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Es ist noch in unser aller frischester Erinnerung, daß in der zweiten Hälfte des Jahres 1872 die Kunde durch die Zeitungen lief: am 24. Juni sei das 4½jährige Töchterchen des Domänenpachters Böckler, Anna, von dem Gehöfte ihres Vaters in Treuen bei Loitz, Kreis Grimmen (Neuvorpommern) durch Zigeuner geraubt worden. Fast ein ganzes Jahr lang brachten die öffentlichen Blätter die verschiedenartigsten Nachrichten, Vermuthungen, Rathschläge und Prämienausbietungen bezüglich der Wiederauffindung des geraubten Kindes. Eine förmliche Hetzjagd ward hinter den Zigeunern her eröffnet, mehr als ein halbes Hundert von ihnen wurde verhaftet und wochen-, ja monatelang in Haft behalten. Sogar die Landesvertretung befaßte sich mit der traurigen Angelegenheit. Nach und nach aber flossen die Nachrichten über das Kind immer spärlicher, die Hoffnung, es wiederzuerlangen, schwand immer mehr, das Verfahren gegen die Zigeuner mußte endlich eingestellt werden.
Das in seinen heiligsten Gefühlen verletzte, in seinen werthvollsten Gütern sich bedroht fühlende Publikum staunte über das grauenhafte Räthsel, daß es trotz aller Anstrengung unsers so vorzüglich organisirten Staates, trotz der bereitesten Hilfe sogar der Nachbarstaaten, trotz der Mitthätigkeit aller Privaten einer ärmlichen, halb rechtlosen Schar von Landstreichern gelungen war, das scheußliche Verbrechen des Menschenraubes mit Erfolg ins Werk zu setzen und sich der Strafe zu entziehen!
Nicht geringeres Staunen aber erregte sodann im Sommer 1873 wiederum die neue Nachricht, daß das so lange in den weitesten Fernen vergeblich gesuchte Kind – als Leiche zufällig aufgefunden worden sei in einer Scheune des väterlichen Gutes, nur 45 Fuß von dem Vaterhause entfernt! Und als darauf die deshalb gegen den Dienstjungen Fritz Schütt wegen Mordes geführte Untersuchung gar noch ergab, daß das Kind schon an dem Tage seines Verschwindens ermordet und die Leiche sofort dort, wo sie gefunden wurde, vergraben worden sei, das ganze Verfahren gegen die Zigeuner also auf nichts beruht hatte als auf einem kaum begreiflichen Irrthum: – da mußte man billig fragen, wie ist es möglich gewesen, daß nicht nur die unglücklichen und doch immer noch hoffenden Aeltern, denen man einen solchen Irrthum vielleicht eher verzeihen möchte, und nicht blos das wenig prüfende Publikum, sondern auch die gesammten Staatsbehörden, Gerichte und Polizei, Staatsanwaltschaft und innere Verwaltung, die Ministerien sogar und die Diplomatie sich einlassen konnten auf eine solche wilde Jagd nach einem – Phantasiegebilde! Können die Personen und Behörden, die mit so ungewöhnlichen Mitteln eine so lächerliche Schattenjagd in Scene setzten, können sie dem Vorwurfe einer groben Selbsttäuschung, einer unverantwortlichen Voreingenommenheit entgehen?
Eine Apologie der in der Sache thätig gewesenen Beamten ist nicht der Zweck der gegenwärtigen Schrift. Vielleicht wird sie nebenbei auch diesen Erfolg haben. Hervorgegangen ist dieselbe aus dem Gedanken, daß das Publikum den Gang dieser Untersuchung, die von der ganzen gebildeten Welt mit so ungewöhnlicher Theilnahme verfolgt worden ist, in allen seinen Einzelheiten kennen lernen muß. Zwar ist das Schlußdrama öffentlich verhandelt und das Resultat der Hauptverhandlung gegen Schütt durch die Presse in weite Kreise getragen worden. Allein was bisjetzt noch gar nicht, oder doch nur sehr unvollkommen in die Oeffentlichkeit hat dringen können, das ist die Vorgeschichte dieser Untersuchung, das sind die Nachforschungen nach dem, wie man damals annahm, geraubten Kinde. Natürlich! Solange die Nachforschungen noch nach dieser Richtung hin fortgesetzt wurden, durfte amtlich davon nichts verlauten, um die Nachforschungen nicht selbst zu schädigen, – und als die Untersuchung sich nach der andern Richtung hinwandte, verloren nunmehr jene Nachforschungen von selbst ihre materielle Bedeutung und kamen in den Verhandlungen nicht weiter vor. Es darf aber das dort zusammengetragene Material in den Acten nicht vergraben bleiben. Es hat die Wissenschaft ein Recht auf die daraus zu erhoffenden neuen Erfahrungen, und das Publikum hat ein Recht auf die Lösung des vor seinen Augen stehenden Räthsels, und endlich – diejenigen Personen, welche mit Aufbietung aller ihrer Kraft, mit Dahingehen ungemessener Geldopfer, mit den größten Aufregungen des Gemüths bei der Sache betheiligt waren, haben ein Recht darauf, daß das Publikum in den Stand gesetzt werde, über ihr verkehrtes Thun und Mühen ein gerechtes Urtheil zu fällen.
Wenn aber der geneigte Leser sich uns anvertrauen will, um zu jenem gerechten Urtheile zu gelangen, so ersuchen wir ihn, sich nicht von vornherein auf den Standpunkt zu stellen, daß ja doch die Arbeit eine vergebliche, daß alle Nachforschungen nach dem geraubten Kinde gegenstandslos gewesen, daß das Kind gar nicht geraubt, sondern ermordet worden sei.
Das erkennende Gericht hat diese Überzeugung in der Untersuchung wider Schütt allerdings ausgesprochen, aber die Vertheidigung hat die gegentheilige Ansicht bis zuletzt festgehalten, und es sind sogar noch in der Hauptverhandlung drei Zeugen aufgetreten, welche mit voller Bestimmtheit versicherten: sie hätten die Anna Böckler bei den Zigeunern gesehen. Hatten diese Zeugen sich nicht geirrt, mußte man ihren Angaben Glauben schenken, dann durfte nach der eigenen Ausführung des Gerichts das Schuldig gegen Schütt nicht gesprochen werden.
Wir beginnen unsere Darstellung, bei der wir überall streng an den Acteninhalt uns halten und die Aussagen der vernommenen Personen möglichst wortgetreu wiedergeben werden, mit der Auslassung des Vaters der Anna Böckler zur gerichtlichen Verhandlung vom 8. August 1872, weil dessen Mittheilungen, obwol erst später zu Protokoll verschrieben, doch von Anfang an für sämmtliche Maßregeln die Grundlage gebildet haben:
»Am 24. Juni Abends gegen 8 Uhr vermißten wir meine Tochter Anna. Eine sofort angestellte Nachfrage ergab, daß der Dienstjunge Fritz Schütt dieselbe zuletzt etwa gegen 4 Uhr gesehen hatte. Er hatte sie beim Dorfteich getroffen und sie war mit ihm gegangen bis zum Hof, von wo aus sie die Richtung nach dem Wohnhause eingeschlagen hatte, während Fritz Schütt sich nach der Scheune Nr. 4 gewendet. Als wir meine Tochter Anna vermißten, eilten sogleich meine Leute, welche inzwischen vom Felde kamen, sowie auch Leute aus den benachbarten Gassen in den Garten und die nächste Umgebung des Hofes, laut den Namen meiner Tochter rufend, da ich annahm, daß sie verunglückt sei. In dieser Voraussetzung schickte ich auch Leute nach dem Teich in der Brache, auf dem mein Boot mit flachem Boden lag. Dieser Teich wurde bis in die Nacht um 12 Uhr mit Harken und Haken durchsucht, aber keine Spur gefunden. Ebenso wurde noch in derselben Nacht die Scheune Nr. 4, deren Thür am Tage offen gestanden hatte, mit Laternen untersucht, wobei laut der Name meiner Tochter gerufen wurde. Alle übrigen Wirthschaftsräume waren am 24. Juni verschlossen gewesen, mit Ausnahme noch einer Thür des Schafstalles Nr. 2. Der Roggenschlag am Gehöft Nr. VII wurde bis zu dem daranstoßenden Tannengehölz noch in der Nacht unter lautem Rufen nach meiner Tochter untersucht, jedoch nicht systematisch, sondern wie jeder es für am besten hielt, da die Aufregung zu groß war. Mit den Nachforschungen wurde erst gegen 1 Uhr morgens aufgehört.
»Am 25. Juni begannen die Nachforschungen mehr systematisch. Ein Theil meiner Leute unter Anleitung meines Wirthschafters oder des Tischlers Häse aus Sassen durchsuchten den ganzen mit Winterkorn besäeten Schlag VII, indem die Leute in einer Entfernung von etwa einer Ruthe nebeneinander gingen. Ein anderer Theil durchsuchte unter Leitung des Statthalters Blohm alle in der Nahe des Hofes liegenden Wasserflächen in der Weise, daß das Boot quer über die Teiche u.s.w. gezogen und von vier in demselben stehenden Leuten mit großen Haken die Gewässer bis auf den Grund durchzogen wurden. Dies ist auch noch wieder an den Tagen des 26. und 27. Juni in derselben Weise wiederholt worden, bis der Fischer Anders aus Loitz dann noch sämmtliche Teiche und Seen der Feldmark Treuen durchsucht hat. Im Laufe des 25. Juni durchsuchte der Küster Schreiber aus Sassen die an meine Feldmark stoßende Forst mit der Schuljugend, was in den nächsten Tagen wiederholt von meinen Leuten unter Führung meines Wirthschafters Blank geschehen ist.
»An den folgenden Tagen ist sowol der Roggen im Schlage VII als auch im Schlage IV b in der Weise kreuz und quer durchzogen worden, daß die Leute nur so weit entfernt waren voneinander, daß sie sich die Hände reichen konnten. In derselben Weise wurde der hinter dem Hause liegende Garten und die kleine Weidenplantage hinter demselben, woran der Teich liegt, durchsucht. Auch die Mauern und deren Hecken sowie alle Räumlichkeiten des Hauses und der Wirthschaftsgebäude und die Kathengärten sind auf das sorgfältigste durchsucht worden. Das Sommergetreide hatte nur eine Höhe von etwa 6 Zoll und war darin ein Verunglücken nicht möglich. Die in der Nähe liegenden Teiche und Seen wurden in den folgenden vierzehn Tagen noch täglich, die entfernt liegenden einigemale von außen besichtigt, ob etwa eine Leiche an die Wasseroberfläche gekommen sei. In den nächsten Tagen nach dem 24. Juni ist auch die Feldmark Sassen diesseit des Dorfes bis zu meiner Feldgrenze und den Tannen durch den Wirthschafter Blank mit einer großen Anzahl meiner Leute, welche in geringer Entfernung voneinander gingen, abgesucht worden. Meine Tochter haben wir aber nicht gefunden.«
Die erste Behörde, bei der Böckler von dem Verschwinden seines Kindes Meldung machte, war das Landrathsamt des grimmer Kreises. Dieses setzte sofort am 25. Juni telegraphisch die Polizeibehörden in Hamburg, Lübeck, Berlin, Bremen, Rostock und nicht minder in umfangreichster Weise die der nähern Umgebung, namentlich die Landrathsämter der benachbarten Kreise, in Kenntniß. Demnächst erschienen (zuerst am 3. Juli, dann am 7. u.s.f.) als Inserate in den verschiedensten Zeitungen und als besondere Plakate öffentliche Bekanntmachungen von dem Vorfalle mit der Anzeige, daß der Vater für die Wiederherbeischaffung seines Kindes eine Prämie von 100 Thlrn. ausgesetzt habe, später, neben der Staatsprämie von 300 Thlrn., weitere 500 Thlr., zuletzt 2000 Thlr. – und für den bloßen Nachweis der Leiche 1000 Thlr. Diese Bekanntmachungen enthielten genaue Beschreibungen, einzelne (zuerst die vom 7. Juli) auch das Porträt der Anna Böckler, außerdem ward letzteres in den Photographenschaukästen vieler Orte, auf den Bahnhöfen und sonst ausgehängt, sodaß das Signalement und die Bekleidnng des kleinen Mädchens bald allgemein bekannt waren. Anna Böckler, die als ein Kind von schüchternem Wesen geschildert wird, hatte kurzgeschnittenes, hellblondes, durch einen Rundkamm zusammengehaltenes Haar, blaue Augen, eine stark hervortretende Stirn und stark gebräunte Gesichtsfarbe; sie trug ein rothbuntes schottisches Kleidchen, schwarze Lederstiefeln und einen braunen, mit schwarzem Sammtband garnirten Strohhut. Als besonderes Kennzeichen war eine Schnittnarbe an der linken Brust angegeben.
Die Publicität der Personenbeschreibung und der ganzen Sache sowie die hohen Prämien, die ja freilich entscheidend sein konnten für das Auffinden eines entführten Kindes, waren die Ursache, daß die Untersuchung von vornherein in falsche Bahnen lenkte.
Voll Theilnahme für das Unglück der armen Aeltern, angelockt durch die hohen Prämien, fingen gar zu viele Personen an, dem verlorenen kleinen Mädchen nachzuspüren und den Behörden Mittheilungen zu machen, die, weil sie eine zutreffende Beschreibung des Kindes enthielten, nicht sofort als werthlos erkannt werden konnten. Alle diese Nachrichten gingen davon aus, das Kind sei geraubt. Die Möglichkeit, daß Anna Böckler vielleicht auch infolge eines andern Verbrechens verschwunden sein könne, wurde gar nicht in das Auge gefaßt, und die Untersuchung hatte sich zunächst nur damit zu beschäftigen, die verschiedensten Spuren, daß das Kind da und dort gesehen worden sei, zu verfolgen. Schon am 4. Juli meldete sich eine Frauensperson Namens Rohrbeck, welche vorgab, das vermißte Kind in den Händen von Zigeunern gesehen zu haben, denen sie am 28. Juni bei Spantekow (Kreis Demmin) begegnet sei. Andere Zeugen wollten dasselbe am 28. Juni bei einer Zigeunerbande auf der zecheriner Fähre, nach Usedom übersetzend, dann wieder andere am 30. Juni in Pencun ebenfalls unter Zigeunern gesehen haben. Eigentlich verwendbare Spuren jedoch fanden sich erst, als am 8. Juli der Gensdarm G. aus Angermünde, auf einer Dienstreise nach Schwedt a. O. begriffen, erfuhr, daß kurz vorher eine Zigeunerbande das Dorf Telchow (Kreis Angermünde) passirt habe, um sich über Schönow nach Pencun (beide letztern Ortschaften im Kreise Randow, Regierungsbezirk Stettin, gelegen) zu begeben, und daß bei dieser Bande ein kleines, blondes Mädchen sich befinde, welches ganz anders als die übrigen Kinder aussehe und das geraubte Kind wol sein könne. Im Kruge zu Schönow traf er eine Weibsperson Namens Pauline Stanke. Sie gehörte nach ihrer Angabe zu jener Zigeunerbande, hatte sich aber von derselben wegen eines Zwistes getrennt und wollte in Schönow übernachten, weil sie, wie sie sagte, zum Weiterreisen zu müde sei. Die Stanke erzählte, daß ihre Bande nach Lützlow ziehe, bestritt aber, daß dieselbe ein fremdes Kind mit sich führe. Sofort begab sich der Gensdarm auf den Weg nach Lützlow. Er erfuhr jedoch bald, daß die Angaben der Stanke falsch gewesen, daß nämlich die Zigeunerbande nicht nach Lützlow, fondern nach Wartin (ebenfalls im randower Kreise) gezogen sei, und eilte demgemäß nach Wartin. Auffälligerweise traf in Wartin am folgenden Morgen (9. Juli) auch die Pauline Stanke ein, die, obwol sie früher wegen Ermüdung im schönower Kruge übernachten wollte, diesen dennoch gleich nach dem Gensdarmen verlassen hatte. Möglich sogar, daß sie nicht erst am 9., sondern schon am 8. Juli mit den wartiner Zigeunern sich in Verbindung zu setzen gewußt und sie von ihrem Zusammentreffen mit dem Gensdarmen benachrichtigt hatte.
Der Gensdarm erreichte Wartin um 10 Uhr abends (am 8. Juli) und fand auch wirklich die von ihm verfolgten Zigeuner, die kurz zuvor, um 6 Uhr abends, dort angekommen waren, im Kruge übernachtend vor. Sofort wurde eine Revision der von ihnen eingenommenen Räumlichkeiten und ihrer beiden Wagen vorgenommen, das blonde Kind aber –- nicht mehr bei ihnen gefunden.
Die Bande wurde die Nacht über bewacht und am nächsten Morgen denjenigen Zeugen vorgeführt, die dem Gensdarmen von der Anwesenheit des blonden Kindes Mittheilung gemacht hatten. Alle diese Zeugen bekundeten mit absoluter Bestimmtheit, daß unter den ihnen vorgestellten Zigeunerkindern das blonde Mädchen nicht sei, welches sie tags zuvor gesehen hätten. Insbesondere sagte die königl. Opernsängerin Martha Schwenke:
»Gestern, am 8. Juli, zwischen 12 und 1 Uhr etwa, kam ich aus dem schönower Walde von einem Spaziergange und sah in der Nähe des Kruges eine Zigeunerbande lagern. Ich wollte mir die Gesellschaft näher ansehen und ging darauf los. Hier fiel mir ein Wagen auf mit einem schwarzen Plan überzogen und mit Thüren versehen, von denen die eine geöffnet, die andere geschlossen war. Aus der geöffneten Thür wollte zweimal ein hübsches Kind mit hellblauen Augen und kurz abgeschnittenen hellblonden Haaren heraussehen, wurde aber jedesmal von einem kleinen Knaben, der am Wagen stand, zurückgeschlagen und mit alten Sachen überworfen. Als die Bande später abfuhr, hörte ich ein Kind weinen, und erfuhr dann von meiner Cousine Anna, die noch vorher am Wagen gestanden hatte, daß es dieses hübsche blonde Kind gewesen sei. Das Kind mochte etwa drei bis vier Jahre alt sein. Mit der größten Bestimmtheit kann ich behaupten, daß dieses Kind unter der mir, heute 19. Juli, vorgestellten Zigeunerbande nicht vorhanden ist. Den Knaben, der am Wagen stand und das Kind zurückschlug, habe ich in dem sechsjährigen Franz Friedrich Anton Strauß sofort wiedererkannt.«
Der Handelsmann Schmul gab zu vernehmen: »Gestern, am 8. Juli, war ich beim Schneider Schröder in Wartin, als eine Zigeunerbande die Straße entlang kam. Bald darauf trat eine alte Zigeunerin zu uns herein und bat um Kleidungsstücke und Geld. Vor der Thür fah ich drei Kinder auf einem Karren sitzen, von denen mir besonders ein Mädchen auffiel, welches ein schottisches Kleid trug und hellblonde kurzabgeschnittene Haare hatte, sodaß ich zu Schröder äußerte: Sieh doch mal, was die für ein nettes Kindchen haben, das sieht gar nicht so aus wie die andern. Das Kind konnte drei bis fünf Jahre alt sein. Ich kann mit Bestimmtheit behaupten, daß ich heute unter den mir vorgestellten Kindern der Bande weder ein Mädchen mit so hellen Haaren, noch mit einem solchen Kleide gesehen habe.«
Ganz in Uebereinstimmung mit Schmul ließen sich die vierundzwanzigjährige Wilhelmine Schröder und der siebzehnjährige Schneiderlehrling Karl Meier aus, und in der Folge bestätigten noch neun andere Zeugen: sie hätten am 6. und 7. Juli an verschiedenen Orten, welche die Bande passirte, ein kleines, blondhaariges Mädchen bei den Zigeunern gesehen, dasselbe befinde sich nicht unter den ihnen vorgestellten Kindern und habe anders ausgesehen als diese. Mehrere von diesen Zeugen behaupteten, das Kind habe sehr viel geweint und, während die andern Kinder frei herumgelaufen seien, sich bis zur Ankunft in Wartin stets in dem Wagen mit dem schwarzen Plan befunden; die Zigeuner seien auf dieses Kind ganz besonders aufmerksam gewesen, und hätten es den Blicken der Zeugen zu entziehen gesucht. In Niederlandin z.B. hätten sie unter dem Vorgeben, daß das Pferd bissig sei, niemand an den Wagen herangelassen, bei der Bahnwärterbude hinter Schönow hätten sie den Vorhang vor die Wagenthür gezogen, als das Kind von Zuschauern fixirt worden sei.
Aus der von so vielen Zeugen bestätigten Thatsache, daß ein kleines blondes Mädchen vom 6. bis 8. Juli bei der Zigeunerbande gewesen und am 8. Juli in der Zeit von 6 bis 10 Uhr Abends fortgeschafft worden war, sowie ferner daraus, daß ein Zeuge Simdom während der Durchsuchungen durch den Gensdarmen die eine Zigeunerin klagen gehört hatte: »Warum haben wir doch das gethan?« wurde der Schluß gezogen, daß die Zigeuner das Kind geraubt, deshalb es den Blicken der Leute entzogen und endlich, als die Polizei nachforschte, auf die Seite gebracht hätten. War dies richtig, so war auch die Vermuthung gerechtfertigt, daß das Kind identisch sei mit Anna Böckler, denn von dem Raube eines andern Kindes war in jener Zeit nirgends etwas bekannt geworden. Die Vermuthung wurde sozusagen zur Gewißheit, als drei von den erwähnten Zeugen, der Handelsmann Schmul, die Sängerin Martha Schwenke und der Schneiderlehrling Meier nach Vorlegung der Photographie der Anna Böckler erklärten:
»Wir erkennen in dem Bilde mit voller Bestimmtheit dasjenige Kind wieder, welches in dem Wagen des Strauß gesessen hat, und am 8. dieses Monats hier in Wartin gewesen ist.«Diese Recognition geschah sofort am 10. Juli, als der Vater der Anna Böckler mit deren Photographie nach Wartin kam, und zwar vor dem Polizeibeamten, von dem bisher die Verhandlungen geführt worden waren.
Später haben sämmtliche Zeugen ihre Aussagen zum gerichtlichen Protokoll durchaus bestätigt und beschworen, insbesondere die Sängerin Schwenke und der Schneiderlehrling Meier ihre Recognition, die erstere namentlich hat bei dreimal wiederholter Vernehmung sich dahin ausgelassen, am 18. Juli 1872: »Das Mädchen hatte mit der Photographie die sprechendste Aehnlichkeit, insbesondere waren auch an dem Kinde die Augen ebenso tiefliegend und die Stirn ebenso hervorragend,« Darauf am 30. Juli 1872: »Nach den mir vorgelegten Photographien erkenne ich das Böckler'sche Kind mit der größten Bestimmtheit und zwar so bestimmt, daß ich gar nicht zweifelhaft bin, daß das von mir bei der Bande gesehene Kind und das Böckler'sche ein und dasselbe ist.« Und endlich in der Audienzverhandlung wider Schütt am 6. December 1873: »Ich stand ungefähr zwei Schritte vom Wagen und beobachtete das Kind längere Zeit, konnte dasselbe jedoch nur bis zur Brust sehen, weil es sich im Wagen befand. Von dem Kinde konnte ich überhaupt nichts sehen. Ich dachte mir gleich, daß das Kind irgendwo gestohlen sein müsse, theilte deshalb meinen Verwandten meinen Verdacht gleich mit, wußte auch damals noch nichts von dem Verschwinden der Anna Böckler. Das Kind mochte nach meiner Schätzung drei bis vier Jahre alt sein und hatte weder einen Kamm noch einen Hut auf dem Kopfe. Es zeichnete sich durch seine weiße Gesichtsfarbe, rothe Wangen mit hervorstehenden Knochen, blaue Augen und hellblondes Haar aus, welches dem Kinde verwirrt um den Kopf hing. – Später, als ich von dem Verschwinden der Anna Bückler hörte, trat mir die Scene zu Schönow lebhaft vor die Augen; ich war damals fest überzeugt, daß das von mir gesehene Kind Anna Böckler gewesen ist, und bin auch jetzt nicht zweifelhaft, daß dem so gewesen.« Unter einem Haufen von Kinderphotographien fand die Zeugin die der Anna Böckler sofort mit Sicherheit heraus. Karl Meier erklärte in der Verhandlung: »Im Sommer 1872 war ich in Wartin in der Lehre. Eines Tages kehrte daselbst im Kruge eine Zigeunerbande ein. Abends gegen 9 Uhr ging ich am Kruge vorbei und sah auf dem Hofe des Kruges die Zigeuner mit ihren Kindern. Unter den letztern fiel mir ganz besonders ein Mädchen auf, welches nicht solche dunkle, schmuzige Gesichtsfarbe wie die andern Zigeunerkinder, hellblondes Haar und ein rothcarrirtes Kleid anhatte. Ich habe mir die ganze Truppe ungefähr fünf Minuten lang angesehen und speciell das beschriebene Kind, welches ungefähr 25 Schritte von mir entfernt stand, genau betrachtet. Das Kleid dieses Kindes war fast ganz neu, die Kleider der andern Kinder waren schlecht und schmuzig.« Und nach Vorlegung der Photographie der Anna Böckler: »Das damals von mir gesehene Kind war dieser Photographie, welche mir auch schon bei frühern Vernehmungen vorgelegt ist, so sprechend ähnlich, daß ich glaube annehmen zu müssen, es sei wirklich Anna Böckler gewesen.«
Nunmehr begannen auch die Zigeuner selbst, welche anfänglich sämmtlich bestritten hatten, daß das fremde Kind sich bei ihnen befunden habe, dies zuzugeben, und erkannten in der Photographie der Anna Böckler jenes Kind wieder.
Zum Verständniß ihrer Auslassung ist zu bemerken, daß die Zigeunerbande auf zwei Wagen reiste, der eine mit einem schwarzen, der andere mit einem weißen Plane überzogen; in dem ersten befand sich die Familie Strauß, in dem zweiten die Familien Hennig-Anton; die letztern hatten zwei Mädchen und zwei Knaben, die Familie Strauß hatte nur vier Knaben.
An diese Kinder wandte man sich, als die Erwachsenen jede Wissenschaft von dem verschwundenen Kinde ableugneten, und erhielt von ihnen folgende Auskunft.
