bis an ein großes Meer und von dort bis an ein anderes Meer gewandert, das noch weiter entfernt sei; und überall lüge er, schneide er Fratzen, immer suche sein spähendes Diebsauge nach etwas, und dann verschwinde er plötzlich wieder, nichts wie Streit und Ärgernis hinter sich zurücklassend – neugierig, arglistig und boshaft, wie ein einäugiger Teufel. Er habe keine Kinder und auch das spräche dafür, daß Judas ein böser Mensch sei, und daß Gott nicht wolle, daß er Nachkommen zeuge.
Keiner unter den Jüngern hatte bemerkt, wann dieser rothaarige, häßliche Jude zum erstenmal neben Christus aufgetaucht war; aber unablässig folgte er ihnen auf ihren Wegen, mischte sich in ihre Unterhaltungen, erwies ihnen allerhand kleine Dienste, dienerte, lächelte und suchte sich überall einzuschmeicheln. Bald täuschte er das müde Auge und erschien wie eine alte vertraute Gestalt mitten unter den anderen, bald erfüllte er aller Augen und Ohren und reizte und beleidigte sie, wie etwas unerhört Häßliches, Verlogenes und Abscheuliches. Dann jagte man ihn mit harten Worten von sich, und hierauf verschwand er irgendwo am Wege – um bald unbemerkt wieder zu erscheinen: schmeichlerisch, gefällig und listig wie ein einäugiger Teufel. Und einige von den Jüngern zweifelten nicht, daß in seinem Wunsch, sich Christus zu nähern, etwas wie eine geheime Absicht, ein böser und tückischer Plan verborgen sei.
Aber Christus hörte nicht auf ihren Rat; ihre prophetische Stimme traf sein Ohr nicht. Mit jenem reinen Widerspruchsgeist, der ihn unaufhaltsam zu den Verworfenen und Liebearmen trieb, nahm er Judas entschlossen bei sich auf und reihte ihn in den Kreis der von ihm Auserwählten ein. Die Jünger wurden unruhig und murrten ein wenig. Er aber saß still da, blickte in die untergehende Sonne und hörte nachdenklich zu – vielleicht hörte er ihnen zu, vielleicht aber lauschte er auch auf etwas anderes.
* * *
Schon zehn Tage lang herrschte eine Windstille im Lande, und die Luft blieb immer gleich unbeweglich und durchsichtig, zart und empfindlich. Und es schien, als ob sie in ihrer klaren Tiefe alles, was von Menschen, Tieren und Vögeln in diesen Tagen gesprochen und gesungen war, bewahrte: Tränen und Klagen, ein fröhliches Lied, Gebete und Flüche; und diese gläsernen, erstarrten Stimmen machten sie so schwer und unruhig und tief gesättigt von einem unsichtbaren Leben. Und wiederum ging die Sonne unter. Schwer, wie eine flammende Kugel sank sie hinab und entzündete den Himmel; und alles auf der Erde, was sich zu ihr hinwandte: das braune Gesicht Jesu, die Mauern der Häuser und die Blätter der Bäume – alles spiegelte dieses ferne und in finsteres Sinnen versunkene Licht wieder. Die weiße Mauer war jetzt nicht mehr weiß, und auch die rote Stadt aus dem roten Berge hatte ihre blendende Leuchtkraft verloren.
Da kam Judas.
Mit tiefen Verbeugungen kam er, den Rücken gekrümmt, seinen häßlichen, mit Beulen bedeckten Kopf behutsam und ängstlich [versteckend], – ganz wie die, welche ihn kannten, sich ihn vorzustellen pflegten. Er war hager, schön gewachsen, und fast ebenso groß wie Jesus, der eine etwas gebeugte Haltung hatte, weil er im Gehen zu denken pflegte und daher etwas kleiner erschien; er war auch wohl recht stark und kräftig, trotzdem er sich aus einem unbekannten Grunde ein schwächliches und kränkliches Aussehen zu geben suchte, und seine Stimme war ungleich: bald männlich stark und mächtig, bald schreiend wie bei einem alten Weibe, das mit ihrem Manne zankt, unangenehm dünn und peinlich anzuhören; oft hätte man sich Judas' Worte aus den Ohren reißen mögen, wie einen rauhen und faulen Dorn. Die kurzen, roten Haare konnten die seltsame und ungewöhnliche Form seines Schädels nicht verdecken; wie durch einen zwiefachen Schwertstreich von hinten zerspalten und von neuem zusammengeleimt, war er deutlich in vier Teile geteilt, er hatte etwas Mißtrauen Erweckendes und sogar Beunruhigendes: hinter solch einem Schädel konnte nicht Stille und Eintracht herrschen, hinter einem solchen Schädel dringt immer etwas hervor wie der Lärm von blutigen und vernichtenden Schlachten. Auch das Antlitz Judas' fiel wie in zwei Stücken auseinander: die eine Seite mit dem schwarzen, scharf lugenden Auge war lebhaft, beweglich und stets bereit, in zahllose schräge Falten zu zerfallen. Die andere Seite zeigte dagegen keine Falten, sie war leblos glatt, flach und wie erstarrt; und obwohl sie ebenso groß war wie die erste, schien sie doch von gewaltiger Größe zu sein, wegen des weit geöffneten blinden Auges. Von einer weißlichen Wolke umflort, schloß dieses Auge sich weder am Tage noch in der Nacht, und es blieb gleich unerschütterlich gegen Licht wie gegen Finsternis; und doch wollte man nicht glauben, daß es ganz blind sei, vielleicht, weil es einen so lebhaften und lustigen Kameraden an seiner Seite hatte. Wenn Judas in einem Anfall von Furchtsamkeit oder Aufregung sein lebendes Auge schloß und den Kopf hin und her wiegte, dann bewegte sich auch das andere Auge im Takt mit der Bewegung des Kopfes und blickte stumm vor sich hin. Selbst Menschen ohne jeden Scharfblick begriffen sehr wohl, wenn sie Ischariot ansahen, daß von einem solchen Manne nichts Gutes kommen könne, Christus aber zog ihn zu sich heran und wies ihm an seiner Seite, an seiner eigenen Seite einen Platz an.
Johannes, der geliebte Jünger, rückte mit Ekel von ihm ab; und auch die anderen, die ihren Meister innig liebten, senkten mißbilligend ihren Blick. Judas aber setzte sich hin und fing an, indem er den Kopf hin und her wandte, mit feiner Stimme über seine Leiden zu klagen; er jammerte, daß er nachts Schmerzen auf der Brust habe, daß ihm der Atem ausgehe, wenn er auf die Berge hinaufsteige, daß ihn ein Schwindel erfasse, wenn er am Rande eines Abgrundes stehe und daß er dann den dummen Wunsch nicht los werden könne, sich hinabzustürzen. Und noch vieles andere ersann der Gottlose, wie wenn er nicht verstand, daß die Krankheiten den Menschen nicht zufällig heimsuchen, sondern nur als eine Folge des Widerspruchs zwischen seinen Handlungen und den Geboten des Ewigen hervorbrechen. Er strich sich mit seiner breiten Handfläche über die Brust und tat selbst so, als ob er huste – dieser Judas aus Ischariot – während alle schwiegen und finster vor sich hinblickten.
Johannes wandte sich zu seinem Freunde Simon Petrus und fragte ihn, ohne den Meister anzusehen:
– Bist du nicht überdrüssig all dieser Lügen? Ich kann sie nicht länger ertragen und will hinausgehen.
Petrus sah Jesus an, begegnete seinem Blick und erhob sich schnell:
– Warte! – sagte er zum Freunde.
Noch einmal blickte er auf Jesus, dann wandte er sich rasch, wie ein Stein, der sich vom Felsen losgerissen hat, zu Judas Ischariot und sagte mit einer herrlichen, heiteren Freundlichkeit laut zu ihm:
– Nun bist du auch unter uns, Judas!
Er klopfte ihm zärtlich mit der Hand auf den krummen Rücken und fuhr mit seiner lauten Stimme, die jeden Widerspruch verdrängte, wie das Wasser die Luft, entschlossen fort, ohne den Meister anzusehen, obwohl er fühlte, daß dessen Blick auf ihm ruhte:
– Das macht nichts, daß du ein so häßliches Gesicht hast; in unseren Netzen fangen sich noch ganz, andere Ungeheuer, und sie gerade sind es, die zu Tisch am besten schmecken. Wahrlich, uns, den Fischern des Herrn, ziemt es nicht, den ganzen Fang ins Meer zu werfen, weil die Fische stachelicht und einäugig sind. Einst sah ich im Tyrus eine Kracke, welche die dortigen Fischer gefangen hatten, und ich erschrak so, daß ich fliehen wollte. Sie aber lachten mich, den Fischer aus Tiberias, aus, und gaben mir davon zu essen, und ich bat sie, mir noch mehr zu geben, weil es mir gar wohl mundete. Denkst du noch daran, Meister, wir ich es dir erzählte und wie du auch lachen mußtest. Und du gleichst doch nun mal einer Kracke, mein Judas, wenn auch nur auf einer Seite.
Und er fing laut an zu lachen, höchst befriedigt über seinen Scherz. Wenn Petrus etwas sagte, dann klangen seine Worte so fest, als wolle er sie annageln. Und wenn er sich bewegte oder etwas tat, dann machte er einen Lärm, der auf weite Entfernungen hörbar war und bei den taubesten Gegenständen einen Widerhall fand: der steinerne Fußboden dröhnte unter seinen Füßen, die Türen zitterten und krachten, und sogar die Luft bebte ängstlich und rauschte. In den Bergesklüften weckte seine Stimme ein zorniges Echo, und früh am Morgen auf dem See, wenn er fischen ging, rollte sie rund über das schläfrig glänzende Gewässer und zwang den ersten furchtsamen Sonnenstrahlen ein heiteres Lächeln ab. Und wahrscheinlich hatten sie Petrus deswegen lieb; auf allen anderen Gesichtern lagen noch die nächtlichen Schatten, während sein gewaltiger Kopf, die breite nackte Brust und die leicht ausgestreckten Arme schon im Feuer der aufgehenden Sonne erglühten.
Petrus' Worte, denen der Meister sichtlich zustimmte, zerstreuten die drückende Stimmung, die auf allen Anwesenden lastete. Aber einige von den Jüngern, die auch am Meere gewesen waren und die Kracke gesehen hatten, beunruhigte deren schreckliches Bild, das Petrus so leichtsinnig mit dem neuen Jünger in Verbindung gebracht hatte. Sie erinnerten sich an die gewaltigen Augen, an die Dutzende von gierigen Fangarmen, die erheuchelte Ruhe, und dachten daran, wie sie ihr Opfer umschlang, umarmte, zerdrückte und aussog, ohne ein einziges Mal mit den mächtigen Wimpern zu zucken. Was bedeutete das? Aber Jesus schwieg, Jesus lächelte und sah heimlich mit freundlicher Miene und leichtem Spotte Petrus an, der leidenschaftlich in seiner Erzählung von der Kracke fortfuhr – und so näherten sich denn auch die Jünger einer nach dem anderen Judas und sagten ein paar freundliche Worte zu ihm, um sich gleich darauf peinlich berührt wieder zu entfernen. Und nur Johannes, der Sohn Zebedäi, schwieg hartnäckig, und auch Thomas wagte nichts zu sagen, wenn er an das Vorgefallene dachte. Er betrachtete Christus und Judas, die nebeneinander saßen, aufmerksam, und dieses seltsame Nebeneinander der göttlichen Schönheit und der abschreckenden Häßlichkeit, des Mannes mit dem sanften Blick und der Kracke mit den großen, unbeweglichen, trüben und gierigen Augen, – lastete auf seinem Geist wie ein ungelöstes Rätsel. Gespannt faltete er seine gerade, glatte Stirn und kniff die Augen zusammen, weil er glaubte, so besser sehen zu können, aber er erreichte damit nur, daß es ihm bald wirklich so vorkam, wie wenn Judas plötzlich acht sich unruhig hin und her bewegende Fangarme wüchsen. Aber das war natürlich nur eine Täuschung. Thomas sah dies sehr wohl ein und fuhr fort, ihn hartnäckig anzublicken.
Judas aber faßte allmählich Mut; er streckte seine gebeugten Arme aus, die Muskeln, welche seine Kinnbacken in Spannung hielten, wurden schlaff, und vorsichtig ließ er jetzt seinen mit Höckern bedeckten Kopf sehen. Auch vorher schon hatten ihn alle beobachten können, aber es schien Judas, daß er tief und dem Auge unerreichbar versteckt liege hinter einer unsichtbaren, dichten und täuschenden Hülle. Jetzt aber kam es ihm vor, wie wenn er aus einer Höhle hervorgekrochen sei, er fühlte, wie das Licht seinen seltsamen Schädel und dann seine Augen beleuchtete – er hielt inne und stellte sein ganzes Gesicht offen zur Schau. Aber es geschah nichts. Petrus hatte sich entfernt, Jesus saß nachdenklich da, den Kopf auf die Hand gestützt und schaukelte sein sonnengebräuntes Bein langsam hin und her; die Jünger unterhielten sich miteinander, und nur Thomas betrachtete Ischariot ernst und aufmerksam, wie ein gewissenhafter Schneider, der seinem Kunden einen Rock anmißt. Judas lächelte ihm zu, aber Thomas antwortete nicht auf sein Lächeln, obgleich er es wohl bemerkt haben mußte, und fuhr fort, ihn genau zu betrachten. Doch jetzt fühlte sich die linke Seite von Judas' Gesicht durch etwas Unangenehmes beunruhigt. Er wendet sich rasch um: Johannes sitzt in der Ecke und sieht ihn mit seinen kalten, schönen Augen an, er selbst schön und rein und ohne einen Flecken auf dem schneeweißen Gewissen. Judas ging zu ihm hin, wie alle Menschen zu gehen pflegen, aber es schien ihm, daß er auf der Erde krieche wie ein bestrafter Hund; er näherte sich Johannes und sprach:
– Warum bist du so schweigsam, Johannes? Deine Worte sind wie goldene Äpfel in durchsichtigen, silbernen Schalen, schenke doch Judas eins, er ist so arm.
Johannes blickte lang in sein unbewegliches, weit geöffnetes Auge und schwieg. Und er sah, wie Judas fortkroch, wie er schwankte und stehen blieb und dann in der dunkelen Tiefe der offenen Tür verschwand.
Da es Vollmond war, gingen viele hinaus, um zu lustwandeln. Auch Jesus ging hinaus, und von dem niedrigen Dache, auf dem Judas sein Lager aufgeschlagen hatte, sah er, wie sie von dannen gingen. In dem Mondlichte schien sich jede Gestalt leichtfüßig und gemessen zu bewegen, sie schritt nicht dahin, sondern glitt ihrem schwarzen Schatten vorauf und plötzlich war der Mensch in etwas Dunklem und Schwarzem untergetaucht, und man hörte nur noch seine Stimme. Wenn aber die Menschen wieder im Mondlichte auftauchten, dann erschienen sie schweigsam, wie die weißen Mauern, die schwarzen Schatten und die ganze durchsichtig-finstere Nacht.
Fast alle schliefen schon, als Judas die sanfte Stimme des heimkehrenden Christus vernahm.
Alles wurde still im Hause und um Ihn her. Der Hahn krähte, laut wie am Tage erklang das Geschrei eines gekränkten Esels, der irgendwo erwacht war und. nur ungern, nachdem er seine Stimme noch mehrmals erhoben hatte, wieder verstummte. Judas aber schlief nicht und horchte, still am Fußboden kauernd. Der Mond erleuchtete eine Hälfte seines Antlitzes und spiegelte sich seltsam in dem großen offenen Auge, wie in einem zugefrorenen See.
Plötzlich fiel ihm etwas ein, er fing hastig an zu husten, indem er mit der Hand über seine dicht behaarte, gesunde Brust strich: vielleicht wachte noch jemand und horchte und spähte aus, worüber Judas wohl nachdachte.
Allmählich gewöhnten sich die Jünger an Judas und hörten auf, seine Häßlichkeit zu bemerken. Jesus vertraute ihm den Geldbeutel an, und zugleich damit fielen alle wirtschaftlichen Sorgen ihm zu; er kaufte alles Notwendige ein: Speise und Trank und Kleidung, und teilte Almosen aus, auf der Wanderung aber suchte er einen Platz zum Rasten oder das Nachtlager auf. Das alles besorgte er mit großer Geschicklichkeit, so daß er sich in kurzer Zeit die Zuneigung vieler Jünger erwarb, die wohl bemerkt hatten, wieviel Mühe er sich gab. Judas log fortwährend, aber auch daran gewöhnte man sich, da auf die Lügen keine bösen Taten folgten, und weil sie seinen Erzählungen ein besonderes Interesse verliehen und das Leben als ein komisches und mitunter auch schreckliches Märchen erscheinen ließen.
Nach Judas Erzählungen hätte man glauben können, daß er alle Menschen kenne und daß ein jeder, den er kannte, in seinem Leben irgendeine böse Tat oder selbst ein Verbrechen begangen habe. Gut nenne man vielmehr jene Menschen, welche es verstehen, ihre Taten und Gedanken zu verbergen; umarmt, streichelt und fragt man dagegen einen solchen Menschen recht gründlich aus, dann strömt aus ihm nichts wie Lüge und Trug und Niedertracht hervor, wie der Eiter aus einer aufgeschnittenen Wunde. Er gab gerne zu, daß er selbst auch manch einmal lüge, aber er schwor und versicherte, daß die anderen noch mehr lögen und daß – wenn es in der Welt einen Betrogenen gebe – er, Judas es sei. Es kam vor, daß manche Leute ihn mehrfach und auf die verschiedenste Weise betrogen. So berichtete ihm einmal der Schatzmeister eines reichen Edelmannes, daß er es sich schon zehn Jahre lang beständig vornehme, den ihm anvertrauten Schatz zu stehlen, und es doch nicht über sich gewinnen könne, weil er sich vor seinem Herrn und vor seinem Gewissen fürchte. Und Judas habe ihm geglaubt, er aber habe den Schatz plötzlich doch gestohlen und Judas betrogen.
Doch auch diesmal traute ihm Judas noch – er aber gab dem vornehmen Manne das gestohlene Gut plötzlich wieder zurück und betrog Judas noch einmal. Ihn betrogen alle, selbst die Tiere. Streichelte er einen Hund, dann biß ihn dieser in die Finger, schlug er ihn dagegen mit dem Stocke, dann leckte ihm der Hund die Füße und blickte ihm in die Augen wie eine Tochter. Er schlug den Hund tot, vergrub ihn tief in die Erde und wälzte sogar einen großen Stein auf die Grube, aber der Hund wurde wieder lebendig, lebendiger und fröhlicher denn vorher – wer weiß, wie das möglich war, vielleicht nur deshalb, weil er, Judas, ihn totgeschlagen hatte, und darum lag er auch nicht mehr in der Grube, sondern lief lustig mit den anderen Hunden herum.
Alles lachte fröhlich über Judas' Erzählung, und auch er lachte freundlich und kniff sein gesundes und spöttisches Auge zusammen. Er lächelte und gestand nun selbst ein, daß er ein wenig gelogen habe: er hatte den Hund gar nicht getötet. Aber er schwor, er werde den Hund schon finden und unbedingt töten, denn er wolle nicht betrogen sein. Und alles lachte noch lauter über Judas' Worte.
Zuweilen aber überschritt er mit seinen Erzählungen alle Grenzen des Wahrscheinlichen und Glaubwürdigen, dann schrieb er den Menschen solche Neigungen zu, die nicht einmal die Tiere haben und klagte sie solcher Verbrechen an, die es nie gab und nie geben wird. Und da er hierbei die Namen hochachtbarer Menschen nannte, wurden die einen sehr zornig ob dieser bösen Verleumdungen, andere aber fragten ihn scherzend:
– Wie aber, Judas? Waren dein Vater und deine Mutter nicht brave Menschen?
Judas kniff sein Auge zusammen, lächelte und machte eine Handbewegung, wie wenn er sagen wollte, er wisse es nicht.
– Wer war denn mein Vater? Etwa jener Mann, der mich mit der Rute züchtigte? Vielleicht war es gar der Teufel oder ein Ziegenbock oder ein Hahn? Kann denn Judas all jene kennen, die das Lager seiner Mutter teilten? Judas hat viele Väter, von welchem sprecht ihr?
Jetzt aber waren alle empört, da sie ihre Eltern hochachteten. Matthäus, der sehr belesen in der heiligen Schrift war, wandte sich strenge zu ihm und führte Salomos Worte an:
– »Wer seinem Vater und seiner Mutter flucht, des Leuchte wird verlöschen mitten in der Finsternis.«
Johannes, der Sohn des Zebedäus, aber warf stolz ein:
– Und wir, Judas Ischariot? Willst du auch uns Schlimmes nachsagen?
Der aber schien sehr erschrocken und machte eine abwehrende Handbewegung, krümmte sich und fing an zu jammern, wie ein Bettler, der einen Vorübergehenden vergeblich um ein Almosen anfleht.
– Oh! wie führt man den armen Judas in Versuchung! Man lacht über Judas und will ihn betrügen, den armen, vertrauensseligen Judas!
Während er mit der einen Hälfte seines Gesichtes närrische Fratzen schnitt, bewegte sich die andere ernst und streng, und das Auge, das sich niemals schloß, blickte weit geöffnet vor sich hin. Am meisten und am lautesten lachte Simon Petrus über die Scherze Ischariots. Aber eines Tages da geschah es, daß er plötzlich finster, schweigsam und traurig wurde. Er ergriff Judas am Ärmel und führte ihn hastig zur Seite.
– Und Jesus? Wie denkst du über Jesus? – flüsterte er ihm laut zu, indem er sich zu ihm hinbeugte. – Nur spotte nicht, ich bitte dich darum.
Judas sah ihn haßerfüllt an:
– Und wie denkst du über Ihn?
