Alexis / Hitzig
Der neue Pitaval - Band 15
Alexis / Hitzig

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Papavoine

1824 – 1825

Sonntag am 10. Octbr. 1824 geriethen die Bewohner der Umgegend von Vincennes durch ein tragisches Ereigniß innerhalb der Alleen und des Parkes in nicht geringe Aufregung und Bestürzung.

Eine Demoiselle Malservait aus Paris, die sich hier ein Rendezvous gegeben, war in den Laden der Frau Jean getreten, um einen Liqueur zu trinken.

Zur selben Zeit sah man einen Herrn, in schwarzen Pantalons und einem blauen Ueberrock, von oben bis unten zugeknöpft, vor dem Laden stehen, der, als die Malservait fortging, ihr in das Gebüsch nachfolgte.

Auch eine zweite junge Dame, die Demoiselle Hérin, ging um diese Zeit in den Alleen mit zwei Kindern spazieren. Diese, Knaben von fünf und sechs Jahren, waren ihre eigenen natürlichen Kinder, aus einer Art Gewissensehe entsprungen. Sie hatte dieselben in Vincennes in Pension gegeben und machte ihnen ihren Sonntagsbesuch.

Die Malservait, nachdem sie den Laden verlassen, begegnete in der Allee der Demoiselle Hérin und schien von der Anmuth der Kinder entzückt; sie bat die Mutter um die Erlaubniß, sie zu küssen. In dem Augenblicke ging jener Fremde im blauen Ueberrock vorüber, zog den Hut ab, grüßte sie und ging seines Weges.

Die Malservait ging alsdann nach derselben Richtung. Als sie mit dem Fremden zusammenkam, fragte dieser sie: »Kannten Sie die Kinder, die Sie eben geküßt?« – Sie erwiderte: »Man kann doch Kinder küssen, die man auch nicht kennt.«

Der Fremde trennte sich von der Malservait und kehrte in den Laden der Frau Jean zurück, wo er ein Messer forderte. Die Frau handelte auch mit Messern, aber verkaufte sie nur dutzendweis. Indessen wurden sie einig, daß sie ihm eines aus dem Paket ablasse, wofür er dann einen höhern Preis als im Gebinde sich zu zahlen verstand.

Mit dem Messer ging der Fremde in die Allee zurück, wo die Mutter mit den Kindern noch immer spazierte. Die Malservait sah man nicht mehr.

Es war gegen 11½ Uhr, als der Fremde sich Demoiselle Hérin näherte. Sein Gesicht war blaß, seine Stimme zitterte. »Ihre Promenade ist bald zu Ende«, sagte er zur Mutter, indem er sich bückte, wie um eines der Kinder zu küssen. Aber er stieß ihm das Messer ins Herz. Beim Schrei des Knaben, dessen wahren Grund sie noch nicht wußte, stieß die entsetzte Mutter mit dem Regenschirm nach dem Thäter. Sie traf den Hut; die Spuren des Stoßes waren am Hute geblieben.

Aber während dieser ohnmächtigen Wuth der Unglücklichen hatte das Ungeheuer sich umgewandt und dasselbe rauchende Messer schon in das Herz des andern Kleinen gestoßen. Dann stürzte er sich ins Dickicht.

In ihrer Verzweiflung schrie die Hérin aus Leibeskräften um Hülfe. Mehre Personen kamen herbei. Sie beschrieb ihnen den Meuchelmörder, so gut sie konnte, die Farbe seiner Kleider, Gestalt, Haltung, die sie mit der Schärfe eines weiblichen Auges aufgefaßt und auch in der Verzweiflung des tiefsten Schmerzes einer Mutter nicht vergessen hatte. Mehre erinnerten sich nun nach der Beschreibung, den Fremden schon vorhin gesehen zu haben, und Jeder eilte, nachdem er sah, daß die Sorge für die Kinder eine fruchtlose sei, nun wenigstens Alles zu thun, damit der Verbrecher nicht dem Arme der Gerechtigkeit entfliehe. Man schloß die Thore des Gehölzes von Vincennes und die königliche Gendarmerie, von Soldaten aus der Garnison unterstützt, streifte durch die Büsche.

Demoiselle Malservait ward in einem Kaffeehause entdeckt. Nächst dem unbekannten Thäter war der erste Verdacht auf sie gefallen, denn sie schien in nächster Verbindung mit ihm zu stehen. Als sie im Laden den Liqueur trank, hatte Jener anscheinend draußen auf sie gewartet, er war ihr zuerst nachgegangen, dann, nachdem sie die Kinder geküßt, war sie ihm nachgeeilt. Sie hatte mit ihm gesprochen und bald darauf war die Mordthat verübt worden. Die Hérin hatte nicht anders geglaubt, als sie sei die Frau des Fremden. Sie hatte die Kinder geliebkost, ihnen den Weihekuß zum Tode gegeben. Man arretirte sie.