Der sechsjährige Franz Friedrich Anton erzählte:
»Als wir in Schönow waren, habe ich an dem Wagen mit dem schwarzen Plan gestanden, während das Fräulein (Martha Schwenke) etwa drei Schritte von uns entfernt war. In dem Wagen hat ein kleines Mädchen gesessen, das etwas kleiner war als ich, und ein etwas dickeres Gesicht gehabt hat. Es ist wahr, daß ich dieses Kind in Schönow zurückgestoßen habe, während es den Kopf zum Wagen hinaussteckte, und dann alte Kleider darüber gedeckt habe. Daß ich dieses thun sollte, hat mir Straußen seine Frau gesagt. Der andere Junge von Strauß sollte sie zudecken, der that es aber nicht. Später hörte ich, wie das Kind im Wagen geschrien hat. Am Anfange unserer Reise war das Kind noch nicht bei uns u. s. w. Gestern ist es nicht mehr hier gewesen. Wer es fortgeschafft hat, weiß ich nicht. Vorgestern (8. Juli) ging ich mit meiner Schwester und diesem fremden Mädchen hier in Wartin in ein Haus hinein, um Wasser zu trinken. Wir saßen vorher auf einer Karre, und ehe wir da herankamen, hatten wir uns alle drei umfaßt und das fremde Mädchen in die Mitte genommen.«
Die fünfjährige Josephine Wilhelmine Auguste Anton:
»Wir sind schon viele Wochen auf Reisen. Das fremde Mädchen ist nicht immer bei uns gewesen. Sie war beinahe so groß wie mein Bruder. Ihre Haare waren weißer wie meine Haare. Sie war auch etwas dicker im Gesicht wie ich. Gespielt hat sie gar nicht mit uns. Sie war sehr unartig, weil sie immer weinte. Wie sie heißt, weiß ich nicht. Sie hat immer in dem schwarzen Wagen gesessen. Hier in Wartin ist sie noch gewesen. Sie ging mit mir und meinem Bruder in ein Haus, wo wir uns Wasser geben ließen. Sie ging in der Mitte, wir hatten uns alle drei umfaßt. Vor dem Hause saßen wir auf einer Karre. Später ging das Mädchen mit einer Frau mit schwarzen Haaren von uns fort und kam nicht wieder; ich habe sie nicht wiedergesehen.«
Die zehnjährige Johanna Anton:
»Mit Strauß sind wir zusammengetroffen, und einige Tage später sah ich ein fremdes Mädchen in dem schwarzen Planwagen sitzen, das mir wegen der hellern Haare auffiel. Sie hatte auch helle Augen. Ich habe das Mädchen hier noch am ersten Tage gesehen, wie sie mit Franz und Josephine in ein Haus hineinging. Als wir schlafen gingen, war das Mädchen nicht mehr da. Gestern und heute (den 9. und 10. Juli) habe ich sie nicht mehr gesehen, auch weiß ich nicht, wo sie geblieben ist.«
Von den Insassen des schwarzen Wagens bekundete der siebenjährige Alexander Strauß:
»An einem Montage im vorigen Monat, ich glaube, es war am 24. Juni gegen Mittag, waren wir in einem Dorfe bei Grimmen eingekehrt. In diesem Dorfe befand sich ein Herrenhof. Ich und mein Bruder Martin sind nach dem Herrenhofe gegangen, um dort Wasser zu trinken. Nachdem wir uns wieder zu unserm Wagen begeben hatten, kam kurz darauf meine Mutter mit einem fremden Kinde hinzu. Das Kind hatte sie fest an ihre Brust gedrückt. Geschrien hat das Kind nicht. Erst später, als sie sich mit demselben in den Wagen gesetzt hatte, schrie es. Das Kind hatte ein gleiches Kleid wie die mir vorgezeigte Taille (der Anna Böckler) an. Auf der ganzen Tour hierher war das Kind, soviel ich weiß, stets in unserm Wagen. Abends ist meine Mutter mit dem Kinde stets von uns fortgegangen und hat sich dann am andern Morgen erst wieder zu uns herangefunden. In Begleitung meiner Mutter, wenn sie mit dem Kinde fortging, war stets die Josephine Anton.Nicht die fünfjährige Josephine Wilhelmine Auguste Anton ist gemeint, sondern eine andere unverehelichte Josephine Anton. – Am 8. Juli, in der Schummerstunde, als wir schlafen gehen wollten, sah ich, wie meine Mutter das fremde Mädchen in ein Laken gehüllt und vor sich genommen hat. Sie ist dann mit der Josephine Anton zum Dorfe hinausgegangen. Gegen Morgen, als ich bereits aufgewacht und das Pferd gefüttert war, kam meine Mutter mit der Josephine zurück, jedoch ohne das Kind. Wie ich dann später aus den Reden meines Vaters entnommen habe, hat meine Mutter das Kind im blumenberger Walde umgebracht, und zwar in der Art, daß sie ihm die Kehle zugedrückt hat. Die Josephine war zugegen. Mein Vater hat mir auf das strengste verboten, über den Vorfall, namentlich über die Ermordung des Kindes, das Geringste zu sagen.«
Als hierauf den Zigeunerkindern die Photographie der Anna Böckler vorgelegt wurde, erklärten sie, ebenso wie die vorher erwähnten Zeugen:
»daß sie in dieser Photographie das Kind wiedererkennten, von dem sie gesprochen«.
Es darf nicht verschwiegen werden, daß die Aussagen der Zigeunerkinder nicht ganz freiwillige waren. Der Besitzer von Wartin, von B., hatte sich veranlaßt gesehen, einige Zigeunerkinder und später noch andere Mitglieder der Bande durch etliche Hiebe mit der Reitpeitsche zum Sprechen zu bringen. Aber trotzdem mußte man Gewicht legen auf ihre Aussagen, denn sie schienen ja nur zu wiederholen, was von andern Zeugen bereits glaubhaft bekundet war.
Die nun folgende Episode berühren wir nur kurz. Herr von B. nahm die beiden durch Alexander Strauß des Mordes bezichtigten Frauenspersonen, die verehelichte Strauß und die unverehelichte Josephine Anton, in der gleichen Weise wie die Zigeunerkinder, nämlich unter Anwendung der Reitpeitsche, ins Verhör und erlangte von beiden Geständnisse. Es sagte zunächst die Josephine Anton:
»Eines Tages im vorigen Monat, es kann am 30. Juni gewesen sein, kam ich an den Wagen der Strauß und sah dort ein mir bis dahin ganz unbekanntes Mädchen. Nach der mir vorgelegten Photographie erkenne ich dasselbe ganz bestimmt wieder. Vom 30. bis zur Ankunft in Wartin war das Kind stets in dem Wagen der Strauß. Am 8. Juli kurz vor der Ankunft des Gensdarmen, der uns spät abends visitirte, ist es von der Frau Strauß fortgebracht worden. Ich stand gerade in der Stallthür. Die Frau Strauß forderte mich, als sie mich erblickte, auf, mit ihr zu gehen. Ich that dies und habe ganz genau gesehen, wie die Strauß das Kind mit ihrem Rocke welchen sie aufgenommen hatte, vor sich getragen hat. Bis zum Blumenberger Walde habe ich die Strauß begleitet. Dort angelangt, ging die Strauß etwa 12 Schritte weit allein in den Wald. Ich hatte sie gefragt, was ich in dem Busche machen sollte, und sie hieß mich darauf zurückbleiben. Die Strauß war etwa 10 Minuten fort, da hörte ich das jämmerliche Gewimmer eines Kindes. Obgleich ich ahnen konnte, daß die Strauß das Kind umgebracht hatte, so fragte ich sie, als sie ohne das kleine Mädchen herauskam, dennoch, wo sie das Kind gelassen habe. Sie antwortete darauf: es kümmere mich nichts.«
Die verehelichte Rosalie Strauß gab an:
»Die von meinem Sohne gemachte Aussage beruht in allen Punkten auf Wahrheit. Dagegen ist die Aussage der Josephine Anton nicht wahrheitsgetreu. – Am 24. Juni befanden wir uns mit unserer Karavane in dem Dorfe Treuen, in welchem ein Herrenhof ist. Ich drehte mich um den Hof herum. Kurz nach dem Mittagessen kam ein kleines Mädchen, welches am herrschaftlichen Zaune spielte, zu mir heran (es ist dasselbe Kind, welches mir hier in der Photographie vorgezeigt ist) und sagte zu mir einige unverständliche Worte. – Da ich kein Mädchen, sondern nur Söhne habe, beschloß ich, mir dieses Mädchen anzueignen. Ich nahm es auf und lief damit nach meinem Wagen, neben welchem Albert Hennig stand. Geschrien hat das Kind nicht. An dem Wagen angelangt, kroch ich sofort mit demselben hinein. – Später, nach einigen Tagen, habe ich meinem Manne von dem Raube des Kindes gesagt und ihm das Kind gezeigt. Hierauf hat er mich gemishandelt, wovon ich die Zeichen noch am Leibe trage. – Am 8. Juli langten wir zuerst in Schönow an, wo uns das Fräulein (Schwenke) besuchte und auch das Kind gesehen hat. Die Aussage des Knaben Franz Friedrich Anton ist richtig. Ich hatte ihm gesagt, er solle das Kind, falls es aus dem Wagen hinaussähe, zurückstoßen und alte Kleider auf dasselbe decken. – Am 8. Juli, als wir uns bereits hier in Wartin befanden, kam nun die Pauline Stanke und erzählte uns, daß wir wegen des Kindes von einem Gensdarmen verfolgt würden. Ich beschloß sogleich, mich des Kindes zu entledigen. Gegen Abend, es konnte nach 9 Uhr sein, entfernte ich mich mit der Josephine Anton und dem Kinde nach dem nächstgelegenen Busch (Blumenberger Walde). Anfänglich trug ich das Kind, später trug es die Josephine. Wir gingen gemeinschaftlich in den Wald etwa 100 Schritte hinein. Dann blieb ich auf Zureden der Anton etwas zurück. Kurz darauf, als die Anton einen Vorsprung von etwa 100 Schritten gewonnen hatte, hörte ich einen jämmerlichen Aufschrei. Hierauf war wieder alles still. Als dann die Josephine Anton zu mir zurückkam, fragte ich sie, obgleich ich sehr gut wußte, daß sie das Kind umgebracht hatte, wo das Kind geblieben sei. Sie erwiderte: es sei todt! – Mit der Bande in Pencun (von der sogleich die Rede sein soll) standen wir insofern in Verbindung, als wir uns auf der Reise stets Nachricht gaben. Am 30. Juni habe ich das Mädchen an diese Bande abgegeben, damit dasselbe nicht etwa bei mir vorgefunden würde. Ich hatte dem Adam (einem Mitgliede der pencuner Bande) gesagt, das Kind sei von mir geraubt worden. Derselbe war erbötig, das Kind zu sich zu nehmen, und hat es mir später, nach einigen Tagen, wieder zurückgegeben.«
Nunmehr erklärte auch der achtzehnjährige Albert Hennig, der früher von dem Kinde nichts hatte wissen wollen:
»Es ist richtig, daß ich, als die Frau Strauß mit dem Kinde von dem Herrenhofe in Treuen ankam, bereits vor dem Wagen der Strauß, vor welchen das Pferd gespannt war, gestanden und die Zügel gehalten habe. – Das mir hier vorgelegte Bild von Anna Böckler ist dasjenige des Kindes, welches die Strauß in den Wagen gebracht und darin verborgen hat. Auch in Wartin habe ich das Kind am 8. dieses Monats noch gesehen. Wer das Kind später fortgebracht hat, kann ich nicht wissen, da ich bei den Pferden im Stalle zu thun gehabt habe. Dagegen kann ich mit voller Bestimmtheit behaupten, daß die Josephine Anton mit der Frau Strauß stets bei dem Kinde gewesen ist. – Die Zigeunerbande Adam und Genossen ist mir sehr wohl bekannt. Einige Tage vor dem 8. Juli hat diese Bande das Kind an sich genommen und später wieder an uns, namentlich an die Strauß, abgegeben. Diese Bande soll, soviel ich weiß, in Pencun sich aufhalten. Am 8. Juli sah ich, wie die Frau Strauß sich in der Schummerstunde, das Kind in ihrem Rocke tragend, in Begleitung der Josephine entfernte, und zwar nach dem Walde hinaus. Nach längerer Zeit, als sie wieder zurückkamen, hatten sie das Kind nicht mehr bei sich.«
Diese Erzählungen der Zigeuner waren, zum Theil wenigstens, erlogen, wie sich bei näherer Untersuchung herausstellte. Als man die Reisetour der Strauß-Anton'schen Bande von Wartin rückwärts verfolgte, stellte sich heraus, daß dieselbe am 24. Juni in Brietzig (Kreis Pyritz), d. h. 25 Meilen von Treuen entfernt, gewesen war, sodaß also Rosalie Strauß den Raub des Kindes so, wie sie und Albert Hennig denselben erzählt hatten, gar nicht ausgeführt haben konnte. Und auch das muß als erlogen angesehen werden, daß die Strauß und die Anton in Wartin ein Kind ermordet haben. Denn ein tagelang fortgesetztes Suchen nach der Leiche des Kindes, bei dem die beiden Weiber fortwährend in ihren Angaben wechselten, bald den Wald, bald irgendein Gewässer angaben, wo die Leiche verborgen worden sei, hat zum Auffinden der Leiche nicht geführt.
Das durch die erfolglosen Nachforschungen nach der Leiche in Wartin erlangte, bezüglich der Ermordung rein negative Resultat wurde verhängnißvoll für die Untersuchung wegen Menschenraubes. Nach der damaligen Lage der Sache mußte man als feststehend ansehen, daß Anna Böckler sich am 8. Juli bei der Strauß-Anton'schen Bande befunden hatte. Da sie sich jetzt nicht mehr dort befand und auch nicht ermordet worden war, so blieb nur noch die Annahme übrig, daß Anna Böckler lebendig fortgeschafft worden sei.
Für eine solche Annahme boten ja die Aussagen der Rosalie Strauß und des Alexander Strauß schon einen gegründeten Anhalt. Denn danach sollte Anna Böckler schon einmal von ihrer Bande zu der pencuner Bande und von dieser wieder zu der erstern gebracht worden sein.
Sogleich, nachdem Rosalie Strauß und Alexander Strauß ihre Aussagen erstattet hatten, begab sich der sie vernehmende Polizeibeamte mit beiden nach Pencun. Hier war am 10. Juli eine andere Zigeunerbande angehalten worden, zu welcher der schon oben erwähnte Handelsmann Adam, die Gymnastiker Remier'sche Familie u. a. gehörten. Mit diesen wurden Rosalie Strauß und Alexander Strauß confrontirt.
Rosalie Strauß erklärte:
»An die mir hier vorgestellte Christiane Remier habe ich das Kind einige Tage vor dem 30. Juni abgegeben. Sie sollte es ganz behalten und hatte auch versprochen, es zu thun. Später, vor dem 8. Juli, gab sie mir das Kind dennoch zurück.«
»Ich habe ausdrücklich gesehen, wie die mir hier vorgestellte Christiane Remier das vermißte Kind auf dem Arme getragen hat. Es ist dies vor dem 30. Juni gewesen. – Ferner habe ich gesehen, daß die Remier das Kind von Schönow – wann, weiß ich jedoch nicht genau, wenigstens vermag ich mich nicht mehr auf das Datum zu besinnen – an meine Mutter abgegeben hat.«
Bestritten nun auch die Mitglieder der Remier'schen Bande aufs hartnäckigste, mit dem Kinde zu schaffen gehabt zu haben, so bestritten sie doch nicht, was übrigens auch sonst feststand, daß sie am 30. Juni in Pencun gewesen waren. Bezüglich dieses ihres Aufenthaltes bekundeten nun weiter drei Kinder von pencuner Bürgern, die zwölfjährige Helene Jonas, die zehnjährige Anna Rohder und die achtjährige Marie Nürrenberg, nach Vorlegung der Anna Böckler'schen Photographie übereinstimmend:
»Am 30. Juni haben wir dasselbe Kind, welches die Photographie vorstellt und welches wir ganz genau wiedererkennen, hier in Pencun gesehen. Wir erkennen es nicht allein mit aller Bestimmtheit nach der uns vorgelegten Photographie, sondern auch an der uns hier vorgelegten Taille – das Kleid war ebenso – und an den Hosen. Wir fragten das Kind, wie es heiße, worauf es uns den Namen Lieschen nannte, weiter aber dürfe sie, wie sie sagte, nichts sagen. Die Anna Remier hatte die Kleine an der Hand, als wir mit ihr sprachen.«
Bei der spätern gerichtlichen Vernehmung wiederholten sie diese Aussage und erzählten noch ausführlicher ihr Begegniß mit dem kleinen blonden Mädchen. Namentlich setzte die Marie Nürrenberg, welche zuerst mit ihr zusammengekommen war, hinzu:
»das Kind habe sich zuerst nicht Lieschen, sondern Anna genannt, sei dafür aber von der sechsjährigen Anna Remier auf den Mund geschlagen worden.«
Diese jugendliche Zeugin gewann dadurch nicht wenig Gewicht, daß diese Aussage von ihr bereits am 30. Juni, als man in Pencun von dem Verschwinden der Anna Böckler noch gar nichts wußte, in gleicher Weise ihrem Vater, einem Handelsmann in Pencun, gegenüber erstattet worden war. Der Vater selbst hatte bemerkt, daß ein Mann, den er als den Handelsmann Mock wiedererkannte, und der auch in Wartin bei der Strauß'schen Bande gesehen wurde, sich am 30. Juni bei der Bande in Pencun befunden hatte, am 10. Juli aber nicht mehr anwesend gewesen war.
Es bekundeten aber auch weiter noch der fünfzehnjährige Schlosserlehrling Hermann Endler:
»In dem mir vorgezeigten Bilde der Anna Böckler erkenne ich mit aller Bestimmtheit dasjenige Kind wieder, welches ich hier am 30. Juni bei der mir hier vorgestellten Zigeunerbande gesehen habe.«
Und die verehelichte Arbeiter Logé:
»Mit aller Bestimmtheit vermag ich nach dem Bilde das Kind nicht wiederzuerkennen, nur so viel kann ich mich mit aller Bestimmtheit erinnern, daß dieses Kind, welches die Zigeunerbande am 30. Juni hier hatte, gerade von demselben Stoffe, wie die mir hier vorgelegte Taille, ein Kleid angehabt hat. Das Kind hatte hellblonde, kurz abgeschnittene Haare und ein volles, rundes Gesicht. Ich glaube, daß es dasselbe Kind ist, welches die Photographie vorstellt.«
Die drei Remier'schen Kinder, Stephan, neun Jahre, Anna, sechs Jahre und Hermann, drei Jahre, erklärten dem Polizeibeamten gegenüber, der ihnen die Photographie der Anna Böckler vorlegte: »das ist ja Schwester Lieschen!« und gaben an, daß das fremde Mädchen nur einige Tage, namentlich in Pencun, bei ihnen gewesen, jetzt aber wieder fort sei.
Sonach durfte man also kaum zweifeln, daß auch die Remier'sche Bande vor kurzem ein Kind bei sich gehabt hatte, welches jetzt fehlte, und daß das Kind Anna Böckler gewesen sei, bestätigte nicht allein die Recognition der Photographie und der Kleider durch die Zeugen, sondern auch der Umstand, daß Remiers zugaben, mit der Strauß und ihrem Sohne vor kurzem zusammengetroffen zu sein.
Als man die Reisetouren der beiden Banden rückwärts verfolgte, ergab sich zwar, daß sie sich in der Zeit vom 30. Juni bis zum 6. Juli in ziemlicher Entfernung voneinander bewegt hatten, sodaß Anna Böckler in jenem Zeiträume nicht wohl von der Remier'schen zur Strauß'schen Bande zurückbefördert worden sein konnte. In dem Zeitmoment indeß, in dem wir uns bei unserer Darstellung befinden, am 11. Juli nämlich, konnte von einer solchen klaren Uebersicht nicht die Rede sein; denn man kannte die Reisetouren der beiden Banden noch nicht.
Außerdem aber war man ja durchaus nicht gehalten anzunehmen, daß Anna Böckler von Wartin aus wieder zu der pecuner Bande zurückbefördert sein müsse. Viel wahrscheinlicher sogar war das Gegentheil, und es kam gar nicht sowol darauf an, einen Verkehr der wartiner und der pencuner Bande nach dem 8. Juli festzustellen, als vielmehr darauf, die neuen Wege aufzufinden, die irgendein Mitglied der wartiner Bande mit dem Kinde ins Weite, wahrscheinlich zu andern Banden, genommen hatte. Die Ereignisse bei der pencuner Bande schienen ja zu beweisen, daß die verschiedenen Banden untereinander in einem solchen Zusammenhange standen, daß es ihnen möglich war, Kinder verschwinden zu lassen, indem sie dieselben aneinander abgaben. Ja man durfte sogar glauben, die Person, durch welche das Kind von Wartin weiter fortgeschafft worden war, gefunden zu haben.
Es bekundete nämlich die vierundzwanzigjährige Ernestine Mätzke, daß sie am 8. Juli von der Bodenluke des wartiner Kruges aus bei der Zigeunerbande außer den demnächst verhafteten vier Männern noch einen fünften gesehen habe, einen Mann, den sie beschrieb als ziemlich groß, von dunkler Gesichtsfarbe, mit schwarzem Backenbart und von stark gekrümmter Haltung. Während die andern Zigeuner die Anwesenheit dieses fünften Mannes bestritten, räumte Rosalie Strauß dieselbe ein und nannte den Mann Rudolf Schröder.
In diesem Stadium ungefähr gelangte die Untersuchung aus den Händen der Polizei in die des Gerichts, und zwar in die Hände des Untersuchungsrichters beim Kreisgerichte Stettin, Kreisgerichtsrath von Rönne, weil Wartin, der Ort des ersten Angriffs, in dessen Bezirk belegen ist.
Dem Untersuchungsrichter fiel die doppelte Aufgabe zu: einmal die Spur des Kindes nach den bisherigen Anzeichen weiter zu verfolgen, sodann das bereits zusammengetragene Material zu sichten und nach Glaubwürdigkeit und Schlüssigteit zu prüfen. In welcher Weise er sich der zweiten Aufgabe zu entledigen suchte, davon möge zunächst Zeugniß geben sein unterm 3. August an die Kreisgerichtscommission Loitz erlassenes Requisitionsschreiben, welches wir in seinen erheblichen Theilen hier wörtlich wiedergeben.
»In der Untersuchung betreffend den anscheinend an dem viereinhalbjährigen Kinde des Domänenpachters Böckler zu Treuen verübten Menschenraub bedarf es einer gerichtlichen Feststellung des objectiven Thatbestandes und insbesondere einer sorgfältigen Erörterung der Frage, ob die Möglichkeit, daß das Kind am Orte des Verschwindens durch irgendeinen Zufall verunglückt sei, für völlig ausgeschlossen zu erachten ist ober nicht. – Die Kreisgerichtscommission ersuchen wir ergebenst, die auf die Erörterung dieser Frage bezüglichen Ermittelungen gefälligst recht schleunig an Ort und Stelle vornehmen zu wollen.
»Wir fügen einen Situationsplan des Gutes Treuen bei, und bitten festzustellen, an welchen Orten und in welcher Art ein Verunglücken des Kindes überhaupt möglich gewesen sein könnte, und bitten, diese Stellen auf dem Plane zu vermerken. Sodann wird zu constatiren sein, was geschehen ist, um die volle Ueberzeugung zu gewinnen, daß das Kind nicht in der einen oder andern Art verunglückt ist. Wir bitten, hierüber Herrn Böckler sowie alle von ihm zu bezeichnenden, bei dem Aufsuchen des Kindes thätig gewesenen Zeugen recht eingehend zu vernehmen, wobei wir bemerken u. s. w. (folgen einzelne Notizen über den augenblicklichen Stand der Sache). Es wird sich fragen, ob auch eine Durchsuchung der etwa vorhandenen Mistkuhlen, Kloaken, Brunnen u. s. w. vorgenommen ist, und ob auch die sämmtlichen Räume in den vorhandenen Gebäuden, wo etwa eine Verunglückung des Kindes stattgefunden haben könnte, durchsucht worden sind.
»Sodann erscheint es von Wichtigkeit, noch folgende Fragen durch Vernehmung des Herrn Böckler und der sonstigen Auskunftspersonen zu eruiren:
1) Ist anzunehmen, daß das Kind sich verirrt haben könnte?
2) Wann und wodurch ist zuerst die Vermuthung entstanden, daß das Kind geraubt sein könnte? Welches Motiv zu dieser That läßt sich annehmen? Sind etwa in früherer Zeit einmal gegen Böckler von umherreisenden Banden Drohungen ausgestoßen und aus welchen Ursachen?
3) Wie und in welcher Art kann die Entführung des Kindes, welche am hellen Tage stattgefunden haben muß, ausgeführt worden sein?
4) Sind zur Zeit des Verschwindens verdächtige Personen auf dem Gute und in der Nähe desselben und von wem gesehen worden?«
Man ersieht aus diesem Schreiben, daß den Untersuchungsrichter der Vorwurf blinder Voreingenommenheit nicht trifft, daß derselbe dem vorsichtigen Zweifel das Ohr nicht nur nicht verschlossen, sondern sogar schon Ausdruck gegeben hat zu einer Zeit, da man noch mit vollem Rechte auf der richtigen Spur zu sein glauben durfte.
In Erledigung dieser Requisition wurde zunächst Böckler selbst vernommen. Er erstattete die schon im Eingange mitgetheilte Aussage und beantwortete die speciell hervorgehobenen Fragen wie folgt:
»Ich habe auf dem Hofe zwei Pumpen mit Brunnenwasser und zwei Jauchpumpen. Von den erstem ist die eine mit vollständig festem Belage versehen, bei der andern war ein Bret des Belages losgegangen, lag aber noch in seiner frühern Lage. Dieser Brunnen ist von dem Fischer Anders untersucht. Von den beiden Jauchpumpen enthielt die eine nur eine geringe Menge Jauche; der eingemauerte Kufen war übrigens bedeckt. Die zweite Jauchpumpe, deren Belag mit einer Klappe versehen ist, wurde leer gepumpt. Mistkuhlen und Kloaken sind nicht vorhanden, die Abtritte mit kleinen Wagen zur Aufnahme der Exkremente versehen, übrigens auch untersucht. Im Dorfe ist ein Brunnen nicht.
»Auf den Boden des Schafstalles Nr. 2 waren kurz vor dem 24. Juni circa 20 Fuder Kleeheu gebracht, und ist auch dieses durch den Schäfer Gahl, wie ich glaube, untersucht worden.
»Alle Scheunenräume sind inzwischen von dem darin gewesenen Stroh geräumt worden.
»Mein sämmtliches Korn ist inzwischen bis auf einen geringen Rest Sommergetreide abgemäht und eingefahren, und hat sich hierbei keine Spur meines Kindes ergeben.
»Daß meine Tochter Anna sich vom Hofe entfernt, dann verirrt haben und in einer entferntem Gegend verunglückt sein sollte, ist nicht anzunehmen, weil sie, von scheuem, ängstlichem Wesen, sich allein nie weit vom Hofe entfernte.«
Was den Ursprung des Verdachtes gegen Zigeuner anlangt, so gab Böckler an:
»Als die am 24. Juni und den nächstfolgenden Tagen angestellten sorgfältigen Nachforschungen auf der Feldmark Treuen, der benachbarten sassener Feldmark und der angrenzenden Forst ganz erfolglos blieben, stieg bei mir die Vermuthung auf, daß meine Tochter geraubt sein könne. Diese Vermuthung wurde durch folgende Mittheilung bestärkt. Meine Schwester, die Rittergutsbesitzer v. B. auf Guelzow, theilte mir mit, etwa schon am 26. oder 27. Juni, daß in Guelzow am Mittag des 24. Juni mehrere Weiber, welche Seife und künstliche Blumen zum Kauf ausgeboten hätten, gewesen seien. Guelzow ist von Treuen etwa ½ Meile entfernt und führt der Weg dahin durch die königliche Forst. – Am 27. Juni kam der Viehhändler S. aus Greifswald zu mir, um gekaufte Hammel abzunehmen. Hierbei erzählte er mir, daß er am Sonnabend, den 22. Juni, mit einer großen Gesellschaft Zigeuner, welche mehrere Wagen mit sich geführt, von der Insel Rügen über die stahlbroder Fähre nach Pommern gekommen sei. Stahlbrode ist von Treuen etwa 3½ bis 4 Meilen entfernt. – Am Mittwoch, den 3. Juli, wie ich glaube, wurde ein Frauenzimmer mit einem zehn bis elf Jahre alten Knaben zu mir gebracht, welche sich Rohrbeck nannte und mir mittheilte, daß sie, in Buschmühl hinter Demmin, im Kruge von dem Verschwinden meines Kindes gehört habe, und daß ihr hierbei eingefallen sei, sie habe kurz nach dem 24. Juni in der Gegend von Spantekow zwischen Jarmen und Friedland drei Wagen mit Zigeunern getroffen und auf einem dieser Wagen ein blondes Kind bemerkt, welches entschieden nicht zu dieser Bande gehöre, da sie mehrere Mitglieder derselben seit Jahren kenne. Am andern Morgen machte die Rohrbeck dieselbe Aussage auch vor dem Landrathe.