Petrus flüsterte froh und erschrocken:
– Ich glaube, er ist der Sohn des lebendigen Gottes.
– Warum fragst du mich dann? Was kann Judas dir sagen, dessen Vater ein Ziegenbock ist?
– Doch sage mir: liebst du Ihn? Es scheint, du liebst niemand, Judas?
Ischariot aber erwiderte kurz und schneidend, mit demselben seltsamen Haß in der Stimme:
– Ich liebe Ihn.
* * *
Nur einer hörte aufmerksam zu, wenn Judas redete, das war Thomas. Er verstand keine Scherze, keine Lüge und Verstellung, keine Wort- und Gedankenspiele; stets ging er den Sachen auf den Grund, suchte er nach dem Sicheren und Bestimmten. Und alle Erzählungen Ischariots über böse Menschen und Taten unterbrach er oft mit kurzen, sachlichen Bemerkungen:
– Das mußt du beweisen. Hast du das auch selbst gehört? Wer war sonst noch zugegen außer dir? Wie nennt man ihn?
Judas wurde ärgerlich und schrie und jammerte, er habe alles selbst gesehen und gehört, aber der eigensinnige Thomas fuhr fort in seinem aufdringlichen und ruhigen Verhör und ließ nicht eher ab, als bis Judas eingestand, er habe gelogen, oder bis er eine neue wahrscheinlichere Lüge erfunden hatte, die jenem lange zu denken gab. Und wenn er den Widerspruch in seiner Behauptung entdeckte, dann kam er und überführte kaltblütig den Lügner. Überhaupt erregte Judas in ihm eine lebhafte Neugierde, und das führte zu einer Art Freundschaft zwischen ihnen, voller Geschrei, Gelächter und Geschimpfe von der einen – und voll ruhiger, beharrlicher Fragen von der andern Seite. Zeitweise fühlte Judas etwas wie einen unerträglichen Widerwillen gegen seinen seltsamen Freund, dann durchbohrte er ihn mit einem durchdringenden Blick und sprach gereizt und fast bittend:
– Was willst du noch von mir? Ich habe dir alles gesagt, alles.
– Ich will, daß du mir beweisest, wie es möglich sei, daß dein Vater ein Ziegenbock ist? – fragte ihn Thomas kaltblütig und eigensinnig und wartete auf eine Antwort. Einst geschah es, daß Judas nach einer dieser Fragen plötzlich verstummte und Thomas mit seinem Auge verwundert vom Kopf bis zu den Füßen betastete: er sah eine lange, aufrechte Gestalt, ein graues Gesicht, gerade, durchsichtige, helle Augen, zwei starke Falten, die von der Nase ausgingen und sich in dem rauhen, schön geschorenen Bart verloren, und sagte im Ton tiefster Überzeugung:
– Wie du doch dumm bist, Thomas! Was siehst du im Traume? Einen Baum, eine Wand oder einen Esel?
Da wurde Thomas merkwürdig verlegen und erwiderte nichts. Als es aber Nacht ward und Judas sein lebhaftes und unruhiges Auge zum Schlafe verhängte, sagte Thomas plötzlich ganz laut von seinem Lager aus – sie schliefen jetzt zusammen auf dem Dache:
– Du hast Unrecht, Judas. Ich habe sehr schlimme Träume. Wie denkst du, hat der Mensch auch für seine Träume Rechenschaft abzulegen?
– Sieht etwa ein anderer seine Träume, und nicht er selbst?
Thomas seufzte leicht und versank in Sinnen. Judas aber lächelte verächtlich, schloß sein Diebsauge fest zu und gab sich ruhig seinen rebellischen Träumen, seinen wilden Phantasien und unsinnigen Gesichten hin, die seinen knolligen Schädel zu sprengen und in Stücke zu reißen drohten.
Wenn die Reisenden während der Wanderungen Jesu durch Judäa sich einem Dorfe näherten, dann erzählte Ischariot immer etwas Böses von den Bewohnern und verkündete irgendein Unglück. Fast immer aber geschah es, daß die Menschen, von denen er Schlimmes berichtete, Christus und seine Freunde freundlich aufnahmen, Ihn mit Liebe und Aufmerksamkeit umgaben und an Ihn glaubten; und Judas' Geldbeutel füllte sich so sehr, daß er ihn kaum forttragen konnte. Dann lachte man über seinen Irrtum, er aber zuckte demütig die Achseln und sprach:
– Freilich, freilich. Judas dachte, sie seien schlecht, sie aber sind gut; sie haben gleich an Ihn geglaubt und haben auch Geld gegeben. Judas, der arme, treuherzige Judas, ward also wieder betrogen!
Aber als sie sich eines Tages schon weit vom Dorfe entfernt hatten, das sie freundlich aufgenommen hatte, gerieten Thomas und Judas in einen heftigen Streit, und da sie ihn schlichten wollten, entschlossen sie sich umzukehren. Erst am folgenden Tage holten sie Jesus und die anderen Jünger wieder ein. Thomas sah verlegen und traurig aus, Judas aber blickte so stolz, wie wenn er erwartete, daß ihm gleich alle Glück wünschen und danken würden. Thomas trat an den Meister heran und sagte bestimmt:
– Herr, Judas hat recht. Das waren böse und törichte Menschen, und der Same Deiner Worte ist auf einen Fels gefallen.
Und er erzählte, was ihnen in dem Dorfe begegnet war. Gleich nachdem Jesus und seine Jünger weggegangen waren, fing ein altes Weib an zu schreien, man habe ihr einen jungen, weißen Bock gestohlen, und beschuldigte die fremden Gäste des Diebstahls. Anfangs suchte man, es ihr auszureden, als sie aber hartnäckig bei ihrer Meinung blieb und zu beweisen versuchte, daß niemand außer Jesus den Bock gestohlen haben könne, da glaubten ihr viele und wollten die Reisenden verfolgen. Und obwohl sich der Bock, der sich mit den Hörnern in einer Hecke gefangen hatte, bald fand, waren sie doch überzeugt, daß Jesus ein Betrüger und wohl gar ein Dieb sei.
– Wie? rief Petrus und blähte die Nasenflügel auf. – Herr, willst du, so kehre ich um zu diesen Toren, und ...
Jesus aber hatte die ganze Zeit über geschwiegen, nun blickte Er Petrus streng an, und der verstummte und versteckte sich hinter dem Rücken der anderen. Und niemand sprach mehr von dem Vorfall, wie wenn gar nichts geschehen wäre und wie wenn Judas unrecht hätte.
Vergebens ließ er sich von allen Seiten sehen und suchte seinem gespaltenen, raubtierähnlichen Gesicht mit der krummen Nase einen sanften Ausdruck zu geben, – man sah ihn nicht an, und wenn jemand nach ihm schaute, dann tat er es mit einem unfreundlichen Blick, und wie es schien, mit Verachtung.
Seit diesem Tage war das Verhältnis Jesu zu ihm seltsam verändert. Auch früher war es so gewesen, daß Judas nicht offen mit Jesus sprach, und daß dieser sich nicht unmittelbar an ihn wandte, dafür aber hatte Er ihn oft mit freundlichem Auge angeblickt, über einzelne von seinen Scherzen gelächelt, und wenn Er ihn lange nicht gesehen hatte, fragte Er oft nach ihm: Und wo ist Judas? Jetzt sah Er ihn an, und doch schien Er ihn nicht zu bemerken. Trotzdem aber suchte Er ihn noch eifriger als früher mit den Augen, jegliches Mal, wenn Er zu den Jüngern oder zu dem Volke zu sprechen begann – dann aber setzte Er sich mit dem Rücken zu Judas oder rief ihm Seine Worte wie über dessen Kopf zu, und tat wieder so, als ob Er ihn gar nicht bemerkte. Und was Er sagen mochte, ob es heute dies und morgen das gerade Entgegengesetzte, oder selbst etwas war, was auch Judas dachte, – immer schien es, daß Er sich gegen Judas wandte. Und für alle war Er eine zarte, schöne Blume, eine herrlich duftende Rose vom Libanon, nur Judas kehrte Er bloß die scharfen Dornen zu – wie wenn Judas kein Herz hätte, und kein Auge, und keine Nase, und wie wenn er die Schönheit der zarten und makellosen Blumenblätter nicht besser verstände, als alle anderen.
– Thomas! Liebst du die gelbe Rose vom Libanon, deren Antlitz und deren Augen braun sind, wie die einer Gemse? – fragte er einst seinen Freund, und dieser antwortete gleichgültig:
– Die Rose? Ja, ich liebe ihren Duft. Aber ich habe nie gehört, daß eine Rose ein Antlitz und Augen hat, wie eine Gemse.
– Wie? So weißt du auch nicht, daß der vielarmige Kaktus, der gestern dein neues Kleid zerriß, nur eine rote Blume und nur ein Auge hat?
Aber auch dies wußte Thomas nicht, trotzdem der Kaktus sich gestern wirklich an sein Kleid gehängt und es in traurige Fetzen gerissen hatte. Er wußte nichts, dieser Thomas, obwohl er sich nach allem erkundigte und mit durchsichtigen und klaren Augen in die Welt blickte, diesen Augen, durch welche man, wie durch phönizisches Glas, die Wand hinter ihm und den daran gebundenen Esel mit dem herabhängenden Kopf erblicken konnte.
Einige Zeit darauf ereignete sich noch ein Vorfall, wo Judas wieder Recht behielt. In einem jüdischen Dorfe, das er beständig schmähte, so daß er sogar riet, man solle daran vorübergehen, wurde Christus sehr feindselig empfangen; nachdem Er gepredigt und die Heuchler entlarvt hatte, geriet das Volk in Zorn und wollte Ihn und seine Jünger steinigen. Der Feinde waren viele, und es wäre ihnen sicherlich gelungen, ihre verderbliche Absicht auszuführen, wenn nicht Judas Ischariot zugegen gewesen wäre.
Von einer unsinnigen Angst um Jesus ergriffen, als ob er schon einen Tropfen purpurroten Blutes auf seinem weißen Hemd sähe, stürzte sich Judas wie ein Rasender blindlings auf die Menge, drohte, schrie, flehte, log und gab so Jesus und seinen Jüngern die Möglichkeit zu entfliehen. Mit einer wunderbaren Behendigkeit, wie wenn er zehn Füße hätte, komisch und furchtbar zugleich in seiner Wut und seinem Flehen, benahm er sich wie ein Wahnsinniger vor dem versammelten Volke und bezauberte alle mit seiner unheimlichen Gewalt. Er schrie es laut hinaus, der Nazarener sei keineswegs vom Teufel besessen, Er sei ein einfacher Betrüger und ein Dieb, der das Geld lieb habe, wie alle seine Jünger und er selbst, Judas; er schüttelte seinen Geldsack, schnitt Fratzen, fiel nieder und flehte um Gnade. Allmählich ging der Zorn der Menge in Heiterkeit und Ekel über, und die erhobenen Hände mit den Steinen sanken langsam herab.
– Diese Menschen sind es nicht wert, von der Hand eines Gerechten zu sterben, – sprachen die einen, während die anderen den davoneilenden Judas nachdenklich mit ihren Blicken verfolgten.
Und wiederum erwartete Judas, daß man ihm Glück wünschen, ihn loben und ihm dankbar sein werde, er ließ sein zerfetztes Kleid sehen und log, daß man ihn geschlagen habe; aber auch diesmal fühlte er sich unbegreiflicherweise betrogen. Jesus ging zürnend mit mächtigen Schritten weiter und schwieg, und selbst Johannes und Petrus wagten es nicht, sich Ihm zu nähern; und alle, die Judas in seinem zerfetzten Kleide und mit seinem glücklichen, erregten, aber immer noch etwas erschrockenen Gesicht erblickten, trieben ihn mit kurzen und zornigen Rufen von sich, wie wenn er sie alle, wie wenn er ihren Meister nicht gerettet hätte, den sie so innig liebten.
– Willst du Toren sehen? – sprach er zu Thomas, der nachdenklich hinter den andern her ging. – Blick hin, da gehen sie des Weges, wie eine Hammelherde, den Staub hinter sich aufwirbelnd. Und du, der kluge Thomas, gehst hinter ihnen her, und auch ich, der edle, schöne, kluge Judas laufe ihnen nach wie ein schmutziger Sklave, der nicht an der Seite seines Herren gehen darf.
– Warum nennst du dich schön? – fragte Thomas verwundert.
– Weil ich schön bin, – antwortete Judas mit Überzeugung, und er erzählte, indem er vieles hinzufügte und hinzulog, wie er die Feinde Jesu betrogen und ihrer dummen Steine gespottet habe.
– Aber du hast gelogen! – sagte Thomas.
– Nun ja, ich habe gelogen, – erklärte Ischariot ruhig. – Ich gab ihnen das, wonach sie verlangten, sie aber gaben mir wieder, was ich brauchte. Und was ist eine Lüge, mein kluger Thomas? Wäre nicht Jesu Tod eine viel größere Lüge?
– Du hast schlecht gehandelt. Jetzt fange ich an zu glauben, daß dein Vater – ein Dämon ist. Er hat dich solches gelehrt, Judas!
Ischariots Gesicht wurde ganz bleich und bewegte sich rasch auf Thomas zu, wie wenn eine Wolke sich mit einem Male herabsenkte und ihm den Weg und Jesus verhüllte. Mit einer sanften Bewegung drückte Judas den Freund an sich, fest und stark, daß er sich nicht zu wehren vermochte, und flüsterte ihm ins Ohr:
– Also hat mich der Teufel gelehrt? Ja, ja, Thomas. Und ich rettete Jesus, nicht? Also liebt der Teufel Jesus? Also bedarf der Teufel Jesu und der Wahrheit? Richtig, richtig, Thomas. Aber mein Vater ist doch kein Teufel, sondern ein Bock. Vielleicht bedarf auch der Bock Jesu? He? Ihr aber braucht Ihn nicht, wie? Und braucht auch die Wahrheit nicht?
Zornig und ein wenig erschrocken, riß sich Thomas mit Gewalt aus Judas' zähen Umarmungen und eilte schnell voraus, bald aber mäßigte er seine Schritte und suchte sich über das Vorgefallene klar zu werden.
Judas aber folgte ihm langsam und blieb immer mehr zurück. In der Ferne flossen die Wanderer zu einer bunten Masse zusammen, und man vermochte nicht mehr zu unterscheiden, welche von den kleinen Gestalten Jesus war. Jetzt verwandelte sich auch der kleine Thomas in einen grauen Punkt – und plötzlich verschwanden sie alle, dort, wo der Weg eine Wendung machte.
Nun sah Judas sich um. Er verließ den Weg und sprang mit gewaltigen Sätzen in die Tiefe eines felsigen Abgrundes hinab. Von dem schnellen und hastigen Lauf blies sich sein Gewand auf, und die Hände breiteten sich hoch aus wie zum Fluge. Am Abhange glitt er aus, rollte blitzschnell, zum grauen Klumpen zusammengeballt, hinab, sich an den spitzen Steinen wundreißend. Wütend sprang er auf und drohte dem Berge zornig mit der Faust:
– Auch du, Verfluchter! ...
Und indem er plötzlich von dem raschen Zug der Bewegungen zu einer gemessenen Langsamkeit überging, suchte er sich einen Platz neben einem großen Stein aus und ließ sich bedächtig auf ihn nieder. Er wandte sich um, wie wenn er es sich recht bequem machen wollte, lehnte die beiden zusammengelegten Handflächen gegen den Stein und stützte sein Haupt auf sie. So saß er wohl eine Stunde oder zwei, ohne sich zu rühren und durch seine Starrheit die Vögel täuschend, unbeweglich und grau, wie der graue Stein selbst, auf dem er ruhte. Und vor ihm und hinter ihm – von allen Seiten – erhoben sich die Wände des Felsengrundes, den blauen Himmelssaum in scharfer Linie begrenzend, und überall ragten gewaltige graue Steinmassen in die Höhe, sich tief in die Erde festsaugend, – als wenn hier einstmals ein Steinregen niedergegangen wäre, dessen schwere Tropfen wie in unendlichem Sinnen erstarrt waren. Dieser wüste, wilde Grund glich einem umgestülpten, abgeschlagenen Schädel, und jeder Stein in ihm war wie ein erstarrter Gedanke; soviel ihrer dalagen, ein jeder sann, schien in schwere, grenzenlose, eigensinnige Gedanken versunken.
Da hinkte freundlich ein betrogener Skorpion auf seinen schwankenden Beinchen an Judas vorüber. Judas sah nach ihm hin, ohne den Kopf vom Stein zu erheben, und wiederum heftete er seine Augen fest auf einen Gegenstand, seine beiden unbeweglichen Augen, die mit einer seltsamen trüben Wolke bedeckt waren, und beide blind und doch schrecklich hellsehend zu sein schienen. Jetzt erhob sich aus Stein und Erde, aus Spalten und Rissen das stille, nächtliche Dunkel, umhüllte den unbeweglichen Judas und kroch jählings nach oben – empor zu dem hellen verbleichenden Himmel. Die Nacht brach herein mit ihren Gedanken und Träumen.
In dieser Nacht kehrte Judas nicht heim, und die Jünger, welche die Sorge um Speise und Trank von ihren Gedanken ablenkte, murrten über seine Nachlässigkeit.
Einst klommen Jesus und seine Jünger um die Mittagszeit einen steinigen, schattenlosen Bergpfad empor, und da sie schon mehr als fünf Stunden unterwegs waren, fing Jesus an, über Müdigkeit zu klagen. Die Jünger machten Halt, Petrus und sein Freund Johannes breiteten ihre Mäntel und die der anderen Jünger auf der Erde aus, befestigten sie darüber zwischen zwei hohen Felsspitzen und bauten so eine Art Zelt für den Meister. Er legte sich im Zelte nieder, um von der Sonnenglut auszuruhen, und sie unterhielten Ihn mit heiteren Reden und ergötzlichen Scherzen. Als sie aber merkten, daß selbst ihre Reden Ihn ermüdeten, und da sie selbst nur wenig unter der Müdigkeit und der Hitze litten, entfernten sie sich ein wenig vom Zelt und beschäftigten sich ein jeder in seiner Weise. Der eine suchte am Bergeshange zwischen den Steinen nach eßbaren Wurzeln, und brachte die, welche er fand, Jesus; ein anderer spähte, immer höher und höher empordringend, wie im Traume nach den Grenzen der blauen Ferne und klomm, da er sie nicht fand, immer höher hinauf auf neue steile Felsspitzen. Johannes fand zwischen den Steinen eine hübsche, bläuliche Eidechse und brachte sie, heimlich lachend, in seiner zarten Hand zu Jesus, und das Eidechslein sah Ihm mit seinen runden, vorgewölbten, rätselhaften Äuglein in die Augen, glitt dann rasch mit seinem kalten Leib über Seine warme Hand und trug sein zartes bebendes Schwänzlein schnell mit sich fort.
Petrus aber, der die stillen Freuden nicht liebte, und Philippus machten sich zu schaffen, indem sie mächtige Steine von dem Felsen losrissen und sie weit hinunterschleuderten, um ihre Kräfte zu messen. Von ihrem hellen Gelächter angezogen, versammelten sich allmählich auch die anderen um sie, um an dem Spiele teilzunehmen. Mit gewaltiger Anstrengung lösten sie die alten, bewachsenen Felsen von der Erde los, hoben sie mit beiden Händen in die Höhe und warfen sie den Abhang hinunter. Der schwere Stein fiel kurz und dumpf zur Erde, schien sich einen Augenblick zu besinnen, tat dann einen unsicheren Sprung, aber bei jeder neuen Berührung mit der Erde schöpfte er neue Kraft und Geschwindigkeit aus ihr und wurde leicht und wild – zu einer alles zerstörenden Macht. Er sprang nicht mehr, sondern flog mit Zähnefletschen dahin, und die Luft gab pfeifend seinem plumpen, runden Leib nach. Dort war der Rand des Abhanges: mit einer leichten, anmutigen letzten Bewegung schwang sich der Stein empor – und ruhig in tiefem, schwerem Sinnen flog er in großem Bogen hinab in den Schlund des finstern Abgrunds.
– Holla! noch einen! – schrie jetzt Petrus. Seine weißen Zähne blitzten zwischen dem schwarzen Schnurrbart und Backenbart hervor, die mächtige Brust und die Arme waren entblößt, und die alten grimmigen Steine flogen einer nach dem andern geduldig in die unermeßliche Tiefe, in stumpfem Staunen über die gewaltige Kraft, die sie emporhob. Selbst der schwächliche Johannes warf ein paar kleine Steinchen hinab – und mit sanftem Lächeln sah Jesus ihrem Spiele zu.
– Und du, Judas? Warum beteiligst du dich nicht auch an dem Spiele, es scheint dort gar lustig herzugehen? – fragte Thomas, als er seinen Freund unbeweglich hinter einem großen, grauen Felsblock entdeckte.
– Die Brust schmerzt mich, und man hat mich ja auch nicht aufgefordert.
– Mußt du denn aufgefordert werden? Nun, so lade ich dich ein, komm! Sieh einmal, was Petrus für mächtige Steine hinabschleudert.
Judas sah ihn ganz eigentümlich von der Seite an, und jetzt zum ersten Male hatte Thomas das dunkle Gefühl, daß Judas Ischariot zwei Gesichter habe. Aber es kam ihm kaum zu Bewußtsein, da Judas in seiner gewohnten, halb schmeichlerischen und halb spöttischen Weise zu ihm sagte:
– Kann es denn jemand geben, der stärker ist als Petrus? Wenn er schreit, dann glauben alle Esel Jerusalems, ihr Messias sei gekommen und fangen gleichfalls an zu schreien. Hast du sie schon einmal schreien hören, Thomas?