Die Localbehörde war inzwischen thätig. Bei der Frau Jean ward das Factum des Messerkaufs ermittelt. Diese gab eine noch genauere Beschreibung von dem Fremden, aber sie stimmte vollkommen mit der von der unglücklichen Mutter entworfenen. Frau Jean hatte außerdem bemerkt, daß der Fremde einen Krepp um den Hut trug, in einer besondern Art umgeschlungen und befestigt.

Man durchsuchte Gebüsch für Gebüsch. Endlich sah gegen Mittag ein Gendarm in einer der Parallelalleen mit derjenigen, wo der Mord begangen worden, doch durch ein beträchtliches Buschwerk von ihr getrennt, einen fremden Herrn, der mit einem Soldaten sich unterhielt. Das Signalement, welches die Hérin gegeben, paßte auf ihn.

Der Gendarm forderte ihn auf, ihm zu folgen. Der Fremde zeigte sich bereit, bemerkte aber mit vollkommener Ruhe, daß er sich nichts vorzuwerfen habe, und daß seine Arretirung vielleicht von den Spuren des wahren Thäters ablenken könne. Aber der Soldat neben ihm sagte, daß er diesen Mann erst vor wenig Minuten aus dem Dickicht kommen gesehen, wie er da mit großer Aufmerksamkeit seine Kleider gemustert, als ob er nach einem Flecken suche. Auch habe er ihn, den Soldaten, gefragt, ob sein Gesicht auch nicht beschmutzt wäre. Dies genügte dem Gendarm, um ihn zu arretiren.

Man führte ihn in das Haus, wo die Hérin untergebracht war, und kaum daß die Unglückliche ihn erblickte, als sie aufschrie: »Das ist das Ungeheuer, was meine Kinder getödtet hat!«

Ebenso erkannte ihn die Frau Jean auf den ersten Blick wieder. Mehre andere Zeugen hatten ihn, wenige Augenblicke vor der Mordthat, in der Allee gesehen.

Der Fremde war nicht im entferntesten betroffen. Er sagte, daß er Papavoine heiße, aus der Provinz sei, vor kurzem erst in Paris eingetroffen und in Vincennes nur auf einem Spaziergange. Mit vollkommener Ruhe und in geschickter Sprache wies er die Anschuldigung, die Kinder ermordet zu haben, zurück.

Die beiden Kinder waren todt. Die ärztliche Untersuchung, die auf der Stelle eintrat, stellte fest, daß ihr Tod die augenblickliche Folge von Stichen eines Instrumentes sei, dessen Form der eines Messers gleiche. Man nahm eines von den eilf Messern, welche in dem Paket der Jean, nach dem Verkauf des zwölften, zurückgeblieben waren, und es paßte in die Wunden der Kinder.


Der Thäter war so gut wie ermittelt, aber damit nichts über die Motive zu der räthselhaften That, über die möglichen Mitwisser und Complicen. Die That war kein Raubmord, ebensowenig schien sie die That eines Wahnsinnigen; der nächste Verdacht war daher, daß es ein Mord aus Rache oder aus ihr verwandten Motiven sei. Es kam daher zunächst auf Betrachtung der Persönlichkeiten an und ihrer Verhältnisse, und wir haben es hier mit drei Parteien zu thun: der Mutter der Kinder, Demoiselle Hérin und Anhang, der Demoiselle Malversait und Papavoine's selbst.

Die Untersuchung hat die Familienverhältnisse und den Lebenslauf jeder dieser drei Personen aufs genauste erforscht, aber obgleich alle Drei in so wunderbarer Weise zur selben Zeit und Stunde im Park von Vincennes sich getroffen und näher oder entfernter in die Mordthat verflochten sind, so ist doch das Resultat, daß keine dieser Personen mit einer der andern vorher im Geringsten in Verbindung gestanden, ein Interesse für oder gegen den Andern gehabt, ja, daß sie sich nicht einmal vorher gekannt haben. Es war ein Zufall, der sie zusammenführte, und sie sahen sich hier in der verhängnißvollen Stunde zum ersten Mal in ihrem Leben.