»Ein Motiv zum Raube meiner Tochter wüßte ich nicht, als die Aussicht auf eine etwaige Belohnung oder um das Kind an Gaukler und Seiltänzer zu verkaufen.
»Drohungen sind von herumziehenden Banden niemals gegen mich ausgestoßen worden, ich bin auch niemals mit Zigeunern in Collision gerathen.
»Die Möglichkeit eines unbemerkten Raubes«, fährt er weiter fort, »hat insofern bestanden, als in der Zeit von 4 bis 5 Uhr nachmittags der Hof wenig belebt gewesen ist, sodaß irgendjemand, durch den 4 bis 5 Fuß hohen Roggen gedeckt, sehr Wohl unbemerkt aus der Forst bis an das Gehöft gelangen, das draußen spielende Kind ergreifen, durch Ansichdrücken am Schreien verhindern und mit demselben nach der Forst zurücklaufen konnte.
»An verdächtigen Personen sind in der Nähe des Gehöftes am Nachmittag des 24. Juni gesehen worden:
1) Von der Schäferfrau Gahl und der Arbeiterfrau Drews eine Person, welche sich in der Wasserfurche zwischen den Schlägen V und VI hin- und herbewegt haben und schließlich in einer Mergelgrube verschwunden sein soll.
2) Der Tagelöhner Karl Mehardel hat auf dem von Loitz nach Sassen führenden Wege einen ihm unbekannten Mann mit röthlichem Barte, grauem Rock und Hut und einer Wunde auf der Backe getroffen und mit ihm gesprochen; ein ebenso aussehender Mann ist, nach der Mitteilung des Dienstmädchens Karoline Grauholm, am selben Nachmittage beim Wohnhause gewesen und hat von ihr drei Pfennige Almosen erhalten, Essen jedoch, um das er gebeten, nicht, weil die Wirthschafterin nicht gegenwärtig gewesen ist; darauf hat er sich nach einem Nebenhause gewendet, aber niemand anwesend getroffen. Er ist nun ins Dorf gegangen, wo eine Kathenfrau Schult ihn gesehen hat. Später soll dieser Mensch über die Brache des Schlages I bei den Gänsehirten vorbei nach Sassen gegangen sein, hier das Dorf abgebettelt, dann beim Krüger Otto in Sassen übernachtet und sich erst am folgenden Tage von dort entfernt haben.«
Auf Grund dieser Aussage, welche von zwanzig andern Zeugen, unter denen namentlich der Fischer Anders eine genaue Beschreibung davon gibt, in wie minutiöser Weise sämmtliche Gewässer der Umgegend durchsucht worden sind, in allen Einzelheiten bestätigt wurde, durfte nunmehr jede andere Möglichkeit des Verschwindens der Anna Böckler, als durch einen Raub, als ausgeschlossen angesehen werden.Allerdings zeichnet sich die Aussage des Vaters in seltenem Grade durch Genauigkeit und Specialität, zwei wesentlichste Kennzeichen innerer Glaubwürdigkeit, aus. Dennoch ist diese Aussage in einem Punkte bedenklich und in einem zweiten widerlegt worden. Es hat nämlich bei der Verhandlung gegen Schütt sich herausgestellt, daß in der Scheune Nr. 4 zwar gesucht worden ist, aber es scheint kein einziger von den Suchenden gerade an der Stelle der Scheune gewesen zu sein, wo später die Leiche gefunden wurde. Sodann war es ein Irrthum des Böckler, wenn er angab, aus allen Scheunen sei das Stroh (sämmtliches Stroh) fortgeschafft worden. Er hatte zwar eine dahin gehende Anordnung erlassen, dieselbe war aber unbefolgt geblieben; namentlich war aus der Scheune Nr. 4 das sogenannte Bodenstroh wenigstens, d. i. Krummstroh, welches ½ Fuß hoch etwa auf dem Boden der Scheune ausgebreitet wird, um das eingescheuerte Getreide gegen Feuchtigkeit zu schützen, nicht entfernt worden. Unter diesem Bodenstroh aber wurde später die Leiche gefunden, und hatte also schon damals gefunden werden müssen, wenn das Bodenstroh weggenommen worden wäre.
Hier also schon ist der Punkt, wo die Untersuchung einen falschen Weg eingeschlagen hat. Allein ein Vorwurf trifft dennoch niemand, namentlich nicht die verfolgenden Behörden. Denn das Bodenstroh bildet gleichsam einen Theil des Bodens selbst, wie etwa das Gras auf einem Anger, und die Nachsuchenden hatten daher gerade so viel Veranlassung, das Bodenstroh aufzunehmen, wie etwa die gesammte Feldmark umzugraben, selbst wenn man damals schon nicht an ein Verunglücken des Kindes, sondern an einen Mord gedacht hätte!
Es schien also ein ganz besonders wichtiges negatives Resultat gewonnen zu sein, ein Resultat, welches wohl geeignet war, dem Gerichte die Ueberzeugung zu begründen, daß das Kind nicht verunglückt, sondern geraubt sei, und daß in dieser Richtung die Untersuchung fortgeführt werden müsse.
Eine Zeit lang schien es auch wirklich, als wenn die Anstrengungen, welche der Untersuchungsrichter machte, um das Kind zu entdecken, von Erfolg gekrönt sein sollten.
Es wurde ermittelt, daß ein kleines, blondes Mädchen, welches nach vieler Zeugen Aussage der Photographie der Anna Böckler durchaus entsprach, in den Tagen vom 11. bis 13. Juli sich bei einer am 2. August in Flatow, Regierungsbezirk Marienwerder, verhafteten Grünholz'schen, und sodann am 15. und 16. Juli wieder bei einer andern, am 28. und 29. Juli in der Gegend von Polnisch-Lissa verhafteten Krause-Anton'schen Zigeunerbande befunden habe. Wenn man die Orte, wo sich die wartiner, die flatower und die polnisch-lissaer Zigeunerbande bewegt hatten, mit den den Zigeunern zu Gebote stehenden Communicationsmitteln verglich, so erschien es durchaus nicht unglaublich, daß das geraubte Kind in den angegebenen Zeiten von einer Bande zur andern geschafft worden sein konnte; und man durfte sich eine Zeit lang Glück wünschen, daß es gelungen sei, die »Fluchtlinie« der Verbrecher so genau festzustellen.
Wir können es uns jedoch ersparen, die Ergebnisse der Nachforschungen bei den genannten Banden so ausführlich wie die in Wartin zu schildern. Ihr Resultat war schließlich überall nur ein negatives. Das gesuchte Kind kam nirgendwo wieder zum Vorschein und es wiederholten sich im allgemeinen überall die Vorgänge in Wartin. Wir beschränken uns daher auf Folgendes.
Die am 2. August in Flatow verhaftete Zigeunerbande, bei welcher insbesondere ein Gymnastiker und ein Musikus Grünholz, zwei Brüder, die Concubine des letztern, Christiane Adler, ein Musikus Franz u. a. sich befanden, war am 12. Juli, also vier Tage, nachdem die wartiner Bande sich des bei ihr befindlich gewesenen Kindes entledigt, in Tarnowke (Kreis Flatow) eingetroffen und hatte daselbst übernachtet, war am folgenden Tage nach Petzin gezogen, hatte sich hier eine Weile aufgehalten, war dann über Klakowo weiter gewandert und endlich am 2. August wieder in Tarnowke eingetroffen.
Es haben nun zwei, elf, bezüglich neun Jahre alte, Schulmädchen bekundet: als die Zigeuner das erste mal in Tarnowke eingekehrt wären, hätten sie im Stalle des betreffenden Gasthauses, und zwar unter einer Krippe, ein kleines, blondes Mädchen gesehen, welches geweint habe. In der Photographie der Anna Böckler glaubten sie das Kind wiedererkennen zu können. Als die Bande zum zweiten male nach Tarnowke gekommen sei, habe jenes Kind sich nicht mehr dabei befunden.
Ganz wie in Wartin, bestritten auch hier die Zigeuner anfänglich durchaus, ein fremdes Kind bei sich gehabt zu haben. Später jedoch gaben nicht nur die Zigeunerkinder Anton Grünholz, Michael Grünholz und Pauline Franz, sondern auch die Musikus Grünholz'schen Eheleute es zu. Die Angaben aber, welche sie über die Erlangung und den Verbleib des Kindes machten, widersprachen sich untereinander so sehr, standen auch mit andern, sonst ermittelten Umständen in solchem Widerspruch, daß sie als ein Gewebe frecher Lügen gelten mußten.
Zuerst traten die beiden Grünholz'schen Knaben mit der Erklärung hervor, der Musikus Grünholz habe das Kind von einem Gute mitgenommen. Während aber Anton angab, es sei dasselbe demnächst in Posen für 2 Thaler verkauft worden, behauptete Michael, das Kind sei dem Musikus Franz und von diesem weiter dem Schauspieler Franz übergeben, der es zu Kunststücken habe anlernen sollen. – Pauline Franz erzählte, daß der Musikus Grünholz das Kind in Gnesen in einem großen reichen Hause abgegeben habe. – Der Musikus Grünholz gab zu vernehmen, daß eines Tages im Sommer, als der Roggen noch grün gewesen, auf dem Wege nach Krojanke (im flatower Kreise) der Musikus Franz mit seiner Familie und einem fremden, der Anna Böckler ähnlichen Kinde zu ihnen gestoßen und mit ihnen bis nach Tarnowke gegangen sei; Franz habe gesagt, er wolle das Kind an jemand zum Auslernen bringen; auch habe derselbe dem Kinde gedroht, ihm den Hals abzuschneiden, wenn es nicht schweige. In Tarnowke hätten sie sich von der Franz'schen Familie wieder getrennt. – Dagegen erklärte dann wiederum die verehelichte Musikus Franz: die ganze Bande sei im Sommer in Pommern gewesen; dort hätte eines Tages der Musikus Grünholz das fremde Kind zu ihnen gebracht und dasselbe sodann in Exin (Regierungsbezirk Bromberg) dem Gymnastiker Grünholz übergeben, der sich später von ihnen getrennt habe. – Michael Grünholz und Pauline Franz behaupteten im Widerspruch mit ihren frühern Angaben: der Musikus Franz habe das Kind von einem Gute in Pommern mitgenommen; der Vater des Kindes habe sie zu Pferde verfolgt, sich aber zurückziehen müssen, weil er von der ganzen Bande mit Todtschlagen bedroht worden sei. Als das kleine Mädchen ihn von weitem erblickt, habe es gerufen: »Das ist mein Papa Böckler!« Später, nach dem 12. Juli, hätten der Musikus Franz und der Musikus Grünholz das Kind in einem Walde bei Plötzmin unweit Tarnowke mit einer Holzschaufel erschlagen und die Leiche vergraben. – Zwei Tage später gab die Pauline Franz an, das Kind sei von den beiden Männern schon in dem Stalle in Tarnowke mit einem hölzernen Stiel erschlagen und beim Kirchhofe vergraben worden, die Christiane Adler habe dem Kinde vorher einen Finger abgeschnitten. – In ähnlicher Weise sagte der Musikus Grünholz, das Kind sei in dem Stalle von dem Musikus Franz und einem gewissen Anton Wiese mit einem hölzernen Stiel erschlagen und bei dem Kirchhofe beerdigt worden. Gleich darauf erklärte er diese Angaben für erlogen. Einen Tag später wiederholte er sie abermals als wahr.
Sowol im Walde bei Plötzmin wie bei und auf dem Kirchhofe zu Tarnowke haben unter Führung der genannten Personen die eingehendsten Recherchen und Nachgrabungen stattgefunden, aber von der Leiche des Kindes ist keine Spur ermittelt worden. Die ganze Erzählung von der Ermordung des Kindes scheint ebenso erlogen zu sein, wie es zweifellos die Geschichte von dem Zusammentreffen der Bande mit dem Vater der Anna Böckler ist.
Die lissaer Bande anlangend, so bestand dieselbe aus den beiden Familien Anton und Krause, bei der letztern befanden sich die drei Kinder der verwitweten Hammerling. Sie übernachteten am 14. Juli in Langen Guhle, am 15. in Gußwitz, am 16. in Pankowo, trennten sich dann und wurden am 28. und 29. Juli an verschiedenen Orten verhaftet, weil eine erhebliche Zahl von Zeugen aus den Ortschaften, die die Zigeuner passirt hatten, Kinder sowol wie Erwachsene, mit großer Bestimmtheit bekundete, daß, als die Bande jene Ortschaften durchzog, sich bei derselben zwar ebenso viele kleine Mädchen wie bei ihrer Verhaftung, nämlich drei, befunden hätten, daß aber damals von den drei Töchtern der Witwe Hammerling nur die beiden ältesten dagewesen seien, an Stelle des jüngsten dagegen ein anderes, mit dieser nicht identisches Mädchen, etwas größer als jene, von hellerer Gesichtsfarbe, hellerm Haar und gar nicht wie ein Zigeunerkind aussehend. Es sei dies den Zeugen schon damals aufgefallen, obgleich sie von dem Verschwinden der Anna Böckler noch nichts gewußt hätten. Jenes Kind erkannten die Zeugen mit größerer oder geringerer Bestimmtheit in der Photographie der Anna Böckler wieder. – Der einen Zeugin, verehelichten Gastwirth Müller, war es aufgefallen, daß das Kind von den Leuten mit besonderer Sorgfalt behandelt wurde und u. a. Eier zum Kaffee bekam. – Der Gastwirth Müller sah, wie eine zu der Bande gehörige Frauensperson mit dem Kinde Kunststücke zu machen, es auf den Händen zu balanciren versuchte, das Kind aber der Frau ängstlich in die Haare griff und diese von den Versuchen abstehen mußte. – Die dreizehnjährige Ernestine Seiffert hörte, wie das Kind, das auf die Straße gelaufen war, von der Witwe Hammerling zurückgerufen wurde, und darauf in gutem Hochdeutsch erwiderte: »Du denkst wol, ich werde wieder fortlaufen!« Die Hammerling hatte dabei ein Stück Kattun in der Hand, das Kind bat sie um etwas davon, die Hammerling erklärte jedoch, daß sie daraus der Kleinen eine Jacke machen müsse, und das Kind rief: »Ja, warum habt ihr meine guten Sachen verkauft und zerschnitten!« – Der vierzehnjährige Pferdejunge Altmann sah das Kind im Wagen neben einer Frau und hörte, wie dasselbe rief: »Wo ist mein lieber Papa, meine liebe Mama!« Darauf schlug die Frau das Kind in den Rücken, sodaß es weinte. Später, als die Zigeuner verhaftet worden und vorläufig im Keller des Gutshauses untergebracht waren, lauschte Altmann nebst dem neunzehnjährigen Oekonomielehrling Haak an der Kellerthür und beide vernahmen, wie eine der dort verhafteten Frauenspersonen klagte: »Ach, meine armen Kinder! Hätte ich doch das nicht gemacht! Hätte ich es doch lieber aus dem Wege gebracht!« und eine andere: »Allmächtiger, ewiger Gott! Warum habe ich das Kind immer mit fortgebracht! Warum habe ich es nicht lieber gleich getödtet!«
Trotz aller dieser doch in der That erheblich verdächtigenden Umstände bestritten die sämmtlichen Mitglieder dieser Bande auf das entschiedenste und bis zuletzt, daß sie ein fremdes Kind bei sich gehabt hätten, und behaupteten, die Anna Marie Hammerling, und keine andere, sei das Kind gewesen, welches die Zeugen gesehen hätten. Dem traten aber wiederum die Zeugen mit der größten Bestimmtheit entgegen, insbesondere erklärte der Obstpachter Ziegler, daß er eine erhebliche Strecke Weges neben dem Wagen mit dem fremden Kinde hingewandert sei und sich dessen Gesicht so genau eingeprägt habe, daß bei ihm eine Verwechselung jenes Kindes mit der kleinen Hammerling ganz undenkbar sei. – Aber irgendetwas Weiteres über den Verbleib des Kindes und seine Identität ist trotz aller Mühe nicht zu ermitteln gewesen. –
Daß man den verdächtigen Personen, welche am Tage des Raubes in der Nähe des Hofes gesehen worden waren, nach Möglichkeit nachgespürt hat, bedarf nicht erst der Erwähnung. Jedoch ist es nicht gelungen, ihrer habhaft zu werden.
Ebenso wenig hat man es versäumt, die Möglichkeit eines an dem Kinde verübten Unzuchtsverbrechens ins Auge zu fassen. Es sind deshalb umfassende Ermittelungen angestellt worden, jedoch ebenfalls ohne Erfolg.Die Frage, warum nicht schon damals der nachmals ermittelte Mörder Franz Schütt in Verdacht gerathen ist, kann allerdings aufgeworfen werden. Es ist dies ein etwas heikler Punkt, aus den wir bei dem Berichte über die später gegen Schütt eingeleitete Untersuchung zurückkommen werden. Für jetzt sei nur bemerkt, daß der Criminalcommissarius L. aus Berlin, welcher die Nachforschungen an Ort und Stelle leitete, ihm das Zeugniß gab: er mache den Eindruck eines harmlosen Jungen. Als solcher hatte sich Schütt bis dahin in der That gezeigt.
Inzwischen widerriefen die in Wartin geständig gewesenen Zigeuner, ins Gefängniß übergeführt, ihre Geständnisse. Die Nachforschungen in Wartin nach der Leiche des Kindes und die Feststellung des Weges, den die Bande bis nach Wartin genommen hatte, bewiesen, daß die frühern Geständnisse zum Theil in der That unwahr gewesen waren. Endlich gelang es trotz aller Mühe und aller hier und dort auftauchenden Anzeichen nicht, den Rudolf Schröder, der das Kind von Wartin fortgebracht haben sollte, aufzufinden.
So fiel denn das mit so vielen Mühen und Kosten aufgerichtete Gebäude unter der prüfenden Hand des Untersuchungsrichters Stück für Stück zusammen. Es blieb zuletzt kein einziger positiver Anhalt mehr, die Untersuchung fortzusetzen, und trotz alles noch fortbestehenden Verdachtes sah sich das Gericht genöthigt, wegen Mangels an Beweisen die Untersuchung einzustellen. Am 27. Februar 1873 wurde der letzte der verhafteten Verdächtigen – nach und nach waren 57 Zigeuner verhaftet worden – in Freiheit gesetzt.
Man nahm nun an, daß Anna Böckler, wenn nicht nachträglich noch ermordet, jedenfalls in so unerreichbare Ferne, nach Rußland oder Ungarn, entführt, oder aber so tief versteckt sei, daß vorläufig an ein Wiederfinden nicht zu denken war. Man hoffte von der Zeit dermaleinst die Lösung des so ergreifenden wie beschämenden Räthsels, daß die große Opferwilligkeit der trauernden Aeltern, die angespannteste Thätigkeit des Staates nicht im Stande gewesen war, weder durch Gewalt und Zwang, noch durch lockende Belohnung den Räubern ihre Beute zu entreißen.
Es verlohnt sich hier wol, über die Anstrengungen, die in diesem ungewöhnlichen Falle gemacht wurden, einen Ueberblick zu geben. Erwähnt ist schon, daß auf die Wiederauffindung des Kindes vom Staate eine Prämie von 300 Thlrn., von dem Vater eine solche von 100 Thlrn., dann von 500 Thlrn., endlich von 2000 Thlrn., und für die Auffindung der Leiche eine Belohnung von 1000 Thlrn. aussetzt wurde. Erwähnt sind die mühevollen Durchforschungen der Gewässer auf der Feldmark Treuen, die von den Suchenden zu Boden getreteneu Saaten. Das ganze Jahr hindurch unterhielt der Vater mit theuerm Gelde Agenten und war selbst, mit Hintansetzung seiner Wirtschaft, fortwährend auf Reisen, um bald hier, bald dort aufgefundene Kinder, die seiner Tochter ähnlich sehen sollten, zu recognosciren, – stets mit neubelebter Hoffnung und mit desto bittererer Enttäuschung!
In nicht weniger als zwanzig gewaltigen Actenvolumen, während eines halben Jahres zusammengeschrieben und weit über 3000 Folien (fast lauter enggeschriebene Zeugenvernehmungen, Berichte u. dgl.) enthaltend, liegt der Fleiß der Behörden vor uns aufgespeichert, derjenigen Acten nicht zu gedenken, die bei auswärtigen Polizei- und Gerichtsbehörden beruhen geblieben und nicht hierher gelangt sind. Ueber 300 Telegramme sagen uns, daß man den Werth einer schnellen Correspondenz wohl zu schätzen gewußt hat.
Die entstandenen Kosten lassen sich leider nicht genau berechnen, da die Kostenliquidationen sich vielfach nicht bei den Acten befinden, vielfach auch, z. B. die Kosten für Insertionen in Zeitungen, gar nicht liquidirt worden sind. Jedoch mag die Bemerkung nicht uninteressant sein, daß für Photographien, der Anna Böckler sowol als auch von angehaltenen Zigeunern nicht weniger als 89 Thlr. 10 Sgr. 6 Pf. verausgabt worden sind, und, daß die Nachsuchungen nach der Leiche in Wartin einen Kostenaufwand von 96 Thlrn. erfordert haben.
So thätig die Justiz, so willig und bereit zu helfen war die Polizei und die gesammte innere Verwaltung. Der Minister des Innern entsandte aus Berlin drei besondere Polizeibeamte, gab die Spalten sämmtlicher Regierungsamtsblätter zu den umfangreichsten Publicationen her; eine allgemeine Landesvisitation sogar wurde in Aussicht genommen, und nur wegen der Unzweckmäßigkeit der Maßregel unterlassen. Statt dessen erging an sämmtliche Landräthe und Amtshauptleute der Monarchie eine dringende Mahnung zur äußersten Vigilanz.
Eine ähnliche Verfügung wurde auf Anregung eines Anonymus, anscheinend eines Postbeamten, von seiten des Generalpostamts an sämmtliche Landbriefträger erlassen.
Das auswärtige Ministerium endlich setzte sich mit den Regierungen der übrigen deutschen Staaten, Oesterreichs und Rußlands in Verbindung und erhielt nicht blos die bereitwilligste Zusage der Hülfeleistung, sondern diese Regierungen ergriffen auch in der That energische Maßregeln gegen Vagabunden, bei denen man das verlorene Kind vermuthen durfte.
Diese übermäßigen Kraftanstrengungen, diese gewaltige Arbeitsleistung, diese Opferwilligkeit und Hülfsbereitschaft aller angegangenen Behörden und Personen, – wahrlich das ist eine hellstrahlende Lichtseite der Untersuchung! Denn wohlgemerkt, es handelte sich nicht etwa um eine besondere staatliche Angelegenheit, nicht etwa um einen Proceß Bazaine, sondern es handelte sich darum, – einem unglücklichen Aelternpaare zu dem verlorenen Töchterchen wieder zu verhelfen!
Allein wenn wir auch sagen dürfen, daß der Staat und die Staatsbehörden ihre Schuldigkeit in vollem Maße gethan haben, so wird dadurch doch der peinliche Eindruck nicht verwischt, daß alle diese Anstrengungen vergeblich gewesen, daß dabei nicht blos Geld und Arbeit nutzlos aufgewendet, sondern auch fast 60 Menschen wochen- und monatelang in Haft gehalten worden sind. Man darf deshalb wohl fragen: Sind die verfolgenden Behörden nicht etwa doch zu bereitwillig auf die Annahme eingegangen, daß Anna Böckler geraubt worden sei? Haben sie nicht zu vorschnell, auf einen, bald darauf als unbegründet erwiesenen Verdacht hin, so viele Menschen verhaftet? War es wirklich gerechtfertigt, die höchsten Spitzen der Behörden, die Diplomatie sogar in Mitleidenschaft zu ziehen? vor dem Auslande die Schwächen und Irrthümer unserer Criminalpolizei und Criminaljustiz ohne Noth zu enthüllen? Es ist nicht unseres Amtes, Lob oder Tadel auf die Behörden zu werfen, die in dieser merkwürdigen Untersuchung thätig gewesen sind. Aber das Eine müssen wir betonen: Auch für uns und im gegenwärtigen Augenblicke noch gilt als erwiesen, daß, von der flatower, der lissaer, der pencuner u. a. Banden zu schweigen, bei der wartiner Zigeunerbande am 8. Juli ein blondes Kind vorhanden war, welches in der Zeit von 6 bis 10 Uhr abends spurlos verschwunden ist.
An diesem Resultat kann namentlich der Jurist nicht zweifeln, wenn er sich nicht die Grundlage, auf der alle seine Feststellungen ruhen, unter den Füßen fortziehen lassen will, die Berechtigung nämlich, Glauben schenken zu dürfen den Zeugenaussagen, die materiell und formell die Anzeichen der Glaubwürdigkeit an sich tragen. Und diese Anzeichen tragen die Zeugenaussagen, auf welche die obige Annahme sich stützt, in hohem Grade an sich, mag man sie prüfen nach freier, oder nach irgendwelcher formellen Beweistheorie.
Geirrt hat also die Untersuchung nur darin, daß sie das in Wartin verschwundene Kind für die Anna Böckler hielt, und vielleicht (!) darin, daß sie annahm, das verschwundene Kind sei ein geraubtes, während das erstere später widerlegt und das letztere bisher nicht erwiesen ist. Die in Scene gesetzte Verfolgung war daher mitnichten eine Jagd nach Schatten; sie hatte ein durchaus reales Ziel, die Wiederauffindung eines wirklich auf unerklärte Weise, fast unter den Händen der Behörden verschwundenen Kindes. Das Räthsel jenes Verschwindens ist auch durch die Auffindung der Leiche Anna Böckler's nicht gelöst. Denn wo jenes Kind, welches die Bande bis zum 8. Juli abends in Wartin bei sich hatte, hingekommen, ob es ermordet oder einer andern Bande übergeben, aus welchen Gründen dies geschehen ist? das sind Fragen, deren Beantwortung wir von der Zukunft erwarten müssen.
Wenn dem aber so ist, dann ist es zwar tief zu beklagen, daß alle aufgewendeten Mittel nicht hingereicht haben, den Schleier des Geheimnisses zu lüften, aber durchaus nicht ist es zu tadeln, daß jene Mittel angewendet worden sind, daß Polizei und Gericht sich nicht besonnen haben, fest zuzufassen, wo Verdacht hervortrat, daß sie sich nicht gescheut haben, die gesammten Kräfte des Staates aufzubieten; und nicht beschämend ist es für den Staat, daß er sich erfolglos hat in Thätigkeit setzen lassen, sondern es verdient Lob, daß er es so bereitwillig gethan im Dienste der Justiz!
Mit diesen Erwägungen dürfen wir indeß nicht schließen. Denn so tröstlich sie auch sein mögen, – das Wünschenswerthere ist denn doch, daß solche Untersuchungen in Zukunft sich nicht wiederholen. Wir haben also noch zu erörtern: was hat die Wissenschaft aus dieser Untersuchung gelernt? Wie können wir in Zukunft vermeiden, daß solche enorme Kraftanstrengungen vergeblich gemacht werden?