Und Judas trat freundlich lächelnd seine offene, mit krausen, roten Haaren bewachsene Brust schamhaft mit seinem Gewande bedeckend, in den Kreis der Spielenden. Und da alle sehr fröhlich waren, wurde er freudig und mit lauten Scherzen begrüßt, selbst Johannes lächelte milde, als Judas mit erheucheltem Seufzen und Stöhnen einen gewaltigen Stein anpackte. Aber siehe: er hob ihn mit Leichtigkeit in die Höhe und schleuderte ihn in die Tiefe – und sein blindes, weit geöffnetes Auge drehte sich in seiner Höhle, heftete sich unbeweglich auf Petrus, während sich das andere listige und fröhliche Auge mit einem stillen Lächeln erfüllte.
– Nein, wirf noch einen! – sagte Petrus gekränkt.
Und einer nach dem andern hoben sie die Riesensteine und schleuderten sie tief hinab, und staunend betrachteten sie die Jünger.
Petrus warf einen großen Stein – aber Judas seiner war noch größer. Petrus rollte finster und ganz in sich selbst versunken grimmig ein Felsstück vor sich hin; schwankend hob er es empor und ließ es in die Tiefe hinabfallen. Judas aber fuhr fort zu lächeln; er suchte sich mit dem Auge ein noch größeres Felsstück aus, saugte sich zärtlich mit seinen langen Fingern daran fest, umschlang es, schwankte mit dem Block hin und her und sandte ihn erbleichend in den Abgrund hinunter. Wenn Petrus seinen Stein geschleudert hatte, sprang er zurück und verfolgte den Fall des Steines mit den Augen, Judas dagegen beugte sich vor, krümmte sich und streckte seine langen, beweglichen Arme weit aus, wie wenn er selbst dem Steine nachfliegen wollte. Endlich packten beide, erst Petrus und dann Judas, einen alten, grauen Stein – aber keiner von beiden konnte ihn aufheben. Petrus trat ganz rot vor Anstrengung zu Jesus und sagte laut:
– Herr, ich will nicht, daß Judas stärker sei als ich! Hilf mir diesen Stein aufheben, damit ich ihn hinabschleudere.
Aber da sagte Jesus ganz leise etwas zu ihm. Unzufrieden zuckte Petrus die mächtigen Schultern, doch wagte er nicht, Ihm zu widersprechen, und kehrte zurück mit den Worten:
– Er hat gesagt: Und wer wird Ischariot helfen?
Doch da erblickte er Judas, der atemlos und mit fest zusammengebissenen Zähnen fortfuhr, den eigensinnigen Stein zu umarmen, und er lachte fröhlich auf:
– Das ist einmal ein Kranker! Seht doch nur, was unser armer, kranker Judas macht!
Ischariot, der so unerwartet als Lügner entlarvt wurde, fing auch an zu lachen, und alle anderen stimmten fröhlich mit ein – selbst Thomas verzog seinen geraden, weit über die Lippen herabhängenden, grauen Schnurrbart leicht zu einem kaum merklichen Lächeln. Also machten sich alle freundschaftlich auf den Weg, und Petrus, der sich wieder völlig mit dem Sieger ausgesöhnt hatte, stieß ihn von Zeit zu Zeit in die Seite und lachte laut:
– Bist du mir ein Kranker!
Alle lobten Judas, alle mußten zugeben, daß er Sieger geblieben sei, alle plauderten freundlich mit ihm – nur Jesus allein wollte auch diesmal nicht in das Lob mit einstimmen. Schweigend schritt Er voran und nagte an einem abgerissenen Kräutlein; allmählich hörten auch die Jünger, einer nach dem anderen, auf, zu lachen und gingen zu Jesus. Und bald war es wieder so, daß sie in dichtem Haufen vorangingen, und nur Judas, der Sieger – der starke Judas – Staub schluckend, hinter ihnen her lief.
Jetzt machten sie Halt, Jesus legte Seine Hand auf Petrus' Schulter und zeigte mit der anderen Hand in die Ferne, wo Jerusalem, in leichten Nebel gehüllt, auftauchte. Und Petrus' breiter, mächtiger Rücken nahm diese zarte, sonnengebräunte Hand vorsichtig auf.
Sie blieben in Bethanien im Hause des Lazarus, um hier zu übernachten. Und als sich alle zum Gespräche versammelt hatten, glaubte Judas, daß man jetzt seines Sieges über Petrus gedenken werde, und setzte sich näher zu ihnen. Aber die Jünger waren schweigsam und merkwürdig nachdenklich. Das Bild des zurückgelegten Weges, die Sonne und die Felsen, das Gras und der unter dem Zelte liegende Christus, das alles tauchte in ihrem Kopfe wieder empor, versenkte sie in eine weiche, sinnende Stimmung und gebar allerhand dunkle, süße Träume von einer ewigen Bewegung unter der Sonne. Sanft ruhte der müde Körper aus und ein jeder dachte immerfort an etwas unsagbar Herrliches und Großes. Niemand erinnerte sich an Judas.
Judas ging hinaus, aber er kehrte bald wieder zurück. Jesus sprach zu den Jüngern und sie hörten schweigend auf Seine Rede. Unbeweglich wie ein Bild von Marmor saß Maria zu Seinen Füßen und sah Ihm mit zurückgelehntem Haupte ins Gesicht. Johannes hatte sich dicht an Ihn gedrängt und suchte mit seiner Hand das Gewand des Meisters zu berühren, ohne Ihn doch zu belästigen. Jetzt berührte er Ihn und erstarb. Petrus aber zog schnaufend die Luft ein und begleitete Jesu Reden mit seinen mächtigen Atemzügen.
Ischariot blieb auf der Schwelle stehen; sein Blick überflog die Versammelten mit spöttischem Lächeln, um sich mit seinem ganzen Feuer auf Jesus zu heften. Und wie er Ihn ansah, erlosch alles rings um ihn, umkleidete sich mit Nacht und Totenstille – nur Jesus allein stand hell leuchtend mit erhobener Hand da. Jetzt aber schien auch Er in die Lüfte zu entschweben, dahinzuschmelzen, und bald war's, als ob Er nichts wie ein Nebel über dem See sei, durchleuchtet von dem Lichte des untergehenden Mondes; Seine weiche Stimme erklang wie aus weiter, weiter Ferne, sanft und leise. Während Judas sich immer tiefer in den schwankenden Schatten versenkte und sich der zarten Melodie der fernen, traumhaften Worte hingab, umklammerte er seine ganze Seele mit eisernen Fingern und begann schweigend in ihrer abgrundtiefen Finsternis etwas Gewaltiges, Riesengroßes zu erbauen. Langsam warf er im unendlichen Dunkel ungeheure Massen gleich Gebirgen auf und türmte sie leicht und frei übereinander, und immer aufs neue wälzte er sie in die Höhe und türmte sie auf; und in der Finsternis wuchs etwas empor, dehnte sich lautlos und sprengte die Grenzen. Er fühlte, wie sein Haupt als Kuppel über allem thronte und in seinem undurchdringlichen Dunkel fuhr das Gewaltige fort zu wachsen. Stumm und unablässig war jemand an der Arbeit: türmte die Felsmassen gleich mächtigen Bergen, wälzte sie übereinander und türmte neue empor ... Und sanfte traumhafte Worte erklangen leise verhallend aus der Ferne.
So stand er, die Tür versperrend, schwarz und gewaltig da. Jesus redete noch immer, und laut begleiteten die unruhigen starken Atemzüge Petri des Meisters Worte. Plötzlich verstummte Jesus – mit einem harten, unvollendeten Laut brach er die Rede ab, und Petrus rief, wie aus tiefem Schlafe erwachend, begeistert aus:
– Herr! Du hast Worte des ewigen Lebens!
Aber Jesus schwieg und sah mit unverwandtem Blick vor sich hin. Und wer Seinem Auge folgte, der sah Judas an der Tür stehen, mit offenem Munde und starrem Blick. Die Jünger begriffen nicht, was das bedeutete und fingen an zu lachen. Matthäus aber, der ein Schriftgelehrter war, berührte Judas Schulter mit dem Finger und sprach mit Salomos Worten:
– Der da sanft blickt, dem wird vergeben werden, wer aber dem anderen im Tore begegnet, der wird ihm im Wege sein.
Judas zuckte zusammen schrie sogar vor Schreck leicht auf, und es war, als wenn alles an ihm: seine Augen, seine Hände und seine Beine nach allen Seiten auseinanderstrebten – wie bei einem Tiere, das plötzlich das Auge des Menschen über sich erblickt. Jesus kam gerade auf Judas zu, Er trug ein Wort auf Seinen Lippen – und Er ging an Judas vorüber, mitten durch die nun offenstehende Türe hindurch.
* * *
Es war schon Mitternacht, da trat Thomas unruhig an Judas' Lager, kauerte sich auf den Zehen nieder und fragte ihn:
– Weinst du, Judas?
– Nein. Geh weg, Thomas!
– Warum stöhnst du und knirschst du denn mit den Zähnen? Bist du krank?
Judas schwieg eine Weile, und seinen Lippen entfielen schwere Worte voller Kummer und Zorn.
– Warum liebt Er mich nicht? Warum liebt Er die anderen? Bin ich denn nicht schöner, nicht besser, nicht stärker als sie? Habe ich Ihm nicht das Leben gerettet, während jene sich krümmten und davonliefen wie scheue Hunde?
– Mein armer Freund! Du hast nicht ganz recht. Du bist doch nicht schön. Und deine Sprache ist ebenso häßlich wie dein Gesicht. Du lügst und lästerst fortwährend, wie also verlangst du, daß Jesus dich lieb habe?
Aber Judas schien ihn nicht zu hören und fuhr fort, indem er sich in der Dunkelheit schwerfällig auf dem Lager wälzte.
– Warum geht Er nicht mit Judas, sondern mit denen, die Ihn nicht lieben? Johannes brachte Ihm eine Eidechse – ich aber hätte Ihm eine giftige Schlange gebracht. Petrus schleuderte Steine, ich aber hätte für Ihn Berge versetzt! Was ist denn eine giftige Schlange? Man bricht ihr den Giftzahn aus, und sie legt sich als Geschmeide um unseren Hals. Und was ist ein Berg, den man mit den Händen abtragen und mit den Füßen in den Grund stampfen kann? Ich hätte Ihm Judas geschenkt, den schönen, kühnen Judas. Nun aber wird Er untergehen und Judas mit ihm.
– Du redest so seltsame Dinge, Judas!
– Der verdorrte Feigenbaum, den man mit dem Schwerte abhauen muß – das bin ich; das hat Er auf mich gemünzt! Warum also haut Er nicht? Er wagt es nicht, Thomas. Ich kenne Ihn: Er fürchtet Judas. Er versteckt sich vor dem schönen, kühnen, starken Judas! Er liebt nur die Dummen, die Verräter und Lügner. Du bist ein Lügner, hast du's gehört, Thomas?
Thomas war sehr erstaunt und wollte etwas erwidern, aber er glaubte, Judas lästere, und daher schüttelte er nur den Kopf in der Dunkelheit. Und Judas wurde noch bekümmerter denn vorher; er stöhnte, knirschte mit den Zähnen, und man konnte vernehmen, wie sein kranker Leib sich unter der Decke hin und her bewegte.
– Was schmerzt Judas so? Wer legte dies Feuer an sein Gebein? Er hat seinen Sohn den Hunden zum Fraß gegeben! Er hat seine Tochter den Räubern hingegeben zur Beschimpfung und seine Braut zur Buhlerei. Aber hat denn Judas kein sanftes Herz? Geh von mir, Thomas, geh fort, du Tor! Laß ihn allein, den kühnen, starken, schönen Judas!
Judas hatte ein paar Dinare unterschlagen, Thomas aber entdeckte es, denn er hatte sich's zufällig gemerkt, wieviel Geld Judas erhalten hatte. So war Grund genug vorhanden, anzunehmen, daß Judas nicht zum ersten Male stahl, und alle gerieten in eine heftige Empörung. Ergrimmt nahm Petrus Judas am Kragen seines Rockes und schleppte ihn zu Jesus; Judas war ganz erschrocken und bleich und wagte es kaum, sich zu widersetzen.
– Sieh ihn an, Meister! Da ist er – der Schelm! Da ist er – der Dieb! Du hast ihm Vertrauen geschenkt, er aber stiehlt uns unser Geld weg! Du Dieb, du Taugenichts! Wenn Du's erlaubst, will ich ihn selbst ...
Aber Jesus schwieg. Und Petrus sah ihn scharf an, errötete und ließ die Hand los, die den Kragen umklammert hielt. Judas richtete sich beschämt auf, warf einen verstohlenen Blick auf Petrus und nahm die demütig-unterwürfige Haltung eines reuigen Verbrechers an.
– So steht es also! – sprach Petrus zornig, ging hinaus und schlug die Türe laut hinter sich zu. Alle waren unzufrieden, und sie wollten unter keinen Umständen mehr mit Judas zusammen bleiben – nur Johannes schien etwas eingefallen zu sein, er schlüpfte zur Tür hinaus, hinter der man die leise und beinahe sanfte Stimme Jesu hörte. Als er nach einiger Zeit wieder zurückkam, war er bleich und seine Augen waren niedergeschlagen und gerötet, wie wenn er geweint hätte.
– Der Meister hat gesagt ... der Meister hat gesagt, Judas könne soviel Geld nehmen, wie er wolle.
Petrus lachte zornig auf. Johannes warf ihm einen schnellen, vorwurfsvollen Blick zu, seine Wangen glühten lebhaft, und Zorn und Begeisterung mit Tränen mischend, rief er hell aus:
– Und niemand soll nachrechnen, wieviel Geld Judas bekommen hat. Braucht er viel, nun so mag er sich viel nehmen, ohne davon zu reden oder jemand danach zu fragen. Judas ist unser Bruder, und ihr habt ihn schwer beleidigt – so sagt unser Meister ... Wir müssen uns schämen, Brüder!
Judas stand bleich und mit gekünsteltem Lächeln in der Türe; mit einer leichten Bewegung näherte sich Johannes ihm und küßte ihn dreimal auf den Mund. Jakobus, Philippus und die anderen sahen sich unentschlossen an, dann traten auch sie verlegen an Judas heran und taten wie Johannes, und nach jedem Kuß wischte sich Judas den Mund ab und schmatzte laut dazu, wie wenn dieser Laut ihm Spaß machte. Zuletzt trat Petrus zu ihm und sprach:
– Wir alle sind Toren, verblendete Toren, Judas. Er allein sieht die Wahrheit, Er allein ist weise. Darf ich dich küssen?
– Warum nicht! Küsse mich doch! – sagte Judas. Petrus küßte ihn herzlich und sagte ihm ins Ohr:
– Und doch hätte ich dich beinahe erwürgt! Die anderen taten dir wenigstens nichts; ich aber sprang dir gleich an die Kehle. Hat es dir weh getan?
– Ein wenig.
– Ich will zu Ihm gehen und Ihm alles erzählen. Ich war Ihm doch auch böse, – sagte Petrus finster und suchte die Türe leise und geräuschlos zu öffnen.
– Und du, Thomas? – fragte Johannes streng, der scharf die Reden und Taten der Jünger achtete.
– Ich weiß noch nicht. Ich will es mir noch überlegen.
Thomas dachte lange nach: – fast den ganzen Tag. Die Jünger waren längst fortgegangen, jeder an sein Geschäft, schon hörte man Petrus' Stimme wieder laut und fröhlich hinter der Mauer hervortönen, er aber sann und sann noch immer nach. Er wäre vielleicht schneller mit sich einig geworden, wenn Judas ihn nicht gestört hätte, der aber verfolgte ihn unablässig mit seinem spöttischen Blick und fragte ihn nur hin und wieder mit ernster Miene:
– Nun, Thomas? Wie steht die Sache?
Dann holte Judas seinen Geldsack und begann das Geld zu zählen, wobei er laut mit den Goldstücken klimperte und sich den Anschein gab, als sehe er Thomas gar nicht.
– Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Sieh, Thomas, schon wieder ein falsches Stück. Was sind doch die Menschen für Spitzbuben! Sie verschenken sogar falsche Goldstücke ... Vierundzwanzig ... Und dann heißt es wieder, Judas habe gestohlen ... Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig ...
Da trat Thomas entschlossen zu ihm – es war schon spät, gegen Abend – und sagte:
– Er hat recht, Judas. Laß mich dich küssen!
– Ei, ei? Wahrhaftig? Neunundzwanzig, dreißig. Wozu nur? Ich werde ja doch wieder stehlen. Einunddreißig ...
– Wie kann man denn stehlen, wenn es weder mein noch dein gibt, du wirst dir einfach so viel nehmen, als du brauchst, Bruder.
– Und dazu hattest du so viel Zeit nötig, um Seine Worte nachzusprechen? Wahrlich, du sparst die Zeit nicht, kluger Thomas!
– Ich glaube, du lachst mich aus, Bruder?
– Denke doch einmal nach, ob du auch gut handelst, ehrlicher Thomas, wenn du Seine Worte wiederholst? Das hat doch Er gesagt: es gibt weder »mein« noch »dein«, und nicht du. Er allein hat mich geküßt, ihr aber habt nur meinen Mund befleckt. Ich fühle noch immer, wie eure nassen Lippen über mich hingleiten. Das ist so widerwärtig, guter Thomas! Achtunddreißig, vierzig. Vierzig Dinare, Thomas, oder willst du nachzählen?
– Er ist doch unser Meister. Wie sollten wir Seine, des Meisters Worte nicht wiederholen.
– Hat etwa Judas seinen Kragen verloren? Ist er denn jetzt so nackt und kahl, hat er denn nichts, woran man ihn packen könnte? Sieh doch, der Meister braucht ja nur das Haus zu verlassen, damit Judas wieder unvermutet stehlen kann, werdet ihr ihn dann etwa nicht wieder am Kragen packen?
– Wir wissen jetzt, was wir zu tun haben, Judas, wir haben es jetzt verstanden.
– Aber haben denn nicht alle Jünger ein schlechtes Gedächtnis? Und haben nicht stets alle Jünger ihren Meister betrogen? Der Meister droht mit der Rute – und gleich schreien die Jünger: wir wissen schon, Meister! Dann geht der Meister schlafen, und die Jünger sprechen miteinander: Wie? Hat uns der Meister nicht dieses gelehrt? So auch hier. Heute morgen nanntest du mich einen Dieb und heute abend nennst du mich Bruder. Und wie wirst du mich morgen heißen? Judas lachte und fuhr fort, indem er den schweren, hellklingenden Geldsack leicht in die Höhe hob:
– Wenn ein starker Wind daherkommt, dann bläst er den Staub in die Höhe. Und die Toren sehen den Staub und sprechen: das ist der Wind! Und doch ist es nichts wie Staub, mein guter Thomas, und nichts wie der breitgetretene Kot vom Esel. Jetzt stößt er auf eine Mauer und legt sich ruhig zu ihren Füßen nieder, der Wind aber fliegt weiter und immer weiter, mein guter Thomas!
Dabei wies Judas mit dem Finger über die Mauer und fing wieder an zu lachen.
– Ich freue mich, daß du lustig bist, – sagte Thomas. – Schade nur, daß so viel Bosheit in deinem Lachen ist.
– Sollte ein Mensch nicht lustig sein, der so viel Küsse erhalten hat, und der ein nützlicher Mensch ist? Hätte ich die drei Dinare nicht gestohlen, – wüßte wohl Johannes heute, was es bedeutet: selig sein. Und ist's etwa nicht angenehm, zu wissen, daß man der Haken ist, an dem Johannes seine feucht gewordene Tugend aufhängt, auf daß sie trocken werde, und Thomas – seinen Verstand, den die Motten gefressen haben?
– Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe.
– Aber ich scherze doch nur! Ich scherze nur, mein guter Thomas – ich wollte nur wissen, ob du denn wirklich den alten eklen Judas küssen willst, ihn, den Dieb, der drei Dinare stahl, um sie der Buhlerin zu geben.
– Der Buhlerin? – fragte Thomas verwundert. – Hast du das auch dem Meister gesagt?
– Schon wieder zweifelst du, Thomas! Nun ja, der Buhlerin. Wenn du nur wüßtest, Thomas, was für ein unglückliches Weib das war. Sie hatte schon zwei Tage lang nichts gegessen.
– Weißt du das auch bestimmt? – fragte Thomas verlegen.
– Ei freilich. Ich war doch selbst zwei Tage lang mit ihr zusammen und sah, daß sie nichts aß und nichts wie Rotwein trank. Sie schwankte vor Schwäche hin und her, und ich sank mit ihr zusammen, um ...
Thomas erhob sich rasch, trat ein paar Schritte zurück und rief Judas zu:
– Judas, es scheint, Satan ist in dich gefahren.
Damit ging er fort, und er hörte noch, wie in der eintretenden Dämmerung der schwere Geldsack in Judas' Händen klirrte, und es war ihm, als wenn Judas grell auflachte.
Aber schon am folgenden Tage mußte Thomas zugeben, daß er sich in Judas geirrt hatte – so schlicht, so weich und so ernsthaft zugleich war Ischariot. Er schnitt keine Fratzen, er machte keine boshaften Scherze, er dienerte nicht, kränkte niemanden und war still und unauffällig mit seiner häuslichen Arbeit beschäftigt.
Er war geschickt wie immer – und es war, als ob er nicht zwei Füße hätte, wie alle anderen Menschen, sondern ganze zehn, aber er glitt lautlos dahin, ohne zu winseln, zu stöhnen und ohne jenes Lachen, das dem Lachen einer Hyäne glich und mit dem er sonst jede seiner Handlungen begleitete. Und wenn Jesus zu reden begann, dann setzte er sich leise in eine Ecke, legte seine Beine und seine Hände zusammen und blickte so schön aus seinem großen Auge, daß viele darauf aufmerksam wurden. Und er hörte auf, Böses über die Menschen zu sprechen und schwieg meist, so daß selbst der strenge Matthäus es für möglich hielt, ihn zu loben und die Worte Salomos anführte: »Narren reden tyrannisch, aber die Weisen bewahren ihren Mund.« Und er erhob den Finger, um Judas an seine frühere Lästersucht zu erinnern. Und bald bemerkten alle, daß mit Judas eine Veränderung vorgegangen war und freuten sich darob; und nur Jesus blickte noch immer so fremd auf ihn, obwohl Er Seine Abneigung nicht offen äußerte. Selbst Johannes, dem Judas jetzt, als dem Lieblingsjünger Jesu, und seinem Beschützer bei dem Vorfall mit den drei Dinaren, mit großer Achtung begegnete, war etwas weicher gegen ihn als sonst und ließ sich sogar in ein Gespräch mit ihm ein.