Demoiselle Hérin, 24 Jahre alt, war die Tochter des Portiers in der Militairintendantur. Vor neun Jahren, im Alter also von fünfzehn Jahren, hatte sie die Bekanntschaft des jungen Gerbod gemacht und eine leidenschaftliche Neigung hatte Beide zu einander geführt. Die Eltern des jungen Mädchens müssen sie geduldet haben, und die Frucht derselben waren zwei Kinder gewesen – die ermordeten.

Der junge Gerbod hatte nicht allein beide Kinder als seine anerkannt, sondern erklärte schon seit lange, daß es sein fester Wille sei, seine Geliebte, die ihn zum Vater gemacht, zu heirathen. Aber sein Vater war entschieden gegen diese Verbindung.

Der alte Gerbod hatte seit einer langen Reihe von Jahren eine sehr ansehnliche Wagenfabrik. Durch ehrenwerthen und ausdauernden Fleiß hatte er sich zu einem ziemlichen Wohlstande aufgeschwungen, und es ist natürlich, besonders nach französischen Begriffen, daß ihm eine Ehe seines Sohnes und Erben mit einem Mädchen ein Stein des Anstoßes war, die gar nichts besaß, sich außer der Ehe von seinem Sohn zwei Kinder machen lassen, und das anscheinend unter den Augen ihrer Eltern, welche den Verkehr mit dem jungen Gerbod ruhig duldeten. Der Widerwille des Vaters war um so begreiflicher, als derselbe gerade jetzt sein sehr ausgedehntes Etablissement ihm in vortheilhafter Weise überlassen wollte.

Nun sollte der Sohn zur Vergeltung auch eine vortheilhafte Heirath schließen. Der junge Gerbod wies aber alle Anträge entschieden zurück mit Rücksicht auf seine beiden natürlichen Kinder und deren Mutter. Es war zu feierlichen und ernsten Scenen, auch zu einer sehr lebhaften zwischen der Familie Gerbod und der Demoiselle Hérin gekommen; doch war damit die Eintracht zwischen Vater und Sohn nicht vollkommen gestört. Ein erster Verdacht fiel unter diesen Verhältnissen begreiflicherweise auf die Familie, auf den Vater Gerbod. Nur er hatte ein Interesse dabei, daß die beiden unehelichen Kinder seines Sohnes aus der Welt geschafft würden. Aber es fehlte alles und jedes weitere Judicium, es widersprach dem Charakter eines pariser guten Bürgers und Hausvaters, daß er Banditen dingen sollte, um zwei unschuldige Kinder ohne weiteres ermorden zu lassen. Endlich hat sich ergeben, daß zwischen Papavoine und der Familie Gerbod nie die geringste Bekanntschaft stattgefunden.

Ebenso wenig zwischen Demoiselle Hérin und Papavoine. Sie hatte am 10. October ganz aus freien Stücken, ohne mit Jemand sich zu verabreden, sich zum Besuch der Kinder nach Vincennes begeben.

Demoiselle Malservait war eine Putzmacherin, die in einem weit entfernten Quartiere von Paris wohnte. Ein Freund, der früher in nahen Verhältnissen zu ihr gestanden, und noch jetzt sie dann und wann besuchte und unterstützte, da sie in bedrängten Umständen war, hatte sie an diesem Sonntag morgen in der Frühe besucht, und wollte von dort aus zu seinem Bruder aufs Land. Die Malservait, welche schon längere Zeit nicht im Freien gewesen, wünschte ihn zu begleiten, um ein Mal wieder frische Luft zu schöpfen. Fournier hatte auch nichts dagegen, nur wünschte er gerade nicht bei seinem Bruder in ihrer Begleitung zu erscheinen. Sie verabredeten deshalb, nachdem sie zusammen aus Paris gegangen, daß die Malservait im Park von Vincennes spazieren gehen solle, während er beim Bruder seinen Besuch mache. In einem der Cafés des Parks wollte er sie wieder treffen. – Die Malservait traf vorher auf die Mutter mit den Kindern, dann auf Papavoine. Es stellte sich heraus, daß sie mit dem Letztern ebenso wenig als mit den Ersteren die geringste Bekanntschaft gehabt.


So stand also Papavoine allein da, räthselhaft, als er die That ableugnete, und noch räthselhaft, als er sie längst eingestanden und zum Schaffot geführt ward. Ueber seine frühern Verhältnisse ward Folgendes ermittelt.