Zu unserm Bedauern müssen wir gestehen: die Wissenschaft hat so gut wie keinen Gewinn gehabt. Nichts als die Bestätigung ein paar schon längst bekannter und zwar nicht einmal positiver, sondern lediglich negativer Sätze:
1) daß ohne einen unzweifelhaft feststehenden, objectiven Thatbestand eine Untersuchung schwierig zu führen ist;
2) daß erzwungene Geständnisse keinen Werth haben, und selbst, wenn sie nicht unter dem Einflüsse des Zwanges abgelegt werden, nicht immer Glauben verdienen;
3) daß Recognitionen stets bedenklich sind, namentlich auch Recognitionen nach Photographien.
Die im ersten Satze betonte Schwierigkeit kann nicht gehoben werden, wenn es sich, wie beim Menschenraube, um Delicte handelt, deren Thatbestand eben in dem Fortschaffen des corpus delicti besteht.
Der zweite Satz ist in aller Munde und bedurfte kaum noch der neuen Bestätigung durch die Affaire in Wartin; – doch zeigt der Vorgang mit der Reitpeitsche, wie wenig durch die theoretische Anerkennung auch die praktische Uebung garantirt wird.
Der dritte Satz endlich gehört ganz in das Gebiet der tiefsten psychologischen Speculationen, und seine befriedigende Erledigung ist davon abhängig, ob es der Psychologie gelingen wird, die Relation aufzufinden, welche in der Seele besteht zwischen zwei ähnlichen Wahrnehmungen. Bis dahin aber verzichten zu sollen auf das Beweismittel der Recognition, weil seine Schwächen hier so besonders scharf hervorgetreten sind, – das wäre eine Zumuthung, der die Criminaljustiz Folge zu leisten nicht vermöchte.
So also erweist sich der Nutzen, den die Wissenschaft aus dem so umfangreichen Material gezogen hat, so ziemlich gleich Null. Denn was sonst noch von allgemeinerer Bedeutung zu Tage getreten ist, namentlich Beobachtungen über das Leben und Treiben der Zigeuner und Vagabunden, ist so sehr von Lüge und Dunkel umwoben, daß es zur Zeit noch nicht darauf Anspruch machen kann, in den Büchern der Wissenschaft Aufnahme zu finden.
Hiermit könnten wir diesen Abschnitt unserer Darstellung schließen, und müßten es eigentlich; denn der Fall Böckler ist erschöpft. Aber wir würden dann unserer Aufgabe doch nicht vollständig genügen. Mit Recht kann man von uns Auskunft darüber verlangen, welche Bewandtniß es gehabt hat mit den übrigen Anzeichen von der Auffindung der Anna Böckler, die doch so vielfach die Zeitungen füllten, und wie es sich verhält mit den fremden Kindern, die bei den Zigeunern aufgefunden worden sind.
Zu unserer eigenen Ueberraschung ist die Ausbeute dieser sozusagen romantischen Seite der Sache eine ganz unerwartet dürftige. Zwar quantitativ ist das Material fast überwältigend, wie aus einer kurzen Uebersicht der Ortschaften, wo überall Anna Böckler gesehen sein sollte, sofort klar werden wird. Aber sachlich zeigten sämmtliche Anzeigen eine nur zu triste Gleichartigkeit. Fort und fort kehren in ihnen dieselben trügerischen Indicien wieder als Beweise für die Identität des Kindes: blonde Haare, blaue Augen, gewölbte Stirn, »gänzlich anderes Aussehen als das der andern Zigeunerkinder«, bessere Kleidung, gesitteteres Wesen, bescheidene Zurückhaltung, namentlich beim Betteln, der Name Anna, den das Kind führt, bald eine besonders zuvorkommende, dann wieder eine besonders rauhe Behandlung von seiten seiner Begleitung, der Ruf nach »Papa« und »Mama«, Weinen und betrübtes Aussehen – das ist es, was sich immer wiederholt: man kennt fast alle Anzeigen, wenn man eine kennt. Fort und fort tragen dabei die Anzeigen schon deshalb den Stempel der Unzuverlässigkeit an sich, weil sie sich meistens beziehen auf Wahrnehmungen, die schon vor mehrern Tagen und Wochen gemacht sein sollen, als man dort von dem Verschwinden der Anna Böckler noch nichts wußte. Fort und fort wird das Kind in der Photographie der Anna Böckler wiedererkannt mit »völliger Bestimmtheit« – und nirgends verdienen diese Recognitionen Glauben. Es würde uns nicht verziehen werden, wenn wir hier irgend vollständig sein wollten. Aber wenn der Leser uns dankbar ist für die gekürzte Darstellung des ermüdenden Materials, so wolle er dabei nicht versäumen, sich recht lebhaft vors Auge zu führen die qualvolle Lage der Aeltern, denen jede sich wiederholende Anzeige nicht Langcweile brachte, sondern den furchtbarsten Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung, die aufreibende Thätigkeit des Richters, an dessen Arbeitskraft sie alle die unerhörtesten Anforderungen machten, dem, bei dem lebhaften telegraphischen Verkehr, nicht bei Nacht und nicht bei Tage Ruhe gegönnt ward, dem neben dem Mitleiden mit den unglücklichen Aeltern auch die schwere Verantwortlichkeit für so viele Verhaftungen oblag, und der dann schließlich auch – mit monatelanger Krankheit die übermäßige Anstrengung seiner Kräfte büßen mußte!
Nach den in den Acten befindlichen Anzeigen sollte Anna Böckler (außer an den schon erwähnten Orten) gesehen worden sein:
Ende Juni: bei Demmin (Pommern), bei Franzburg (Pommern), bei Egeln (Provinz Sachsen).
Anfang Juli: in Stettin, bei Gmünd (Würtemberg), in Prechlau (Westpreußen), bei Krojanke (Westpreußen) im Kreise Kottbus.
Ferner an speciell genannten Tagen: Am 6. und 7. Juli: im Kreise Mansfeld.
Am 8. Juli: bei Garz a. O., bei Schwedt a. O., bei Dümmer (Mecklenburg)!
Am 10. Juli: in Boddin (Mecklenburg).
Am 11. Juli: in Wyssogotowo (Posen).
Am 12. Juli: in Dannenberg auf Usedom, in Kohlfurth (Schlesien).
Am 13. Juli: bei Radolfzell (Baden), bei Wiche (Provinz Sachsen).
Am 14. Juli: auf der Bahnstrecke Elbing-Bromberg, in Woldyck (Mecklenburg).
Am 15. Juli: in Tluczewo (Westpreußen).
Mitte Juli: bei Ludwigsburg (Würtemberg), bei Landsberg (Schlesien).
Am 16. Juli: in Dziencelitz (Westpreußen).
Am 17. Juli: in Königsberg in Preußen.
Vom 17. bis 23. Juli: bei Horsens (Dänemark).
Am 18. Juli: bei Louisdorf (Schlesien), bei Pölitz (Pommern).
Am 19. Juli: in Löcknitz (Pommern), in Wildemann bei Klausthal.
Am 21. Juli: bei Neustettin (Pommern), bei Myclowitz (Schlesien), bei Czarnikau (Posen), bei Bramsche (Hannover), bei Jäckheim (Ostpreußen), bei Neuenheim (Baden), bei Gladowken (Ostpreußen), bei Kuttenberg (Böhmen).
Am 21. Juli: bei Lötzen (Ostpreußen), bei Alt-Damm (Pommern), bei Obermaßfeld (Meiningen), bei Schwetz a. W. (Westpreußen).
Am 22. Juli: bei Neuzelle (bei Frankfurt a. O.), bei Reichenbach und Görlitz, bei Tettnang (Würtemberg).
Am 23. Juli: bei Ravensberg (Würtemberg), bei Hedersleben (Provinz Sachsen).
Am 24. Juli: bei Grabowke (Schlesien), bei Klein- Katz (Westpreußen).
Am 25. Juli: bei Annaberg (Provinz Sachsen), bei Sandhübel (Oesterreichisch-Schlesien).
Am 26. Juli: bei Leunenburg (Ostpreußen).
Am 27. Juli: bei Groß-Sachsenhausen (Würtemberg).
Am 28. Juli: bei Straßburg (Westpreußen), bei Rothenburg a. d. Tauber, bei Wurzen bei Leipzig.
Am 30. Juli: bei Ruhland (Provinz Sachsen), bei Weingarten (Würtemberg).
Ende Juli: in Antwerpen, bei Cannstatt (Würtemberg).
Im Juli und August: an mehreren Orten in Rußland.
Anfang August: bei Horn (Nieder-Oesterreich), bei Olterndorf (Hannover), bei Angerburg (Ostpreußen), bei Falkenburg (Regierungsbezirk Potsdam), bei Lezajsk (Galizien), bei Wolfenbüttel, bei Tempelburg (Pommern), bei Rzeptsch (Schlesien).
Am 1. August: bei Frankenstein (Schlesien), bei Königszell (Schlesien), bei Göppingen (Würtemberg).
Am 2. August: bei Atens (Oldenburg), bei Flettmar (Hannover), bei Mergentheim und Tauberbischofsheim (Würtemberg).
Am 4. August: bei Frankfurt a. M.
Am 5. August: bei Eybach (Würtemberg).
Am 7. August: in Utenroth (Rheinprovinz).
Am 8. August: in Holxen (Hannover).
Am 9. August: bei Frankenhausen (Schwarzburg - Rudolstadt).
Am 11. August: in Broistedt (Braunschweig).
Am 12. August: in Donauwörth, in Hammelschein (Schwarzburg - Rudolstadt).
Mitte August: in Lieberose (Provinz Brandenburg), in Kralowic (Böhmen), in Alten-Plathow (Kreis Genthin), in Tempelburg (Pommern).
Am 15. August: im Kreise Randow.
Am 16. August: bei Lichten (Oesterreich-Schlesien).
Am 18. August: bei Hersbruch (Baiern).
Am 19. August: bei Oldendorf (Regierungsbezirk Minden).
Am 29. August: bei Schwarzburg-Rudolstadt.
Ende August: bei Altenstein (Ostpreußen), in Thun und Münchenbucksee (Schweiz).
Im August und September: an mehreren andern Orten in der Schweiz und im südlichen Baden.
Am 4. September: in Salzungen (Meiningen).
Am 9. September: bei Nyitra-Zrambokost (Ungarn).
Am 10. September: bei Uerdingen (Rheinprovinz).
Mitte September: in Bern und Luzern, in Friedrichshagen (Regierungsbezirk Potsdam).
Am 19. September: in Havre, in Ischl.
Zu Anfang October: in Halle.
Am 30. October: bei Neustettin.
Anfang November: in Saint-Louis (Nordamerika).
Am 11. November: bei Spremhagen (Regierungsbezirk Potsdam).
Am 1. November: in Greifenberg (Pommern).
Im November sonst noch: in Luckau und in Freistadt (Provinz Brandenburg), in Gruenberg (Schlesien).
Im Januar 1873: in Bocina (Kroatien).
Im Februar 1873: in Odessa.
Und von diesen unzähligen Anzeigen blieb keine einzige ungeprüft, auch wenn sie lautete wie etwa die folgende der Polizeibehörde von Lezajsk (Galizien):
»In Lezajsk ist von einer unbekannten Person ein Mädchen zurückgelassen worden. Dieses Mädchen nennt sich selbst Bosia, ist circa vier Jahre alt, behauptet, daß seine Mutter in Pommern gewesen, und die, welche sie zurückgelassen habe, sei ein altes Weib.
»Signalement: rundes Gesicht, schwarze Augen, hellblonde Haare, auf der linken Seite Geschwürnarben unweit der Achsel, hat ein gutes Gedächtniß und stammt aus einem polnischen Hause, versteht etwas und ist ungewöhnlich heiter und lebhaft, behauptet auch, daß es mit der sogenannten Eisenbahn gefahren sei.«
Selbst eine solche Anzeige erschien nicht von vornherein der Berücksichtigung unwerth. Man zweifelte lieber an der richtigen Beschreibung des gefundenen Kindes, als daß man versäumen mochte, den angebotenen Fingerzeig zu verfolgen. Man ließ sich von dem kleinen Findlinge eine Photographie schicken, die dann freilich sofort ergab, daß derselbe Anna Böckler nicht war, wie er es ja schon der Beschreibung nach nicht sein konnte.
Und doch war es keineswegs eine übertriebene Sorgfalt, wenn man auch in den Fällen, wo die Personalbeschreibung nicht stimmte, Nachforschungen anstellte. Man durfte sich nicht einmal zu streng an die angegebenen Erlennungsmerkmale binden, z. B. nicht an die angegebene Kleidung, sondern mußte auch die Möglichkeit mit berücksichtigen, daß das Mädchen in Knabenkleider gesteckt sein könnte.
Bisweilen freilich fand man in den Knabenkleidern auch wirklich Knaben. So z. B. in einem Falle, wo die betreffende Polizeibehörde, ihrer Sache gar zu gewiß, eine Bekanntmachung dahin erlassen hatte:
»Am 15. Juli ist in Tluszewo (Kreis Neustadt) eine Zigeunerbande eingetroffen, welche anscheinend das dem Domänenpachter Böckler aus Treuen geraubte Töchterchen, Anna, mit sich geführt hat. Die Anna Böckler war mit einem Knabenanzuge bekleidet u. s. w.«
In andern Fällen dagegen bestätigte sich die Vermuthung einer Verkleidung. So erwiderte der Förstersfrau S. in Leunenburg (Ostpreußen) eine in dem Kruge einkehrende Zigeunerin, die einen kleinen blonden Knaben bei sich hatte, auf die Frage: »Was sie da für ein hübsches Jungchen habe!« »Das Kind sei kein Knabe, sondern ein Mädchen; es sei in einem fremden Lande ein Kind geraubt, man habe das ihrige für das geraubte gehalten und sie daher (und zwar, wie die Acten allerdings ergeben, bei Bartenstein) in Haft genommen, später aber wieder losgelassen, weil sich herausgestellt habe, daß das Kind das geraubte nicht sei.« – Der Grund der Verkleidung wird hier kein anderer gewesen sein als die Hoffnung, auf diese Weise fernern polizeilichen Belästigungen wegen des eigenen Kindes zu entgehen; in andern Fällen mochte sie freilich gewählt worden sein, um ein wirklich geraubtes Kind zu verheimlichen.
Daß übrigens dieselben Personen wegen desselben Kindes wiederholte Verfolgungen zu erleiden hatten, kann eigentlich kaum wundernehmen, und ist auch in der That mehrfach vorgekommen. So wurde in Baiern und Baden eine und dieselbe Bärenführerbande nacheinander von mehrern Orten aus verfolgt, die sie mit einem zwei- und einem siebenjährigen Kinde nach und nach durchzogen hatte. Etwas Aehnliches berichtet die Polizeiverwaltung zu Goslar:
»Von den hiesigen Landgensdarmen wurde eine Hausirerfamilie Namens E. aus dem Nassauischen auf der Landstraße angehalten und mir vorgeführt, weil sie in einem der vier mitgeführten Kinder, Namens Anna, eine Aehnlichkeit mit der Photographie der Anna Böckler zu finden meinten, und weil dieselbe bei geschehener Besichtigung eine kleine Narbe auf der linken Brustseite aufzuweisen hatte. Trotz dieses Umstandes und trotz des Zusammentreffens noch der fernern Umstände, daß das Kind auch etwa vier bis fünf Jahre alt sein mag, daß es kurzgeschnittenes, blondes Haar und blaue Augen hat, zeigt dennoch eine kurze Prüfung, daß es die vermißte Anna Böckler nicht ist. – Die Photographie der letztern trifft mit der Anna E. durchaus nicht zu, die Stirnbildung und der Bau des Gesichts sind so wesentlich verschieden, daß eine Täuschung nicht für möglich zu halten ist. Die Narbe auf der linken Brust ist nach Aussage eines zugezogenen Arztes nicht die von einem Schnitt, sondern entweder eine Rißwunde oder eine Blatternarbe. Das Kind besitzt außerdem ein auffallendes Merkmal in einer braunen Warze im Nacken, welche unbedingt den Aeltern bekannt sein mußte, in dem Signalement der Anna Böckler aber fehlt. Das Kind spricht in einem breiten Dialekt, wie er gerade in den untern Volksschichten gehört wird, es bewies entschiedene Zärtlichkeit gegen seine Aeltern, nannte mit vollster Unbefangenheit die Namen des Vaters und seiner Geschwister, und ist ein Kind in blühendster Gesundheit, welche gewiß nicht zu finden wäre, wenn eine sechswöchige Dressur ihm alle jene Aeußerungen hätte zu eigen machen müssen. – Der Vater erscheint vollkommen unverdächtig, er beklagte sich darüber, daß er wegen gleichen Verdachtes nun schon zum dritten mal angehalten werde; er erklärte sich sofort bereit, hier in Goslar so lange zu bleiben, bis er durch Erwirkung eines Geburts- und Taufscheins die Namen und das Alter seiner drei ältesten Kinder (Anna ist die jüngste) nachgewiesen haben würde. Die Mutter erklärte, bei aller sonst dem Kinde bewiesenen Zärtlichkeit, daß sie das Kind dem Domänenpachter Böckler mit Freuden, wenn es verlangt würde, überlassen wolle, da es dort ein besseres Los zu erwarten habe als bei den eigenen Aeltern.«
Diese Berichterstattung ist besonders werthvoll wegen der ruhigen, kühlen Beurtheilung der einzelnen Indicien, – leider eine nicht besonders häufige Ausnahme in dieser Untersuchung, bei der, im Publikum wenigstens, von Anfang an gar zu sehr das Herz mitgesprochen hat und – die Gewinnsucht! Zwei Momente, welche gar leicht dazu verführen, daß man bloße Hoffnungen für Gewißheit hält.
Einen Fall vorschnellen Urtheils haben wir bereits in dem tluszewoer kennen gelernt; hier noch ein paar andere.
Im »Prager Abendblatt« vom 13. August 1872 war zu lesen:
» Anna Böckler in Böhmen. Die bisherigen Nachforschungen nach dem Aufenthalte der von einer Zigeunerin geraubten vierjährigen Tochter des Domänenpachters Böckler zu Treuen in Preußen haben zur Gewißheit ergeben, daß die Zigeunerin mit dem Kinde sich in Böhmen herumtreibt. Am 26. Juli erschien nämlich in dem Selcherladen der Frau Swoboda in Kuttenberg eine Zigeunerin, die auf dem Rücken ein beiläufig vier bis fünf ein halb Jahre altes Kind trug, welches sie mit dem Rocke bis zum Halse zugedeckt hatte. Dieses Kind hatte ein dunkles Tuch um den Kopf gewunden und war sehr stark verweint, sodaß die Selcherin gerührt wurde und das Kind näher beobachtete. Als man der Selcherin später die Photographie des geraubten Kindes vorwies, erkannte sie mit voller Bestimmtheit dasselbe auf den ersten Blick wieder. Sonntag, den 28. Juli, stand der Leierkastenmann Wenzel Horececk auf der Straße unweit Lorec. Da kam ein ganz eingehülltes Weib, das ein etwa vierjähriges Kind im Arme trug. Das Kind weinte und rief stets die Worte: »Nach Hause! Nach Hause!« Dem Manne war um das Kind leid, weshalb er dasselbe genau besichtigte und ihm einige Worte böhmisch zuflüsterte, die es jedoch nicht verstand. Als man dem Leierkastenmann die Photographie des Kindes zeigte, rief er: »Das ist dasselbe, welches ich bei der Zigeunerin gesehen, darauf könnte ich schwören!« Am 26. Juli wurde das Kind auch von einem gewissen Alois Slezak zwischen Malin und Sedlec gesehen. Die Zigeunerin befand sich in Begleitung eines Zigeuners und eines andern Mannes. Elfterer drohte von rückwärts dem Weibe fortwährend mit dem Stocke und rief: »No ty si něco vyvedeš!« (»Nun, du wirst dir etwas anstellen!«) Aus allem geht hervor (?), daß die Zigeunerin sich stets der Aufmerksamkeit der Polizeiorgane zu entziehen wußte. Da am 26. Juli in Neuhof ein Pferdemarkt abgehalten wurde und das Weib mit dem Kinde sammt einem Zigeuner und fremden Manne, wahrscheinlich einem Unterstandgeber, diesem Orte zuschreitend gesehen wurde, so läßt sich vermuthen, daß das Kind sich in einer zum Scheine den Pferdehandel betreibenden Zigeunerbande befindet. Die Zigeunerin ist u.s.w.« (Folgt eine Beschreibung derselben.)
Die weitern Nachforschungen ergaben kein Resultat.
In ähnlich bestimmter Weise brachte »Der Tagesbote aus Böhmen« die Nachricht: »Die langgesuchte Anna Böckler sei nunmehr in Kralowic gefunden. Der Finder solle ein Militärurlauber sein. Derselbe habe aus dem Aufenthalte einer größern Zigeunerbande, die bei Kralowic ein förmliches Lager aufgeschlagen, die Muthmaßung geschöpft, die ihn auch richtig zum erwähnten Ziele geführt. Er habe sich mit zwei Mann in das Lager begeben und in Gesellschaft einer kauernden Zigeunerbande ein Kind, welches nach der Beschreibung auf Anna Böckler hätte schließen lassen, bemerkt. Rasch heranschreitend habe er an das Kind die Frage gerichtet, ob es zu seinem Vater wolle. Mit unbeschreiblicher Freude sei auf diese deutsche Anfrage das Kind in die Arme des Urlaubers gestürzt, und nach einigen Fragen habe ein längerer Zweifel über die Identität der Gefundenen nicht mehr obwalten können. Zwei von den Zigeunern seien festgenommen worden, den übrigen sei es gelungen, zu entfliehen.«
Das Bezirksamt zu Kralowic erklärte auf ergangene Anfrage die ganze Nachricht für unbegründet.
Ebenso ohne allen thatsächlichen Halt scheint eine Nachricht aus Montjoie zu sein, dahin gehend, daß in Antwerpen ein blondes Mädchen von vier bis fünf Jahren auf der Straße aufgefunden und auf das Polizeibureau gebracht worden sei, wo sich herausgestellt habe, daß dasselbe ein fremdes Kind sei, da es das Flämische nicht verstände. Die Polizei von Antwerpen erklärte die ganze Anzeige für eine Fabel.
Fast noch frivoler erscheint eine telegraphische Anzeige aus Meiningen: daß dort ein Kind bei Zigeunern gesehen worden sei, welches, der Anna Böckler gleichend, diese wol sein möge. Sofort wurden die erforderlichen Ermittelungen angestellt und dieselben Zeuginnen, auf deren Mittheilung hin, wie man annehmen muß (genau läßt sich dies aus den Acten nicht ersehen), jenes Telegramm abgelassen worden ist, gaben nunmehr von dem Kinde folgende Beschreibung: »Es habe loses kurzgeschnittenes Haar gehabt und allerdings hübsch hochdeutsch gesprochen; dies sei ihnen zwar aufgefallen, habe sie aber doch nicht zweifeln lassen, daß das Kind zu den Zigeunern gehöre; im Gegentheil habe das Mädchen ganz den Eindruck gemacht, als gehöre es zu den Zigeunern, habe auch nicht vier bis fünf Jahre, sondern sieben bis neun Jahre alt geschienen, habe nicht blonde, sondern dunkle, nach Aussage der einen Zeugin braune,nach der der andern gar schwarze Haare gehabt, und im Gesicht viele Pockennarben.«
Es ist bedauerlich, daß in dieser frivolen Weise mit den schmerzlichsten Gefühlen der unglücklichen Aeltern gespielt worden ist, – sollte es auch nur aus Unverstand geschehen sein und nicht aus Begehrlichkeit nach den Prämien, – ganz abgesehen von dem Schaden, den diese Anzeigen dem ruhigen Gange der Untersuchung bringen mußten.
Noch schlimmer, wenn sich mit solchem Leichtsinn Feigheit und Indolenz paarten.
In Celle läßt sich am 7. August der Gastwirth K. aus M. dahin vernehmen:
»Am Freitag voriger Woche sei ein Zigeunertrupp bei Flethmar eingetroffen, bestehend aus drei Männern, zwei Frauen und zwei Kindern, welche bei ihm Logis genommen. Bei ihnen sei ein kleines etwa viereinhalbjähriges Mädchen gewesen mit blauen Augen und durchfetteten, daher dunkel aussehenden Haaren, welches offenbar nicht zu ihnen gehört habe, sehr eingeschüchtert gewesen und sehr streng behandelt, namentlich viel geschlagen worden sei. Das kleine Kindchen sei stets bei einer der Frauen gewesen und von dieser überwacht worden. Am Sonntage habe er in der Zeitung Näheres über das Abhandenkommen der Anna Böckler gelesen und nun sei in ihm der Verdacht entstanden, daß das Mädchen Anna Böckler sei. Er habe Gelegenheit gesucht, das Kind allein zu sprechen, allein man habe dies stets zu verhindern gewußt, obschon er gar nichts von seinem Verdachte geäußert. Endlich aber sei es ihm dennoch gelungen, dem Kinde sich zu nähern, und als er gefragt: ›>Wie heißt du denn?<‹ habe das Kind scheu nach der Zigeunerin sehend mit weinerlicher Stimme gesagt: »Das weiß ich nicht.« Als er ihm leise zugeflüstert: »Heißt du Anna?« habe das Kind erwidert: »Anna Böckler«.«
Diese Anzeige erstattete K. erst, nachdem die Zigeuner seinen Krug verlassen hatten. Er war nicht muthig genug gewesen, sie nach der Herkunft des Kindes zu fragen und anzuhalten, weil er, wie er sagt, »den Spectakel nicht in seinem Hause habe haben wollen«!! Selbstverständlich wurde sofort mit aller Eile den Zigeunern nachgesetzt; und als man sie erreichte, erwies das Kind sich – als das sechsjährige etwas verzogene Großkind des Bandenführers, das, wenn vielleicht auch streng gehalten, sich selbst über strenge Behandlung nicht beklagte, ganz anders aussah wie Anna Böckler und urkundlich als das Kind legitimirt wurde, für welches man es ausgab. Nunmehr erklärte der Zeuge sogar, daß das Kind sich nicht Anna Böckler, sondern nur Anna genannt, und daß er seine frühere Angabe nur aus Unbedachtsamkeit (!) gemacht habe. –
Die meisten Kinder, die man bei Zigeunern anhielt, wurden von diesen als ihre eigenen Kinder, resp. die von Verwandten legitimirt, welche, wie es ja überall vorkommt, »ein wenig aus der Art geschlagen« waren bezüglich der Haare, der Augen u. dgl. In der großen Mehrzahl von Fällen freilich sind die Zigeunerbanden und die Kinder, auf welche die Anzeigen sich bezogen, nicht aufzufinden gewesen, und bezüglich dieser Fälle schwebt ziemliches Dunkel über den betreffenden Vorfällen.