– Wie denkst du, Judas – sagte er einmal milde, – wer von uns beiden, Petrus oder ich, wird neben Christus der erste sein in Seinem himmlischen Reiche?
Judas dachte ein wenig nach und antwortete:
– Ich glaube: du.
– Petrus aber glaubt, er sei es, – sprach Johannes lächelnd.
– Nein, Petrus wird alle Engel mit seinem Geschrei verjagen – hörst du, wie er schreit? Natürlich wird er mit dir kämpfen und es versuchen, den ersten Platz einzunehmen, da er ja behauptet, Jesus zu lieben, aber er ist schon ein wenig alt, du aber bist jung, er ist etwas schwerfällig, du bist leichtfüßig und wirst zuerst mit Christus in Sein Reich eingehen. Nicht wahr?
– Ja, ich werde nicht lassen von Jesus, – bestätigte Johannes.
Am selben Tage wandte sich Simon Petrus mit derselben Frage an Judas. Da er aber fürchtete, seine laute Stimme könnte von den anderen gehört werden, nahm er Judas beiseite und führte ihn in den entlegensten Winkel hinter das Haus.
– Wie also denkst du darüber? – fragte er ihn unruhig. – Du bist klug, selbst der Meister lobt dich um deines Verstandes willen, sage mir also die Wahrheit.
– Natürlich bist du es, – antwortete Ischariot, ohne einen Augenblick zu schwanken; und Petrus rief ergrimmt aus:
– Ich habe es ihm doch gesagt!
– Aber freilich wird er es auch dort versuchen, dir den ersten Platz streitig zu machen.
– Natürlich!
– Was aber kann er tun, wenn der Platz schon von dir besetzt ist? Du wirst doch zuerst mit Jesus eintreten. Du wirst Ihn doch nicht allein gehen lassen? Hat Er nicht etwa dich – den Fels genannt?
Petrus legte seine Hand auf Judas Schulter und sagte leidenschaftlich:
– Ich sage dir, Judas, du bist der Klügste von uns allen. Warum bist du bloß so häßlich und höhnisch? Der Meister liebt das nicht. Sonst könntest du wohl der Lieblingsjünger Jesu werden, so gut wie Johannes. Allein auch dir – und hierbei erhob Petrus drohend seinen Finger – würde ich meinen Platz neben Jesus nimmermehr abtreten, weder auf Erden, noch im Himmel. Hörst du?
So suchte Judas jedem angenehm zu sein, allein er dachte sich immer seinen Teil dabei. Und während er immer gleich bescheiden und zurückhaltend blieb und sich kaum bemerkbar machte, wußte er jedem das zu sagen, was ihm besonders angenehm war. So sprach er einst zum Thomas:
– Der Tor glaubt alles, was man ihm sagt, der Verständige aber achtet auf seinen Weg.
Zu Matthäus aber, der an einer gewissen Neigung zur Unmäßigkeit in Speise und Trank litt und sich dessen schämte, sprach er mit den Worten des weisen, und von jenem so verehrten Salomo:
– Der Gerechte ißt, daß seine Seele satt wird, der Gottlosen Bauch aber hat nimmer genug.
Doch sagte er auch das Angenehme nur selten, womit er demselben einen besonderen Wert gab; meist aber schwieg er, hörte aufmerksam zu, wenn gesprochen wurde, und dachte immer nach. Wenn Judas über etwas nachsann, hatte er ein komisches und zugleich Schrecken einflößendes Aussehen. Solange sein lebendiges, listiges Auge sich hin und her bewegte, erschien Judas schlicht, natürlich und gutmütig, aber wenn beide Augen unbeweglich stille standen und die Haut seiner gewölbten Stirn sich in seltsame Höcker und Falten legte, dann stieg einem eine finstere Ahnung auf von unerhörten Gedanken, die sich in diesem Schädel tummelten. Völlig fremdartig und merkwürdig umschwebten sie stumm und sprachlos den in Sinnen versunkenen Ischariot mit dumpfem, geheimnisvollem Schweigen. Und man wünschte nur eins, daß er schnell etwas sagen, sich bewegen, selbst lügen möge, um dieses Schweigen zu brechen. Denn auch die Lüge, die die menschliche Zunge sprach, mußte als Wahrheit und Licht erscheinen vor diesem hoffnungslosen, dumpfen und einsamen Schweigen.
– Denkst du schon wieder nach, Judas? – schrie Petrus mit seiner hellen Stimme und seinem heiteren Gesicht, und brach damit plötzlich die unheimliche Stille dieser schrecklichen Träume, indem er sie in einen finsteren Winkel fortscheuchte.
– Woran denkst du wieder?
– An vieles, – sprach Judas mit ruhigem Lächeln. Und da er wohl merkte, welch schlechten Eindruck sein Schweigen auf die anderen machte, zog er sich von nun ab immer mehr von den Jüngern zurück und verbrachte eine lange Zeit auf einsame Wanderungen, oder er stieg auf das flache Dach empor und saß dort ganz still da. Oft schon war Thomas erschrocken zurückgesprungen, wenn er in der Dunkelheit auf eine graue Masse stieß, aus der sich dann plötzlich Judas' Arme und Beine hervorstreckten, und wenn ihm Judas' spöttische Stimme entgegentönte.
Nur ein einziges Mal erinnerte Judas wieder merkwürdig stark an den früheren Judas, und das ereignete sich gerade während eines Streites um den Vorrang im Himmelreich.
Petrus und Johannes stritten eifrig in Gegenwart des Meisters miteinander und jeder von ihnen kämpfte heftig um den Platz an Jesu Seite; sie zählten all ihre Verdienste auf, maßen den Grad ihrer Liebe zu Jesus, regten sich auf, schrien und zankten sich sogar, ohne Rücksicht auf Jesus zu nehmen. Petrus war ganz rot vor Zorn und grollte, Johannes war bleich und still, seine Hände zitterten, und beißend erklang seine Rede. Ihre Heftigkeit überschritt bereits alle Grenzen, und der Meister begann schon die Stirne zu runzeln, da traf Petrus' Auge zufällig auf Judas, und er lachte laut und selbstgefällig auf; auch Johannes sah nun Judas an und lächelte auch – ein jeder von beiden erinnerte sich an die Worte, die der kluge Ischariot zu ihnen gesagt hatte. Im Vorgefühl ihres höchsten Triumphes riefen sie in stummer Einigkeit Judas zum Richter auf, und Petrus schrie ihm zu:
– Nun, kluger Judas! Sage uns doch, wer der erste sein wird neben Jesus – er oder ich?
Aber Judas schwieg, er atmete schwer, nur seine Augen waren gierig auf Jesu ruhige blaue Augensterne geheftet, die sie nach etwas zu fragen schienen.
– Ja, – fiel Johannes herablassend ein; – sage du ihm, wer der erste sein wird neben Jesus.
Judas aber richtete sich langsam auf und ohne seinen Blick von Jesus abzuwenden, sagte er leise und bedeutungsvoll:
– Ich!
Jesus schlug die Augen langsam nieder. Und leise klopfte sich Ischariot mit dem knochigen Finger auf die Brust und wiederholte ernst und feierlich:
– Ich! Ich werde neben Jesus sein!
Und ging hinaus. Erstaunt über sein freches Benehmen schwiegen die Jünger noch lange, Petrus aber erinnerte sich plötzlich an etwas und flüsterte Thomas mit seltsamer, leiser Stimme zu:
– Das also ist's, woran er denkt! ... Hast du's gehört?
Gerade um diese Zeit tat Judas Ischariot den ersten entscheidenden Schritt zum Verrat; er machte im geheimen einen Besuch beim Hohenpriester Hannas. Er wurde sehr unfreundlich empfangen, aber er ließ sich dadurch nicht entmutigen und bat um eine längere Unterredung unter vier Augen. Und als er mit dem strengen, hageren alten Mann allein blieb, der ihn unter seinen schweren, herabhängenden Augenlidern verächtlich anblickte, da erzählte er ihm, daß er, Judas, ein gottesfürchtiger Mann, nur deswegen ein Jünger Jesu geworden sei, um Ihn als Betrüger zu entlarven und Ihn dem Gerichte auszuliefern.
– Und wer ist Er, dieser Nazarener? – fragte Hannas wegwerfend und sich das Ansehen gebend, als höre er den Namen Jesu zum ersten Male. Judas tat gleichfalls so, als ob er der seltsamen Unkenntnis des Hohenpriesters Glauben schenke, und erzählte ihm ausführlich über Jesu Predigten, über die Wunder, die Er tat, über Seinen Haß gegen die Pharisäer und den Tempel, Seine beständigen Übertretungen des Gesetzes und zuletzt über Seine Absicht, die Macht aus den Händen der Hierarchie zu reißen und Sein eigenes Reich zu gründen. Und er verstand es so fein, Wahrheit und Lüge miteinander zu vermengen, daß Hannas ihn aufmerksamer betrachtete und nachlässig erklärte:
– Es gibt viele Betrüger und Wahnsinnige in Judäa!
– Nein, Er ist ein gefährlicher Mensch, – warf Judas heftig ein. – Er verletzt das Gesetz. Es ist besser, daß ein Mensch zugrunde gehe, denn ein ganzes Volk.
Hannas nickte zustimmend mit dem Kopfe.
– Aber Er hat doch viele Jünger?
– Ja, sehr viele!
– Und sie lieben Ihn wohl sehr?
– Ja, sie behaupten, Ihn zu lieben. Ja, sie lieben Ihn sehr, weit mehr als sich selbst.
– Aber werden sie Ihn nicht verteidigen, wenn wir Ihn gefangen nehmen wollen. Werden sie keinen Aufruhr anstiften?
Judas lachte auf, er lachte lange und boshaft.
– Sie? Diese furchtsamen Hunde, welche schon davonlaufen, wenn sich ein Mensch niederbeugt, um einen Stein aufzuheben. Sie!
– Sind sie wirklich so schlecht? – fragte Hannas kalt.
– Wie? Fliehen etwa die Schlechten vor den Guten und nicht die Guten – vor den Schlechten? He? Sie sind gut, und darum werden sie davonlaufen. Sie sind gut, und darum werden sie sich verstecken. Sie sind gut, und daher werden sie erst hervorkriechen, wenn man Jesus ins Grab legen wird. Sie werden Ihn schon selbst begraben, du aber richte Ihn hin!
– Aber sie lieben Ihn doch. Du hast es ja eben selbst gesagt!
– Oh! Sie werden ihren Meister ewig lieben, aber mehr, wenn Er tot, als wenn Er lebendig ist. Wenn der Meister lebt, dann kann Er ihnen eine Lektion abfragen, und dann geht es ihnen schlecht. Stirbt dagegen der Meister, so werden sie selbst Meister, und dann geht es den andern schlecht. He!
Hannas sah den Verräter durchdringend an, und seine trockenen Lippen runzelten sich – das bedeutete, daß Hannas lächelte.
– Sie haben dich gekränkt, wie ich sehe?
– Was könnte deinem Scharfblick entgehen, o weiser Hannas! Du dringst bis in Judas Herz. Ja, sie haben den armen Judas gekränkt. Sie sagten, er habe ihnen drei Dinare gestohlen, wie wenn Judas nicht der ehrlichste Mann in Israel wäre.
Und lange noch sprachen sie über Jesus, Seine Jünger, und Seinen verderblichen Einfluß auf das Volk von Israel, aber noch konnte Judas keine endgültige Antwort von dem vorsichtigen und schlauen Hannas erhalten. Schon längst hatte dieser Jesus beobachtet und im geheimen Rate mit seinen Verwandten und Freunden, den Hauptleuten und Sadduzäern das Schicksal des Propheten aus Galilea entschieden. Aber er traute Judas nicht, von dessen Bosheit und Lügenhaftigkeit auch er schon früher viel gehört hatte; er vertraute seinen leichtsinnigen Hoffnungen auf die Feigheit der Jünger und des Volkes nicht. Hannas glaubte an seine eigene Kraft, aber er fürchtete sich, Blut zu vergießen und hatte Angst vor einem furchtbaren Aufruhr, zu dem das stolze und leicht entzündbare Volk von Jerusalem so stark hinneigte; endlich fürchtete er auch die strenge römische Obrigkeit, die sich ins Werk legen konnte. Durch den Widerstand noch gestärkt und befruchtet durch das rote Blut des Volkes, welches alles mit Kraft und Leben erfüllte, was es benetzte, – konnte sich die Häresie noch mächtiger ausbreiten und Hannas, die Autorität und alle seine Freunde mit ihren geschmeidigen Ringen umschlingen und erwürgen. Und als Ischariot zum zweitenmal bei ihm anklopfte, hatte Hannas nicht den Mut, ihn zu empfangen. Aber Ischariot kam noch ein drittes und viertes Mal zu ihm, beharrlich und aufdringlich wie der Wind, der Tag und Nacht an die verschlossene Türe pocht und dessen Atem selbst durch die Spalten und Ritzen dringt.
– Ich sehe, daß der weise Hannas sich noch vor etwas fürchtet, sagte Judas, als er endlich wieder von dem Hohenpriester empfangen wurde.
– Ich bin mächtig genug, um nichts zu fürchten, – antwortete Hannas hochmütig. Ischariot verbeugte sich unterwürfig und rieb sich die Hände. – Was willst du?
– Ich will euch den Nazarener verraten.
– Wir brauchen Ihn nicht.
Judas verbeugte sich und wartete. Sein Auge war demütig auf den Hohenpriester gerichtet.
– Du kannst gehen.
– Aber ich soll doch wiederkommen. Nicht wahr, ehrwürdiger Hannas?
– Du wirst nicht vorgelassen werden. Geh!
Aber Judas Ischariot kam immer wieder und klopfte immer aufs neue an. Schließlich erhielt er noch einmal Einlaß beim greisen Hannas. Dieser sah den Verräter trocken und zornig, von finsteren Gedanken verfolgt an, und es war so, als ob er die Haare auf dem höckerigen Kopf Ischariots nachzählte. Doch auch Judas schwieg, und auch er schien die Härchen in dem dünnen grauen Bart des Hohenpriesters zu zählen.
– Nun? Bist du schon wieder da? – warf Hannas hochmütig hin, fast so, als ob er ihm aufs Haupt spie.
– Ich will euch den Nazarener verraten.
Beide verstummten und fuhren fort, sich gegenseitig aufmerksam zu mustern. Aber Ischariot blickte Hannas ruhig an, und dieser wurde bereits von einer leiser Wut gequält, kalt und trocken, wie der Nachtreif im Winter.
– Wieviel verlangst du für deinen Jesus?
– Und wieviel wollt ihr geben?
Hannas erwiderte mit einer Verachtung, die ihm offenbar große Freude bereitete:
– Ihr seid eine Bande von Spitzbuben. Dreißig Silberlinge, nicht mehr und nicht minder.
Und stille Freude erfüllte ihn, als er sah, wie Judas zu zittern und aufgeregt hin und her zu laufen begann – schnell und gewandt, wie wenn er nicht bloß zwei Beine, sondern ein ganzes Dutzend hätte.
– Für Jesus? Dreißig Silberlinge für Jesus? – schrie er mit einer Stimme, in der sich Erstaunen und Entsetzen malten, welche Hannas mit Freude erfüllten. – Für Jesus von Nazareth? Ihr wollt Jesus für dreißig Silberlinge kaufen? Und ihr glaubt, man könnte euch Jesus für dreißig Silberlinge verkaufen?
Judas drehte sich blitzschnell zur Wand um und lachte ihr in das flache bleiche Gesicht, indem er seine langen Hände in die Luft streckte.
– Hörst du's? Dreißig Silberlinge! Für Jesus!
Mit derselben stillen Freude erwiderte Hannas gleichmütig:
– Wenn du nicht einverstanden bist, kannst du gehen. Wir werden schon jemand finden, der Ihn uns billiger verkauft.
Und so wie zwei alte Kleiderhändler, die auf dem schmutzigen Marktplatz ihre alten Lumpen aus einer Hand in die andere gehen lassen und dazu schreien, fluchen und schimpfen, so begannen sie wie Rasende heftig miteinander zu feilschen und zu handeln. In einem seltsamen Rausch der Begeisterung sprang Judas hin und her, drehte, wand sich und schrie. Er suchte den Wert Dessen, den er verkaufte, gleichsam an den Fingern abzuzählen.
– Und daß er so gütig ist und die Kranken heilt, das ist wohl auch nichts und soll wohl auch nichts Wert sein? Wie? Nein, mach' ein ehrliches Angebot!
– Wenn du ... – versuchte Hannas einzuwenden, dessen Antlitz sich rötete und dessen kalte Bosheit sich schnell an den glühenden Worten von Judas erwärmte. Der aber unterbrach ihn ganz unverfroren:
– Und daß Er schön ist und jung wie eine Narzisse aus Saron und eine Lilie des Tales? Ist auch das nichts wert? Wie? Wollt ihr etwa sagen, daß Er alt sei und zu nichts mehr tauge, und daß Judas euch einen alten Hahn verkauft?
– Wenn du ... versuchte Hannas zu schreien, aber seine Greisenstimme wurde von Judas' wilder, stürmischer Rede fortgetragen, wie ein Flaum im Winde.
– Dreißig Silberlinge! Das macht noch nicht einmal einen Obolus für den Blutstropfen! Und keinen halben Obolus für eine Träne. Kein Viertel für einen Seufzer! Und all die Klagen und Krämpfe und Zuckungen? Wie? Nichts dafür, daß Sein Herz still stehen soll, Seine Augen sich schließen werden? Alles umsonst? – schrie Ischariot empört, indem er auf den Hohenpriester losging und ihn mit den wilden Bewegungen seiner Arme und Finger und dem Wirbeltanz seiner Worte überschüttete.
– Für alles! Für alles zusammen! – rief Hannas atemlos.
– Und wieviel werdet ihr selbst dabei verdienen? He? Ihr wollt Judas berauben, seinen Kindern das letzte Stück Brot nehmen! Nein, ich kann nicht. Ich will auf den Markt gehen und es laut hinausschreien: Hannas hat den armen Judas betrogen! Zu Hilfe, rettet mich!
Müde und wie vom Schwindel erfaßt, stampfte Hannas mit seinen weichen Pantoffeln auf den Fußboden und machte eine wütende Handbewegung.
– Hinaus! ... Hinaus! ...
Aber da krümmte sich Judas plötzlich demütig zusammen und streckte die Hände weit aus:
– Oh, wenn du so ... Warum zürnst du dem armen Judas, der nur an das Wohl seiner Kinder denkt? Du hast doch auch Kinder, schöne, junge Wesen ...
– Wir wollen einen anderen rufen ... Einen anderen ... Hinaus!
– Aber habe ich denn gesagt, daß ich nichts ablassen kann? Wie? Glaube ich euch denn nicht, daß ein anderer kommen und euch Jesus für fünfzehn Obolen hingeben kann? Für zwei Obolen? Oder gar für einen?
Und immer tiefer beugte und wand sich und schmeichelte Judas, bis er sich demütig bereit erklärte, die ihm gebotene Summe anzunehmen.
Mit heißen, zitternden Händen und glühenden Wangen reichte ihm Hannas das Geld, drehte Judas den Rücken zu und wartete, stumm an den Lippen kauend, bis Judas jedes einzelne Silberstück mit den Zähnen geprüft hatte. Nur hin und wieder sah Hannas sich um und erhob, wie wenn er sich verbrannt hätte, sein Haupt wieder zur Decke, während er sich noch heftiger auf die Lippen biß.
– Es gibt jetzt soviel falsches Geld, – erklärte Judas ruhig.
– Dieses Geld haben fromme Leute für den Tempel gestiftet, – sagte Hannas, indem er sich schnell umwandte und Judas noch schneller seinen rötlichen, kahlen Nacken zukehrte.
– Aber wissen denn die frommen Leute falsches Geld von echtem zu unterscheiden? Das verstehen nur die Spitzbuben.
Judas brachte das empfangene Geld nicht nach Hause, sondern ging aus der Stadt hinaus und versteckte es unter einem Stein. Dann kehrte er langsam, mit schweren, zaudernden Schritten zurück, wie ein verwundetes Tier, das nach einem harten, totbringenden Kampf langsam in seine Höhle zurückkriecht. Aber Judas hatte keine eigene Höhle, sondern ein Haus, und in diesem Hause fand er Jesus, müde, mager und erschöpft durch den beständigen Kampf mit den Pharisäern, die Ihn wie mit einer Mauer weiser, glänzender Gelehrtenstimmen, alltäglich im Tempel umringten. Er saß da, die Wange gegen die rauhe Wand gelehnt, und schlief ruhig. Durch das offene Fenster strömten die unruhigen Laute der Stadt hinein. Hinter der Mauer arbeitete and klopfte Petrus, der einen Tisch für die Mahlzeit zimmerte und ein leises galiläisches Lied dazu sang, Er aber hörte nichts und schlief ruhig und tief. Und das war Er, den sie für dreißig Silberlinge gekauft hatten!
Lautlos schlich Judas vorwärts, mit der zärtlichen Vorsicht einer Mutter, welche sich fürchtet, ihr krankes Kind zu wecken und mit der Verwunderung eines wilden Tieres, das aus seiner Höhle hervorgekrochen ist und plötzlich vor einem weißen Blümlein bezaubert stille steht; leise berührte er Seine weichen Haare und zog die Hand schnell wieder zurück. Noch einmal berührte er das Haar, und schlich dann lautlos hinaus.