Louis August Papavoine war 1783 oder 1784 in Mouy im Departement de l'Eure geboren Sein Vater, ein wohlhabender Tuchfabrikant, wandte etwas auf seine Erziehung und bestimmte ihn zur Marineverwaltung. Vom zwanzigsten Jahre ab diente der junge Papavoine auf mehren Staatsschiffen und stieg allmälig bis zum Range eines Commis der ersten Classe im brester Hafen. Sein Amt brachte es mit sich, daß bedeutende Geldzahlungen durch seine Hände gingen.

Ueberall aber hatte Papavoine sich als ein Mann von ungefälligen Sitten gezeigt. Er floh den Umgang seiner Kameraden und schien finster und melancholisch. Er ging allein spazieren, er wählte die einsamsten Orte. Man weiß nicht, daß er jemals zarte Verhältnisse angeknüpft, noch daß er sich den gewöhnlichen Schwächen der menschlichen Natur hingegeben hätte. Nie vertraute er seine Gedanken einem Andern; in allen Geschäftsangelegenheiten hatte man dagegen seine Gedanken und Vorstellungen immer klar und richtig gefunden.

Als sein Vater 1823 starb, hinterließ er seine Fabrik und Handelsangelegenheiten der Witwe und dem Sohne in der größten Unordnung. Papavoine nahm deshalb Urlaub von seinen Obern und reiste zur Mutter. Hier fand er aber die Dinge noch verwickelter als er gedacht, und, der Ueberzeugung geworden, daß seine Mutter sie nicht allein betreiben könne, entschloß er sich seinen Abschied zu nehmen. Er erhielt ihn mit einer Pension von 360 Francs und siedelte sich nach Mouy über. Aber ein neues Unglück. Die Fabrik hatte ihre Hauptnahrung von den Lieferungs-Aufträgen für die Armee. Das Kriegsdepartement zog seine Bestellungen zurück, und die Lage des Hauses ward dadurch sehr kritisch. Papavoine schien zu bedauern, daß er seine sichere Stellung aufgegeben. Er that deshalb Schritte, wiewol vergeblich, in sein voriges Amt wieder einzutreten. Diese Widerwärtigkeiten wirkten sichtlich auf seine Stimmung. Er ward so unerträglich, daß die eigene Mutter den ersten besten Vorwand ergriff, um wenigstens nicht mehr am selben Tische mit ihm zu speisen. Doch blieben Beide im selben Hause.

Gegen Ende September 1824 behauptete Papavoine krank zu sein. Der Arzt fand auch einige Fiebersymptome und rieth ihm ein Vomitiv zu nehmen und eine kleine Reise zu machen. Jenes half ihm etwas und er folgte auch dem zweiten Rathe, er machte sich auf den Weg nach Beauvais, wo er am 2. October ankam. Hier fand er einige Verwandte und einen Handelsfreund, Namens Branché. Er betrug sich, wie man es von ihm gewohnt war. Indessen hatte die Mutter an die Verwandten einen Brief gerichtet, der einige Besorgnisse über den Zustand ihres Sohnes ausdrückte, und die Verwandten erinnerten sich, daß Papavoine ihnen eine Frage vorgelegt, bezüglich auf den Tod seines längst verstorbenen Oheims und seines Bruders, die ihnen sehr befremdend geklungen.

Am Morgen nach seiner Ankunft in Beauvais erhielt Papavoine, der inzwischen immerfort beim Kriegsministerium sollicitirt hatte, unerwartet durch seine Mutter zwei Bestellungen, welche in seiner Abwesenheit vom Ministerium für ihn eingelaufen waren. Die Papiere deshalb bedurften aber noch einiger Förmlichkeiten, welche zu besorgen er sich schnell entschloß nach Paris zu reisen. Nachdem er etwas Geld zu der Reise aufgenommen, kam er am 6. October in Paris an. Da er nichts bei sich hatte, als was er von seinen Sachen zum kleinen Ausflug nach Beauvais mitgenommen, schrieb er an die Mutter, sie möchte ihm das Nöthigste nachschicken. Es ist beachtenswerth, daß sich unter den Sachen, die er selbst aus Mouy mitgenommen, zwei Messer befanden, beide scharf, aber nicht zum Zusammenlegen.

Er stieg ab im Hotel de le Providence in der Rue Saint-Pierre-Montmartre und begab sich augenblicklich zu seinen Geschäftsfreunden, sehr ehrenwerthen Kaufleuten, denen er die Ministerialpapiere übergab, um sie stempeln zu lassen. Die vier Tage bis Montag, den 10., hatte er zurückgezogen in Paris gelebt. An diesem Tage lockte ihn, nachdem er ein bescheidenes Frühstück eingenommen, das schöne Wetter zu einem Spaziergange nach Vincennes. Daß er nicht in Mordabsicht ausgegangen, dafür spricht der Umstand, daß er keines der beiden Messer mitgenommen, sondern sich eines, aber ein ähnliches (ein Tischmesser), erst in Vincennes kaufte.