Vom Kaufen und Verkaufen von Kindern ist in den Acten mehrfach die Rede. Die Bürstenmacher D.'schen Eheleute in Lissa z.B. erzählen von ihrer Tochter, daß dieselbe ihr uneheliches zweijähriges Kind an die Kr.'sche Künstlerfamilie habe verkaufen wollen, daß aber sie, die Großältern, das Kind zu sich genommen und so das Geschäft hintertrieben hätten. Diese Künstlerfamilie habe schon früher ein Kind von einer Waschfrau gekauft, welches sich noch bei der Gesellschaft befinde. Ein Schlossergeselle Reinhold E. in Halle gibt sogar den Preis – lO Thaler – an, für den eine ihm bekannte Zigeunerfamilie ein etwa fünf Jahre altes Mädchen gekauft habe. Die Schaubudenbesitzerin Witwe T. aus Hannover theilt mit, daß sie von dem Director einer Akrobatengesellschaft aus Arabien ersucht worden sei, ihm doch ein Kind von vier bis fünf Jahren zur Ausbildung als Seiltänzer zu verschaffen, am liebsten hätte er einen Knaben, wenn es aber nicht anders wäre, so nähme er auch ein Mädchen. Dem dreizehnjährigen Albert Oertel in Mansfeld ward auf seine neugierige Frage, wo die andern Kinder seien, die früher sich bei dem Zigeunertrupp befunden, von einem Zigeuner die Antwort gegeben: »Sie hätten dieselben an Schauspieler verkauft.« Eine andere Zigeunerin sagte aus: der Vater des Kindes, welches sie bei sich führte, habe nach dem Tode seiner Frau ihr das Kind »geschenkt«. – Ob aber alle diese Mittheilungen auf Wahrheit beruhen oder auf renommistischer Schwindelei? und ob unter Kauf und Schenkung hier die strengen civilrechtlichen Geschäfte zu verstehen sind, oder vielleicht nur etwas der Lehre und Pflege Analoges, – vermögen wir nicht zu entscheiden. Ebenso wenig, ob es richtig ist, daß, wie ein Lehrer B. aus Danzig mittheilt, in Rußland von den Zigeunern gar vielfach kleine Kinder gekauft und verkauft, vertauscht und eingetauscht werden, und daß zu diesem Zwecke im Juli und August bei Riga sogar ein eigenes Bettlerfest, »Hungerkummer« genannt, jährlich abgehalten werde.
Zum Schluß noch zwei Fälle, die in sprechender Weise von dem Wechsel zwischen Hoffnung und Verzweiflung in dem Herzen der betheiligten Personen ein Bild geben.
Vor dem Landrathsamte zu Frankenhausen erklärte am 13. August der Handschuhfabrikant W., eine, wie es im Protokoll heißt, als zuverlässig, wahrheitsliebend und glaubwürdig bekannte Persönlichkeit:
»Am vergangenen Freitag, den 9. August, reiste ich nach Berlin. In Roßla hatte ich die Bahn kaum bestiegen, als ich auch gleich zwei Persönlichkeiten bemerkte, eine weibliche und eine männliche, die ein Kind von etwa drei bis vier Jahren bei sich führten. Das Kind hatte kurzgeschnittenes Haar und große blaue Augen. Von der Sonne war es zwar tüchtig mitgenommen, es contrastirte aber immerhin noch sehr merklich gegen den dunkeln Teint der anscheinenden Aeltern. Eingedenk des abhanden gekommenen Böckler'schen Kindes beobachtete ich die erwähnten Personen. Dabei fiel mir auf, daß das Kind stets scheu bald die Frau, bald den Mann ansah, ohne diese auch nur Ein mal mit ›Vater‹ oder ›Mutter‹ anzureden. Es verlangte auf der ganzen Tour bis nach Berlin weder Essen noch Trinken. Die anscheinenden Aeltern selbst sprachen fast gar nicht miteinander. Das ganze Verhalten des Kindes sagte mir, daß es nicht das eigene Kind derjenigen sein könne, welche es begleiteten. Auch im Falle eines Verwandtschaftsverhältnisses würde das Verhalten ein anderes gewesen sein. Die in mir aufsteigende Vermuthung, das Kind sei vielleicht die gesuchte Anna Böckler, drängte sich mir immer mehr auf, und ich faßte den Entschluß, auf einer der folgenden Stationen einem Gensdarmen Mittheilung zu machen. Meine Bemühungen, eines solchen ansichtig zu werden, waren indeß vergeblich. In Wittenberg kam mir der allenthalben sichtbare Anschlag, das Böckler'sche Kind betreffend und das demselben angefügte Bildniß, nach welchem das Kind das rechte Aermchen mit gestrecktem Zeigefinger in die Höhe hält, zu Gesicht. Auch das mir auffällige Kind im Wagen erhob sehr häufig den rechten Arm und zeigte mit dem ersten Finger. Alle diese Umstände bestärkten mich in meiner Vermuthung, sodaß ich mich sehr aufgeregt fühlte und in diesem Zustande, wie ich gestehen muß, ängstlich und befangen, ja, förmlich rath- und thatlos wurde. Zu den Mitreisenden, zufällig lauter jüngere Mädchen, sagte ich: es sei doch eigenthümlich, daß man das Böckler'sche Kind noch immer nicht wieder aufgefunden habe. Dabei beobachtete ich die das Kind begleitenden anscheinenden Aeltern. Ich bemerkte, daß besonders auf die Frau meine Aeußerung einen tiefen Eindruck machte. Sie wechselte die Farbe und ihre Augen wurden größer. Sie wollte sogar den Wagen verlassen, wovon sie nur durch die Bemerkung des Mannes, daß das Signal zum Abgang des Zuges gegeben sei, abgehalten wurde. Bald nachher verbarg sie das Kind unter ihrem Umschlagetuch oder ihrer langen Mantille (ich habe in meiner damaligen Aufregung nicht einmal recht gesehen, was sie trug) und entzog es auf diese Weise meinen fernern Beobachtungen. Das Kind wurde nur zuweilen unruhig, und ich bemerkte, daß es durch Anstoßen bald von seiten der Frau, bald von seiten des Mannes in Ruhe erhalten wurde. Dies Anstoßen geschah stets in fast unbemerkbarer Weise, was mir wiederum ein neuer Verdachtsgrund war. – Da ich keine Gelegenheit fand, von meinen Wahrnehmungen Mittheilung zu machen, beschloß ich, diese Leute beim Aussteigen nicht aus den Augen zu verlieren. Am Abend des 9. August in Berlin auf dem Anhaltischen Bahnhofe angekommen, behielt ich sie fortwährend im Auge; allein noch ehe ich einen Polizisten finden konnte, waren sie mir aus dem Gesichtskreise gekommen. Etwa eine Stunde später, um 8 Uhr, theilte ich alles, was ich wahrgenommen hatte, einem Geschäftsfreunde mit. Diefer machte mir wegen meines unklugen Verhaltens mit Recht die bittersten Vorwürfe.« – Von dem Institut der Bahnpolizei will Zeuge keine Kenntnitz gehabt haben u.s.w. (Folgen Signalements der betreffenden Persönlichkeiten.)
Bei Vorlegung der Anna Böckler'schen Photographie erklärt Zeuge, »beschwören zu wollen, daß die Photographie die des von ihm gesehenen Kindes sei«.
Auf diese Mittheilung hin stellte der Criminalcommissarius v.D. aus Berlin sofort die umfassendsten Recherchen an und ermittelte schließlich, daß die von dem Zeugen W. beschriebenen Personen wahrscheinlich – die Gutsbesitzer W.'schen Eheleute aus P. gewesen seien, die am 9. Juli mit ihren Kindern nach Lippspringe reisten.
Die Etikette dieses Fascikels, auf der der Untersuchungsrichter, wie auch sonst, den Stand der Sache kurz zu vermerken pflegte, zeigt zuerst die hoffnungsreiche Bemerkung »Identisch!«, dann ist dieselbe in »Zweifelhaft« umgeändert und endlich in das verzweifelnde »Wahrscheinlich nicht identisch«. Drei vielsagende Worte!
Noch beweglicher ist der folgende Fall:
Am 30. December 1872 wurden in Tharow bei Neustettin eine Manns- und eine Frauensperson angehalten mit einem kleinen Mädchen, welches große Aehnlichkeit zeigte mit der Photographie der Anna Böckler, allerdings aber die diese kennzeichnende Schnittnarbe auf der Brust nicht an sich trug.
Der Mann und die Frau, die sich für Eheleute und für die Aeltern der Kleinen ausgaben, sich aber ziemlich verdächtig benahmen, wurden in Haft genommen.
Das Kind, von Ungeziefer starrend und sichtlich schwer krank, nahm der Gymnasialdirector Dr. Lehmann zu Neustettin in sein Haus. Hier wurde es gereinigt und zu Bett gebracht. Dabei schrie es, wie Director Lehmann erzählt, unaufhörlich nach seiner »Mama«, klagte auch die ganze Nacht hindurch und zwar in Ausdrücken, wie man sie bei Kindern von Landstreichern sonst nicht hört.
Am nächsten Morgen begann die Kleine zu spielen, mit Puppen namentlich, die sie so geschickt aus- und anzog, daß man annehmen mußte, sie habe sich damit vielfach beschäftigt, kannte auch allerlei anderes Spielzeug, und zeigte namentlich beim Essen eine so reizende Sauberkeit, daß man sich der Meinung nicht verschließen konnte, sie sei aus guter Familie.
Sofort wurde dem Domänenpachter Böckler Nachricht von dem Vorfall gegeben. Am Tage darauf kam er nach Neustettin. Auch ihn ergriff die Aehnlichkeit des Kindes mit seiner Anna, und als die Kleine von seiner auf dem Rande des Bettes ruhenden Hand den Siegelring abzog und denselben auf ihre beiden kleinen Finger steckte, brach er in die Worte aus: »Das hat meine Kleine wol hundertmal so gemacht!« Er war so sehr voll Hoffnung, daß er der fehlenden Narbe wegen erst noch an seine Frau telegraphirte, und erst, als er die Antwort erhielt, dass die Narbe noch ganz kurz vor dem Verschwinden Anna's bemerkt worden sei, gab er die Hoffnung auf, sein Kind wiedergefunden zu haben.
Inzwischen legitimirten sich die Begleiter des Kindes, zwar nicht als das, wofür sie sich anfänglich ausgegeben, aber doch in genügender Weise, er als Arbeiter aus einer Maschinenfabrik, sie als die ihrem Manne fortgelaufene Ehefrau eines Schlächtermeisters, und wurden der Haft entlassen.
Nunmehr kam die Frau, die das Kind für das ihrige ausgab, um dasselbe wieder abzuholen. An sein Bettchen geführt, rief sie unter Tränen: »Ach, es stirbt!« Das Kind erwachte und jauchzte bei ihrem Anblick. Darauf ging das Weib, tat sich mit einem andern Landstreicher zusammen und ließ sich nicht wieder blicken.
Die Kleine blieb in ihrer neuen Heimat, – erlag aber in wenigen Wochen der Abzehrung, an der sie schon krankte, als sie angehalten wurde. Bis zuletzt bewahrte sie die an ihr so auffällige Sauberkeit. Sie war auch bald zutraulich geworden und spielte ganz allerliebst. Wenn man sie aber fragte, wie sie heiße, so zog es wie ein Schatten über ihr Gesicht, sie wurde still und verschlossen, und ging dahin, ohne daß es auch nur ein einziges mal gelungen wäre, sie zur Angabe eines Namens zu vermögen.
Wenden wir uns nunmehr zu dem endlichen Abschlusse, den die Angelegenheit erhalten, so geschieht dies in der That nicht ohne eine gewisse Befriedigung. Statt des Unbestimmten und Vagen in objectiver und subjectiver Beziehung finden wir hier von Anfang an einen festen und sichern objectiven Thatbestand. Immer enger begrenzt sich die subjective Thäterschaft, und nach einer Beweisführung, die, wenn sie auch fast überall nur direct (künstlich, apagogisch, auf Wahrscheinlichkeit beruhend) und schwierig war, schlagender doch selten vorgekommen sein mag, schließt die Untersuchung am 6. December 1873 ab mit einem Urtheil, dessen Motive nicht in dem geheimnißvollen Dunkel des Geschworenenverdicts versteckt bleiben, sondern bis aufs kleinste Moment der öffentlichen Kritik preisgegeben werden können und vor ihr bestehen.Die Sache wurde nämlich nicht vor dem Schwurgerichte, sondern vor der Abtheilung für Vergehen des Kreisgerichts zu Greifswald verhandelt, weil der Angeklagte zur Zeit der That noch nicht 18 Jahre alt war. Die Competenz der Abtheilung gründet sich auf §.1, §.57, §.212 des Reichs-Strafgesetzbuches in Verbindung mit Art. IV des preußischen Gesetzes vom 22. Mai 1852, an dessen mit Rücksicht auf §.43 des preußischen Strafgesetzbuches vom 14. April 1851 auf 16 Jahre bestimmter Altersgrenze durch §.57 cit. die Altersgrenze von 18 Jahren getreten ist. Nach dem Urtheil, welches doch nicht alle Zweifel des Publikums hob, tritt der Angeklagte selbst hervor mit einer Erklärung, die sich, vom Geständniß kaum unterscheidet, - und in höherer Instanz wird das gefällte Urtheil bestätigt. Dazu der Angeschuldigte eine Persönlichkeit vom höchsten psychologischen Interesse! und nicht unwichtige Ergebnisse für die Wissenschaft! das alles sind wol Umstände, welche den Criminalisten mit Befriedigung erfüllen können.
Aber nicht blos der kalte Jurist urtheilt so über den interessanten Criminalfall, - auch die Aeltern und die mit ihnen gelitten, athmeten freier auf, als die Leiche ihres Töchterchens gefunden war. Denn nicht nur war die Hoffnung, das Kind lebend wiederzuerlangen, bereits auf ein Minimum herabgesunken, sondern es war auch diese geringe Hoffnung nur zu sehr schon verbittert durch die Besorgniß, wie inzwischen das Kind gequält, mit welchen verderblichen Eindrücken die Seele des kleinen unschuldigen Mädchens erfüllt sein mochte in der unsaubern Umgebung. Die Gewißheit des harten Verlustes war weniger herbe als die quälende Hoffnung des Wiederfindens! –
Zum Verständniß des Folgenden diene nachstehende kurze Beschreibung der Localität.
Auf der Domäne Treuen liegt zwischen den ihn umgebenden Kathenwohnungen der Dorfteich, in dem, von andern wirthschaftlichen Zwecken abgesehen, insbesondere Bandweiden zum Decken der Strohdächer eingeweicht und außerdem die jungen Enten gewartet werden, weshalb bei ihm der Lieblingsaufenthalt der Kinder ist.
Kaum 60 Schritte von dem Teiche entfernt liegt das Wirthschaftsgehöft der Domäne; an der östlichen Seite, dem Teiche zunächst, das Wohnhaus, hinter demselben der herrschaftliche Garten; vor dem Hause, nach Westen zu, dehnt sich das Gehöft aus, besetzt mit einer Anzahl von Gebäuden. Insbesondere liegt hier rechts vom Wohnhause und diesem zunächst der Rindvieh- und Pferdestall, und vor diesem der Dunghof, auf den im Sommer am Nachmittage zwischen 4 und 4½ Uhr die Kühe getrieben und gemolken wurden.
In derselben Flucht mit dem Vieh- und Pferdestall, 45 Fuß vom Wohnhause entfernt, liegt die Scheune Nr. 4, in welcher, wie wir gleich des nähern berichten werden, die Leiche der Anna Böckler gefunden worden ist. Dieselbe enthielt zwei Dreschtennen. Die eine, nach dem Wohnhause zu belegen, werden wir mit a, die andere, nach dem Felde zu belegen, werden wir mit b bezeichnen. Zwischen den Tennen und an beiden Enden der Scheune befinden sich drei Scheunenfächer zum Aufbewahren des Getreides, sogenannte Tasse. Von diesen ist das Fach am westlichen Ende der Scheune nach dem Felde zu dasjenige, in welchem die Leiche lag; wir werden dieses Fach mit x bezeichnen.
Auf der Scheune wurde am Tage des Verschwindens der Anna Böckler das Dach reparirt, und zwar auf der Hofseite nach dem Wohnhause zu, also etwa über der Tenne a.
Die Arbeit wurde besorgt durch den Dachdecker Güse. Der siebzehnjährige Fritz Schütt war als Handlanger dabei thätig.
Dabei war die Scheune von Getreide völlig leer. In den Scheunenfächern lag 6 Zoll hoch das sogenannte Bodenstroh. In dem Fach x lag außerdem ein Haufen Stroh an der Wand nach dem Hofe zu, und etwas Heu an der Wand nach der Tenne d zu; auf dem übrigen Raume, insbesondere in der nordwestlichen Ecke, lag nichts weiter als Bodenstroh.
Nach dem Verschwinden der Anna Böckler wurde die Ernte 1872 zum Theil in diese Scheune eingefahren, insbesondere das Fach x mit Roggengarben gefüllt. Die Zeit, wann dies geschehen, läßt sich auf den Tag genau nicht bestimmen, jedoch muß es nach dem Zeugnisse des Domänenpachters Böckler, des Wirthschafters Blank und noch anderer Gutsleute Mitte Juli gewesen sein. –
In der darauffolgenden Zeit wurde die eingescheuerte Ernte in der Scheune ausgedroschen, und so waren insbesondere auch am Morgen des 3. Juni 1873 die Kathenleute Meyer, Gebrüder Mehardel und Jürgen in derselben mit Dreschen beschäftigt. Der letztere begab sich, um ein dort stehen gebliebenes Geräth zu holen, nach dem Fach x und erblickte in der nordwestlichen Ecke desselben das Bodenstroh ein wenig aufgekratzt, und in dem aufgekratzten Loche – einen Kinderschädel.
Erschrocken bleibt er eine Weile stehen, unschlüssig, was zu thun sei. Erst auf den Ruf seiner Gefährten ermannt er sich, kommt aus dem Fach heraus, theilt den andern seine Wahrnehmung mit, führt sie nach der Stelle hin und läßt auch sie das Entsetzliche sehen.
Die Drescher benachrichtigen den Domänenpachter Böckler, derselbe setzt das Gericht in Kenntniß und dieses nimmt unter Zuziehung der erforderlichen medicinischen Sachverständigen den objectiven Thatbestand auf:
Unter dem fortgeräumten Bodenstroh in einer oberflächlichen, 34 Centimeter tiefen, 97 Centimeter langen Grube etwa 6 Zoll hoch mit Erde bedeckt fand man eine Kindesleiche in gekrümmter Lage, die selbst so noch 112 Centimeter maß, also länger war als die Grube, und mit dem Kopf und den Füßen über die Grube herausragte. Der Kopf war von der Haut und den übrigen Weichtheilen fast gänzlich entblößt, skeletirt, bis auf eine kleine Stelle, wo sich noch ein Büschel hellblonder Haare befand. Dazu war der Kopf von dem Rumpfe gänzlich getrennt. Auch die Hände waren von den Armen und der rechte Fuß war von dem Unterschenkel losgelöst, offenbar durch Ratten oder Iltisse, welche die Leiche benagt und einzelne Theile davon, Knöchelchen der Hände und Füße, sogar ganz fortgeschleppt hatten.
Soweit die Leiche von der Erde bedeckt gewesen war, zeigte sie sich nicht sowol verwest als vielmehr vertrocknet, mumificirt. Die Weichtheile, Sehnen, Muskeln, Haut, welche die einzelnen Glieder miteinander verbanden, waren so brüchig geworden, daß die Glieder abbrachen und abfielen, sowie man sie zu bewegen, z.B. auszustrecken versuchte.
Diese Leiche war die der am 24. Juni 1872 verschwundenen Anna Böckler.
Zwar die Leiche selbst gab hierüber nur insofern Auskunft, als ihre Größenverhältnisse die des verschwundenen Kindes waren, und ferner insofern, als das Haar nach Farbe und Lange mit dem der Anna Böckler übereinstimmte. Weitere Erkennungszeichen trug die Leiche nicht mehr an sich. Dagegen bot die Bekleidung, ein roth-, blau- und grüncarrirtes sogenanntes schottisches Kleid, dessen Taille an dem Rocke mittels weißer Knöpfe befestigt war, darunter ein wattirter Unterrock von brauner Farbe mit hellern punktirten Streifen, sodann ein weißwollener Unterrock mit daran befestigtem Leibchen und unter diesem ein feinleinenes Hemde, ferner baumwollene Unterhöschen und an den Füßen weißbaumwollene Strümpfe mit Gummistrumpfbändern, sowie neue lederne Schnürstiefel, endlich ein zerbrochner Rundkamm und ein brauner, mit schwarzem Sammtband garnirter Strohhut, alles nach Entfernung der nur lose anhaltenden Erde noch ziemlich unverändert, die unzweifelhaftesten Recognitionsmerkmale. Das Böckler'sche Ehepaar sowol wie die Schneiderin Johanna Behrendt, welche letztere die Kleider, und der Schuhmacher Friedrich Ziegler, welcher die Lederstiefeln gefertigt, erkannten die Kleidungsstücke in ihrer Gesammtheit und in allen einzelnen Theilen mit völliger Bestimmtheit als diejenigen wieder, welche Anna Böckler bei ihrem Verschwinden getragen hatte. –
Der Befund bezüglich der Leiche und der Kleidungsstücke, in Verbindung mit der festgestellten Identität, gab nun ferner Aufschluß darüber, wann die Leiche an den Ort gekommen war, wo man sie aufgefunden hatte.
Die Mumificirung der Leiche, an Stelle der sonst eintretenden Verwesung, hat nach dem Gutachten der Sachverständigen darin ihren Grund, daß die Leiche längere Zeit von der atmosphärischen Luft abgesperrt gewesen ist. Dieselbe konnte hier recht gut eintreten, weil die Leiche bald nach dem Vergraben mit Getreidegarben bedeckt worden war. Auch ist die Abgeschlossenheit eines Scheunenraumes schon an sich geeignet, den Proceß der Mumificirung, statt der Verwesung, zu begünstigen.
In einen solchen Zustand hätte die Leiche nun zwar unter ähnlichen Verhältnissen auch an einem andern Orte als gerade in der Scheune gelangt sein können. Allein bei der geringen Festigkeit, welche die die einzelnen Glieder noch verbindenden Weichtheile zeigten, war ein Transport der Leiche nicht wohl denkbar. Schon dadurch aber wird die Annahme ausgeschlossen, daß die Leiche erst nach Entleerung des Scheunenfaches im Sommer 1873 an ihren Fundort gebracht worden sein könnte. Die Leiche muß vielmehr dahin gelangt sein, bevor im Jahre 1872 das Fach mit den Erntefrüchten dieses Jahres gefüllt wurde, oder mit andern Worten: die Leiche muß in der Zeit vom 24. Juni bis zur Roggenernte, die in der zweiten Hälfte des Juli stattfand, in jenes Fach geschafft worden sein.
Die Zeit läßt sich übrigens noch viel genauer begrenzen, fast auf die Stunde genau!
Um 4 bis 4½ Uhr nachmittags, um die Zeit nämlich, da die Kühe heimgetrieben wurden, ist Anna Böckler zum letzten mal gesehen worden und zwar bei dem Teiche von den Entenhirtinnen Friederike Mehardel und Friederike Hinz. Um 8 Uhr abends wurde sie von den Aeltern vermißt, und sofort begannen jene fieberhaft unruhigen, minutiös genauen, privaten und polizeilichen Recherchen, die wir im Eingange geschildert haben.
Wäre das Kind am 24. Juni an einen andern Ort gebracht und später, sei es lebendig, sei es als Leiche, von dort aus in die Scheune geschafft worden, so würde dies bemerkt worden sein von den das Land durchstreifenden Gensdarmen, von den die Feldmark von Treuen von früh bis tief in die Nacht durchsuchenden Gutsleuten. Zu einer Zeit, wo die Aufmerksamkeit und die Nachforschungen nach dem Kinde unter den nach dem Kindesräuber spähenden Bewohnern der Umgegend die allerangestrengtesten waren, hätte der Räuber oder Mörder es ganz gewiß nicht riskirt, sich mit der Leiche oder gar dem lebendigen Kinde in das Böckler'sche Gehöft zu begeben und sie dort zu vergraben, bezüglich das Kind in der Scheune erst zu morden und dann zu verscharren.
Eher denkbar wäre, daß die Zigeuner später, als die Aufregung nachgelassen hatte, und man das Kind nicht mehr in der Nähe, sondern in der Ferne suchte, die Leiche zurückgebracht und sie da verborgen hätten, wo man sie nun gewiß am wenigsten vermuthete.
Allein auch diese Annahme ist ausgeschlossen, denn von der zweiten Hälfte des Juli an war das Fach mit Getreide angefüllt und folglich ein Vergraben der Leiche unter dem Bodenstroh nicht möglich.
Das Kind kann aber auch aus noch einem andern Grunde nicht nach dem 24. Juni in die Scheune gebracht worden sein. Es trug alle diejenigen Kleidungsstücke, mit denen es bei seinem Verschwinden bekleidet gewesen war. Diese Kleider befanden sich noch in demselben Zustande wie am 24. Juni. Sie waren angeknöpft und zugebunden wie damals. Kein einziges zeigte eine Spur, daß es nachher noch getragen worden sei. Besonders deutlich trat dies an den Schuhen hervor. Anna Böckler hatte die Schuhe, welche sie am 24. Juni trug, kaum ein- oder zweimal angehabt. Die Schuhe der Leiche waren ebenfalls fast neu, insbesondere waren die Kanten der Sohlen noch so scharf, wie sie es nur bei neuen Schuhen sind. In wenigen Tagen schon stoßen sich, wie der Schuhmacher Ziegler bekundet, diese scharfen Kanten ab. Aus dem Zustande der aufgefundenen Schuhe folgert er mit Zuverlässigkeit, daß das Kind dieselben länger als ein bis zwei Tage nicht getragen haben könne. Daraus ergibt sich denn weiter der Schluß: daß das Kind am 24. Juni 1872 in der Zeit bis 8 Uhr abends in die Grube gelegt worden ist, und zwar in den Kleidern, die es damals trug.
Dieser Schluß läßt sich ablehnen nur dann, wenn man annehmen will, daß man dem Kinde, dessen man sich am 24. Juni bemächtigt, die Kleider und Schuhe ausgezogen, diese sorgfältigst verwahrt und sie erst zum Zwecke der Beerdigung dem Kinde wieder angezogen habe und zwar unter genauer Beobachtung der Art und Weise des frühern Anzuges. Daß eine solche Annahme unstatthaft ist, bedarf keines Beweises.
Von der Vertheidigung wurde, wie gleich hervorgehoben werden mag, in der Untersuchung wider Schütt daran festgehalten, daß Anna Böckler von Zigeunern geraubt, späterhin getödtet und in der Scheune vergraben worden sei, und geltend gemacht: Trotz aller dagegen angeführten Gründe sei die Einbringung der Leiche in jene Scheune nach dem 24. Juni so ganz absolut unmöglich doch nicht gewesen, die Zigeuner aber hätten ein besonderes Interesse gehabt, die Leiche des von ihnen geraubten und getödteten Kindes gerade in der Scheune von Treuen zu verbergen; denn dadurch hätten sie den Verdacht auf die eigenen Gutsleute von Treuen laden und von sich selbst am weitesten abwenden können. Hiergegen ist indeß, abgesehen von dem, was schon oben gesagt wurde, zu bemerken: Wenn man auch den Zigeunern ein so überfeines Raffinement zutrauen wollte, so lag es doch in der That näher, die Leiche irgendwo anders auf der treuener Feldmark niederzulegen, sie in irgendein Gewässer zu werfen u.dgl., als den allergefährlichsten Weg über den Gutshof zu wählen. Von der Feldseite her hatte die Scheune nicht einmal offene Zugänge, und von einem etwaigen Einbruch ist nicht das Geringste bemerkt worden. Zudem aber wäre es gerade gegen das Interesse der verfolgten und verhafteten Zigeuner gewesen, die Leiche so zu verstecken, daß sie erst nach Jahresfrist gefunden werden konnte. Ihrem Zwecke hätte es mehr entsprochen, sie an irgendeinen Ort zu schaffen, wo ihr baldiges Auffinden der Verfolgung der Zigeuner ein schnelles Ziel setzen mußte.