– Herr! – sprach er. – Herr!
Er ging hinter das Haus und weinte dort bitterlich. Sein Gesicht war verzerrt, er wand sich vor Qual, kratzte sich die Brust mit den Fingernägeln und biß sich in die Arme. Er stellte sich vor, daß Jesus neben ihm säße, und er streichelte Seine Haare voller Zärtlichkeit, flüsterte weiche, sanfte, komische Worte – und er knirschte mit den Zähnen. Dann hörte er plötzlich auf zu weinen und zu stöhnen und mit den Zähnen zu knirschen; er neigte sein feuchtes Haupt auf die Seite und verfiel in ein schweres Sinnen, gleich einem Menschen, welcher horcht. So saß er noch lange da, schwer und entschlossen, fremd und finster, wie das leibhaftige Schicksal.
* * *
... Mit einer stillen Liebe, einer sanften Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit umgab Judas Jesus in diesen letzten Tagen Seines kurzen Lebens. Schamhaft und scheu wie ein junges Mädchen, das zum ersten Male liebt, und ebenso unendlich feinfühlig und scharfsichtig, wie sie, erriet er jeden kleinsten unausgesprochenen Wunsch Jesu und drang bis in die geheimsten Tiefen Seiner Gefühle, bis in die flüchtigsten Regungen Seiner milden Trauer und die schweren Augenblicke der Ermüdung. Und wohin immer Jesu Fuß trat, er trat auf weichen Boden, wohin Sein Blick sich wandte, er fand nur Angenehmes. Vormals hatte Judas Maria Magdalena und die anderen Frauen, die Jesus folgten, nicht lieb gehabt, hatte plump über sie gespottet und ihnen allerhand kleine Unannehmlichkeiten bereitet, – jetzt wurde er ihr Freund und ihr komischer ungeschlachter Bundesgenosse. Mit aufrichtigem Interesse sprach er mit ihnen über Jesu kleine und liebenswürdige Gewohnheiten, fragte sie lange und hartnäckig immer nach derselben Sache aus und drückte ihnen heimlich Geld in die Hand, mitten in die Handfläche, – und sie brachten Ambra und teure, wohlriechende Myrrhen, welche Jesus so liebte, und salbten ihm die Füße. Er selbst kaufte teuern Wein für Jesus, um den er erst mächtig feilschte, und ärgerte sich dann immer sehr, wenn ihn Petrus fast allein austrank mit dem Phlegma eines Menschen, der nur die Quantität zu würdigen versteht; er schaffte aus dem steinigen Jerusalem, dem es fast ganz an Bäumen, Blumen und Grün fehlte, junge Frühlingsblüten und grünes Laub herbei und ließ es Jesu durch dieselben Frauen überreichen. Er selbst trug – zum erstenmal in seinem Leben – kleine Kinder auf seinen Armen herbei, die er sich aus den Höfen oder von der Straße holte und widerwillig herzte und küßte, damit sie nicht weinten; und oft geschah es, daß während Jesus in tiefes Sinnen versunken dasaß, plötzlich etwas Kleines und Schwarzes mit krausen Haaren und schmutziger Nase auf Sein Knie kroch und hartnäckig nach einer Liebkosung verlangte. Und während die beiden sich aneinander freuten, ging Judas abseits mit ernster Miene auf und ab, wie ein strenger Gefängniswärter, welcher im Frühjahr selbst einen bunten Schmetterling in die Zelle des Gefangenen hineingelassen hat und sich nun den Anschein gibt, daß er unzufrieden sei, brummt, und sich über die Unordnung im Hause beklagt.
Abends, wenn mit der Finsternis die Unruhe an den Fenstern Wache hielt, dann brachte Ischariot das Gespräch absichtlich auf Galiläa, das ihm selbst fremd, Jesus aber lieb und vertraut war, auf Galiläa mit seinen stillen Wassern und den grünen Ufern. Und er reizte den schwerfälligen Petrus so lange, bis ihm längst verblaßte Erinnerungen in glühenden Bildern wieder auflebten, wo alles laut, farbig und gesättigt war, und bis das freundliche Leben in Galilea vor Aug, und Ohr wieder auferstand. Mit gieriger Aufmerksamkeit und nach Kinderart mit offenem Mund und Augen, die schon im Vorgefühl des Kommenden lächelten, horchte Jesus auf Petrus' hastige, klangvolle Rede und lachte zuweilen so laut über seine Späße, daß die Erzählung auf einen Augenblick unterbrochen werden mußte. Aber noch schöner als Petrus konnte Johannes erzählen. Seine Art hatte nichts Komisches und Unerwartetes, aber alles erschien so traumhaft, ungewöhnlich und herrlich, daß sich Jesu Augen mit Tränen füllten und Er leise seufzte; Judas aber stieß Maria Magdalena in die Seite und flüsterte ihr selig zu:
– Wie schön er erzählt! Hörst du?
– Natürlich höre ich es!
– Nein, du mußt besser zuhören! Ihr Frauen versteht es nicht, zuzuhören!
Dann gingen alle auseinander, um ihr Nachtlager aufzusuchen. Jesus küßte Johannes leise und dankerfüllt und streichelte dem hühnenhaften Petrus zärtlich die Schultern.
Und ohne Neid, mit nachsichtiger Verachtung sah Judas diese Liebkosungen. Was bedeuteten all diese Erzählungen, diese Küsse und Seufzer im Vergleich zu dem, was er wußte, er, Judas Ischariot, der rothaarige, häßliche, unter Steinen geborene Jude?
Indem Judas Jesus mit der einen Hand verriet, suchte er mit der anderen seine eigenen Pläne sorgsam zu zerstören. Er riet Jesus nicht von der letzten gefahrvollen Reise nach Jerusalem ab, wie dies die Frauen taten, er neigte sich sogar eher auf die Seite von Jesu Verwandten und denen unter Seinen Jüngern, die den Sieg über Jerusalem für den vollständigen Triumph ihrer Sache als notwendig erachteten. Aber unablässig und hartnäckig warnte er vor den Gefahren dieser Reise und malte in lebendigen Farben den wilden Haß der Pharisäer gegen Jesus, ihre Bereitwilligkeit zu jedem Verbrechen, selbst zu der heimlichen oder öffentlichen Ermordung des Propheten aus Galilea. Jeden Tag und jede Stunde sprach er darüber, und es gab keinen unter den Gläubigen, vor den Judas nicht mit drohend erhobenem Finger getreten wäre, zu dem er nicht streng und warnend gesprochen hätte:
– Wir müssen Jesus behüten! Wir müssen Jesus beschützen! Wir müssen für Jesus eintreten, wenn die Stunde kommt!
Aber, war es nun der grenzenlose Glaube der Jünger an die wundertätige Kraft des Meisters, war es das Bewußtsein der gerechten Sache oder auch nur Verblendung, Judas ängstliche Worte wurden stets mit einem Lächeln aufgenommen und seine ewigen Ermahnungen riefen nur Murren hervor. Als Judas sich einst zwei Schwerter verschaffte und sie herbeibrachte, fand dies nur den Beifall Petri. Nur Petrus lobte die Schwerter und Judas, die anderen aber sprachen unwillig:
– Sind wir denn Krieger, daß wir uns mit Schwertern umgürten sollen? Und ist den Jesus nicht ein Prophet, sondern ein Heerführer?
– Wenn sie Ihn aber töten wollten?
– Sie werden es nicht wagen, wenn sie sehen, daß das Volk für Ihn ist.
– Und wenn sie es doch wagen? Was dann?
Johannes sagte wegwerfend:
– Man könnte meinen, nur du allein, Judas, liebtest den Meister!
Judas aber klammerte sich gierig an diese Worte, er fühlte sich nicht im geringsten gekränkt und fuhr fort, sie hastig und leidenschaftlich, mit wilder Beharrlichkeit auszufragen:
– So liebt ihr Ihn doch? Nicht wahr?
Und es gab keinen unter den Gläubigen, die zu Jesus kamen, welchen er nicht wiederholt fragte:
– Liebst du Ihn auch? Hast du Ihn sehr lieb? Und alle antworteten, daß sie Ihn liebten.
Oft auch unterhielt er sich mit Thomas. Er hob dann warnend seinen dürren, klebrigen Finger mit dem schmutzigen Fingernagel in die Höhe und sagte:
– Merk auf, Thomas. Es kommt eine schreckliche Zeit. Seid ihr vorbereitet? Warum nahmst du das Schwert nicht, das ich gebracht habe?
Thomas antwortete verständig:
– Wir sind Menschen, die nicht an den Gebrauch der Waffen gewöhnt sind. Und wenn wir uns in einen Kampf mit den römischen Kriegern einlassen, werden sie uns alle niedermachen. Zudem hast du nur zwei Schwerter gebracht, was kann man mit zwei Schwertern beginnen?
– Man kann noch mehr holen! Wir können den Kriegern welche abnehmen, – antwortete Judas so ungeduldig, daß selbst der ernste Thomas unter seinem gerade herabhängenden Schnurrbart lachen mußte.
– Oh, Judas, Judas! Woher aber hast du sie genommen? Sie sehen aus, wie die Schwerter römischer Krieger!
– Ich habe sie gestohlen. Ich hätte noch mehr stehlen können, aber es entstand ein Geschrei, und ich entfloh.
Thomas wurde nachdenklich und sprach traurig:
– Du hast wieder schlecht gehandelt, Judas! Warum stiehlst du?
– Es gibt doch kein fremdes Eigentum!
– Freilich! Aber morgen wird man die Krieger fragen: wo sind eure Schwerter? und wenn sie sie nicht finden, werden sie unschuldig bestraft werden!
Und noch lange nachher, nach dem Tode Jesu, erinnerten sich die Jünger an die Reden Judas' und entschieden, er habe sie zugleich mit dem Meister verderben wollen, indem er sie in einen ungleichen Kampf auf Leben und Tod verwickeln wollte. Und abermals verfluchten sie den verhaßten Namen des Verräters Judas Ischariot.
Judas aber ging nach jedem solchen Gespräche zornig zu den Frauen und jammerte und klagte ihnen vor. Die Frauen hörten ihm gerne zu. Jenes Weibliche und Zarte in seiner Liebe zu Jesus brachte ihn ihnen näher, machte ihn vertraulich und ließ ihn in ihren Augen einfach und schlicht ja selbst schön erscheinen, obwohl in seinem Verhältnis zu ihnen noch immer ein Rest der alten Verachtung sich regte.
– Sind das denn Männer? – klagte er bitterlich über die Jünger und sah Maria vertrauensvoll mit seinem blinden, unbeweglichen Auge an. – Das sind doch keine Männer. Sie haben kein Blut in den Adern, nicht für einen Obolus.
– Aber du hast doch immer nur Böses von den Menschen gesprochen, – wandte Maria ein.
– Wie? Ich hätte Böses von den Menschen gesprochen? – rief Judas erstaunt aus. – Nun ja, ich habe freilich schlecht von ihnen geredet, aber könnten sie denn nicht wenigstens etwas besser sein? Ach, Maria, Maria, Törin, warum bist du kein Mann und kannst kein Schwert tragen?
– Es ist so schwer, ich kann es nicht einmal aufheben, – sagte Maria lächelnd.
– Wahrlich, du wirst es aufheben, wenn die Männer feige sein werden. Hast du Jesus die Lilie gegeben, die ich im Gebirge fand? Ich bin schon ganz früh am Morgen aufgestanden, um sie zu suchen; die Sonne war heut so rot, Maria! Hat Er sich gefreut? Hat Er gelächelt?
– Ja, Er hat sich gefreut. Er sagte, die Blume dufte nach Galilea.
– Und du hast Ihm doch nicht gesagt, daß Judas sie gebracht hat? Judas Ischariot?
– Du batest mich doch, es Ihm nicht zu sagen.
– Nein, natürlich nicht, gewiß nicht! – sagte Judas tief aufatmend.
– Aber du hättest es ausplaudern können. Ihr Frauen seid doch so geschwätzig. Aber du hast nichts ausgeplaudert, wie? Du bliebst fest, nicht wahr? Recht! Recht! Maria, du bist ein braves Weib. Du weißt, ich habe ja auch ein Weib, weit von hier. Wie gerne würde ich sie jetzt wiedersehen: vielleicht ist sie auch nicht schlecht. Ich weiß nicht. Sie sagte wohl: Judas ist ein Lügner, Judas, Simons Sohn, ist ein Bösewicht, und da verließ ich sie. Aber vielleicht ist sie doch ein braves Weib – nicht wahr?
– Wie kann ich es denn wissen, wo ich dein Weib noch niemals gesehen habe?
– Freilich, freilich! Wie aber denkst du, Maria: dreißig Silberlinge, das ist doch ein schönes Sümmchen, nicht? Oder meinst du, es sei wenig?
– Ich denke, es ist wenig.
– Freilich, freilich! Wieviel erhieltest du, als du noch Buhlerin warst? Fünf Silberlinge, wie? Oder zehn? Du warst wohl sehr teuer, Maria?
Maria Magdalena errötete und senkte den Kopf, und ihr üppiges, goldenes Haar verdeckte ihr ganzes Gesicht: man sah nichts, als ihr rundes, weißes Kinn.
– Wie schlecht du doch bist, Judas! Ich will vergessen, du aber mahnst mich noch daran!
– Nein, Maria, so etwas soll man nicht vergessen! Wozu? Mögen die anderen vergessen, daß du eine Buhlerin warst, du aber denke stets daran. Die anderen sollen es so schnell als möglich vergessen; du nicht! Wozu auch?
– Das ist doch – eine Sünde!
– Das kann nur den schrecken, der noch nie eine Sünde beging! Doch der, der sie verübte, was braucht der zu fürchten? Fürchtet sich denn der Tote vor dem Tode und nicht der Lebendige? Der Tote verlacht den Lebendigen und seine Furcht.
So saßen sie friedlich zusammen und plauderten ganze Stunden lang: er, schon ein alter, häßlicher, vertrockneter Mann mit zahlreichen Höckern auf dem Kopfe und seinem gespaltenen Gesicht; sie – jung, schamhaft und zart, von der Fülle der Lebenskraft berauscht, wie durch ein Märchen oder einen Traum.
Die Zeit verrann aber kalt und gleichgültig; die dreißig Silberlinge lagen unter dem Stein, und mit unerbittlicher Notwendigkeit näherte sich der Schreckenstag des Verrates.
Schon zog Jesus auf seiner Eselin in Jerusalem ein, und das Volk breitete seine Kleider auf den Weg und begrüßte Ihn mit begeisterten Rufen:
– Hosianna! Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!
So gewaltig war der Jubel, daß unaufhaltsam im hellen Jauchzen die Liebe gen Himmel drang, daß Jesu weinte und Seine Jünger stolz fragten:
– Ist Er nicht Gottes Sohn, Der mit uns ist?
Und sie selbst riefen triumphierend:
– Hosianna! Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!
An diesem Abend gingen sie lange nicht schlafen und gedachten der festlichen und jubelnden Begrüßung. Petrus war ganz rasend, wie vom Dämon der Freude und des Stolzes besessen. Er schrie und übertönte alle Reden mit seinem Löwengebrüll, er lachte laut und ließ dies Lachen auf die Häupter herabfallen, wie große, runde Steine, er küßte Johannes und Jakobus, ja selbst Judas, und er erklärte laut, wie sehr er sich gefürchtet habe um Jesu willen, jetzt aber fürchte er nichts mehr, da er die Liebe des Volkes zu Jesus gesehen habe. Erstaunt blickte Ischariot, sein lebendiges, scharfsichtiges Auge hin und her bewegend, nach allen Seiten, verfiel in Sinnen, horchte dann abermals auf und spähte. Schließlich nahm er Thomas an der Hand, führte ihn beiseite, und wie wenn er ihn mit seinem scharfen Blick an die Wand heften wolle, richtete er zweifelnd, angstvoll und mit dunkler Hoffnung die Frage an ihn:
– Thomas! Wie, wenn Er recht hätte? Wenn Er Steine unter den Füßen hätte, und ich – nur Sand? Was dann?
– Von wem redest du? – erkundigte sich Thomas.
– Was sollte dann Judas Ischariot tun? Dann müßte ich Ihn ja selbst erwürgen, um recht zu handeln. Wer betrügt Judas? Ihr oder Judas selbst? Wer betrügt Judas? Wer?
– Ich begreife dich nicht, Judas. Du sprichst sehr unverständlich. Wer betrügt Judas? Wer hat recht? –
Judas aber schüttelte das Haupt und wiederholte wie ein Echo:
– Wer betrügt Judas? Wer hat recht?
Und noch am andern Tage tönte in Judas Bewegungen, wie er die Hand mit dem abgespreizten Daumen emporhob und Thomas anblickte, die seltsame Frage nach:
– Wer betrügt Judas? Wer hat recht?
Und Thomas staunte noch mehr und wurde noch unruhiger, als plötzlich in der Nacht Judas laute und seine fast freudige Stimme ertönte:
– Dann wird Judas Ischariot nicht mehr sein, wird Jesus nicht mehr sein. Dann wird ... Thomas, dummer Thomas! Hattest du wohl jemals den Wunsch, die Erde zu packen und sie hoch empor zu heben? Und sie dann vielleicht hinzuwerfen?
– Das ist unmöglich. Was sprichst du, Judas!
– Es ist möglich! – sagte Judas überzeugt. – Und wir werden sie einmal emporheben, wenn du schläfst, dummer Thomas. Schlafe, Thomas! Ich bin lustig, Thomas! Wenn du schläfst, dann flötet deine Nase wie eine galiläische Schalmei. Schlafe, Thomas!
Die Gläubigen waren schon auseinandergegangen in Jerusalem und hielten sich versteckt hinter den vier Wänden der Häuser. Die Gesichter der Vorübergehenden waren rätselhaft geworden. Der Jubel war verstummt. Und schon krochen dunkle Gerüchte von einer dräuenden Gefahr durch alle Spalten und Ritzen. Finster prüfte Petrus das Schwert, das ihm Judas geschenkt hatte, und immer strenger und ernster wurde das Antlitz des Meisters. So floß die Zeit eilig dahin und mit unerbittlicher Notwendigkeit nahte sich der furchtbare Tag des Verrates. Das letzte Abendmahl, voller Trauer und geheimer Schrecken, war vorüber; schon waren die dunklen Worte Jesu verklungen von dem, der Ihn verraten werde.
– Weißt du, wer Ihn verraten wird? – fragte Thomas und blickte Judas scharf an mit seinen geraden, klaren und beinahe durchsichtigen Augen.
– Ja, ich weiß es – antwortete Judas kalt und entschlossen. – Du wirst Ihn verraten, Thomas! Aber Er glaubt selbst nicht an das, was Er spricht. Die Stunde naht! Es ist Zeit! Warum ruft Er nicht den schönen und starken Judas?
... Nicht nach Tagen, sondern nach kurzen, flüchtigen Stunden maß man schon die unerbittliche Zeit. Es war Abend, überall herrschte abendliche Stille, und lange Schatten legten sich auf die Erde, die ersten scharfen Pfeile der nahenden Nacht des großes Kampfes. Da durchbrach eine rauhe, traurige Stimme die Luft.
Sie sprach:
– Weißt Du, wohin ich gehe, o Herr? Ich gehe, Dich auszuliefern in die Hände Deiner Feinde.
Und wiederum war es ruhig und herrschte die Stille des Abends und wiederum lagen die scharfen, dunklen Schatten auf der Erde.
– Du schweigst, o Herr! Du befiehlst mir, daß ich gehe!
Schweigen.
– Laß mich bleiben. Doch Du kannst nicht? Oder darfst nicht? Oder willst nicht?
Und wiederum herrscht Stille, eine gewaltige, ungeheure Stille, gleich dem Auge der Ewigkeit.
– Aber Du weißt doch, daß ich Dich liebe. Du weißt doch alles. Warum blickst Du so auf Judas? Groß ist das Geheimnis Deiner herrlichen Augen, aber ist denn meines geringer? Herr, Herr! Befiehl mir, daß ich bleibe. Doch Du schweigst noch immer. Hätte ich Dich nur deshalb in Qualen und Sehnen gesucht, mein ganzes Leben lang? Gesucht und gefunden? Erlöse mich! Nimm sie von mir, diese Bürde, sie lastet schwerer auf mir, denn ein Berg und ein Klumpen Blei! Hörst Du denn nicht, wie unter ihr die Brust Judas Ischariots ächzt und kracht?
Ein letztes unergründliches Schweigen, wie der letzte Blick der Ewigkeit.
– Ich gehe.
Die Abendstille erwachte nicht einmal, sie schrie nicht, schluchzte nicht auf und erklirrte kaum mit dem feinen Ton des dünnen Glases – so schwach war der Laut der sich entfernenden Schritte. Sie verhallten, und ringsherum verstummte alles. Und die Abendstille versank in tiefes Sinnen, dehnte sich aus in langen Schatten und tauchte unter in schwarze Finsternis – noch einmal seufzte sie laut auf in dem Rascheln der sich schwermütig aufrichtenden Blätter, atmete tief und erstarb beim Eintritt der Nacht.
Andere Laute erhoben sich jetzt, stießen, drängten sich, klapperten und lärmten – wie wenn jemand einen Sack mit lebendigen, hellklingenden Stimmen aufgebunden hätte, die nun, eine nach der anderen, zu zweien, zu dreien, in ganzen Haufen, zur Erde fielen. Das waren die Jünger, die miteinander sprachen. Und alle übertönend, sich an den Bäumen und Wänden brechend, sich selbst überstürzend, erdröhnte die feste und majestätische Stimme Petri – er schwur, seinen Meister nie zu verlassen.
– Herr! – sprach er schmerzlich und ergrimmt. – Herr! Ich bin bereit, Dir in Gefängnis und Tod zu folgen.
Und leise, wie das zarte Echo sich entfernender Schritte, erklang die schonungslose Antwort:
– Wahrlich, Ich sage dir, Petrus, ehe denn der Hahn zweimal krähet, wirst du Mich dreimal verleugnen.