Vor dem Instructionsrichter stellte Papavoine entschieden jede Betheiligung an der That in Abrede. Er bestritt die Aussagen gegen ihn als ganz falsch, oder suchte sie anders zu erklären, und verrieth dabei eine Klarheit und Schärfe des Verstandes, ja eine Geschicklichkeit, die nicht gewöhnlich war.

Bei diesem Ableugnungssysteme verblieb er vom 10. October bis zum 15. November, ohne sich zu widersprechen. Von dem Tage an verfiel er, zur Ueberzeugung gekommen, daß Jenes ihm nicht mehr gegen die Masse von Beweisen helfen könne, ja daß es seine Lage sehr verschlimmere, in ein neues System, welches er mit eben so viel Geschicklichkeit entwickelte.

Papavoine erklärte, er habe wichtige Entdeckungen zu machen, von einer Wichtigkeit, deren sich Niemand versehen werde. Bedingung aber sei: daß er sie nur in Gegenwart zweier erlauchten Prinzessinnen mache. Der Respect vor ihrem Range und die Criminalformen gestatteten das aber nicht; auch scheint man von Anfang an nicht großen Glauben dieser Andeutung geschenkt zu haben, daß ein politisches Verbrechen hier zum Grunde liege.

Als man es abschlug, bat er wenigstens um die Gunst, vor einer der beiden Prinzessinnen allein erscheinen zu dürfen. Auch das ward nicht gewährt. Er mußte sprechen.

Er bekannte jetzt, ja er sei der Mörder der beiden Kinder, aber er habe sich furchtbar getäuscht, indem er das Blut der beiden unschuldigen Knaben der Demoiselle Hérin vergossen, seine Absicht sei gewesen: die beiden Kinder der königlichen Familie umzubringen.

Diese Erklärung täuschte Niemand. Ihr widersprachen die Thatsachen, Papavoine's politische Ansichten, die Wahrscheinlichkeit selbst. Es war nur ein neues System der Vertheidigung: er wollte sich den Schein eines Rasenden geben.

Er fuhr in diesem Systeme fort. Ungefähr um dieselbe Zeit sollten ihm seine Mitgefangenen ein Messer verschaffen, aber ein recht scharfes. Einst sprang er in der Nacht auf und gab vor, er suche nach einem solchen Messer. Dann versuchte er sein Bett in Brand zu stecken. Am 17. November riß er wirklich einem Mitgefangenen ein Messer aus der Hand und stieß damit auf einen jungen Menschen, Labiey, der ihm nichts gethan hatte. Man verhinderte ihn glücklicherweise an einer neuen Mordthat, dennoch hatte er ihm gefährliche Verwundungen beigebracht. – Einer der Verbrecher, die neue Verbrechen begehen, um darin Rechtfertigungsgründe für ein älteres sich zu präpariren.

Die schwierigste Aufgabe der Anklageacte war, die Beweggründe, die Papavoine zu der entsetzlichen That getrieben, aufzufinden. Sie stellte folgende Fragen:

»Ist Papavoine der allein Schuldige, oder hat er Mitschuldige, Urheber seiner That, oder ist er gar nur ein Werkzeug Anderer?

»Alle deshalb aufgestellte Vermuthungen sind von der Justiz aufs sorgfältigste geprüft worden, um die Wahrheit zu erforschen.

»Die allgemeine Ursach der Verbrechen ist das Verbrechen. Welches Interesse kann Jemand gehabt haben, zwei arme uneheliche Kinder umzubringen? Ist Papavoine nur ein Werkzeug, von Andern ausgeschickt, so kann es nur die Familie Gerbod sein, – denn es ist Pflicht, vor keiner Vermuthung zurückzuschrecken, – welche ihm den Auftrag ertheilt, um eine ihr verhaßte Heirath zu verhindern.«

Die Anklageacte weist diese Vermuthung aus moralischen und juridischen Gründen vollständig zurück.

»Wenn nun aber Papavoine keine Mitschuldige hat, was kann ihn persönlich getrieben haben?«

»Er hat gewagt ein Motiv aufzustellen, was uns zittern macht. Ueberführt durch Thatsachen, und in der Unmöglichkeit, einem furchtbaren Beweise zu entschlüpfen, wollte er sein Verbrechen wenigstens aus der Classe der gemeinen Meuchelmorde zur Würde eines politischen Verbrechens erheben.