Stärkere Bedenken gegen unsere Annahme, daß Anna Vöckler noch am 24. Juni in jenes Scheunenfach als Leiche gekommen ist, erregen zwei andere Umstände.
Einmal der Umstand, daß die Leiche, trotz der sofort angestellten Nachsuchung, erst nach Verlauf eines Jahres aufgefunden worden ist, und sodann die Aussagen derjenigen Zeugen, welche die Anna Böckler noch nach dem 24. Juni bei Zigeunern gesehen haben wollen.
Allein der erstere Umstand war von Bedeutung doch nur so lange, als man glauben durfte, die Nachsuchungen seien auch in jener Scheune und zwar auch in dem betreffenden Scheunenfache so genau vorgenommen worden, daß man die Leiche, wenn sie daselbst vergraben gewesen wäre, hätte entdecken müssen.
Nun ist aber das Bodenstroh, welches den Leichnam verbarg, wie wir schon früher erwähnt haben, gar nicht entfernt worden. Sodann bekunden sämmtliche Personen, welche am 24. Juni und an den folgenden Tagen sich mit dem Suchen nach dem verschwundenen Kinde beschäftigt haben, daß sie, nur von der Annahme eines Unglücksfalles ausgehend und daran gar nicht denkend, daß das Kind als Leiche unter dem Bodenstroh vergraben sein könne, ihre Aufmerksamkeit vornehmlich auf die in der Scheune lagernden Stroh- und Heuhaufen gerichtet, diese sorgfältig auseinandergeworfen, die übrigen Theile aber nur obenhin betrachtet haben, und von diesen wiederum am oberflächlichsten gerade die Stelle, wo die Leiche lag, weil hier die Möglichkeit eines Verunglückens, eines Herabstürzens aus der Höhe etwa, absolut nicht abzusehen war. In solcher Weise ist die Scheune am 24. Juni abends und an den folgenden Tagen wiederholt durchsucht, und hieraus ist von der Vertheidigung wiederum der Einwurf hergenommen worden, daß, wenn auch nicht am 24. Juni, so doch an den folgenden Tagen die Leiche sich durch den Verwesungsgeruch hätte kundgeben müssen. Allein die medicinischen Sachverständigen haben versichert, daß Leichen, welche vertrocknet, mumificirt werben, statt zu verwesen, nur sehr geringen Geruch verbreiten, und es ist weiter sehr nahe liegend, daß auch dieser unbedeutende Geruch noch weitaus übertroffen worden ist von dem dumpfen Geruch, welcher, wie in entleerten Scheunen stets, so, nach der Aussage sämmtlicher Zeugen, auch in dieser Scheune geherrscht hat. Dem gegenüber ist es denn auch von nur geringem Gewicht, wenn, was übrigens nicht einmal mit Gewißheit festgestellt ist, ein Jagdhund die Suchenden bis in das hintere Scheunenfach begleitet haben sollte.
Daß später, als die Ernte eingescheuert wurde, nicht irgendein Scheunenarbeiter auf die Leiche getreten, und dadurch von deren Vorhandensein Kunde erhalten hat, ist sehr erklärlich, wenn man erwägt, daß das halbfußhohe Bodenstroh etwaige Unebenheiten des Bodens und also auch die durch die Leiche etwa hervorgebrachten Unebenheiten ausglich. Das Einlegen der Garben auf den Boden, Welches nach der Angabe verschiedener Zeugen mit großer Eile und Schnelligkeit geschieht, läßt überdies eine genaue Beobachtung nicht einmal zu.
Der gewichtigste Einwand gegen unsere Behauptung, daß Anna Böckler am 24. Juni als Leiche in die Scheune gebracht worden ist, beruht auf dem Zeugnisse derjenigen Personen, welche die Anna Böckler bei den Zigeunern gesehen haben wollen. Wenn auch den Recognitionen einer ganzen Anzahl von Zeugen nur geringe Bedeutung beigelegt werden kann, weil man bei ihnen von vornherein eine Selbsttäuschung für sehr wohl möglich halten muß, so ist doch nicht in Abrede zu stellen, daß die Opernsängerin Martha Schwenke, sowol nach ihrem Bildungsgrade als nach ihrer Befähigung, Physiognomien aufzufassen, eine Persönlichkeit ist, deren Zeugniß Beachtung zu schenken man sich nicht entbrechen kann.
Diese Zeugin nun, ebenso wie der Zeuge Schneiderlehrling Karl Meyer, haben, wie wir schon erzählt haben, an ihrer Angabe festgehalten, daß das von ihnen in Schönow, beziehungsweise Wartin gesehene Kind der Anna Böckler'schen Photographie durchaus entsprochen habe und sie »annehmen müßten«, beziehungsweise »nicht zweifelhaft seien«, das Kind sei Anna Böckler gewesen. Es meldete sich sogar noch eine dritte Zeugin, die siebzehnjährige Wilhelmine Rohde, welche in der Audienzverhandlung am 5. December 1873 aussagte: sie habe im Jahre 1872 im Dienste bei einem Schauspielbesitzer Henkel Pommern durchstrichen, und dann wörtlich fortfuhr:
»Wir haben die im vorigen Jahre verschwundene Anna Böckler bei uns gehabt. Eines Tages im Sommer vorigen Jahres ging Henkel mit Minna (einem zweiten bei Henkel beschäftigten Mädchen) auf dem Wege von Loitz auf einige Stunden von uns fort und brachte dann ein kleines Kind im Alter von vier bis fünf Jahren mit, welches eine blasse Gesichtsfarbe, ein rothes schottisches Kleid, braune Zeugstiefeln, weiße wollene Strümpfe, dunkelblaue Augen, keinen Kamm und einen weißen Hut hatte. Wir zogen mit dem Kinde einige Wochen umher, wo? weiß ich nicht, und hat Henkel das Kind zusammen mit der Minna an dem Orte, wo er es früher geholt, wieder fortgebracht.
»Im Juni vorigen Jahres wurde das Kind geholt und im Juli wieder zurückgebracht. – Ich habe das Kind öfters angezogen und gewaschen und dann gefragt, wie es heiße. Dann sagte das Kind: ›Anna Böckler.‹«
Was nun zunächst diese letzte Zeugin anlangt, so braucht man nur diese Aussage zu lesen, um sich zu überzeugen, daß dieselbe erfunden ist. Richtig nämlich und zu den Acten längst bekannt ist es, daß im Sommer 1872 sich bei Henkel ein Kind wie das von der Rohde beschriebene befunden hat. Dies benutzt die Zeugin, um nach ihrer (unvollkommenen!) Kenntniß der Sache ihre Wissenschaft der schwebenden Untersuchung anzupassen. Aber schon ihre Personalbeschreibung zeigt, daß sie nicht von Anna Böckler, sondern von jenem andern Kinde spricht, wegen dessen Henkel schon damals angehalten worden war, wegen dessen er sich aber durchaus auszuweisen vermocht hatte.
Es bedarf hiernach kaum uoch der Hinweisung darauf, daß die Zeugin trotz ihrer Jugend, – sie ist erst siebzehn Jahre alt, – eine Person von der erschrecklichsten sittlichen Verkommenheit ist, um das Urtheil des Richters gerechtfertigt erscheinen zu lassen, der auf dieses Zeugniß ganz und gar nichts gegeben, ja die Zeugin nicht einmal mit dem Eide belegt hat, weil dieser bei ihrer Gewissenlosigkeit nur gar zu leicht zum Meineide geworden wäre.
Dürfen wir nun aber auch das Rohde'sche Zeugniß außer Betracht lassen, so bleiben doch noch die Zeugnisse der Martha Schwenke und des Karl Meyer übrig, die in ganz directem Widerspruch zu der Annahme stehen, daß Anna Böckler schon am 24. Juni in der Scheune vergraben worden ist, und wir können die letztere nicht für erwiesen ausgeben, wenn es nicht gelingt, die erstern zu beseitigen.
Dafür, daß die Zeugen wissentlich die Unwahrheit gesagt hätten, liegt nicht der geringste Grund vor, vielmehr ist davon auszugehen, daß beide völlig gewissenhaft, das heißt nach ihrem besten Wissen und Gewissen ausgesagt haben.
Aber auch mit der einfachen Verweisung auf den Erfahrungssatz, daß Recognitionen stets nicht unbedenklich sind, und der Behauptung, daß Martha Schwenke und Karl Meyer sich täuschen müßten, kommen wir nicht aus. Denn, so richtig jener Erfahrungssatz ist, so sehr haben wir doch vorliegend uns über denselben hinweggesetzt, indem wir die Recognitionen der Anna Böckler'schen Leiche und ihrer Kleider durch andere Zeugen gerade zum Ausgangspunkt unserer ganzen Deduction genommen haben. – Ist es nun nicht inconsequent, in dem einen Falle die Recognition des todten Kindes für glaubwürdig zu erklären, und in dem andern die des lebenden zu verwerfen? Gelten denn die Bedenken gegen Recognitionen nur in dem einen Falle und in dem andern nicht? Keineswegs! Die letztere Recognition ist von den allgemeinen Bedenken gegen dieses Wahrheitsmittel ebenso wenig eximirt als die frühere, aber sie unterliegt denselben nicht in gleichem Maße, sondern in einem viel geringern.
Recognosciren, Wiedererkennen bezeichnet einen psychologischen Proccß, der darauf beruht, daß jede sinnliche Wahrnehmung in der Seele einen Rest, ein Erinnerungsbild, zurückläßt, und daß, während dieses Erinnerungsbild noch in der Seele besteht, eine neue Wahrnehmung gemacht wird, die in der Seele einen Eindruck hervorbringt, welcher mit jenem Erinnerungsbilde übereinstimmt. Aus dieser Uebereinstimmung an sich folgt aber noch nicht die Identität des früher und des jetzt wahrgenommenen Objects. Denn die Erinnerungsbilder in der Seele unterliegen gewissen mit dem Zeitverlaufe in Beziehung stehenden Veränderungen, und die Uebereinstimmung eines Wahrnehmungsbildes mit einem Erinnerungsbilde kann somit nicht nur dadurch hervorgebracht werden, daß die Wahrnehmungsobjecte identisch sind, sondern auch dadurch, daß das Erinnerungsbild sich verändert hat, und, obgleich von einem andern Object herstammend, seinerseits dem spätern Wahrnehmuugsbilde ähnlich geworden ist.
Ob nun die in der That bestehende Uebereinstimmung zweier solcher Bilder auf dem einen oder dem andern beruht, auf der Identität der Objecte, oder auf der inzwischen eingetretenen Veränderung des Erinnerungsbildes, das kommt dem Menschen so ohne weiteres, von selbst, nicht zum Bewußtsein, sondern nur, wenn er von den mit den Erinnerungsbildern vorgehenden Veränderungen, sei es durch Studium der Psychologie, sei es durch einfache Beobachtung, Kenntniß hat.
Wem solche Kenntniß fehlt, wer es nicht weiß, daß seine Erinnerungsbilder mit der Zeit Veränderungen erleiden, der kann sich auf keine Weise dem entziehen, aus der Uebereinstimmung eines jetzigen Wahrnehmungsbildes mit einem frühern Erinnerungsbilde auf die Identität des jetzt und des früher wahrgenommenen Objects zu schließen. Daher die sonst sehr auffällige, nun aber durchaus erklärliche Erscheinung, daß, je weniger psychologisch jemand vorgebildet ist, um so apodiktischer ist er bei seinen Recognitionen, sodaß es bei Zeugen von geringerer Bildung oft nur mit der größten Mühe gelingt, ihnen auch nur die Möglichkeit eines Irrthums klar zu machen, und sie zu überzeugen, daß die von ihnen mit Vorliebe gebrauchten Ausdrücke unzweifelhafter Gewißheit nicht am Platze seien.
In einen andern Fehler verfällt oft derjenige, der zwar im allgemeinen das Vorkommen von Veränderungen in seinen Erinnerungsbildern erfahren hat, aber die Gesetze, nach denen die Erinnerungsbilder entstehen und sich verändern, nicht kennt. Hier begegnet man oft einer übergroßen Aengstlichkeit im Ausdruck, der Zeuge vermag es nicht, sich zu den Ausdrücken der Gewißheit zu erheben, sondern bleibt lieber bei den unbestimmtern des Glaubens und Meinens stehen.
Durchaus nichts Neues ist es daher, daß der Richter sich an die von dem recogniscirenden Zeugen gebrauchten Ausdrücke nicht binden darf, sondern lediglich nach den für die Phänomene der Erinnerung bestehenden Gesetzen prüfen muß, inwiefern Übereinstimmung zwischen dem Erinnerungsbilde und dem Wahrnehmungsbilde obwalten kann, beziehungsweise, welche Veränderungen das erstere inzwischen erlitten haben muß.
Diese Gesetze nun sind, zum Theil wenigstens, bekannt.
Zunächst weist die mathematische Psychologie nach, daß, selbst wenn es ein und dasselbe Object ist, was in den verschiedenen Zeitmomenten wahrgenommen wird, das von der frühern Wahrnehmung zurückgebliebene Erinnerungsbild und das neue Wahrnehmungsbild vollständig nie einander gleich sein können; denn sofort, nachdem die sinnliche Wahrnehmung aufgehört hat, beginnt das Erinnerungsbild sich zu verändern. Diese Veränderung steht in geradem Verhältnisse zu der ablaufenden Zeit, und besteht vornehmlich darin, daß das Bild an Stärke und Genauigkeit abnimmt, d.h. die genauern, kleinern Merkmale verschwinden je mehr und mehr, und das ganze Bild leistet immer weniger Widerstand den andern von außen herzukommenden schädlichen Einflüssen. Es sind dies diejenigen Phänomene, die man im allgemeinen mit dem Ausdrucke »Vergessen« bezeichnet. Das Vergessen tritt aber weniger schnell und weniger schädlich ein, je stärker das Erinnerungsbild von Anfang an war. Und diese Stärke hängt zunächst ab von der Stärke der Einwirkung auf die Sinnesorgane bei der Wahrnehmung und von der Dauer dieser Einwirkung, mag dieselbe eine ununterbrochene sein, oder eine intermittirende.
Auch alles dieses ist nichts Neues. Die unbefangene Beobachtung lehrt ganz dasselbe. Es ist eine allbekannte Thatsache, daß man länger und sicherer behält, was man längere Zeit hindurch und öfter wiederholt wahrgenommen. Die Heranziehung der Mathematik wäre insofern entbehrlich gewesen. Sie ist aber von Gewicht, um darzuthun, daß jene Gesetze keine Ausnahme gestatten, ebenso wenig wie die Ergebnisse der Mathematik auf andern Gebieten.
Solche Ausnahmen zu statuiren pflegt man nämlich nur zu leicht geneigt zu sein, wenn man beobachtet, daß viele Erinnerungen, die der Jugend z.B., ungleich fester haften als die des Alters, daß man Bilder erregter Augenblicke viel fester und sicherer behält als die aus ruhigern, weniger bewegten Zeiten. Bis zum Tode, sagt man, verfolgt den Mörder der letzte Angstschrei seines Opfers; niemals vergißt, wer mit seinem Angreifer Auge in Auge ums Leben gerungen, dessen Blick und Antlitz; und alltäglich ist die Erfahrung, daß tiefer sich der Erinnerung einprägt, was man mit regem Interesse betrachtet, als was man nur obenhin angesehen hat.
Alles dies mag unbestritten richtig sein, – es erschüttert aber unsere obigen Sätze ganz und gar nicht. Die hervorgehobenen besondern Fälle finden ihre zutreffende Erklärung fast sämmtlich in dem Kapitel von der Aufmerksamkeit, zum Theil läuft dabei viel Selbsttäuschung mit unter. Mit den obigen allgemeinen Sätzen haben sie ganz und gar nichts zu thun.
Die mathematische Psychologie beweist aber auch noch einen andern, der unmittelbaren Beobachtung nicht so offen liegenden Satz, den nämlich, daß die Erinnerungsbilder mit der Zeit einander immer ähnlicher werden, und demnach bei schon anfangs bestehender Ähnlichkeit schließlich in Eins zusammenfließen können. Dabei kommt denn aber, wenn beide Bilder von ungleicher Stärke sind, das stärkere mehr zur Geltung als das schwächere, und das Gesammtbild trägt mehr das Ansehen des erstern als des letztern, d.h. es setzt sich geradezu das stärkere Bild an die Stelle des schwächern. Auch hierfür liegen genügende Beobachtungsfälle vor. Nehme ich z.B. eine größere Anzahl von gleichgekleideten Menschen (uniformirte Soldaten etwa) wahr, so unterscheiden sich diese trotz der gleichen Kleidung nach ihren Gesichtern und sonstigem Aeußern doch noch so vollkommen, daß es mir sehr wohl gelingt, während ich sie vor mir habe, sie voneinander zu unterscheiden, also etwa jeden einzelnen bei seinem richtigen Namen zu nennen. Ist aber mein Verkehr mit ihnen nur ein kurzer gewesen, so werde ich nach einiger Zeit nur in seltenen Fällen und bei besonderer Begabung im Stande sein, jene einzeln voneinander zu unterscheiden, oder sie aus einer größern Zahl ebenso gekleideter Menschen herauszufinden. Nur etwa, daß der eine einen Bart getragen, der andere nicht, dieser helles Haar gehabt, jener dunkles, dieser eine freundliche Miene und jener eine finstere, wird mir im Gedächtniß geblieben sein. Die in diesen gröbsten Unterscheidungsmerkmalen gleichen Gesichter aber – sind in Eins zusammengeflossen, und ich bin auch bei dem besten Willen und bei vollkommener Kenntniß von diesen naturgemäß sich vollziehenden Veränderungen meiner Erinnerung geradezu nicht mehr im Stande, eine jener Personen mit Sicherheit wiederzuerkennen, es besteht eben an Stelle der mehrern nur noch ein einziges Erinnerungsbild in meiner Seele als gemeinsamer Rest der verschiedenen Wahrnehmungen. Und denken wir ferner an den Fall, da uns irgendeine Melodie erst richtig und dann fortgesetzt in irgendwelcher Weise abgeändert vorgespielt wird, sodaß wir schließlich – bei nicht besonders treuem Musikgedächtniß namentlich – die Melodie, wie sie früher war, nicht mehr wiederfinden können, immer wieder in die falsche Melodie fallen, so haben wir ein alltägliches Beispiel davon, wie die eine Erinnerung beim Zusammenfließen mit einer andern sich an deren Stelle zu setzen, die andere zu verfälschen vermag.
Wenden wir nun diese Sätze auf den vorliegenden Fall an, so ergibt sich daraus Folgendes:
Das Erinnerungsbild von dem Kinde, welches die Zeugin Schwenke am 8. Juli 1872 in Wartin gesehen, war bei ihr am 6. December 1873 weniger genau als am 30. Juli 1872, an diesem Tage weniger genau als am 18. Juli, und am genauesten am Tage ihrer ersten Vernehmung, am 10. Juli.
Wenn die Zeugin daher, diesem Entwicklungsgange zuwider, bei den spätern Vernehmungen stärkere Ausdrücke der Ueberzeugung gebraucht als bei den frühern, nämlich am 18. Juli nur sagt: »Das Mädchen hatte mit der Photographie die sprechendste Aehnlichkeit«Der wiederum stärkere Ausdruck in der (polizeilichen) Verhandlung vom 10. Juli: Die Zeugin erkenne mit voller Bestimmtheit das Kind u.s.w. ist wol ohne weitere Begründung für einfach ungeschickt gewählt zu erachten., dann am 30. Juli: »Nach der mir vorgelegten Photographie erkenne ich das Böckler'sche Kind mit der größten Bestimmtheit und zwar so bestimmt, daß ich gar nicht zweifelhaft bin, daß das von mir bei der Bande gesehene Kind und das Böckler'sche Kind ein und dasselbe ist«, und endlich in der Audienz am 6. December 1873 sich derselben Ausdrücke bedient, so mögen wir immerhin zugeben, daß die Zeugin von dem, was sie sprach, selbst fest überzeugt war und keine wissentliche Unwahrheit sagte, – dann befand sie sich aber eben in einer, vielleicht nicht unverzeihlichen, Selbsttäuschung; denn die Steigerung der Gewißheit, welche in ihren Worten enthalten ist, – ist eine Unmöglichkeit.
Von diesem Gesichtspunkte aus verliert ihre Recognition schon von selbst sehr erheblich an Gewicht. Denn die von ihr als materielle Gründe für die Identität des Kindes angegebenen Merkmale, »die tiefliegenden Augen und die hervorragende Stirn«, sind Merkmale der meisten, ja fast aller Kindergesichter. Dazu kommt, daß sie das Kind im Strauß'schen Wagen unter sehr ungünstigen Umständen gesehen hat, nämlich einmal nicht in ganzer Figur, sondern nur sein Gesicht, und sodann nur eine nach Minuten, höchstens nach Viertelstunden zu bemessende Zeit hindurch. Diese dem Entstehen eines genauen und festen Erinnerungsbildes nicht günstigen Umstände werden auch nicht durch das von der Zeugin betonte Interesse an dem Kinde aufgewogen; denn für dieses Interesse liegen keine besondern Gründe vor, als etwa die der künstlerischen Wißbegier und des allgemeinen Mitleids mit dem anscheinend gemishandelten Kinde.
Sonach muß angenommen werden, daß das Erinnerungsbild der Zeugin von dem von ihr gesehenen Kinde von Anfang an kein besonders genaues, sicheres und festes war, und es entspricht dem wirklichen Zustande ihrer Erinnerung einzig ihre (vorsichtige!) Auslassung vom 18. Juli, – die andern alle nicht. Zwar hat sie in der Audienzverhandlung, auf den Wechsel ihrer Aussagen aufmerksam gemacht, denselben dadurch zu erklären gemeint, daß ihr erst nur unvollkommene, später bessere Bilder des Kindes vorgelegt seien. Allein wenn dem so gewesen, so widerlegt durch diese Angabe die Zeugin sich selbst, denn die bessere Photographie mußte eher einen dem bestehenden Erinnerungsbilde ähnlichen Eindruck hervorbringen als die weniger guten, und nicht umgekehrt.
Zu beachten ist ferner der sehr bedeutsame Umstand, daß ein unmittelbares Wiedererkennen selbstverständlich nur dann stattfinden kann, wenn es ein und derselbe Gegenstand ist, welcher das eine und das andere mal wahrgenommen wird. Hier hat dies nicht stattgefunden. Sondern das eine mal war es das Gesicht des Kindes selbst, das andere mal ein Bild von demselben, welches wahrgenommen wurde. Das ist kein unmittelbares, natürliches Wiedererkennen mehr, sondern ein höchst künstliches, durch verschiedene besondere psychologische Processe vermitteltes. Es fehlt leider noch viel, daß diese Processe bekannt wären, aber so viel steht theoretisch und empirisch fest, daß in einem solchen Falle der Wiederwahrnehmung eine Selbsttäuschung noch viel leichter möglich ist.
Der Umstand, daß die Zeugin in der Audienz sich durch die Vermischung der Anna Böckler'schen Photographie mit andern Kinderphotographien nicht irritiren ließ, sondern mit großer Bestimmtheit die richtige herauserkannte, ist ersichtlich von keiner Bedeutung. Denn, wie sie selbst sagte, hatte sie die Photographie der Anna Böckler so vielfach in Händen gehabt und besehen, daß sie dieselbe nicht wohl verkennen konnte. Aber dieses vielfache Besehen eben hatte, indem es das Erinnerungsbild bezüglich der Photographie befestigte, das Erinnerungsbild des in Wartin gesehenen Kindes schädigend beeinflußt: beide Bilder waren als ähnliche in Eins zusammengeflossen und dabei hatte sich das Bild der Photographie an die Stelle des Bildes von dem Kinde selbst gesetzt, – ohne daß die Zeugin sich dessen bewußt zu werden brauchte, aber so, daß sie schließlich gar nicht mehr im Stande war, beide voneinander zu trennen.
Man sieht, daß man durchaus nicht zu dem Auskunftsmittel zu greifen braucht, der Zeugin Schwenke, beziehungsweise dem Zeugen Meyer, für welchen das Gesagte ganz ebenso, wenn nicht in noch höherm Maße gilt, unvorsichtige Selbsttäuschung, noch weniger Beeinflussung durch ihre künstlerische Phantasie, am allerwenigsten bewußte Unwahrheit vorzuwerfen, sondern nur diejenige Entwickelung und den Weg, den eine jede Erinnerung nehmen muß, zu beachten hat, um zu dem Schlusse zu gelangen, daß diese Zeugen nicht glaubwürdig, zum wenigsten nicht so glaubwürdig sind wie die andern Zeugen, welche die Leiche der Anna Böckler und ihre Kleider recognoscirt haben.
Die Aeltern von Anna Böckler und deren sonstige Umgebung hatten das Kind, dessen Größe und Haar noch an der Leiche zu erkennen waren, und seine Kleider nicht blos ein einziges mal, sondern sehr oft vor Augen gehabt; die Schneiderin Johanna Behrendt hatte die Kleidungsstücke, der Schuhmacher Friedrich Ziegler hatte die Schuhe selbst verfertigt. Es ist aber eine durch vielfache Erfahrung bestätigte Beobachtung, daß Handwerker ihre Arbeit mit größter Sicherheit wiederzuerkennen vermögen.
Das Erinnerungsbild dieser Zeugen war also an sich schon ein viel sichereres und festeres als das der Zeugen Schwenke und Meyer. Dann aber wurden ihnen zur Recognition nicht blos Bilder von den zu recognoscirenden Gegenständen, sondern diese selbst vorgelegt, eine Täuschung war also viel weniger leicht möglich als bei den Zeugen, denen man nicht das Kind vorstellte, sondern eine Photographie zur Recognition vorlegte.
Es war demnach nicht ein vages Meinen und Dafürhalten, sondern die denkbar sicherste Grundlage, auf welcher fußend der Richter die Recognition der Zeugen Schwenke und Meyer verwarf, und den gegentheiligen Zeugen Glauben schenkte, folglich aber an der auf den objectiven Befund gestützten Ansicht festhielt, daß die Leiche der Anna Böckler bereits am 24. Juni 1872 zwischen 4 und 4½ Uhr nachmittags bis 8 Uhr abends in die Scheune gekommen sei. –
Nicht weniger genau wie über die Zeit ist ferner die Auskunft, welche der objective Befund über die Art und Weise gibt, wie die Leiche dorthin gelangt, sowie, ob es durch Zufall geschehen sein kann oder nicht.
Die Leiche war nicht nur von dem Bodenstroh, sondern auch, etwa 6 Zoll hoch, mit Erde bedeckt. Sie war für die Grube, in der sie sich befand, zu lang, deshalb lag sie gekrümmt in derselben, in sie hineingezwängt. Dies schon schließt die Annahme aus, daß die Leiche zufällig in die Grube gerathen sein sollte.
Als die Leiche und die lose Erde aus der Grube entfernt worden waren, ergab sich, daß die Grube glatte Seitenwände und scharfe Ränder hatte. Hierdurch wurde die Annahme ausgeschlossen, daß ein Thier die Leiche in die Erde verscharrt habe. Es war vielmehr dadurch mit absoluter Sicherheit bewiesen, daß die Hand eines Menschen mit Hülfe eines Instruments das Grab gegraben hatte.