Der Mond war schon aufgegangen, als Jesus sich aufmachte, um an den Ölberg hinauszugehen, wo Er seine letzten Nächte verbrachte. Aber er zögerte unbegreiflicherweise noch, und die Jünger, die zum Aufbruch bereit waren, mahnten Ihn zur Eile. Da sprach Er plötzlich:
– Aber nun, wer einen Beutel hat, der nehme ihn, desgleichen auch die Tasche; wer aber nichts hat, verkaufe sein Kleid und kaufe ein Schwert. Denn Ich sage euch: es muß noch das auch vollendet werden an Mir, das geschrieben stehet: Er ist unter die Übeltäter gerechnet.
Die Jünger verwunderten sich und sahen sich verlegen an. Petrus aber antwortete und sprach:
– Herr! Siehe, hier sind zwei Schwerter.
Prüfend betrachtete Er ihre guten Gesichter, senkte Sein Haupt und sprach leise:
– Es ist genug.
Laut hallten die Tritte der Fußgänger durch die Straßen – und die Jünger erschraken über ihre eigenen Schritte; gewaltig wuchsen ihre dunklen Schatten an der weißen, mondbeglänzten Mauer empor. So gingen sie stumm durch das schlafende Jerusalem. Schon lag das Tor der Stadt hinter ihnen, und in dem tiefen Hohlweg voll rätselhaft unbeweglicher Schatten tat sich der Blick auf den Fluß Kedrom vor ihnen auf. Jetzt schreckte sie alles. Das leise Murmeln und das Plätschern des Wassers über die Steine kam ihnen vor wie die Stimmen heranschleichender Menschen; die mißgestalteten Schatten der Felsen und Bäume, die über dem Weg lagen, beunruhigten sie durch ihre Buntheit, und ihre nächtliche Unbeweglichkeit erschien ihnen wie Bewegung. Aber je höher sie zum Berge hinaufstiegen und sich dem Garten Gethsemane näherten, wo sie schon so viele Nächte einsam und ohne Gefahr verbracht hatten, um so mutiger wurden sie. Hie und da wandten sie sich nach dem weit zurückliegenden Jerusalem um, das ganz weiß im Mondenglanze dalag, und sprachen miteinander über ihre Angst, die nun vorüber war; und die, welche ganz hinten gingen, hörten die kurzen, leisen Worte Jesu. Er sprach davon, daß alle Ihn verlassen werden.
Im Garten blieben sie nah beim Eingang stehen. Der größere Teil unter ihnen blieb hier zurück und rüstete sich unter leisen Gesprächen zum Schlafen, während sie ihre Mäntel im durchsichtigen Spitzenwerk der Schatten und des Mondlichts ausbreiteten. Jesus aber ging, von Unruhe gequält, mit vier Seiner liebsten Jünger weiter in die Tiefe des Gartens hinein. Da setzten sie sich auf die Erde, die noch nicht von der Hitze des Tages abgekühlt war, und während Jesus schwieg, wechselten Petrus und Johannes gleichgültige Worte, die fast jeden Sinnes entbehrten. Gähnend vor Müdigkeit sprachen sie davon, wie kalt die Nacht und wie teuer das Fleisch in Jerusalem sei, und daß die Fische geradezu unerschwinglich seien. Ganz genau suchten sie die Zahl der Pilger zu bestimmen, die sich zum Fest in der Stadt versammelt hätten, und Petrus erklärte unter Gähnen und während er die Worte lang dehnte, es seien zwanzigtausend, während Johannes und dessen Bruder Jakobus ebenso lässig versicherten, daß es nicht mehr als zehntausend seien. Plötzlich erhob sich Jesus eilig und sprach:
– Meine Seele ist betrübt bis in den Tod, bleibet hier und wachet. – Und mit schnellen Schritten eilte Er in den Hain und verschwand rasch in der Tiefe seiner unbeweglichen Schatten und Lichter.
– Wohin ging Er? – fragte Johannes und richtete sich auf, indem er sich auf seinen Ellbogen stützte. Petrus wandte den Kopf nach Ihm um und antwortete müde:
– Ich weiß nicht.
Er gähnte noch einmal laut, legte sich auf den Rücken und verstummte. Auch die andern wurden still, und der tiefe Schlaf, wie er sich nach einer gesunden Ermüdung einzustellen pflegt, bemächtigte sich ihrer unbeweglichen Leiber. Durch den schweren Schlummer erkannte Petrus ganz dunkel etwas Weißes, das sich über ihn beugte. Eine Stimme erklang kurz und verhallte, ohne die geringste Spur in seinem halbumdunkelten Bewußtsein zurückzulassen:
– Simon, schläfst du?
Und wieder schlief er ein, und abermals klang die Stimme an sein Ohr und verhallte, ohne eine Spur zu hinterlassen.
– Vermochtest du nicht eine Stunde mit mir zu wachen?
– Ach, Herr, wenn Du wüßtest, wie müde ich bin! – dachte er im Halbschlummer, und es schien ihm, als habe er es laut gesagt.
Er entschlief abermals, und es schien ihm, als ob eine lange Zeit verflossen war, als plötzlich die Gestalt Jesu neben ihm auftauchte und Seine laute Stimme ihn und die andern für einen Augenblick weckte und ermunterte:
– Ach, wollt ihr nur schlafen und ruhen? Es ist genug, die Stunde ist gekommen. Sehet, des Menschen Sohn wird überantwortet in der Sünder Hände.
Die Jünger sprangen rasch auf die Beine, griffen nach ihren Mänteln und zitterten noch vor Kälte nach dem plötzlichen Erwachen. Durch den Hain nahte sich unter Lärm, Gestampf und Schwertergeklirr ein Haufe von Kriegern und Tempelwächtern. Das fliehende Feuer der Fackeln erleuchtete hell die Bäume, und die Äste knackten unter ihren Füßen. Von der andern Seite kamen die Jünger, zitternd vor Kälte, mit erschrockenen, schlaftrunkenen Gesichtern, herbeigelaufen und fragten ungeduldig, ohne zu verstehen, worum es sich handele:
– Was ist das? Wer sind diese Fackelträger?
Thomas war bleich, die eine Hälfte seines Schnurrbarts hatte sich verschoben, er fröstelte, klapperte mit den Zähnen und sagte zu Petrus:
– Man kommt offenbar, um uns zu holen.
Jetzt umringte sie der Haufe der Krieger, und der unruhige, rauchige Glanz der Feuer drängte den sanften Mondschein irgendwohin zur Seite und gen Himmel ... Judas Ischariot marschierte an der Spitze der Krieger. Eilig schritt er voraus; sein scharfblickendes, lebendiges Auge drehte sich heftig in der Augenhöhle und suchte Jesus. Nun hatte es Ihn gefunden; einen Augenblick ließ er seinen Blick auf Seiner hohen, schlanken Gestalt ruhen, dann flüsterte er den Wächtern hastig zu:
– Welchen ich küssen werde, Der ist es. Den greifet und führet Ihn gewiß. Aber führet Ihn vorsichtig – höret ihr wohl?
Alsbald trat er zu Jesus, der ihn schweigend erwartete, und senkte seinen geraden, ruhigen Blick wie ein Messer in Seine ruhigen, sich verdunkelnden Augen.
– Gegrüßet seist Du, Rabbi! – sprach er laut, indem er einen seltsamen und schrecklichen Sinn in den gewohnten Gruß legte.
Aber Jesus blieb stumm, und mit Entsetzen blickten die Jünger auf den Verräter, ohne zu verstehen, wie eines Menschen Seele soviel Bosheit fassen könne. Mit einem schnellen Blick überschaute Ischariot ihre in Verwirrung geratenen Reihen, bemerkte ihr Zagen, das schon in das laute Zähneklappern des Schreckens übergehen wollte, sah ihr Erbleichen, das sinnlose Lächeln, die matten Bewegungen ihrer Hände, die am Vorderarm wie von Eisen umschlossen zu sein schienen – und ein tötlicher Schmerz entbrannte in seinem Busen, wie jener, den Christus vordem empfunden hatte. Gleich einem Saitenspiel aus hundert klingenden, laut schluchzenden Saiten, richtete er sich empor, stürzte eilig auf Jesus los – und küßte ihn zärtlich auf die kalte Wange. So sanft und zart war dieser Kuß, soviel qualvolle Liebe und einen solchen Schmerz atmete er, daß Jesus, wäre er eine Blume auf feinem Stengel gewesen, Sich kaum bewegt hätte bei diesem Kuß und daß kein Tropfen des Perlenstaubs von den reinen Blumenblättern herabgefallen wäre.
– Judas! – sprach Jesus und erhellte mit dem Blitz Seines Auges jene schreckliche Masse in furchtbarer Spannung verharrender Schatten, welche Ischariots Seele darstellte. Aber Er vermochte es nicht, bis in ihre grundlose Tiefe hinabzudringen. – Judas? Verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuß?
Und Er sah, wie dieses ungeheure Chaos erzitterte und in Bewegung kam. Stumm und ernst, wie der Tod in seiner stolzen Majestät, stand Judas Ischariot da, in ihm aber stöhnte und brannte und heulte alles mit tausend wilden Feuerstimmen:
– Ja! Mit dem Kusse der Liebe verraten wir Dich! Mit dem Kusse der Liebe überantworten wir Dich dem Hohn, der Folter, dem Tode! Mit der Stimme der Liebe rufen wir zusammen alle Henker aus ihren finsteren Schlupfwinkeln und stellen das Kreuz auf – und hoch über dem Scheitel der Erde erheben wir die Liebe, die die Liebe ans Kreuz schlug.
So stand Judas stumm und kalt da, wie der Tod, und dem Schrei seiner Seele antworteten der Lärm und das Geschrei derer, die um Christus waren.
Mit der rohen Unentschlossenheit der bewaffneten Macht, mit der Plumpheit des unklar erfaßten Zieles, hatten die Krieger Ihn schon ergriffen, um Ihn fortzuschleppen – da sie die eigene Unentschlossenheit für Widersetzlichkeit und ihre eigenen Schrecken für Hohn und Spott über sich selbst nahmen. Wie ein Häuflein erschrockener Lämmer drängten und stießen sich die Jünger, ohne Widerstand zu leisten, alle hindernd, auch sich selbst, und nur wenige hatten den Mut, hinzugehen und zu handeln, unabhängig von den anderen.
Von allen Seiten bedrängt, gelang es Simon Petrus nur mit Mühe, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen; es war, wie wenn er alle Kräfte verloren habe, und mit einem schwachen Streich ließ er es auf das Haupt eines der Wächter niederfallen, ohne jedoch irgendwelchen Schaden anzurichten. Als Jesus dieses bemerkte, hieß Er ihn, sein unnützes Schwert wegwerfen, und mit schwachem Geklirr fiel das Eisen zu seinen Füßen hin, so offenbar seiner stechenden und tötenden Kraft beraubt, daß es niemandem in dem Kopf kam, es aufzuheben. So wälzte es sich zwischen den Füßen, und noch viele Tage nachher fanden es spielende Kinder an demselben Orte und trieben ihren Zeitvertreib mit ihm.
Die Krieger stießen und jagten die Jünger auseinander, diese aber sammelten sich wieder und drängten sich zwischen sie. Das dauerte so lange, bis Wut und Verachtung sich der Krieger bemächtigte. Jetzt kam einer von ihnen mit dräuender Stimme auf den laut schreienden Johannes los; ein anderer stieß Thomas' Hand, der ihn zu überzeugen versuchte, plump von seiner Schulter weg und hielt ihm seine gewaltige Faust vor die geraden, durchsichtigen Augen – und Johannes ergriff die Flucht, und Thomas und Jakobus und alle Jünger, so viele ihrer da waren, taten desgleichen, flohen und ließen Jesus allein. Sie ließen ihre Mäntel fallen, stießen sich an den Bäumen, stolperten und fielen über die Steine; so flohen sie ins Gebirge, von Schrecken gejagt, und hell erdröhnte in der Stille der Mondnacht die Erde unter dem Gestampfe zahlloser Füße. Ein unbekannter Mann, der offenbar erst eben von seinem Lager aufgestanden war, weil er nur eine Decke umgeworfen hatte, eilte aufgeregt zwischen dem Haufen der Krieger und Wächter hin und her. Aber als man ihn anhalten und bei der Leinwand greifen wollte, da schrie er erschrocken auf und floh vor ihnen, gleich den anderen, und ließ sein Gewand in den Händen der Krieger. So lief er ganz nackt in verzweifelten Sätzen davon, und sein weißer Körper erglänzte seltsam im hellen Mondenlichte.
Als man Jesus fortgeführt hatte, kam Petrus, der sich hinter den Bäumen versteckt hielt, hervorgekrochen und folgte dem Meister von ferne. Da sah er einen anderen Mann schweigend vor sich hergehen, und weil er glaubte, es sei Johannes, rief er ihn leise beim Namen:
– Johannes, bist du es?
– Bist du's, Petrus? – antwortete jener und blieb stehen. Petrus erkannte den Verräter an der Stimme.
– Warum bist du nicht mit den anderen geflohen, Petrus?
Petrus blieb stehen und sprach mit Abscheu:
– Hebe dich weg von mir, Satan!
Judas lachte laut auf und ging weiter, ohne auf Petrus zu achten, dorthin, wo die Fackeln rauchten und leuchteten, und wo sich das Waffengeklirr mit dem deutlich vernehmbaren Laut der Schritte mischte. Vorsichtig folgte Petrus ihm nach. So betraten sie fast gleichzeitig den Hof des Hohenpriesters und traten unter die Knechte, die sich beim Scheiterhaufen wärmten. Finster hielt Judas seine Knochenfinger über das Feuer und hörte, wie Petrus hinter ihm plötzlich laut seine Stimme erhob:
– Nein, ich kenne Ihn nicht!
Dort aber schien man darauf zu beharren, daß er einer der Jünger Jesu sei, denn Petrus wiederholte noch lauter:
– Nein doch, ich weiß nicht, was ihr sagt.
Judas sah sich nicht um, er lachte gezwungen, nickte mit dem Kopfe und murmelte:
– Recht, recht, Petrus! Gib deinen Platz neben Jesus nicht preis!
Und er sah nicht mehr, wie Petrus erschrocken den Hof verließ, um nicht wiederzukehren.
Von diesem Abend bis zum Tode Jesu sah Judas keinen Jünger mehr in seiner Nähe, und nur sie beide blieben allein zusammen inmitten dieser Menge, untrennbar bis in den Tod, seltsam verbunden durch das gemeinsame Leiden: Er, der überantwortet war zu Schimpf und Qual und er, der Ihn verraten hatte. Aus einem Leidenskelche tranken sie beide, wie zwei Brüder, der Verratene und der Verräter, und das glühende Naß versengte in gleicher Weise die reinen und die unreinen Lippen.
Unverwandt blickte Ischariot in die Flamme des Scheiterhaufens, die seine Augen mit einem heißen Glutgefühl erfüllte und streckte seine langen beweglichen Hände nach dem Feuer aus. Formlos stand er in dem Chaos der Hände und Füße, der tanzenden Schatten und des Lichtes und murmelte heiser und klagend:
– Wie kalt es ist! Oh Gott, wie kalt es ist!
So kommt es wohl, wenn die Fischer des Nachts fortrudern und den glimmenden Reisighaufen am Ufer zurücklassen: aus dem finsteren Grunde des Meeres herangekrochen, schleicht etwas bis ans Feuer, blickt es wild und unverwandt an, strebt mit all seinen Gliedern auf es zu und stöhnt heiser und klagend:
– Wie kalt es ist! Oh Gott, wie kalt es ist!
Doch plötzlich vernahm Judas den Aufschrei lauter Stimmen hinter seinem Rücken, die Rufe und das Lachen der Krieger, voll vertrauter, schläfrig-gieriger Bosheit, und das Pfeifen kurzer und häufiger Schläge auf den lebendigen Körper. Er sah sich um und ein momentaner Schmerz durchzuckte seinen ganzen Leib und alle Knochen.
Man schlug Jesus.
Das also war es!
Er sah, wie die Krieger Jesus mit sich in das Richthaus schleppten. Die Nacht schwand dahin, die Feuer erlöschten und verglommen unter der Asche, aus dem Richthaus aber drangen noch immer dumpfe Schreie, Lachen und Schimpfworte hervor. Man schlug Jesus und peinigte Ihn. Wie ein Verirrter eilte Ischariot jählings durch den menschenleeren Hof, hielt in seinem Lauf inne, hob den Kopf und eilte weiter, verwundert über die Scheiterhaufen stolpernd und gegen die Mauern anlaufend. Dann drückte er sich fest an die Wand des Richthauses, reckte sich empor und saugte sich fest ans Fenster, die Ritzen und Spalten der Türe, und beobachtete gierig, was drinnen vorging. Er sah ein enges, dumpfes, schmutziges Zimmer, wie man es in allen Richthäusern der Welt findet, der Boden war vollgespien und die Wände waren fettig und voller Flecken, als ob man längs ihnen gegangen wäre oder sich auf ihnen herumgewälzt hätte. Und er sah den Menschen, der geschlagen wurde. Man schlug Ihn ins Angesicht, auf den Kopf, man stieß Ihn wie einen weichen Sack aus einer Ecke in die andere; und da Er nicht schrie und nicht Widerstand leistete, kam es einem bisweilen nach langem Schauen fast wirklich so vor, als ob dies kein lebendiger Mensch, sondern eine weiche Puppe ohne Blut und Knochen sei. Sie beugte sich auch ganz seltsam wie eine Puppe, und wenn sie beim Fallen mit dem Kopf auf die Steinfliesen stieß, hatte man nicht den Eindruck, daß zwei harte Körper aneinanderschlugen, sondern als ob etwas Weiches, Schmerzloses hinfalle. Und wenn man lange zusah, dann erschien es einem wie ein endloses, seltsames Spiel, dem es fast täuschend ähnlich sah. Nach einem starken Stoß fiel die Puppe mit einer leichten Bewegung einem der im Zimmer sitzenden Krieger auf die Knie, der stieß sie abermals von sich, sie drehte sich in der Luft um und setzte sich auf den nächsten nieder, und so ging es immer weiter. Es erhob sich ein gewaltiges Gelächter, und auch Judas mußte lachen – wie wenn eine fremde kräftige Hand ihm mit eisernen Fingern den Mund auseinanderriß. So ward Judas' Mund betrogen.
Die Nacht zog sich hin, und die Feuer glommen. Judas fiel von der Wand herab und schlich langsam zu einem der Scheiterhaufen hin, rührte die Kohlen auf, legte sie zurecht und hielt die leicht zitternden Hände über das Feuer, obwohl er jetzt keine Kälte mehr spürte. Und traurig murmelte er:
– Oh, wie weh ist mir, wie weh, mein Söhnchen, mein lieber Sohn, mein liebes Söhnchen! Wie weh! Wie weh! ...
Dann ging er wieder zum Fenster, das in der Öffnung hinter dem dichten Gitter in trübem, gelbem Lichte leuchtete, und wiederum sah er, wie Jesus geschlagen wurde. Einmal tauchte Sein braunes, jetzt entstelltes und von einem Wald von wirren Haaren umrahmtes Antlitz dicht vor Judas Augen auf. Jetzt krallte sich eine Hand in dieses Haar fest, warf den Menschen nieder und begann mit Seinem Gesicht den vollgespienen Boden abzuwischen, indem die Hand Seinen Kopf gleichmäßig von der einen Seite auf die andre drehte. Dicht unter dem Fenster schlief ein Krieger mit offenem Munde, der eine Reihe weißer, glänzender Zähne sehen ließ; doch ein breiter Rücken mit einem fetten, kahlen Nacken schob sich jetzt vor das Fenster und man konnte nichts mehr sehen. Und plötzlich wurde es still.
– Was ist das? Warum schweigen sie? Sollten sie erraten haben?
Mit einem Schlage ist Judas' ganzer Kopf in all seinen Teilen von einem gewaltigen Lärmen, Schreien und Brüllen von tausend in wildem Aufruhr tobenden Gedanken erfüllt. Vielleicht haben sie erraten? Haben begriffen, daß dies der edelste von allen Menschen ist – das ist doch so einfach, so klar, so selbstverständlich? Was geht jetzt dort vor? Sie stehen vor Ihm auf den Knien und weinen leise und küssen Seine Füße. Jetzt tritt Er hinaus, und demütig kommen sie nachgekrochen – tritt hinaus zu Judas als Sieger, als Held, als Beherrscher der Wahrheit, als Gott ....
– Wer betrügt Judas? Wer hat recht?
Ach nein! Wieder erhebt sich der Lärm und das Geschrei. Und wieder schlagen sie auf Ihn los. Sie haben es nicht begriffen, nicht erraten und schlagen noch stärker, noch heftiger, noch schmerzhafter. Die Feuer aber gehen aus und erlöschen unter der Asche, und der Rauch, der von ihnen aufsteigt, ist ebenso gespenstisch blau, wie die Luft, und der Himmel ist ebenso hell wie der Mond. Der Tag bricht an.
– Was bedeutet der Tag? – fragt Judas.
Doch nun glüht, blitzt, verjüngt sich alles und der Rauch hoch oben ist nicht mehr blau, sondern rötlich. Die Sonne geht auf.
– Was bedeutet die Sonne? – fragt Judas.
Seit dieser Zeit zeigte man mit Fingern auf Judas, und manche sprachen mit Verachtung, andere dagegen mit Haß und Entsetzen:
– Seht: das ist Judas, der Verräter!
Schon begann der schimpfliche Ruhm sich auszubreiten, zu dem er sich selbst in alle Ewigkeit verurteilt hatte. Tausend Jahre werden vergehen, Völker werden auf Völker folgen, und immer noch wird die Luft widerhallen von den Worten, die Gute und Schlechte nur mit Schrecken und Abscheu aussprechen werden:
– Judas, der Verräter ... Judas, der Verräter!