»Kann man glauben, was er jetzt will, daß sein Verbrechen das Resultat ist einer Raserei? Als solches wünschte, so wünscht er auch heute noch es darzustellen. Um daran glauben zu machen, versuchte er einen zweiten Mord ohne Grund und Ursach.

»Aber seine Anstrengungen sind auch in dieser Beziehung vergeblich. In der ganzen Untersuchung hat sich kein Factum ergeben, aus dem wir nicht schließen müßten, daß seine Vernunft ebenso klar ist als die anderer Menschen. Ja, seine Antworten in den Verhören sind wahre Meisterstücke der Dialektik, voll Scharfblick, leuchtenden Ideen und trefflicher Argumente. Man muß sie lesen, man muß ihn sehen und hören, um überzeugt zu werden, daß in Papavoine kein gestörter Sinn lebt. Er ist ein Mann, der spricht, denkt und handelt wie jeder Andere, in dem es aufblitzt wie bei Andern, und der Verstand genug hat, um sich über alle Dinge eine richtige Anschauung zu verschaffen, wie jeder Andere.

»Allerdings mag diese Vernunft, wie es auch andern Menschen passirt, nicht immer die stärkste sein im Kampf mit den Leidenschaften. Allerdings mögen in seiner geheimen, düster finstern, gallichten Organisation furchtbare Neigungen schlummern, ein Instinct angeborener Wildheit, Gelüste einer barocken Grausamkeit, scheußliche misanthropische Launen, die bis zu einer Art Wuth aufkochen können gegen Wesen, die glücklicher als er sind, Neigungen und Gelüste, die man nur nach ernsten Kämpfen und mit äußerster Willensstärke beseitigt, und diese diabolische Disposition mag ihn hingerissen haben, sich einem barbarischen Durst nach dem Blute Anderer zu übergeben und seinen entzügelten Neid im Glücke Anderer zu befriedigen. Da könnte man vielleicht den Grund seines Verbrechens suchen.

»Möglich bleibt aber immer, daß es das Resultat irgend eines entsetzlichen Mysteriums ist, welches die Obrigkeit trotz alles Eifers und allen Scharfsinns nicht zu entdecken vermocht hat. Alles dies würde uns aber zu tief ins Gebiet der Vermuthungen stürzen, und die Justiz hat nicht nöthig, in die Abgründe des menschlichen Herzens sich zu verirren. Was sie nöthig hat zu wissen, ist bewiesen: das Verbrechen steht fest; die Leichen der beiden unglücklichen Kinder sind da; der Schuldige ist überführt, die Beweise schmettern ihn nieder, sein Geständniß verstärkt die Beweise.

»Das Gesetz ist da, welches über Die urtheilt, welche aus Begierde oder Neid, aus Rache oder instinctmäßig aus Wildheit sich freiwillig im Menschenblute gebadet haben. Es ist erlaubt, ungewiß zu bleiben über die wahre Ursache des Verbrechens, wenn man es nur nicht über das Verbrechen selbst ist. Das Uebrige gehört vor Gott und das Gewissen des Schuldigen; die menschliche Gerechtigkeit weiß genug davon, um die Gesellschaft zu vertheidigen.

»Demgemäß ist Louis August Papavoine angeklagt:

1) am 10. October 1824 freiwillig, mit Vorbedacht und hinterlistig einen Meuchelmord an den Personen der beiden Kinder Gerbod,

2) am 17. November ebenfalls freiwillig und mit Vorbedacht einen meuchelmörderischen Anfall auf die Person eines gewissen Labiey ausgeführt zu haben; welcher letztere Anfall, bekundet durch vorangängige Handlungen und gefolgt durch theilweise Vollstreckung, nur durch Umstände, die mit dem Willen ihres Urhebers in keiner Verbindung stehen, mißlang.«


Der Anfang der Debatten dieses Prozesses ward mit besonderer Neugier erwartet, indem man sich der Hoffnung hingab, daß sich in ihrem Verlaufe ein wunderbares Geheimniß enthüllen könne.

Sie fanden am 23. Februar 1825 vor dem Assisenhof der Seine unter dem Präsidium von Hardouin statt, natürlich unter großem Zudrang, besonders von Damen.

Papavoine erschien sorgfältig gekleidet. Er war ruhig und seine Züge trugen den Ausdruck einer zur Gewohnheit gewordenen Traurigkeit. Seine Hautfarbe blaß, Kopfhaare und Bart kastanienbraun, Wuchs schlank und elastisch.