Anna Böckler konnte aber auch nicht, wie man im Juni 1872 bei dem Suchen nach dem verschwundenen Kinde glaubte, durch Herabstürzen von irgendeinem erhöhten Punkte, z.B. einer Leiter oder einem Bodenraume, den Tod gefunden haben, und sie konnte auch nicht erschlagen worden sein, denn nirgends zeigte sich irgendein Knochenbruch. Nur eine einzige Annahme blieb übrig, die nämlich, daß Erstickung die Todesursache gewesen war.
Wenn aber die Leiche der erstickten Anna Böckler von einem Menschen vergraben worden war, so mußte dieser Mensch ein Interesse an dem Verbergen der Leiche gehabt haben. Und dieses Interesse konnte, da jeglicher Anhalt für irgendeine andere Vermuthung fehlt, nur darin bestehen, daß jener Mensch den Tod des Kindes verschuldet, daß er den Tod desselben entweder vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt hatte. –
So viel über den objectiven Thatbestand. Wir wenden uns nun zum subjectiven Thatbestande, zur Ermittelung der Person des Thäters. Da richtet sich denn der Verdacht sofort unmittelbar auf den Angeklagten Fritz Schütt. Niemand hatte in der fraglichen Scheune sich so oft und so viel aufzuhalten wie er, niemand als er hatte gerade in der kritischen Zeit in der Scheune zu thun. Wenn er nicht selbst der Thäter war, so hätte er doch die That wahrnehmen müssen, er aber sagt uns nicht, daß er Zeuge der That gewesen sei oder den Thäter bemerkt habe.
Wir haben schon erwähnt, daß am 24. Juni 1872 der Dachdecker Güse damit beschäftigt war, das Dach der Scheune Nr. 4 zu decken. Schütt war ihm als Handlanger (Zupfleger) beigegeben, und hatte als solcher das Deckmaterial (das Stroh und die Weiden) auf das Dach zu tragen, die Weiden von dem Dorfteich, wo sie eingeweicht waren, heranzuholen und dieselben nebst dem Stroh (Schöfe) für den Gebrauch des Dachdeckers vorzurichten. Er besorgte diese Arbeit theils neben der Scheune, theils in der Scheune, und zwar auf der Scheunendiele a, deren Thür nach dem Hofe zu geöffnet stand. Alle andern Thüren der Scheune waren geschlossen. Hiernach ist es nicht wohl möglich, daß er, wenn das Kind von jemand anders in der Scheune ermordet worden wäre, dies nicht gesehen haben sollte. Ja es ist schon ein Beweis gegen ihn, daß er Anna Böckler, die doch um diese Zeit, wo er in und neben der Scheune arbeitete, ermordet worden ist, nicht bemerkt haben will. Die That ist auch nicht das Werk eines Augenblickes gewesen und nicht ohne jedes Geräusch vollbracht worden; der Mörder hat das Grab herrichten und die Leiche verscharren müssen. Das alles aber konnte nicht vor sich gehen, ohne daß Schütt es wahrgenommen hätte.
Die Gutsleute waren an jenem Nachmittage nicht auf dem Hofe, sondern im Felde beschäftigt. Nur der Dachdecker Güse, dann eine kurze Zeit lang der Pferdefütterer Drews und ein fremder Bettler sind damals mit ihm zugleich anwesend gewesen.
Güse ist ein Mann von 57 Jahren, der sich eines sehr guten Rufes erfreut und völlig unverdächtig ist. Er ist aber auch sowol von Schütt als auch von andern Zeugen fortwährend, und insbesondere in der Zeit, wo Anna Böckler verschwunden ist, die kurze Pause abgerechnet, wo er zum Vespern fortgegangen war, oben auf dem Dache gesehen worden.
Den fremden Bettler hat die Zeugin Grauholm auf dem Hofe getroffen, aber sie hat auch wahrgenommen, daß er sich vom Hofe wieder entfernte, und es kann derselbe daher mit dem Kinde in der Scheune nicht zu thun gehabt haben. Wer dieser Bettler gewesen, hat nicht ermittelt werden können. Der Verdacht fiel auf einen Bäckergesellen Namens Böckner, ein wegen Unzuchtsverbrechen berüchtigtes Subject, welches sich damals in der Gegend von Treuen herumgetrieben hatte. Allein es wurde festgestellt, daß Böckner am 24. Juni von 2 bis 9 Uhr abends sinnlos betrunken in einem Gasthause von Loitz gelegen hatte.
Der Pferdefütterer Drews endlich, der hin und wieder aus der Scheune Krummstroh für die Pferde zu holen hatte, ist an jenem Nachmittage nur etwa eine Viertelstunde auf dem Hofe gewesen. – Er brachte eine Fuhre Grünfutter dorthin und fuhr, nachdem er den Pferden das Futter vorgeworfen, mit einem Milchwagen wieder fort. Er hatte also zur Verübung der That gar nicht einmal Zeit; auch war der Hof, als er sich daselbst befand, schon nicht mehr so einsam wie vorher, weil inzwischen die Kühe heimgetrieben waren und auf dem Hofe gemolken wurden.
Demnach können weder Güse, noch Drews, noch der fremde Bettler Hand an Anna Böckler gelegt haben. Andere Personen außer ihnen und Schütt sind nicht zugegen gewesen, also muß man schließen, daß er, der am Orte der That war und Zeit und Gelegenheit hatte, schuldig ist am Tode des Kindes.
Der Angeklagte ist aber auch derjenige Mensch, mit welchem Anna Böckler zuletzt zusammen gesehen worden ist. Am Nachmittage des 24. Juni kurz vor 4 Uhr war die kleine Anna ihrer Mutter in die Speisekammer gefolgt und hatte derselben ein Butterbrot und zwei Eier abgeschmeichelt, um damit nach dem Ententeiche, ihrem Lieblingsaufenthalte, zu gehen, und – zur Mutter nicht mehr zurückzukehren. Am Teiche spielte sie mit den kleinen Entenhirtinnen Friederike Mehardel und Friederike Hinz, theilte ihnen mit von ihrem Reichthum und verweilte dort, bis Schütt herzukam, um aus dem Teiche Bandweiden zu holen. Schütt blieb einige Zeit bei den Kindern und nahm Weiden aus dem Wasser heraus. Als er kurz vor dem Heimtreiben der Kühe nach dem Hofe zurückging, schloß Anna sich ihm an, weil er ihr ein Vogelnest zu zeigen versprochen hatte. Friederike Mehardel und Friederike Hinz haben beide bis in die Nähe des Hofes mit ihren Blicken verfolgt. Danach ist Anna Böckler von niemand mehr lebend gesehen worden.
Freilich hat auch niemand gesehen, daß sie mit Schütt in die Scheune gegangen ist. Dies aber ist kein Beweis für die Unschuld des Angeklagten.
Der Dachdecker Güse wäre zunächst derjenige, der es hätte wahrnehmen können, denn er arbeitete gerade auf der nach dem Hofe zu belegenen Seite des Scheunendaches und konnte von hier den Hof sehr wohl überschauen. Indessen war es, wie er sagt, nicht seine Gewohnheit, während der Arbeit sich viel umzusehen. Auch verschiedene weibliche Dienstboten waren auf dem Gehöft beschäftigt, aber sie hatten ihre Arbeit hauptsächlich im Innern der Gebäude zu verrichten. Die Tagelöhnerinnen Gahl und Drews endlich, die am Vormittage dem Schütt geholfen hatten, das Dachstroh (die Schöfe) zuzubereiten, arbeiteten am Nachmittage im Garten hinter dem Schafstalle. Dies alles wußte Schütt, und er konnte daher wohl hoffen, unbemerkt mit Anna über den Hof nach der Scheune zu kommen. Allein es ist gar nicht einmal nothwendig, davon auszugehen, daß Schütt mit der kleinen Anna verstohlen in die Scheune geschlichen ist und dabei geflissentlich es vermieden hat, von irgendeinem Menschen erblickt zu werden. Vielleicht war es eine wunderbare Fügung, daß beide von niemand auf diesem Gange gesehen worden sind. Vielleicht hat Schütt erst in der Scheune den Entschluß gefaßt, dasjenige Verbrechen an dem Kinde zu verüben, welches ihn sodann weiter führte zum Morde.
Der Angeklagte war der Spielgefährte der Anna Böckler, er pflegte sie und ihre Brüder mit dem Ponyfuhrwerke zu fahren, er brachte ihr junge Vögel, zeigte ihr Vogelnester – kurz die Aeltern hielten es für ganz unbedenklich, daß er mit ihrem Töchterchen da und dorthin ging. Es hat deshalb nichts Auffallendes, wenn sie auch am 24. Juni ihn begleitete und ihm, um ein Nest zu sehen, in die Scheune folgte.
Diesen letztern Umstand hat er allerdings hartnäckig in Abrede gestellt, aber alles, was wir über sein Thun und Treiben an jenem Nachmittage und über seinen Verkehr mit dem Kinde berichtet haben, eingeräumt. Darauf, daß er den Umgang mit Anna weniger intim schilderte als die Zeugen, kommt ebenso wenig etwas an als darauf, daß nach seiner Behauptung das kleine Mädchen, nach Aussage der Rieke Mehardel er selbst die Sprache auf ein Vogelnest, welches er ihr zeigen wolle, gebracht hat. Schütt gibt an: Er habe kein Vogelnest gewußt und nur im Scherze versprochen, der Anna ein solches zu zeigen. Kurz vor dem Eintritt in das Gehöft habe er ihr gesagt, daß er nur einen Scherz gemacht, darauf hin sei sie von ihm weggegangen, entweder nach dem Garten oder nach dem Schafstalle zu, genau habe er dies nicht gesehen.
Was nun den Verlauf der That selbst und die Motive anlangt, welche den Angeklagten Schütt zu derselben getrieben haben, so wird es genügen, wenn wir mit wenigen Worten wiedergeben, wie der erkennende Richter sich die Sache gedacht hat.
Danach hat Schütt die Anna Böckler in die Scheune gelockt und sie daselbst geschlechtlich zu misbrauchen versucht. Das Kind hat geschrien, oder sonst seine Absicht kundgegeben, Schütt bei den Aeltern zu verklagen. Um den Folgen dieser Anklage zu entgehen, hat Schutt ihr Mund und Nase oder die Kehle zugehalten, sie getödtet und die Leiche sofort verscharrt.
Wir hoffen, uns den Dank der Leser zu verdienen, wenn wir auf diese Partie der Untersuchung, die vor Gericht des weitläufigsten, namentlich unter Zuziehung von Sachverständigen aller einschlagenden Disciplinen – Medicin, Chemie, Mikroskopie – erörtert worden ist, nicht näher eingehen. Wir bemerken nur noch dies: dafür, daß der Angeklagte das Kind gemisbraucht oder zu misbrauchen versucht hat, ist zwar kein directer Beweis erbracht worden, aber es hat die Untersuchung auch durchaus nichts ergeben, was dieser Annahme entgegenstände. Schütt ist sowol nach seiner körperlichen Entwickelung als auch nach seinen Antecedentien ein Mensch, dem man ein Unzuchtsverbrechen wohl zutrauen könnte.
Die Frage, ob Schütt das kleine Mädchen nur fahrlässig und nicht mit Vorsatz und Ueberlegung getödtet habe, ist vom Gericht eingehend erwogen und unter Beirath der Sachverständigen verneint worden.
Es wurde angenommen, daß die an dem Kinde verübten verbrecherischen Handlungen, insbesondere das Erwürgen, welches nach sachverständigem Gutachten vielleicht nicht mehr als eine halbe Minute erforderte, nur kurze Zeit in Anspruch genommen haben, daß Schütt sodann, was ja keine Schwierigkeiten machen konnte, eine Schaufel oder ein ähnliches Werkzeug geholt und die Leiche in jener entferntesten Ecke der Scheune vergraben hat. Zeit genug hatte er jedenfalls dazu, da er von 4½ bis 8 Uhr unbeobachtet war.
Hätte denn aber, so wird man fragen, das verbrecherische Thun des Angeklagten, welches doch einiges Geräusch verursachen mußte, von dem Dachdecker Güse nicht bemerkt werden müssen? Er saß auf dem Dache, sollte er gar nichts davon wahrgenommen haben, daß unmittelbar unter ihm das Kind unter den Händen Schütt's sein Leben aushauchte? Darauf ist zu erwidern, daß Güse in nicht geringem Maße harthörig ist und sich nur um seine Arbeit kümmerte. Diese aber verhinderte ihn, in das Innere der Scheune zu sehen, weil beim Dachdecken das Stroh des Deckenden Kopf überragt. Zudem befand er sich auf der östlichen Seite der Scheune, das Verbrechen aber wurde in der entlegensten Ecke der westlichen Seite vollbracht. –
Schütt war auf dem Hofe, als das Kind vermißt wurde und die Nachsuchungen begannen. Er hat mitgesucht, aber niemand, obwol er noch ein ganzes Vierteljahr, bis zum 27. October auf dem Gute und also der Herrschaft und den Dienstleuten unter den Augen blieb, ist eingefallen, den Verdacht auf ihn zu werfen. Er hat sich mit keiner Miene verrathen.
Wem dies auffallen solle, der wolle eingedenk sein, daß damals kein Mensch an einen Mord innerhalb des Gehöftes dachte, daß auch niemand den Mörder unter dem Gesinde suchte. Um Fritz Schütt hat sich in jenen Stunden und Tagen der Angst und des Suchens keiner bekümmert, auch sein Aussehen und Gebaren hat keiner beobachtet. Es ist deshalb auch später in der Untersuchung wider ihn nicht möglich gewesen, durch Zeugen genau festzustellen, wo er an jenem Nachmittage und Abend sich aufgehalten und was er getrieben hat. Nur einzelne charakteristische Wahrnehmungen, auf die wir gleich kommen werden, sind gemacht worden.
Angeklagter selbst sagt, er sei um 4½ Uhr wie gewöhnlich mit Güse nach der Leutestube zum Vespern und dann wieder an die Arbeit gegangen.
Güse kann darüber keine sichere Auskunft ertheilen. Dagegen bezeugt die Frau des Pferdefütterers Drews eine für die Ueberführung des Schütt sehr schwer in die Wagschale fallende Thatsache. Am Tage nach dem Verschwinden des Kindes hat sie auf der Scheunendiele, auf welcher der Angeklagte arbeitete, eine Schaufel stehen sehen. Dieselbe gehörte nicht dorthin, sie frug deshalb: was die Schaufel solle? Schütt antwortete: »er habe sie ein bischen gebraucht.« Später habe sie die Schaufel nicht mehr gesehen, sie müsse fortgeschafft worden sein. Früher habe sie auf den Vorfall nicht geachtet, erst jetzt sei er ihr wieder eingefallen.
Der Schlächter Cachulla erzählt: Er sei am 24. Juni 1872 nach Treuen gekommen, um dort von ihm gekauftes Vieh in Empfang zu nehmen. Als er sich im Pferdestalle mit seinen Pferden beschäftigt habe, sei Schütt eingetreten und habe sich, ohne ihm Guten Tag zu bieten, in eine Kammer neben dem Stalle begeben und die Thür hinter sich zugezogen, jedoch nicht so vollständig, daß er ihn dort nicht hätte beobachten können. In der Kammer habe Schütt so gethan, als ob er etwas suche, indeß, wie ihm geschienen, keinen bestimmten Zweck gehabt, da er bald dies, bald jenes in die Hand genommen und wieder fortgelegt habe. Nachdem er etwa eine Viertelstunde in der Kammer verweilt, habe er sich in eine zweite Kammer begeben und sich daselbst ebenso zwecklos beschäftigt. Es sei ihm, dem Zeugen, zwar auffällig gewesen, daß Schütt an dem allgemeinen Jammer und Suchen auf dem Hofe so geringen Antheil genommen, jedoch habe er damals darauf kein Gewicht gelegt. Erst als er von der Ermordung der Anna Böckler gehört, sei ihm der Gedanke gekommen, Schutt möge wol im Bewußtsein einer Schuld an dem Tode des Kindes von den übrigen sich zurückgezogen und die Einsamkeit gesucht haben.
Jetzt erst fiel es auch dem Handelsmann Krüger auf, daß etwa vierzehn Tage nach dem Verschwinden der Anna Böckler Schütt bei einem gelegentlichen Gespräch geäußert hatte: »Das Kind werden sie im Leben nicht wiederkriegen, das werden sie wol so verwahrt haben!« Auf seine Frage: die Aeltern seien wol sehr bedrübt? war Schutt die Antwort schuldig geblieben.
Der Handelsmann Oom frug den Angeklagten im Herbste 1872: Herr Böckler ist wol wieder fort, um seine Tochter zu holen? Schutt erwiderte: »Ja hin sind sie, aber die kriegen sie in ihrem Leben nicht wieder.«
Es sind diese Aeußerungen an und für sich gewiß von keiner Bedeutung, aber in Verbindung mit dem, was sonst bewiesen ist, darf man wol den Schluß ziehen, daß der Angeklagte, weil er am besten wußte, wohin das Kind gekommen war, mit so großer Bestimmtheit erklärte: die Aeltern würden es niemals wiedersehen.
Es ist eine bekannte criminalistische Erfahrung, daß der Schuldige sich durch unvorsichtiges Reden über sein Verbrechen besonders dann leicht verräth, wenn die Furcht vor der Entdeckung collidirt mit dem Triebe des Besserwissenwollens, der einer der stärksten im Menschen ist.
Aber noch deutlicher prägt sich das Schuldbewußtsein des Angeklagten aus in seinem Verhalten nach dem Auffinden der Leiche. Am 27. October 1872 zog er fort von Treuen nach Plestlin, in den Dienst des Statthalters Mandelkow. Als er am 3. Juni 1873 mit der Mandelkow'schen Familie beim Abendessen saß, fing Mandelkow plötzlich an:
»Na, Fritz, ihr habt doch nicht gut gesucht; nun haben sie die Leiche der Anna Böckler im Scheunenfache gefunden.« Auf dieses Wort hin verfärbte sich Schütt, legte den Löffel nieder, sah aus dem Fenster und erwiderte nichts. Auf Mandelkow's Frage: wie groß Anna gewesen, entgegnete er blos: »O, sehr groß war sie nicht!« sprach aber auch da nichts weiter und zeigte keine Eßlust mehr. Als er bald darauf hinausging, fragten sich die Mandelkow'schen Eheleute, was dies Benehmen wol zu bedeuten habe.
Am Tage nachher wurde Schütt durch einen Gensdarmen nach Treuen transportirt und zwar mit gebundenen Händen. Man stellte ihm die Leiche der Anna Böckler vor und brachte ihn dann nach Plestlin zurück. Der Statthalter Mandelkow frug ihn: »Na Fritz, was wollten die Leute von dir?« Schütt antwortete: »Sie wollten mich abhören, ob ich die kleine Anna Böckler nicht gesehen hätte.« Mandelkow entgegnete: »Na Fritz, wenn du da nur nichts mit zu thun hast! Dann kriegen sie dich doch!« und Schütt entgegnete: »Ich habe damit nichts zu thun, ich habe ihr nichts gethan, ich weiß nichts davon.« Mandelkow fuhr fort: »Ja, Fritz, du sahst gestern doch so verstört aus!« und Schütt antwortete: »Das that ich nur so!«
In der nächsten Zeit war der sonst muntere und kecke Schütt merklich stiller und ging auch des Abends nicht so viel aus wie früher. Als er aber, weil man ihn beobachten wollte, auf freiem Fuße blieb und von der Untersuchung nichts hörte, wurde er munter und unbefangen wie früher. Nur wollen mehrere Zeugen bemerkt haben, daß er nicht gern über das Thema sprach, welches doch in aller Leute Munde war. Allerdings ein auffallendes Moment gegenüber der alltäglichen Beobachtung, daß besonders junge Menschen sich gern wichtig machen und deshalb zum Erzählen drängen, wenn sie von einem Vorfalle, der das allgemeine Interesse erregt, mehr wissen als andere. Und Schütt wußte mehr als jeder andere, denn er war zuletzt mit Anna Böckler vor deren Verschwinden zusammen gewesen. Einige Tage nach dem ersten Verhöre hielt ihm der Schützenwirth Voß vor: »Er wolle unschuldig sein und habe sich doch die Hände binden lassen?« Schütt entgegnete: »Mir sollen sie nichts können«, und stellte schließlich das Binden der Hände ganz in Abrede, weil er, wie er in der mündlichen Verhandlung erklärte, dem Voß, da er nichts gethan habe, die Wahrheit nicht habe sagen wollen.
Einige Zeit später ward er vor den Criminalcommissarius L. nach Loitz beschieden, dort, weil er den Weg zu Fuß gemacht hatte, mit Bier und Butterbrot bewirthet und dann eine Strecke Weges zu Wagen zurückgeschickt. Auf dieser Rückfahrt knüpfte der Kutscher Wolff ein Gespräch mit ihm an und meinte: Es müsse doch ein starker Verdacht auf ihm ruhen, sonst würde man ihm doch nicht die Hände gebunden haben; zwei Jahre könne er sich wol vermuthen. Hierauf erwiderte Schütt: »Ja, das wisse er wohl, zwei Jahre bekomme er so wie so; wenn er dann aber loskäme, dann würde er seinen Lohn für zwei Jahre fordern und außerdem 10 Thaler für das Binden der Hände.« – »Der berliner Herr«, erzählte er weiter, »der ihm sehr klug zu sein scheine, habe ihm im Gasthofe Bier geben lassen, davon habe er auch anderthalb Glas getrunken; dann habe ihm der Herr auch Wein geben lassen, es sei aber etwas (Gelbes!)Wie sich bei der mündlichen Verhandlung herausstellte, hatte er ein Gefäß mit Mostrich für ein Glas Wein gehalten. zwischen gewesen. Der Herr habe ihn wahrscheinlich betrunken machen wollen; betrunken lasse er sich nicht machen; wenn sie ihn betrunken gemacht hätten, dann hätten sie in Treuen was zu hören bekommen! Was er ihnen da erzählt haben würde!«
Kurz vor seiner Verhaftung sprach der Tagelöhner Ellwitz mit ihm über seine letzte Vernehmung in Loitz und sagte: »Na Schütt, sie haben dich wol wieder scharf vorgehabt!« Schütt erwiderte hierauf in leisem brummenden Tone: »Ja, sie dachten wol, ich würde was sagen, aber ich bin auch so klug, ich werde mich hüten!«
Auf alle diese Vorfälle und Gespräche, die von ganz unverdächtigen Zeugen bekundet werden, will Schütt sich entweder nicht mehr besinnen können, oder bestreitet sie ganz und gar. Nur das Gespräch mit Mandelkow am 3. Juni, das mit dem Gastwirth Voß und das mit dem Kutscher Wolfs räumt er ein. In Betreff des Gesprächs mit Mandelkow antwortete er auf die Frage, ob es wahr sei, daß er sich bei der Mittheilung von dem Auffinden der Leiche verfärbt habe: »Das kann ich nicht wissen! Ich kann mir selbst nicht in das Gesicht sehen.«
In Bezug auf das Gespräch mit Wolff äußerte er, mit der Hand auf den vor ihm stehenden Criminalcommissarius zeigend, »Ja, das habe ich gesagt! Und das ist auch wahr! Das ist auch ein sehr kluger Herr!«»Ick kenn mi sülwst nich in't Gesicht kieken!« – »Ja, dat hew ick seggt! Un dat is ok wohr! Dat is ock'n sihr klauken Herrn!«
Diese Bemerkung reizte das Publikum zum Lachen, und mit dem Publikum lachte auch der Angeklagte.
Der Angeklagte spricht, wie die meisten Zeugen, nur plattdeutsch. Wir mußten aber ihre Aussagen in der Uebersetzung geben, wenn der Eindruck der Verhandlung für einen großen Theil der Leser nicht verfälscht, nämlich eine Gemüthlichleit und Komik in die Sache hineingetragen werden sollte, welche unser gemüthliches Plattdeutsch unwillkürlich mit sich führt, – für denjenigen namentlich, der unter einer hochdeutschen Bevölkerung sich bewegt. Ja wollten wir die Verhandlungen ganz genau darstellen, so müßten wir nicht bloß den Angeklagten und die Zeugen, sondern auch den Vorsitzungen im plattdeutschen Dialekt sprechen lassen, zu dem er nur zu oft greifen mußte, um sich den Zeugen, den ländlichen zumal, verständlich zu machen; selbst Eide werden so geschworen. Eine solche Darstellung würde dann freilich sehr den Eindruck machen, als sei sie Fritz Reuter entnommen. In Pommern ist das Plattdeutschreden des Vorsitzenden etwas so Nothwendiges, Natürliches, sich von selbst Verstehendes, daß die niederdeutsche Verhandlung ihren ernsten und würdigen Charakter um des gemüthlichen Dialekts willen keinen Augenblick einbüßt.
Wir können übrigens diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne den wahrhaft übermäßigen Kraftanstrengungen des Spruchgerichts bei dieser Verhandlung ein Wort zu widmen. Das Gericht hat am 4. December von 9 Uhr morgens bis 4 1/2 Uhr nachmittags mit einer Pause von 10 Minuten, am 5. December von 9 Uhr morgens bis 9 1/2 Uhr abends mit einer Pause von 2 Stunden und am 6. December von 9 Uhr morgens bis 8 Uhr abends mit einer einzigen Pause von nur 5 Minuten getagt! Es sind das Leistungen, wie sie einem Geschworenengericht niemals zugemuthet werden dürften. Ein Schwurgericht mit seinem schwerfälligen Apparate würde gewiß die doppelte Zeit zur Erledigung des Falles gebraucht haben. Daß auch am letzten Tage nach ununterbrochener zehnstündiger Verhandlung das Gericht nicht gewillt war, die Sitzung abzukürzen, davon gab seine zweistündige Schlußberathung Zeugniß.
Auch der Staatsanwaltschaft und der Vertheidigung darf das Lob nicht vorenthalten werden, daß sie ebenso willig und bereit wie das Gericht waren, die Mühsal der anstrengenden Sitzung zu tragen, um in stundenlangen Plaidoyers das Für und Wider der Schuld sorgfältig zu erörtern.
Aber vor allen genannt muß werden der Vorsitzende in dieser denkwürdigen Untersuchung, der Kreisgerichtsrath Meinck, dem die Vernehmung von 49 Zeugen und Sachverständigen oblag, der die Hauptlast der ganzen Verhandlung zu tragen hatte, und der, als nach Beendigung der Schlußberathung die übrigen Betheiligten sich aufs Zuhören beschränken durften, in zweistündiger Auseinandersetzung die Gründe des Spruches darlegte.
Auf Grund der von uns berichteten Thatsachen und Beweise gründete das Gericht das Urtheil:
daß der Angeklagte Schütt am 24. Juni die Anna Böckler mit Vorsatz und Ueberlegung getödtet habe und deshalb wegen Mordes nach §.212 verbunden mit §.57 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich mit der gesetzlichen höchsten Strafe, nämlich mit 15 Jahren Gefängniß, zu belegen sei.
Für diejenigen Leser, denen die Milde dieses Spruches auffallend ist, bemerken wir, daß nach dem Reichs-Strafgesetzbuche jugendliche Personen, die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, auch wegen eines todeswürdigen Verbrechen nur zu 15 Jahren Gefängniß verurtheilt werden können. –
Wir müssen mm den Versuch machen, eine psychologische Erklärung zu finden für die schreckliche That, deren der Angeklagte schuldig gesprochen worden ist, und deshalb seine Persönlichkeit näher in das Auge fassen.