Er aber hörte gleichmütig, was über ihn gesprochen wurde, nur von dem einzigen Gefühl einer alles besiegenden, glühenden Neugierde erfüllt. Seit dem Anbruch des Tages, als der zerschlagene und zermarterte Jesus aus dem Richthause geführt wurde, folgte Ihm Judas überall nach, und seltsam: er fühlte weder Gram noch Kummer, noch Schmerz, noch Lust, – er hatte nur das eine unbesiegliche Verlangen, alles zu sehen und alles zu hören. Und obwohl er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, fühlte sich sein Körper leicht und frei; wenn man ihn nicht durchließ und ihn zurückdrängte, machte er sich mit ein paar Stößen Luft, und zwängte sich gewandt zwischen dem Volke durch, bis er ganz vorne stand; und keinen Augenblick ruhte sein lebendiges, schnelles Auge. Als Jesus von Kaiphas verhört wurde, legte er seine Hand ans Ohr, um sich kein Wort entgehen zu lassen, nickte zustimmend mit dem Kopfe und murmelte:
– Gut! Gut! Hörst du's, Jesus?
Aber er war doch nicht frei, er glich einer Fliege, die an einen Faden gebunden ist: summend fliegt sie hin und her, doch keinen Augenblick läßt sie der eigensinnige und folgsame Faden frei. Gedanken wie Stein lagen in Judas Hinterkopfe, er war unentrinnbar an sie festgeschmiedet, als wüßte er selbst nicht, was das für Gedanken waren, er wollte nicht an sie rühren, und doch fühlte er sie beständig. Und bisweilen kamen sie plötzlich auf ihn zu, sprangen auf ihn und begannen ihn mit ihrer ganzen furchtbaren Last zu drücken und zu würgen, als ob die Decke einer Felsenhöhle sich langsam und schrecklich auf ihn niedersenkte. Dann griff er sich mit der Hand ans Herz, suchte sich zu schütteln, wie wenn ihn fröstelte und richtete eilig seine Augen auf einen anderen Punkt.
Als Jesus von Kaiphas hinausgeführt wurde, begegnete er Seinem müden Blick ganz aus der Nähe und nickte Ihm, ohne sich Rechenschaft davon abzugeben, mehrmals freundlich mit dem Kopfe zu.
– Ich bin hier, mein lieber Sohn! Ich bin hier! – murmelte er hastig und stieß einen Gaffer, der ihm im Wege stand, ärgerlich in den Rücken.
Jetzt bewegte sich alles in einem lauten, lärmenden Haufen zu Pilatus fort, zum letzten Verhör und Gericht, und mit derselben unerträglichen Neugierde beobachtete Judas die Gesichter des immer mächtiger zusammenströmenden Volkes. Viele waren Judas ganz fremd, Judas hatte sie noch nie gesehen, aber er begegnete doch auch vielen, die Jesus »Hosianna!« zugerufen hatten, und ihre Zahl schien mit jedem Schritte immer mehr anzuwachsen.
– Gut! Gut! – dachte Judas schnell, und sein Kopf fing sich an zu drehen, wie bei einem Trunkenen. – Nun hat alles ein Ende. Gleich würden sie schreien: Er gehört uns, das ist Jesus, was macht ihr? Und alle würden begreifen, und ...
Aber die Gläubigen schritten stumm weiter. Die einen lächelten heuchlerisch und taten so, als ob sie das nicht anginge; die andern machten zwar einige gelassene Bemerkungen, aber ihre leisen Stimmen gingen spurlos unter im Lärm der sich vorwärts bewegenden Menge und in dem lauten, rasenden Geschrei der Feinde Christi, und wieder wurde ihm leicht ums Herz. Da erblickte Judas nicht weit von sich plötzlich den vorsichtig heranschleichenden Thomas; ein schneller Gedanke durchzuckte sein Hirn, er machte eine Bewegung, um ihm entgegenzugehen. Beim Anblick des Verräters erschrak Thomas und wollte entfliehen, aber Judas holte ihn in der kleinen, schmutzigen Straße zwischen zwei Mauern ein:
– Thomas! So warte doch!
Thomas blieb stehen, streckte beide Hände abwehrend von sich und rief aus:
– Hebe dich weg von mir, Satan!
Ischariot machte eine ungeduldige Handbewegung.
– Wie dumm du bist, Thomas, ich hielt dich für klüger als die anderen. Satan! Satan! Das muß doch bewiesen werden.
Thomas ließ die Hände herabsinken und fragte erstaunt:
– Hast du denn nicht den Meister verraten? Ich sah doch selbst, wie du die Krieger herbeiführtest und ihnen Jesus zeigtest. Wenn das nicht Verrat ist, was wäre dann Verrat?
– Etwas anderes! Etwas ganz anderes! – sagte Judas ungeduldig. – Höre! Euer sind hier viele. Ihr müßt euch alle versammeln und laut fordern: gebt uns Jesus heraus. Er gehört uns. Man kann es euch nicht abschlagen, man wird es nicht wagen. Sie werden selbst begreifen ...
– Was sprichst du! – rief Thomas und wehrte entschieden mit der Hand ab: hast du denn nicht gesehen, wieviel bewaffnete Krieger und Tempelwächter hier sind. Und dann: das Gericht hat ja noch nicht stattgefunden, wir dürfen uns dem Gericht nicht widersetzen. Müssen sie denn nicht einsehen, daß Jesus unschuldig ist und Ihn sofort freigeben?
– Meinst du? – sprach Judas nachdenklich. – Thomas, Thomas! Aber wenn das wahr wäre? Was dann? Wer hat recht? Wer betrog Judas?
– Wir haben heute die ganze Nacht hindurch darüber gesprochen und sind zur Überzeugung gekommen: das Gericht kann doch keinen Unschuldigen verurteilen. Sollte es Ihn aber dennoch verurteilen ...
– Nun? Was dann? – rief Judas hastig.
– ... so ist das kein Gericht. Sie selbst werden es zu bereuen haben, wenn sie vor dem wahren Richter Rechenschaft ablegen müssen.
– Vor dem wahren! Es gibt noch einen wahren! – lachte Judas.
– Und wir alle verfluchten dich, da du aber sagst, du seiest kein Verräter, so glaube ich, daß wir ein Schiedsgericht über dich halten müssen ...
Judas hörte die letzten Worte nicht mehr, drehte sich schroff um und stürzte eilig die Gasse hinunter, dem sich entfernenden Volke nach. Bald aber mäßigte er seine Schritte und ging ruhig weiter, weil ihm einfiel, daß eine große Menge immer langsam vorwärts kommt und der, der allein geht, sie sicher einholen kann.
Als Pilatus Jesus aus seinem Palast herausführte und Ihn dem Volke gegenüberstellte, da begriff Judas, der von den schweren Schultern der Krieger an eine Säule gedrückt dastand und den Kopf wie rasend hin und her drehte, um, zwischen zwei glänzenden Helmen hindurch, nur etwas von dem, was da vorging, zu erhaschen, – da begriff er mit einem Schlage, daß alles zu Ende war. In glühendem Sonnenbrande, hoch über den Häuptern der Menge, erblickte er Jesus, blutig und bleich, in der Dornenkrone, die ihre scharfen Spitzen in Seine Stirne bohrte. Er stand an einer Erhöhung, vom Kopf bis zu den kleinen, braunen Füßen sichtbar und wartete ruhig, blickte so verklärt in Seiner makellosen Schönheit, daß nur ein Blinder, der nicht einmal die Sonne sieht, das nicht erkannt, nur ein Tor es nicht begriffen hätte. Und das Volk schwieg – so stille war's, daß Judas hörte, wie ein vor ihm stehender Krieger atmete, und wie beim jedem Atemzuge auf seiner Brust ein Riemen knackte.
– Ja! Nun ist alles zu Ende. Gleich werden sie begreifen, – dachte Judas. Da machte plötzlich etwas Seltsames, das der wahnsinnigen Lust eines Falles von einem unsagbar hohen Berggipfel in einen himmelblauen, strahlenden Abgrund glich, sein Herz stille stehen. Die Lippen verächtlich zum runden, rasierten Kinn herabziehend, wirft Pilatus kurze, trockene Worte in die Menge – wie man ein paar Knochen in eine Schar von hungernden Hunden wirft, um ihre Gier nach frischem Blut und lebendigem, bebendem Fleisch auf etwas anderes abzulenken.
– Ihr habt mir diesen Menschen gebracht, von dem ihr sagt, daß Er das Volk verführe; ich habe Ihn vor Euch geprüft und keine Schuld an Ihm gefunden, der ihr Ihn anklagt ...
Judas schließt die Augen. Er wartet.
Und das ganze Volk fängt an zu schreien und zu heulen, wie tausend Tier- und Menschenstimmen:
– Töte Ihn! Kreuzige Ihn! Kreuzige Ihn!
Und wie um seiner selbst zu spotten und in einem Augenblick den ganzen Abgrund des Lasters, des Wahnsinns und der Schande auszukosten, fährt dasselbe Volk fort, zu rufen und zu schreien, mit tausend Tier- und Menschenstimmen zu fordern:
– Gib uns Barabbas los! Ihn aber kreuzige! Kreuzige Ihn!
Aber noch hatte ja der Römer sein letztes Wort nicht gesprochen: ein Zucken vor Zorn und Abscheu entstellt sein glattrasiertes, stolzes Gesicht. Er beginnt zu begreifen, er hat begriffen! Jetzt spricht er leise zu seinen Knechten, aber seine Stimme verhallt im Brüllen des Volkes. Was spricht er? – Sagt er ihnen, sie sollen ihr Schwert nehmen und auf diese Toren loshauen?
– Bringt mir Wasser.
– Wasser? Was für ein Wasser? Wozu?
Jetzt wäscht er seine Hände – wozu wäscht er wohl seine weißen, reinen, mit Ringen geschmückten Hände? – und zornig ruft er, indem er sie hoch emporhebt, dem verwunderten Volke zu:
– Ich bin unschuldig an dem Blute dieses Gerechten. Sehet ihr zu!
Noch tropft das Wasser von seinen Fingern auf die Steinfliesen herab, als etwas Weiches sich zu Pilatus Füßen hinstreckt. Heiße, scharfe Lippen küssen seine nur schwach Widerstand leistende Hand – sie saugen sich an sie fest, wie Fangarme, saugen sein Blut und möchten fast beißen. Mit Abscheu und Schrecken blickt er hinab und sieht einen großen, sich vor ihm windenden Körper, ein häßlich gespaltetes Antlitz und zwei ungeheure Augen, die einander wenig ähnlich sehen, als wenn nicht ein Wesen, sondern deren viele sich an seine Hände und Füße klammern. Und er hört es heiß und hastig flüstern:
– Du bist weise! ... Du bist edel! ... Du bist weise, weise! ...
Eine wahrhaft satanische Freude leuchtet in diesem furchtbaren Antlitz, daß Pilatus aufschreit und den Mann mit dem Fuße fortstößt. Judas fällt hin, und während er gleich einem gestürzten Dämon auf den Steinfliesen liegt, streckt er noch immer seine Hand nach dem sich entfernenden Pilatus aus und schreit wie ein leidenschaftlich Verliebter:
– Du bist weise! Du bist weise! Du bist edel!
Dann erhebt er sich leicht und läuft fort, begleitet vom Gelächter der Krieger. Noch ist ja nicht alles vorbei. Wenn sie das Kreuz und die Nägel sehen werden, können sie noch begreifen, und dann ... Ja, was dann? Im Vorübergehen sieht er den bleichen, erschrockenen Thomas, nickt ihm beruhigend mit dem Kopfe zu und holt Christus ein, der zum Richtplatze geführt wird. Der Weg wird ihm schwer, kleine Steinchen rollen unter seinen Füßen hinab, und plötzlich merkt Judas, daß er müde ist. Jetzt kennt er nur eine Sorge, wie er seinen Fuß besser setzen soll: trübe schaut er sich nach allen Seiten um und sieht die weinende Maria Magdalena und eine Anzahl schluchzender Frauen – mit losem Haar, roten Augen, verzerrten Lippen – die ganze unendliche Trauer der zarten weiblichen Seele, die dem Schimpf überantwortet ist. Plötzlich scheint er aufzuleben, er benutzt einen geeigneten Augenblick, läuft zu Jesus und flüstert eilig:
– Ich bin mit Dir!
Die Krieger treiben ihn mit Geißelhieben fort, er dreht und windet sich, um den Hieben zu entgehen, zeigt den Kriegern die Zähne und fügt schnell hinzu:
– Ich bin mit Dir. Dorthin! Du verstehst mich! Dorthin!
Er wischt Ihm das Blut vom Angesicht und droht einem Krieger mit der Faust, der sich lachend umdreht und die anderen auf ihn aufmerksam macht. Er sucht Thomas – aber weder dieser, noch ein anderer Jünger sind unter der Menge zu sehen. Und wieder fühlt er sich müde; schwer bewegt er seine Füße fort, während er die weißen, scharfen zerbröckelnden Steine aufmerksam betrachtet.
* * *
... Als sich der Hammer erhob, um Jesu linke Hand ans Holz zu nageln, schloß Judas die Augen, und es erschien ihm wie eine ganze Ewigkeit, während der er nicht atmete, nicht sah, nicht lebte und nur horchte. Doch da schlug Eisen auf Eisen; einer nach dem andern folgten die kleinen, kurzen tiefen Schläge – jetzt hörte man, wie der scharfe Nagel ins weiche Holz drang und dessen Teile auseinandertrieb.
Erst eine Hand! Noch ist es nicht zu spät.
Und nun die andere Hand! Noch immer nicht zu spät.
Das eine Bein, und dann das andere! Wie? Wäre wirklich alles zu Ende? Unentschlossen öffnet er die Augen und sieht, wie das Kreuz schwankend aufgerichtet und in einer Grube eingerammt wird. Sieht, wie Jesu Hände unter krampfhaften Zuckungen sich dehnen, Seine Wunden aufklaffen – und der eingefallene Leib plötzlich unter den Rippen verschwindet. Die Arme dehnen sich immer mehr, werden dünn und bleich, verrenken sich im Schultergelenk, die Wunden röten sich unter den Nägeln und kriechen langsam weiter hinauf – sie müssen reißen ... Doch nein, jetzt stand es stille. Alles stand stille. Nur die Rippen bewegten sich im Takt mit den kurzen, tiefen Atemzügen.
Am Scheitel der Erde erhebt sich ein Kreuz, an ihm hängt der gekreuzigte Jesus. Judas Ischariots Angst, sein Traum hat sich erfüllt – er erhebt sich aus seiner knieenden Stellung, in der er verharrte, ohne zu wissen warum, und sieht sich kalt rings um. So blickt ein unbarmherziger Sieger, in dessen Herzen schon der Entschluß reifte, alles dem Tode und der Zerstörung zu überliefern, und der nun zum letztenmal mit seinem Auge die fremde, reiche Stadt überfliegt, die zwar noch lebhaft lärmt, und doch schon gespenstisch unter der kalten Hand des Todes daliegt. Doch ebenso klar, wie sein furchtbarer Sieg steht jetzt das unheilvoll Schwankende dieses Sieges plötzlich vor Ischariots Augen. Wie, wenn sie doch begreifen? Noch ist es nicht zu spät. Noch lebt Jesus. Da blickt Er noch mit rufendem, kummervollem Auge hinab ...
Was kann verhindern, daß jetzt der dünne Schleier reiße, der noch das Auge der Menschen deckt, der so fein ist, daß man ihn kaum sehen kann? Wie, wenn sie es plötzlich begreifen? Männer, Frauen und Kinder – als eine Masse drohend, stumm und ohne Geschrei sich erheben, das verfluchte Kreuz aus der Erde reißen und mit den Händen den noch lebenden, den befreiten Jesus hoch aufrichten, über dem Scheitel der Erde! – Hosianna! Hosianna!
Hosianna? Nein, lieber soll Judas auf der Erde liegen. Nein, lieber soll er, am Boden liegend und wie ein Hund die Zähne fletschend, hinaufspähen und warten, bis sie sich alle erheben. Was aber war mit der Zeit geschehen? Bald schien sie ganz still zu stehen, daß man sie mit den Händen vorwärtsstoßen, ihr die Sporen, die Peitsche geben mochte, wie einem faulen Esel – bald schien sie wie wahnsinnig bergab zu jagen, daß einem der Atem verging und die Hände vergeblich nach einer Stütze suchten. Siehe, da weinte Maria Magdalena. Und dort weinte Jesu Mutter. Laßt sie weinen! Was bedeuten hier ihre Tränen, was die Tränen aller Mütter, aller Frauen der Welt!
– Was sind Tränen? – fragt Judas und stößt die eigensinnige Zeit wütend vorwärts, schlägt sie mit Fäusten, verflucht sie wie einen Sklaven. Sie ist nicht sein Eigentum und darum gehorcht sie ihm nicht. O, wenn sie Judas gehörte! – Aber ach, sie gehört ja all diesen weinenden, lachenden Menschen, die wie auf dem Jahrmarkt schwatzen und plaudern, sie gehört der Sonne, dem Kreuz und dem Herzen Jesu, das so langsam starb.
Welch schurkisches Herz hat doch Judas! Er hält es mit der Hand fest und dennoch schreit es: Hosianna! – so laut, daß es gleich alle hören mußten. Er drückt es an die Erde, und doch schreit es: Hosianna, Hosianna! – wie ein Schwätzer, der die heiligsten Geheimnisse auf die Straße streut.
– So schweige doch! Schweige, Herz!
Da hört man plötzlich ein lautes, jäh unterbrochenes Schluchzen und dumpfes Schreien, und eilig drängte sich alles zum Kreuze. Wie? Hätten sie begriffen?
Nein. Jesus stirbt. – Und das war möglich? Ja, Jesus stirbt. Seine bleichen Hände sind unbeweglich, aber sein Gesicht, seine Brust und seine Füße durchläuft ein kurzes Zucken. – Und das war möglich? – Ja, er stirbt. Die Atemzüge werden seltener. Jetzt stehen sie still. – Nein, noch ein Seufzer; noch ist Jesus auf der Erde. Noch einer? – Nein. Nein. – Nein. – Jesus ist tot.
Es ist vollbracht! Hosianna! Hosianna!
* * *
Die Angst und die Träume haben sich erfüllt. Wer will jetzt noch den Sieg aus Ischariots Händen entreißen? Es ist vollbracht! Mögen alle Völker, so viele ihrer auf Erden sind, in Golgatha zusammenströmen, mögen Millionen Kehlen rufen: Hosianna! Hosianna! und Meere von Blut und Tränen zu seinen Füßen vergießen – sie werden doch nichts finden, als das schimpfliche Kreuz und den toten Jesus.
Ruhig und kalt betrachtet Ischariot den Gestorbenen, sein Blick ruht einen Augenblick auf Seiner Wange, auf die er gestern noch den Abschiedskuß gedrückt hatte, und langsam wendet er sich weg. Jetzt gehört die ganze Zeit ihm, und daher schreitet er ruhig und ohne sich zu beeilen, weiter; jetzt gehört die ganze Erde ihm, und daher tritt er fest auf, wie ein Herrscher und König, wie einer, der in dieser Welt unendlich einsam und selig in seiner Einsamkeit ist. Er bemerkt Jesu Mutter und spricht rauh zu ihr:
– Du weinst, Mutter? Weine nur, weine! Noch lange werden alle Mütter der Erde mit dir weinen. Bis daß Christus und ich wiederkommen und den Tod vernichten.
– Wie – ist er wahnsinnig oder lästert er, der Verräter? Doch er bleibt ernst, und sein Gesicht bleibt streng, und seine Augen bewegen sich nicht in sinnloser Eile wie früher. Jetzt bleibt er stehen und betrachtet mit kalter Aufmerksamkeit die neue, kleine Erde. Sie ist klein geworden, und er fühlt sie ganz unter seinen Füßen; er sieht die kleinen Berge, die sich sanft röten in den letzten Strahlen der Abendsonne, und auch die Berge fühlt er unter seinen Füßen; er sieht den Himmel seinen blauen Mund weit öffnen, sieht die kleine, runde Sonne vergebens sich abmühen, zu brennen und zu blenden – und fühlt Himmel und Sonne unter seinen Füßen. In seiner unendlichen und herrlichen Einsamkeit empfand er stolz die Ohnmacht aller Mächte dieser Welt und warf sie alle hinab in den Abgrund.
Und er geht weiter mit ruhigen, majestätischen Schritten. Und die Zeit eilt nicht fort, weder vorwärts noch rückwärts: gehorsam bewegt sie sich an seiner Seite mit ihrer ganzen, gewaltigen, unsichtbaren Masse.
Es ist vollbracht!
Ganz als der alte Betrüger, hüstelnd, schmeichlerisch lächelnd und unter fortwährenden Verbeugungen erschien Judas Ischariot, der Verräter, vor dem Synedrion. Es war gegen Mittag am folgenden Tage nach der Hinrichtung Jesu. Sie waren alle versammelt, Seine Richter und Seine Mörder: der greise Hannas mit seinen Söhnen, den genauen Ebenbildern des Vaters und ganz so abstoßend häßlich, wie er, der vom Ehrgeiz verzehrte Kaiphas, dessen Schwiegersohn und alle anderen Glieder des Synedrions, die ihre Namen aus dem menschlichen Gedächtnis stahlen – reiche und vornehme Sadduzäer, stolz auf ihre Macht und die Kenntnis des Gesetzes. Schweigend empfingen sie den Verräter, und ihre hochmütigen Gesichter regten sich nicht: wie wenn niemand eingetreten wäre. Und selbst der kleinste und unbedeutendste unter ihnen, auf den die anderen kaum achteten, hob sein Vogelgesicht in die Höhe und blickte so ruhig, als wäre niemand ins Zimmer gekommen. Judas verbeugte sich, verbeugte sich immer wieder, sie aber schauten vor sich hin und schwiegen; wie wenn kein Mensch eingetreten, sondern ein unsauberes Insekt hineingekrochen wäre, das man nicht bemerken mochte. Aber Judas Ischariot war nicht der Mann, der darob in Verlegenheit geraten wäre: sie schwiegen, er aber verbeugte sich immer wieder und dachte bei sich, er könne sich ja auch bis zum späten Abend verbeugen, wenn es nötig sei.