Um Papavoine in seiner ganzen Erscheinung aufzufassen, ist es zweckdienlich, mit seinen Antworten auch über die unerheblichen Umstände, die den Aussagen über die That selbst vorangingen, anzufangen.

Präsident. Papavoine, um welche Zeit traten Sie in die Marine?

Papavoine. Um 1803, ich war bei der Seeadministration von Brest angestellt.

Präs. Ihr Vater hatte schlechte Geschäfte gemacht?

Pap. Ja, mein Herr, sein Manufacturgeschäft war mit Schulden überladen, bis zu einer Höhe, die dem Werthe gleich kam.

Präs. So waren Sie und Ihre Mutter, beim Tode Ihres Vaters auf die Pension von 360 Francs beschränkt, welche Sie aus der königlichen Marine bezogen?

Pap. Ja, mein Herr!

Präs. Warum reisten Sie von Mouy nach Beauvais?

Pap. Ich hatte eine innere Unruhe, ich war krank, gequält, verstimmt.

Präs. Warum kamen Sie nach Paris?

Pap. Meine Mutter hatte mir die Papiere des Kriegsministers, bezüglich der Lieferungen übersandt. Sie waren noch nicht in voller Ordnung; ich mußte sie in Ordnung bringen lassen.

Präs. Sie brachten zwei Messer mit, die Sie in der Regel nicht mit sich führen?

Pap. Ich nahm sie zu meiner Vertheidigung mit.

Präs. Warum gingen Sie Sonntag am 10. October nach Vincennes?

Pap. Um mich zu zerstreuen. Meine innere Unruhe war groß. Ich fühlte mich unwohl; ich mußte Luft schöpfen.

Nachdem er über seine Bekleidung Auskunft gegeben, fragte der Präsident weiter: »Sie folgten einer Frau in einem Rosakleide?«

Pap. Möglich, daß ich es that; aber es geschah mechanisch. In meiner Unruhe wußte ich nicht, was ich that.

Präs. Sie folgten dieser Frau in einen Kaufladen?

Pap. Ich erinnere mich nicht.

Präs. Sie sahen diese rosa gekleidete Dame, wie sie mit einer andern Frau sich unterhielt, die zwei Kinder bei sich hatte?

Pap. Ich erinnere mich nicht. Ich war in einem beklagenswerthen Zustande, ich wußte nicht, was ich that.

Präs. Sie kauften in dem Laden, in den die Rosadame eingetreten, ein Messer?

Pap. Ja, mein Herr.

Präs. Welche Absicht hatten Sie dabei?

Pap. Ich sah einen Donjon in Vincennes. Ich glaubte, daß Gefangene darin wären. Ich glaubte, ich würde sie mit meinem Messer befreien können.

Präs. Sie kauften das Messer aber erst, nachdem Sie die Rosadame gesehen, wie sie die Kinder liebkoste... Auch haben Sie früher nichts davon gesagt, daß Sie die Gefangenen befreien wollten.

Pap. Ich war im Fieber. Meine Gedanken waren nicht klar. Ich wußte nicht, was ich that.

Präs. Das Messer war in Ihrer Tasche versteckt.

Pap. Ich glaube ja.

Präs. Erst nachdem Sie die Kinder gesehen, haben Sie das Messer gekauft. Weshalb haben Sie die Kinder niedergestoßen?

Pap. Mein Wille war nicht klar, nicht gesund. Ich weiß ja nicht, wie es kam, daß ich zustieß. Um all mein Blut wünschte ich, daß ich ihres nicht vergossen hätte. Es ist ja eine vollständige Raserei, in der ich das Unbegreifliche gethan.

Präs. Aber Sie erinnern sich doch, daß Sie die Kinder erstachen?

Pap. Ja, mein Herr!

Präs. Was machten Sie mit dem Messer?

Pap. Ich stieß es in die Erde.

Präs. Doch hatten Sie nachher das Bewußtsein, daß Sie ein Verbrechen begangen, denn Sie suchten zu fliehen?

Pap. Die Handlung, die ich wider meinen Willen beging, hat eine plötzliche Revolution in mir hervorgebracht. Da wußte ich denn freilich, was ich gethan.

Präs. Im Fliehen stießen Sie auf einen Kanonier?

Pap. Ja, mein Herr.

Präs. Sagten Sie nicht zum Gendarmen, der Sie anhielt, daß er seine Zeit verlieren, und daß er darüber vielleicht den wahren Meuchelmörder entschlüpfen lasse?

Pap. Ich glaube, daß ich das gesagt habe.

Präs. Sie verharren also nicht dabei, daß es in Ihrer Absicht gelegen, die königlichen Kinder Frankreichs umzubringen?