Fritz Karl Martin Schütt ist am 11. März 1856 zu Loitz geboren, ein Sohn der Tagelöhner Schütt'schen Eheleute, von denen nur der Vater noch lebt. Er hat in Loitz die Schule besucht, schreiben, lesen und rechnen gelernt, ist evangelisch eingesegnet und hat nach seiner Einsegnung in Loitz, Sassen, Treuen, zuletzt in Altplestlin als Dienstjunge, beziehungsweise Hofgänger gedient.
Jetzt stellt er sich dar als ein für sein Alter mittelgroßer Junge, der in der Entwicklung zum Manne steht, etwas schmächtig und blaß, von nicht unangenehmen Gesichtszügen, mit klugen geweckten Augen. Wenn er spricht, wird er ziemlich lebhaft, sonst sitzt er ruhig auf der Anklagebank und verfolgt den Gang der Verhandlung mit sichtlicher Spannung, ohne durch die lange Dauer ermüdet zu werden. In seinen Antworten ist er so präcis und genau, wie man es bei Personen seines Alters und seiner Bildung nur selten findet. Er faßt schnell auf und hat offenbar einen guten Verstand. Er weint nicht, er klagt nicht, er ergeht sich nicht in Unschuldsbetheuerungen und macht nicht viel Worte. Seine Haltung und seine Züge bleiben unverändert. Sein Aeußeres scheint keinen Schluß auf Schuldbewußtsein zu rechtfertigen. Denn solch ein ruhiges Verhalten wird im allgemeinen als Kennzeichen eines guten und nicht eines bösen Gewissens gedeutet werden dürfen, weil nur das erstere auch dem äußern Menschen die natürliche Ruhe gibt, das letztere in Unruhe irgendwelcher Art, sei es Zerknirschung oder Trotz sich äußert. Je jünger der Mensch ist, um so weniger wird er in der Regel im Stande sein, die natürliche Mimik zu beherrschen, denn die Beherrschung des Gefühles und damit auch der ganzen Haltung in einer so lange Zeit andauernden Verhandlung ist eine Kunst, die gewöhnlich nur der ergraute Verbrecher erlernt hat.
Demnach müßte man also aus der Ruhe Schütt's auf seine Unschuld schließen. Allein eine nähere Erwägung führt denn doch zu einem andern Resultat.
Wie konnte, muß man billig fragen, ein so junger Mensch so ruhig bleiben, als er so gräßlicher Thaten beschuldigt wurde? Wie war es möglich, daß er nicht erschüttert wurde, als er den Jammer der Aeltern sah und die rührende Schilderung von den letzten Augenblicken des armen Kindes mit anhörte?
Kaum einer von den Zuhörern blieb dabei unbewegt, nur Schütt, den die Sache so nahe anging, schien unempfindlich zu sein, und doch ist er weder blöden Sinnes, noch fehlt ihm die Fähigkeit, diese furchtbaren Eindrücke und Scenen zu begreifen. Steht es aber so, dann muß seine Ruhe eine erkünsteltete gewesen sein, dann muß man aus derselben auf eine ungewöhnliche Willensenergie und planmäßiges Verhalten schließen, dann muß man glauben, daß er die unschuldige Miene absichtlich angenommen hat, um die Richter zu täuschen.
In ähnlicher Weise, wie die Haltung des Angeklagten durch die zu große Ruhe verdächtig wird, wird es seine vorsichtige Vertheidigung durch ihre zu große Vorsicht. Mit seinem Instinct fühlte er bei jeder an ihn gestellten Frage heraus, ob dieselbe für ihn verfänglich sei oder nicht, und richtete danach seine Antwort ein.
Auf die Frage, »ob er sich schuldig bekenne«, antwortete er mit einem einfachen: »Nein! ich habe ihr nichts gethan!« Unverfängliche Fragen beantwortete er in voller Übereinstimmung mit den Zeugen. Auf verfängliche Fragen dagegen antwortete er meistentheils mit einem: »Das weiß ich nicht! – Das weiß ich nicht mehr! – Dessen entsinne ich mich nicht mehr!« Zum directen Bestreiten ließ er sich nur selten herbei und eigentlich nur dann, wenn er sah, daß der gefährliche Umstand nur von solchen Zeugen, zum Beispiel den jugendlichen, unvereidigt vernommenen Entenhirtinnen, bekundet wurde, denen er sich gewachsen fühlte, denen er nicht mehr Glaubwürdigkeit zutraute als sich selbst.
Endlich wird noch Folgendes zu erwägen sein:
Keine ausgedehntere, auch noch so ernste Verhandlung pflegt ganz und gar der komischen Zwischenfälle zu entbehren, mögen dieselben durch eine auffällige Aeußerung der Zeugen, durch irgendein Misverständniß oder sonst etwas veranlaßt werden. In fast jeder Verhandlung kommt es daher vor, daß auch einmal gelacht wird, wenn auch nicht von den Richtern, so doch vom Publikum.
Auch in der hier fraglichen Verhandlung ist einigemal gelacht worden und die Glocke des Präsidenten hat hier und da in Bewegung gesetzt werden müssen. Und wenn das Publikum lachte, so – lachte auch der Angeklagte mit! Ja sogar, als der Vorsitzende bei der Publication des Urtheils die auffälligen Aeußeruugen des Angeklagten wiederholte, um dadurch seine Frechheit und Rücksichtslosigkeit zu illustriren, und das Publikum wiederum lachte, – lachte Fritz Schütt wiederum mit!
Welche Schlüsse lassen sich nun daraus ziehen, wenn der Angeklagte auf der Anklagebank, ja, nach der Verurtheilung zu einer fünfzehnjährigen Freiheitsstrafe lacht?
Im allgemeinen darf es als ein Erfahrungssatz gelten, daß zum Lachen ein gewisser und zwar nicht geringer Grad von Gemüthsruhe gehört. Mehr noch als Schmerz, Zorn und andere Affecte, verhindert die Furcht das Lachen. Wenn nun der Angeklagte vor dem Urtheilsspruche lacht, so darf hieraus geschlossen werden, entweder, daß er sich nicht fürchtet bestraft zu werden, d.h., daß er sich durchaus unschuldig fühlt, und mit Gewißheit auf seine Freisprechung hofft, oder aber, daß er die Strafe, die er erwartet, nicht fürchtet, d.h. für kein Uebel hält. Wenn der Angeklagte nach gesprochenem Schuldig lacht, so bleibt nur die letztere Annahme übrig; – oder endlich in beiden Fällen die, daß er nicht begreift, was ihm möglicherweise bevorsteht, beziehungsweise was ihm eröffnet worden ist.
Fritz Schütt aber hielt die schwere Freiheitsstrafe, die ihn traf, für ein Uebel und war sogar der Meinung, daß er in das Zuchthaus gebracht und daselbst in Ketten und Banden gelegt werden würde; auch war er einsichtig genug, um der Verhandlung zu folgen, und hatte das Urtheil wohl verstanden. So reichen also diese Versuche, sein Lachen zu erklären, nicht aus.
Anders stellt sich die Sache, sobald man berücksichtigt, daß Fritz Schütt nicht von sich selbst lachte, sondern nur mit dem Publikum mitlachte.
Alles Lachen stellt sich, wenn es nicht erkünstelt ist, – und das schien es in unserm Falle nicht zu sein, – als ein krampfartiger Zustand dar, analog dem Gähnen, Husten, Erröthen, Erbleichen. Unbewußt und oft unwiderstehlich verzieht sich das Gesicht zur lächelnden, lachenden Miene und gerathen das Zwerchfell und die Muskeln des Brustkorbes in jenen Erregungszustand, der die Exspirationsbewegungen des Lachens hervorbringt. Nun ist es eine sehr bekannte Erfahrung, daß krampfartige Zustände auf die Umgebung ansteckend wirken. Geradezu gefahrdrohend ist es, Kindern den Anblick Epilepsiekranker zu gestatten, und jedermann weiß, wie äußerst schwer es ist, eigenes Gähnen zu unterdrücken, wenn man andere gähnen sieht.
Aehnlich ist es auch mit dem Lachen, es steckt an wie das Gähnen, – wenn auch nicht in demselben Maße. Gewöhnlich läßt man sich davon recht gern anstecken, weil das Lachen eine angenehme Empfindung ist, man bemerkt es deshalb nicht so leicht wie beim Gähnen, daß man unfreiwillig gelacht hat.
Trotzdem daß es so ist, gehört doch auch zum Mitlachen eine Gemüthsstimmmig, welche der des Lachenden ähnlich ist. Dieselbe braucht nicht gerade eine fröhliche, allein sie darf nicht eine solche sein, daß der dem Lachen entgegengesetzte Gefühlsreiz stärker ist als der Lachreiz. Wer selbst ausgelacht wird, pflegt nicht mitzulachen, und wer auf dem Wege nach dem Zuchthause zu Ketten und Eisen zu sein glaubt, den wird man nur selten lachen oder auch nur mit andern mitlachen sehen. Wenn aber ein Angeklagter in solcher Lage dennoch lacht, so geht daraus eben hervor, daß der augenblickliche Lachreiz stärker ist als die dem Lachen entgegengesetzte Stimmung, als die Traurigkeit, die den mit so schwerer Strafe Bedrohten naturgemäß befällt.
Erwägen wir dies, dann wird das Lachen des Fritz Schütt aus einem Entlastungsmoment zu einem bedeutsamen Belastungsmoment! Denn es ergibt sich daraus, daß Schütt ein Mensch ist, der sich von den Impulsen des Augenblicks beherrschen läßt, der Gegenwart und Zukunft vergißt über dem Reize, den der Moment auf ihn übt. Der Angeklagte, der sogar nach Publication des Strafurtheils zum Lachen sich hat hinreißen lassen können, ist ein Mensch, dem man auch zutrauen darf, daß ihn die augenblickliche Sinnenlust zum Unzuchtsverbrechen und die unmittelbar darauf ihn überfallende Furcht vor Strafe zum MordeOb die That als Mord, Tödtung mit Vorsatz und Ueberlegung, oder als Todtschlag, Tödtung mit Vorsatz, aber nicht mit Ueberlegung, zu qualificiren sei, war eigentlich mit die schwierigste Frage. Wir müssen es uns aber versagen, auf diese Frage, deren Schwerpunkt in der Definition der beiden Begriffe »Ueberlegung« und »Vorsatz« liegt, hier näher einzugehen. Denn diese Definition läßt sich nicht mit wenigen Worten geben, sondern es bedarf dazu sehr eingehender Auseinandersetzungen psychologischen und sprachlichen Inhalts, zu denen es hier an Raum fehlen würde. Wie das Erkenntniß des Appellationsgerichts es angesehen hat, werden wir später miltheilen. hingerissen hat.
Daß Schütt sich leiten läßt von der Stimmung des Augenblicks, beweisen übrigens auch zwei Vorfälle aus früherer Zeit.
Als den Grund seines Wegzuges von Treuen gibt er an: er habe sich mit dem Kutscher Hinz, dem er als Kutscherjunge beigegeben war, nicht vertragen können. Er räumt ein, daß er eines Tages, als Hinz ihn tadelte – (Schütt freilich sagt: ihn stieß) – weil er die Pferde nicht gehörig putzte, den Hinz mit der scharfen Pferdestriegel ins Gesicht geschlagen hat, sodaß Hinz stark blutete und die Spuren der Mishandlung noch längere Zeit an sich trug. Ein anderes mal neckte er sich mit dem Hofgänger Riebnitz. Er wurde zur Erde geworfen, erhob sich und warf seinem davoneilenden Gegner eine Dungforke nach, die, weil Riebnitz auswich, neben ihm vorbei in einen Pfosten fuhr, in welchen sie 1 Zoll tief eindrang. Der Angeklagte bringt die alberne Entschuldigung vor, die Forke sei ihm aus der Hand geflogen, den Vorfall an sich bestreitet er nicht.
Schütt ist, wie man hiernach annehmen muß, ein jähzorniger Mensch, und es war eine Täuschung, wenn in der frühern Untersuchung der Criminalcommissarius L. ihm das Zeugniß gab, er mache den Eindruck eines guten harmlosen Jungen. Es war dabei äußerliche Ruhe für Harmlosigkeit genommen, und Gutmüthigkeit verwechselt mit Phlegma. Als phlegmatisch, namentlich dem Arbeiten gegenüber, wird er jetzt von verschiedenen Personen, z.B. dem Wirthschafter Blank, dem Kutscher Hinz, dem Domänenpächter Böckler geschildert. Phlegma aber findet sich bekanntlich sehr häufig neben Jähzorn. Und jähzornig nennen den Angeklagten jetzt auch die Zeugen Hinz, Blank u.a.
Nur für das oberflächliche Urtheil ist es auffällig, daß mit dieser ganz anders als früher lautenden Charakteristik die Zeugen erst jetzt hervorgetreten sind. Denn es ist eine sehr allgemeine Erfahrung, daß es in der Regel erst eines besondern Anlasses bedarf, wenn jemand ungünstige Ansichten über einen andern äußern soll. Wir nennen es Klatschsucht und Verleumdungssucht, wenn ohne Beruf über Dritte absprechende, nachtheilige Urtheile geäußert werden.
Wenn aber eine Veranlassung vorliegt wie hier, so pflegen die Zeugen sich zu finden und mit der Sprache herauszugehen.
Auffällig dagegen ist es in der That, daß trotz der Verstellungskunst und Lügenhaftigkeit, die Schütt gleich nach der That und die ganze spätere Zeit hindurch, zuletzt noch vor Gericht bewiesen hat, diese Charakterzüge vorher von niemand beobachtet wurden. Als der Lüge und Heuchelei ergeben, als der Verstellung kundig, hat er im Kreise seiner Umgebung nicht gegolten. Wir können dies nur so erklären, daß er in seinen bisherigen Dienstverhältnissen, insbesondere den andern Dienstleuten und Kameraden gegenüber keine Versuchung gehabt hat, zu lügen und sich zu verstellen. Vielleicht aber sind auch die Beobachtungen derer, die mit ihm verkehrt haben, sehr unvollkommen gewesen.
Von einem andern Gesichtspunkte ans könnte es vielleicht auffällig gefunden werden, daß in dieser Untersuchung der neuerlich so beliebt gewordene Einwand der Unzurechnungsfähigkeit wegen Störung der Geistesthätigkeit (§. 51 des Reichs-Strafgesetzbuches) nicht erhoben ist; denn das ist ja wol ziemlich unzweifelhaft, daß in der Seele des Angeklagten nicht alles so steht, wie es soll, und unzweifelhaft würde die psychiatrische Untersuchung ergeben haben, daß eine besonders hochgradige Gefühlsrohheit, ein bedeutendes Ueberwiegen der egoistischen Gefühle über die altruistischen bei ihm zu Tage getreten, daß sein Geist unterlegen ist zu starken Trieben. Allein, um einen Inculpaten ins Irrenhaus statt vor den Strafrichter zu weisen, erfordert der citirte §. 51 nicht blos eine Störung der Geistesthätigkeit im allgemeinen, sondern eine »krankhafte« Störung und eine solche, »durch welche die freie Willensbestimmung des Inculpaten ausgeschlossen wird«. Für die Annahme einer solchen »krankhaften« Geistesstörung aber, – so unbestimmt dieser Ausdruck auch immerhin sein mag, – ist bei Schütt nichts hervorgetreten, wenigstens nicht mehr als bei jedem Verbrecher, der von seinen Trieben sich beherrschen läßt und Gewaltthaten verübt – aus Schwäche, und daß diese Schwäche, diese Widerstandslosigkeit gegenüber seinen Gefühlen bei Schütt keine unüberwindliche ist, beweist zur Genüge seine erkünstelte Ruhe nach der That sowol im allgemeinen wie namentlich während der Gerichtssitzung, welche deutlich zeigte, daß er seine Gefühle sehr Wohl im Zaume zu halten weiß, – wenn er nur will.
Der Angeklagte hörte die Publication des Urtheils an, ohne eine Spur von Erregung zu verrathen. Gleichmüthig und ruhig entfernte er sich aus dem Gerichtssaale. Eine Aufforderung des Criminalcommissarius L., jetzt doch seine That einzugestehen, wies er mit den Worten: »Ik kann nicks seggen, ik hebb nicks dahn!« barsch zurück.
In der darauf folgenden Nacht scheint er ein wenig andern Sinnes geworden zu sein. Denn am Morgen (Sonntags) hörte der Gefangenwärter F. bei seinem Rundgange durchs Gefängniß, wie Schütt mit einem andern Gefangenen in einer Nebenzelle ein Gespräch anzuknüpfen versuchte, um sich zu informiren über das Leben im Zuchthause, wohin er abgeführt zu werden glaubte. Der Gefangenwärter trat in die Zelle des Schütt ein, nahm das Gespräch mit ihm auf und erfuhr von ihm, daß er der Meinung war, im Zuchthause würden die Gefangenen eingeschlossen und angeschlossen gehalten. Er belehrte ihn über seinen Irrthum, und machte ihn dabei insbesondere darauf aufmerksam, daß er ja gar nicht zu Zuchthaus, sondern zu Gefängniß verurtheilt sei und seine Strafe deshalb im Gefängniß zu Greifswald verbüßen werde, sobald das Erkenntniß rechtskräftig geworden sei.
Infolge dieser Eröffnung gerieth Schütt in starke Erregung, er wurde roth, die Thränen traten ihm in die Augen, und nach einer kleinen Weile fragte er, ob er seine Strafe nicht sogleich antreten könne. Er wurde bedeutet, für diesen Fall müsse er erst zu Protokoll erklären, daß er sich bei seiner Verurtheilung beruhigen und ein Rechtsmittel nicht einlegen wolle, und daß er sich zur Abgabe dieser Erklärung am folgenden Tage vorführen lassen möge.
Am Montag (den 8. December) ließ Schütt sich denn auch wirklich vorführen und erklärte, obwol er über die Bedeutung dieser Erklärung und ebenso über die Befugniß, seine Sache noch durch zwei höhere Instanzen zu verfolgen, von dem mit ihm verhandelnden Secretär eingehend belehrt wurde, zum gerichtlichen Protokoll wörtlich:
»Ich beruhige mich bei dem gegen mich unterm 6. December dieses Jahres ergangenen Strafurtheil, und bitte, die mir zuerkannte fünfzehnjährige Gefängnißstrafe sofort antreten zu dürfen. Ich sehe, ich komme von der Strafe nicht ab, und will sie deshalb sobald wie möglich abmachen.«
Auf diese Erklärung hin wurde sofort die Umwandlung der bisherigen Untersuchungshaft in Strafhaft verfügt.
Am 15. December aber erschien der Vater des Angeklagten auf dem Gericht und verlangte mit seinem Sohne zu sprechen. Das Gespräch zwischen beiden wurde zum gerichtlichen Protokoll registrirt und lautet wie folgt:
Vater: Na, Fritz, du hast dich bei dem Erkenntniß beruhigt und deine Strafe angetreten?
Fritz Schütt: Ja, das hab' ich gethan.
Vater: Dein Vertheidiger aber meint, du mußt noch appelliren; und ich meine das auch. Morgen ist die Zeit um.
Fritz Schütt: Na, dann meinetwegen auch! Dann kann die Appellation vor sich gehen!
Darauf erklärte Fritz Schütt:
»Ich habe mich anders bedacht, nehme meine Erklärung, mich bei dem gegen mich ergangenen Straferkenntniß zu beruhigen, hiermit zurück, appellire gegen das Erkenntniß vom 6. December und bitte die Acten dem Appellationsgerichte einzusenden.«
Und auf die Frage, warum er sich denn früher bei dem Erkenntnisse beruhigt habe, erwidert er:
»er habe dies gethan, um seine Strafe in etwas zu erleichtern.«
Die Appellation wurde nunmehr durch den Vertheidiger gerechtfertigt und am 17. März 1874 vor dem Appellationsgerichte zu Greifswald verhandelt. In der Zwischenzeit bis dahin wie auch bei der zweitinstanzlichen Verhandlung zeigte Schütt dieselbe Ruhe wie vorher; nur ein einziges mal frug er bei dem Gefängnispersonal an, ob denn seine Sache nicht bald zur Entscheidung komme.
Das Appellationsgericht vertagte am 17. März die Publication der Entscheidung bis zum 18. März und bestätigte an diesem Tage das erste Erkenntniß, indem es die Ausführungen des ersten Richters zur Begründung desselben billigte, und bezüglich der rechtlichen Qualification der That insbesondere sich dahin ausließ:
Für die Annahme einer fahrlässigen Tödtung oder einer vorsätzlichen Körperverletzung mit tödlichem Erfolge fehle jeglicher Anhalt; so sei also nur anzunehmen, daß der Angeklagte das Kind mit Vorsatz getödtet, und fraglich könne nur sein, ob er es auch mit Ueberlegung gethan. Von dieser letztern könne da nicht die Rede sein, wo eine gesteigerte Gemüthsaufregung, die zum Handeln fortreiße, die Ruhe und Besonnenheit, das zur völligen Willensfreiheit des Menschen nöthige Gleichgewicht im Innern aufhebe, gleichviel wodurch die Affection entstanden. Andererseits werde das Vorhandensein der Ueberlegung dadurch noch nicht ausgeschlossen, daß der gefaßte Entschluß sofort zur Ausführung gebracht werde. Dies letztere werde im vorliegenden Falle wol geschehen sein; denn dafür, daß die Tödtung eine bereits früher geplante, liege nicht das mindeste vor. Aber andererseits liege auch dafür nicht das mindeste vor, sei sogar geradezu als völlig unglaublich zu bezeichnen, daß das Kind durch Worte oder Handlungen den Angeklagten in eine solche gesteigerte Gemüthsaufregung gebracht haben sollte, die ihn zu einem unüberlegten Angriff auf das Leben des Kindes hätte veranlassen können. In Aufregung möge der Angeklagte sich bei Begehung des Unzuchtsverbrechens befunden haben. Nach Begehung desselben habe der reflectirende Verstand ihn die Folgen seiner That überlegen lassen, der in Erfindung eines hülfebringenden Mittels berechnend ein zu erstrebendes Ziel ihm vorstellte und den Entschluß zur Tödtung in ihm reifen machte. Freilich sei Eile nöthig gewesen. Das in seiner Begleitung zuletzt gesehene Kind hätte bald vermißt, bei ihm in der Scheune gesucht werden können. Darum schnell ans Werk, an das der Tödtung sowol wie das der Beseitigung der Leiche! Schnell ist aus einer nahe liegenden Geschirrkammer eine Schaufel geholt und damit in der Scheune unter dem Bodenstroh ein Loch gegraben, gerade tief genug, daß darin die Leiche gut verborgen werden konnte, aber nicht tiefer, weil das zu viel Zeit erfordert hätte. Der Leiche werden auch der Hut und der Kamm mit in die Erde gegeben, und nachdem das Bodenstroh wieder geebnet und so vorläufig jegliche Spur des Verbrechens beseitigt worden, – erscheint der Angeklagte in der Leutestube beim Vesper, und niemand sieht ihm an, was er gethan! – Das sei ein Benehmen, das das Bild der besonnenen, vorsichtigen, wohlüberlegten Ausführung eines den Zwecken entsprechenden Planes Widerspiegle! Nirgends zeige auch sein späteres Verhalten, daß er die That im Affect verübt. Von dem Schrecken, der Reue, die den Todtschläger, nachdem die That vollbracht, die Wuth verraucht, zu erfassen pflege, ihn zur Erleichterung seines Gewissens zu Geständnissen dränge, finde sich beim Angeklagten keine Spur, nicht einmal Theilnahme für das verschwundene Kind, für die in Angst und Sorgen suchenden Aeltern; kaum um den Schein zu bewahren, betheilige er sich bei dem Nachsuchen, und bis zum letzten Augenblick halte er fest am kecken Leugnen.
Schütt hörte auch die Publication dieses Erkenntnisses und die von dem Vorsitzenden (Präsidenten Dr. Albrecht) daran geknüpften trefflichen Worte väterlicher Ermahnung mit Gleichmuth an, indeß zeigte sich an dem Hin- und Herbewegen der Füße und Hände, die er nicht ruhig zu halten vermochte, daß er innerlich stark erregt war.
Sein Vater hatte der Verhandlung am Tage zuvor im Zuschauerräume beigewohnt, bei der Verkündigung des Strafurtheils aber war er nicht zugegen. Ob unaufschiebbare Geschäfte ihn verhindert hatten, zu bleiben, bis der Spruch über seinen Sohn gefällt war, oder ob er nicht Theilnahme genug besaß, um dem Angeklagten noch einen zweiten Tag zu widmen, wir wissen es nicht. Auch späterhin hat keiner der Angehörigen sich um den Verurtheilten bekümmert, oder auch nur den Versuch gemacht, Verkehr mit ihm anzuknüpfen.
In das Gefängniß zurückgekehrt, benahm sich Schütt ebenso ruhig wie vor der Hauptverhandlung. Es schien, als wenn die langwierige Freiheitsstrafe, welche gegen ihn rechtskräftig erkannt war, gar keinen Eindruck auf ihn machte. Sein Verhalten gibt zu einer Klage keine Veranlassung, nur hat ihm der Gefangenwärter wiederholt verbieten müssen, daß er in seiner Zelle laut pfeift und dadurch die Hausordnung stört. Die ihm aufgetragenen Arbeiten verrichtet Schütt willig und ohne Widerspruch zu erheben, er murrt nicht über sein Geschick und hat nur die eine Bitte ausgesprochen, ihn aus der Einzelhaft zu entlassen, welche die Direction des Gefängnisses bei der Eigenthümlichkeit des Falles über ihn zu verhängen für angemessen erachtet hat. Der Anstaltsgeistliche hat den Gefangenen wiederholt besucht uud sich gleich von vornherein auf den Standpunkt gestellt, daß Schütt der Mörder der Anna Böckler und mit Recht verurtheilt worden sei. Trotzdem daß Schütt wußte, der Geistliche halte ihn für schuldig, war er doch zugänglich für dessen Zuspruch. Unmittelbar nach der Verhandlung erster Instanz schien er in besonderm Grade empfänglich zu sein und nahm alles freundlich an, was ihm von dem Diener des göttlichen Wortes gesagt wurde. Der letztere hoffte, daß der Gefangene in sich gehen, ein offenes, reumüthiges Geständniß ablegen würde, und war höchlich erstaunt, als er hörte, daß Schütt nicht gestanden, sondern das Rechtsmittel der Appellation eingewendet habe. Von diesem Zeitpunkte an ist der Gefangene ein anderer geworden. Er hört die von der Annahme seiner Schuld ausgehenden Ermahnungen nicht mehr geduldig und stillschweigend an, sondern antwortet mit lebhaften trotzigen Betheuerungen seiner Unschuld. Dabei verharrt er noch jetzt. Zwar hat er nie etwas davon verlauten lassen, daß er das zweitinstanzliche Urtheil mit dem Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde anfechten wolle, niemals hat er sich direct darüber beschwert, daß er unschuldig verurtheilt worden sei, niemals hat er sich über sein Schicksal beklagt, aber so oft er aufgefordert wird, zu bekennen und sein Gewissen zu entlasten, bekommt man von ihm die Antwort: »Ik kann niks seggen! Ik hebb niks dahn!« In der letzten Zeit klingt jedoch diese Antwort bei weitem nicht mehr so keck und so zuversichtlich wie früher. Schütt ist mehr in sich gekehrt, er scheint ernster, ja sogar gebeugt zu sein. Vielleicht darf man doch hoffen, daß er sich mit der Zeit entschließt zu sprechen und durch einen wahrheitsgetreuen Bericht das Dunkel aufzuhellen, welches über dem Verschwinden von Anna Böckler und dem Wiederauffinden der Leiche auch jetzt noch liegt.