Endlich fragte Kaiphas ungeduldig:
– Was willst du?
Judas verbeugte sich nochmals und sagte bescheiden:
– Ich bin's, Judas Ischariot, der euch Jesus von Nazareth verriet.
– Nun, was willst du noch? Du hast erhalten, was dir zukommt. Geh! – herrschte ihn Hannas an, aber Judas schien seinen Befehl nicht gehört zu haben und fuhr fort, sich zu verbeugen. Kaiphas warf einen Blick auf ihn und fragte Hannas:
– Wieviel hat man ihm gegeben?
– Dreißig Silberlinge.
Kaiphas lächelte, und der greise Hannas lächelte mit ihm, und über all die hochmütigen Gesichter huschte ein fröhliches Lächeln; der mit dem Vogelgesicht lachte sogar laut auf. Judas aber wurde auffallend bleich und rief schnell:
– Freilich, freilich! Natürlich war es sehr wenig, aber ist Judas denn unzufrieden, schreit er denn, daß er betrogen sei? Er ist zufrieden. Wie? Diente er denn nicht einer heiligen Sache? Einer heiligen Sache! Hören denn jetzt nicht die weisesten Männer auf Judas und denken sie nicht: er gehört zu uns, Judas Ischariot, er ist unser Bruder, unser Freund, Judas Ischariot, der Verräter? Dürstet etwa Hannas nicht danach, auf die Knie zu fallen und Judas' Hand zu küssen? – Aber Judas will es nicht, er ist feige, er fürchtet sich, er könnte gebissen werden.
Kaiphas sprach:
– Jagt diesen Hund hinaus. Was bellt er?
– Fort von hier! Wir haben nicht Zeit, dein Geschwätz anzuhören! – sagte Hannas gleichgültig.
Judas richtete sich auf und schloß die Augen. Die Verstellung, die er sein ganzes Leben hindurch mit solcher Leichtigkeit auf sich genommen hatte, ward ihm plötzlich zu einer unerträglichen Last; und mit einem Zucken der Wimpern warf er sie ab. Als er Hannas aufs neue ansah, war sein Blick schlicht und gerade und schrecklich in seiner nackten Wahrhaftigkeit. Aber auch darauf achtete keiner.
– Du willst wohl, daß man dich mit Stöcken hinausjagt! – schrie Kaiphas.
Erstickend unter der Last der schrecklichen Worte, die er immer höher und höher emporhob, um sie auf die Häupter der Richter herabzuschleudern – fragte Judas heiser:
– Wißt ihr denn ... wißt ihr denn, wer Er war? Der, Den ihr gestern verurteilt und gekreuzigt habt?
– Wir wissen alles! Geh nur!
Jetzt schickt er sich an, mit einem Wort das dünne Häutchen zu zerreißen, das ihre Augen bedeckt, und die ganze Welt muß erzittern unter der Last der unbarmherzigen Wahrheit! Sie hatten eine Seele – und werden sie verlieren; sie lebten – und müssen ihr Leben lassen; sie sahen Licht vor den Augen – und ewige Finsternis und Entsetzen wird sie decken. Hosianna! Hosianna!
Das waren die schrecklichen Worte, die ihm die Kehle sprengten:
– Er war kein Betrüger. Er war unschuldig und rein. Hört ihr's? Judas hat euch betrogen. Er lieferte euch einen Unschuldigen aus.
Er wartet gespannt. Da hört er Hannas ruhige Greisenstimme:
– Und ist das alles, was du zu sagen hattest?
– Ihr scheint mich nicht verstanden zu haben, – spricht Judas mit Würde und erbleicht. – Judas hat euch betrogen. Er war unschuldig. Ihr habt einen Unschuldigen gemordet.
Der mit dem Vogelgesicht lächelt, aber Hannas bleibt gleichgültig, Hannas langweiligt sich, er gähnt. Und nach ihm gähnt auch Kaiphas und spricht müde:
– Was hat man mir von dem Verstande Judas Ischariots erzählt? Das ist doch ein ganz gewöhnlicher Tor!
– Wie?! – schreit Judas, und eine finstere Wut bemächtigt sich seiner. – Und wer seid ihr, ihr weisen Leute? Judas betrog euch – hört ihr's! Er verriet nicht Ihn, sondern euch, die Weisen, euch, die Starken, überantwortete er dem schimpflichen Tode, der nie enden wird in alle Ewigkeit. Dreißig Silberlinge? Wohl! Wohl! Aber das ist ja der Preis eures Blutes, das so schmutzig ist wie der Spülicht, den die Frauen vor dem Tore ihres Hauses ausgießen. Ach Hannas! alter, graubärtiger, dummer Hannas, der du dich vollgefressen hast am Gesetz – warum gabst du nicht einen Silberling, einen einzigen Obolus mehr? Nun mußt du mit dieser Zahl durch die Ewigkeit wandern!
– Hinaus! – schrie Kaiphas und wurde purpurrot. Aber Hannas beruhigte ihn mit einer Handbewegung und fragte in demselben gleichgültigen Ton:
– Ist das alles?
– Wenn ich in die Wüste gehe und den wilden Tieren zurufe: Ihr Tiere, habt ihr's gehört, wie hoch die Menschen Jesus einschätzten – was würden die Tiere wohl tun? Sie würden aus ihren Höhlen hervorkriechen und aufbrüllen vor Grimm, würden ihre Furcht vor dem Menschen vergessen und alle hierher gelaufen kommen, um euch zu fressen! Wenn ich zum Meere sagte: du, Meer, weißt du, wie hoch die Menschen ihren Jesus einschätzten? Und wenn ich zu den Bergen spräche: ihr Berge, wißt ihr, wie hoch die Menschen Jesus einschätzten? Dann würden Meer und Berge ihre ihnen von Ewigkeit angewiesenen Plätze verlassen, und würden hierher kommen und auf eure Häupter herabfallen.
– Will etwa Judas ein Prophet werden? Er spricht so laut, – bemerkte jener mit dem Vogelgesicht spöttisch und sah dabei unterwürfig auf Kaiphas.
– Heute habe ich die bleiche Sonne gesehen. Sie sah mit Entsetzen auf die Erde und sagte: wo ist denn der Mensch? Heut' sah ich einen Skorpion. Er saß auf einem Steine und lachte und sprach: wo ist denn der Mensch? Ich kam näher hinzu und sah ihm in die Augen. Er aber lachte und sprach: wo ist der Mensch, ich sehe ihn nicht! Wo ist der Mensch? so sprecht doch, ich sehe ihn nicht! Oder wär' Judas erblindet, der arme Judas Ischariot!
Und Ischariot schluchzte laut auf. In diesem Augenblick glich er einem Wahnsinnigen, und Kaiphas schaute weg und machte eine verächtliche Handbewegung, Hannas aber dachte lange nach und sprach:
– Ich sehe, Judas, du hast wirklich zu wenig erhalten, und das regt dich auf. Da hast du noch Geld. Nimm und gib es deinen Kindern.
Er warf ihm etwas zu. Es fiel hin und gab einen rauhen Klang. Und noch war dieser Ton nicht verklungen, als ein anderer, ähnlicher ihm folgte: das war Judas, der dem Hohenpriester und den Richtern eine Handvoll Silberlinge und Obolusse ins Gesicht schleuderte: er gab ihnen das Geld zurück, das er für Jesus empfangen hatte. Wie ein schräger Regen fielen die Münzen schief herab, trafen ihre Gesichter, den Tisch, rollten auf den Fußboden. Einige von den Richtern bedeckten ihre Gesichter mit den Händen, die Handflächen nach außen gekehrt, andere waren von ihren Plätzen aufgesprungen und schrien und schimpften. Judas wollte Hannas treffen, er warf seine letzte Münze, nach der seine zitternde Hand lange im Geldsack gesucht hatte, nach ihm, spie zornig aus und ging.
– So, so, – murmelte er, während er schnell durch die Gassen eilte und die Kinder aufschreckte. – Du hast wohl geweint, Judas? Hätte Kaiphas am Ende gar recht, wenn er sagt, Judas Ischariot sei ein Tor? Wer da weint am Tage der großen Rache, ist ihrer nicht wert – weißt du das, Judas? Laß deine Augen dich nicht trügen, laß dein Herz dich nicht belügen, lösch nicht das Feuer mit Tränen, Judas Ischariot!
* * *
Die Jünger Jesu saßen in stummer Trauer beisammen und horchten auf das, was draußen vorging. Noch war Gefahr vorhanden, daß die Rache der Feinde Jesu nicht gestillt sei, und sich nicht auf Ihn allein beschränken werde; alle erwarteten, daß die Wächter kommen könnten und fürchteten sich vor neuen Morden. Neben Johannes, der als Jesu liebster Jünger besonders tief um Seinen Tod trauerte, saßen Maria Magdalena und Matthäus und suchten ihn leise zu trösten. Maria, deren Gesicht vom vielen Weinen geschwollen war, strich ihm sanft über sein üppiges, welliges Haar, Matthäus aber sprach lehrhaft mit Salomos Worten:
– Der Geduldige ist besser, denn der Starke, und der seines Mutes Herr, ist besser, denn der Städte gewinnt.
In diesem Augenblick trat Judas Ischariot ein, die Tür laut hinter sich zuschlagend. Alle sprangen erschrocken auf und konnten sich zuerst gar nicht recht klar werden, wer das war, aber als sie das verhaßte Angesicht und den roten, knolligen Kopf erkannt hatten, erhoben sie ein großes Geschrei. Petrus erhob beide Hände in die Höhe und rief:
– Hebe dich weg von hier, Verräter. Hebe dich weg, sonst schlage ich dich tot!
Als sie aber das Gesicht und die Augen des Verräters genauer ansahen, verstummten sie und flüsterten erschrocken:
– Laßt ihn! Laßt ihn! In ihn ist der Satan gefahren.
Judas wartete, bis es stille ward, und rief laut aus:
– Freut euch, ihr Augen Judas Ischariots! Jüngst habt ihr kalte Mörder gesehen – jetzt seht ihr feige Verräter vor euch! Wo ist Jesus? Ich frage euch: wo ist Jesus?
Es lag etwas Majestätisches in Judas heiserer Stimme, und Thomas antwortete demütig:
– Du weißt doch selbst, Judas, daß man unsern Meister gestern gekreuzigt hat.
– Und ihr habt es zugelassen? Wo war denn eure Liebe? Wo warst du, geliebter Jünger, und du – Fels, wo wart ihr alle, als man euren Freund ans Holz schlug.
– Was konnten wir denn tun? Urteile selbst – sagte Thomas und machte eine zweifelnde Gebärde.
– Fragst du mich danach, Thomas? Wohl, wohl! – sprach Judas, ließ sein Haupt auf die Schulter sinken und geriet plötzlich in grimmigen Zorn. – Wer liebt, der fragt nicht, was zu tun ist. Er geht hin und tut alles. Er weint, er beißt, er würgt den Feind und bricht ihm die Knochen entzwei. Wer liebt! Wenn dein Sohn ertrinken will, läufst du dann erst in die Stadt und fragst alle Vorübergehenden: was soll ich tun? Mein Sohn ertrinkt! Oder wirfst du dich vielmehr selbst ins Wasser und ertrinkst zusammen mit deinem Sohne? Wer liebt!
Petrus antwortete finster auf Judas wilde Rede:
– Ich entblößte das Schwert, Er aber sagte selbst zu mir, ich solle es einstecken.
– Einstecken? Und du gehorchtest Ihm? – lachte Judas auf. – Ach! Petrus, Petrus! Darf man denn auf Ihn hören? Versteht Er denn etwas von den Menschen und vom Kampf!
– Wer ihm nicht folgt, der kommt in die feurige Geenna!
– Und warum gingst du nicht dorthin? Warum gingst du nicht, Petrus? Die feurige Geenna! Was ist das: die Geenna? Wie, wenn du nun doch gegangen wärest? Wozu hast du denn eine Seele, wenn du es nicht wagst, sie ins Feuer zu werfen, sobald du willst?
– Schweig! – schrie Johannes und stand auf. Er selbst verlangte nach diesem Opfer. Und Sein Opfer ist herrlich.
– Wie? Gibt es denn ein herrliches Opfer? Was sprichst du, geliebter Jünger? Wo ein Opfer ist, da ist auch ein Henker, da gibt es Verräter. Ein Opfer bedeutet das Leiden für einen einzelnen und eine Schmach für alle. Verräter, Verräter! Was habt ihr aus der Erde gemacht? Jetzt sehen alle von oben und unten auf sie und lachen und schreien: seht diese Erde an, dort hat man Jesus gekreuzigt! Und man speit auf sie – wie ich!
– Er hat die Sünden aller auf Sich genommen. Sein Opfer ist herrlich! – wiederholte Johannes heftig.
– Nein. Euer ist die ganze Sünde, geliebter Jünger. Beginnt denn nicht mit dir das ganze Geschlecht der Verräter, der Kleinmütigen und Lügner? Oh, ihr Blinden, was machtet ihr aus der Erde? Ihr wolltet sie verderben, und werdet bald das Kreuz küssen, an das ihr Jesus schlugt. Wahrlich, wahrlich – ihr werdet das Kreuz küssen, das prophezeit euch Judas!
– Judas, lästere nicht! – brüllte Petrus und wurde ganz rot. – Wie hätten wir all Seine Feinde erschlagen können! Es waren ihrer so viele!
– Auch du, Petrus! – rief jetzt Johannes zornig aus. – Siehst du es denn nicht, daß Satan in ihn gefahren ist? Hebe dich weg von uns, Verführer. Du bist voller Lügen! Der Meister verbot uns, zu töten.
– Verbot Er euch auch, zu sterben? Warum also lebt ihr, wenn Er tot ist? Warum bewegen sich eure Beine noch und warum redet euer Mund Übeles, und zucken eure Wimper, wenn Er tot ist und unbeweglich und stumm? Wie können deine Wangen rot sein, Johannes, wenn die Seinen blaß sind? Wie wagst du es zu schreien, Petrus, wenn Er schweigt? Was aber sollen wir tun, so fragt ihr Judas? Und Judas, der schöne, kühne Judas antwortet euch: sterben! Ihr hättet sterben sollen am Wege, hättet der Krieger Schwerter, hättet ihre Hände ergreifen sollen, sie im Meer ihres Blutes ersäufen. Ihr solltet sterben, sterben! Sein Vater selbst hätte vor Entsetzen aufgeschrieen, wenn ihr alle zu Ihm gekommen wäret!
Judas verstummte und stand mit erhobener Hand da. Doch plötzlich entdeckte er auf dem Tisch die Reste einer Mahlzeit. Und mit seltsamem Staunen betrachtete er neugierig die Speisen, als sehe er so etwas zum ersten Male und fragte langsam:
– Was ist dies? Ihr habt gegessen?! Vielleicht habt ihr auch geschlafen?
– Ja, ich schlief, – sagte Petrus kurz und ließ den Kopf sinken, wie wenn er bereits fühlte, daß Judas ein Mensch sei, der gebieten darf. – Ich schlief und aß.
Thomas aber sprach fest und bestimmt:
– Das ist alles falsch, Judas. Denke doch selbst: wenn wir gestorben wären, wer würde den Menschen von Jesus erzählen? Wer würde ihnen Seine Lehre bringen, wenn wir alle tot wären: Petrus, Johannes und ich?
– Und was ist die Wahrheit selbst im Munde von Verrätern? Wird sie nicht zur Lüge? Thomas, Thomas, verstehst du denn nicht, daß du jetzt nur ein Wächter bist am Grabe der toten Wahrheit? Wenn der Wächter einschläft und ein Dieb geschlichen kommt und die Wahrheit fortstiehlt – wo ist dann die Wahrheit? So sei denn verflucht, Thomas! Unfruchtbar wirst du sein und bettelarm in alle Ewigkeit, und ihr mit ihm, Verfluchte!
– Sei selbst verflucht, du Satan! – schrie jetzt Johannes und mit ihm Jakobus, Matthäus und alle anderen Jünger. Nur Petrus schwieg.
– Ich gehe zu Ihm! – sprach Judas und streckte die Hand majestätisch empor. – Wer geht zu Ihm mit Ischariot?
– Ich! Ich gehe mit dir! – rief Petrus, aufspringend. Aber Johannes und die anderen hielten ihn fest und sprachen:
– Wahnsinniger! Vergißt du, daß er den Meister überantwortet hat in die Hand der Feinde!
Und Petrus schlug sich mit der Faust vor die Brust und weinte bitterlich:
– Wohin soll ich gehen? Oh Gott! Wohin soll ich gehen?
* * *
Judas hatte sich während seiner einsamen Spaziergänge schon längst den Platz ausgesucht, wo er sich selbst umbringen wollte nach dem Tode Jesu. Es war ein Berg, hoch über Jerusalem. Dort stand ein Baum, ein krummer, halbvertrockneter, von den Winden gequälter Baum, die ihn nach allen Seiten hin und her zerrten. Einen seiner abgebrochenen Äste streckte er gen Jerusalem aus, als wolle er segnen oder warnen oder drohen. Diesen Ast wählte sich Judas, um eine Schlinge an ihm zu befestigen. Aber bis zum Baume war es weit, und der Weg war schwer, und Judas Ischariot war sehr müde. Immer wieder schritt er über scharfe, kleine Steine, die unter seinen Füßen hinabrollten und ihn gleichsam nach hinten zu ziehen schienen, der Berg aber war hoch, von den Winden umweht, finster und traurig. Und mehrmals schon hatte Judas Rast gemacht und sich gesetzt; er atmete schwer, vom Berge strömte durch die Felsspalte eine große Kälte aus und kühlte seinen Rücken.
– Auch du, Verfluchter! – sagte Judas verächtlich und atmete tief, während er den schweren Kopf hin und her wiegte, in dem jetzt alle Gedanken wie versteint waren. Plötzlich erhob er ihn, machte seine starren Augen weit auf und murmelte grimmig:
– Nein, sie sind zu schlecht für Judas. Hörst Du's, Jesus? Wirst du mir jetzt glauben? Ich gehe zu dir. Grüße mich freundlich, denn ich bin müde. Ich bin sehr müde. Und dann kehren wir beide Arm in Arm zurück auf die Erde, wie zwei Brüder. Nicht?
Und wieder wiegte er sein erstarrendes Haupt, und wiederum machte er seine Augen weit auf und murmelte:
– Vielleicht aber zürnest Du auch dort auf Judas Ischariot? Und wirst mir nicht glauben? Und mich zur Hölle schicken? Nun wohl! Dann gehe ich zur Hölle. Und werde am Feuer Deiner Hölle das Eisen schmieden. Das Eisen schmieden und Deinen Himmel zerstören. Nicht? Dann wirst du mir doch glauben? Und mit mir zur Erde zurückkehren, Jesus? Ja?
Endlich langte Judas auf dem Gipfel, bei dem krummen Baume an, und hier begann ihn der Wind zu plagen. Aber als Judas ihn zornig anschrie, sang er ganz sanft und traurig – er flog weit fort und nahm Abschied von Ischariot.
– Wohl! Wohl! Sie aber sind Hunde! – antwortete Judas dem Winde und knüpfte die Schlinge. Und da der Strick ihn täuschen und abreißen konnte, hängte er die Schlinge über einem Abgrund auf – riß er, so mußte Judas dennoch seinen Tod zwischen den Steinen finden. Und ehe er sich mit dem Fuße von dem Rande des Abgrundes abstieß und aufhängte, mahnte Judas Ischariot Jesus noch einmal eifrig:
– Grüße mich freundlich, ich bin sehr müde, Jesus!
Und sprang ab. Der Strick strammte sich, aber er riß nicht. Judas' Hals ward ganz dünn, seine Hände und Füße streckten sich und sanken hinab. Er war tot. So verließen innerhalb zweier Tage, einer nach dem anderen, Jesus von Nazareth und Judas Ischariot, der Verräter, die Erde.
Die ganze Nacht hindurch schaukelte Judas wie eine schreckliche Frucht über Jerusalem; und der Wind drehte ihn mit dem Antlitz bald gegen die Stadt und bald gegen die Wüste – wie wenn er Judas sowohl der Stadt, wie der Wüste zeigen wollte. Wohin sich aber das vom Tode verzerrte Antlitz auch wandte, – die roten, blutunterlaufenen Augen sahen auch jetzt noch unverrückbar gen Himmel wie zwei Brüder. Am Morgen aber entdeckte ein Scharfäugiger den über der Stadt hängenden Judas und schrie auf vor Entsetzen. Da gingen die Leute hin, nahmen ihn herunter, und als sie erkannten, wer es war, warfen sie ihn in den Abgrund, in den man tote Pferde, Katzen und anderes Aas zu werfen pflegte.
Noch an demselben Abend erfuhren alle Gläubigen von dem schrecklichen Tode des Verräters. Und am folgenden Tage wußte es auch ganz Jerusalem. Selbst das steinige Judäa und das grüne Galiläa erfuhren davon; und von dem einen Meere bis zu dem anderen, das noch weiter ist, flog die Nachricht von dem Tode des Verräters. Nicht schneller, noch langsamer als die Zeit, aber mit ihr zugleich verbreitete sie sich, und wie die Zeit selbst kein Ende hat, so werden auch die Erzählungen vom Verräter Judas und seinem schrecklichen Tode nie ein Ende nehmen. Alle Guten und Bösen werden in gleicher Weise sein verruchtes Andenken verfluchen; und für alle Völker, so viele ihrer aus Erden sind und waren und sein werden, wird er ewig bleiben ein Einsamer in seinem grausigen Schicksal – Judas Ischariot, der Verräter.