Pap. Diese Absicht habe ich nie gehabt. Wenn ich es ein Mal gesagt, geschah es, um endlich der Last von Fragen überhoben zu sein.

Ueber diesen Umstand gab die Verlesung eines Protocolls aus den Untersuchungsacten genügende Auskunft. Als man Papavoine vor den Untersuchungsrichter führte, bat eine Frau die Gendarmen, man möchte ihr doch Papavoine zeigen. Ein Gendarm sagte: »Da sieh ihn, das ist er, der die Kinder von Frankreich hat umbringen wollen.« Papavoine hörte die Worte, und sie entzündeten in ihm den Gedanken, sich für einen intentionirten Mörder der königlichen Kinder auszugeben.

Präs. Sie schützen vor, daß ein hitziges Fieber, eine Art Abwesenheit des Geistes Sie zu der That verleitet habe, aber Alles, was Sie seit Ihrer Abreise von Beauvais gethan, spricht für das Gegentheil. Die Briefe an Ihre Mutter sind voll gesunden Menschenverstandes. Ein Wahnsinn kann daher Ihre Arme nicht geleitet haben.

Pap. Aber sagen Sie mir, welch ander Motiv könnte ich denn gehabt haben? Ich hatte ja nicht das geringste Interesse dabei.

Präs. Das ist Ihr Geheimniß. Bisher hat man darüber nichts entdecken können ... Wenn man indessen Alles prüft, was vor und nach dem Morde geschehen, so muß der Anfall von Raserei Sie gerade beim Anblick der Kinder ergriffen haben, um Sie gleich nach der That wieder zu verlassen. – Gleich nach dem Morde führte man Sie vor die Mutter, die ausrief: »Da ist der Mörder meiner Kinder!« Und Sie erwiderten: Sie kennten die Frau nicht. Man führte Sie vor die Leichen der Kinder, und Sie erklärten, Sie kennten sie nicht. Alle Ihre Antworten zeigten von klarer Besinnung.

Pap. Dieses Verbrechen war soweit von meinen Gedanken entfernt, daß ich wirklich glaubte, ich hatte es nicht begangen. Uebrigens hatte ich ja eine Familie und ich dachte, ich dürfe sie nicht entehren, indem ich das Verbrechen eingestände.

Präs. Aber Sie leugneten 6 Wochen durch hartnäckig, daß Sie der Urheber des Doppelmordes in Vincennes wären! Sie erklärten, daß es ein Misverständniß sei, und vertheidigten diese Behauptung mit vielem Verstande, und erst nachdem Sie erfuhren, daß die Aussagen der Mutter und vieler anderer Personen gegen Sie zeugten, erklärten Sie, daß es Ihre Absicht gewesen, die königlichen Kinder Frankreichs umzubringen. Erklären Sie das den Herren Geschworenen. Alles zusammen genommen spricht gegen Sie und dafür, daß Sie nicht toll waren.

Pap. Ich bin voller Entsetzen, voll Angst, aber nie habe ich das Verlangen gespürt, Blut zu vergießen. Ich habe nicht mit Vernunft gehandelt.

Präs. Als Sie sagten, daß Sie die Kinder von Frankreich umbringen wollten, so schmückten Sie diese Erklärung mit so vielen Umständen aus, mit wahren und wahrscheinlichen, daß es außer allem Zweifel ist, Sie waren damals im vollen Besitz Ihrer Vernunft. Zum Beispiel sagten Sie, daß eines der Kinder, die Sie getödtet, einem der Kinder von Frankreich so sehr ähnlich sehe. Auch Ihre Vertheidigung jetzt spricht davon, daß Sie im vollkommensten Vernunftzustande sind.

Pap. Auch gebe ich ja nicht vor, daß ich immer toll wäre.

Präs. Warum verwundeten Sie am vorigen 17. November einen armen Gefangenen?

Pap. Es geschah in einem Anfall von Wahnsinn.

Die Entlastungszeugen, welche die Verteidigung aufgestellt, bekundeten, daß er allerdings dann und wann Proben eines kranken Gehirns, aber in den meisten Fällen einen sehr gesunden Verstand und den vollen Gebrauch aller seiner Sinne gezeigt.

Jetzt ward Demoiselle Hérin vorgeführt. Sie sah sehr angegriffen aus, der Präsident ließ sie sich niedersetzen. Kaum aber hatte sie einige Worte vorgebracht, als sie in Ohnmacht fiel. Man mußte sie aus dem Saal bringen, aber der Präsident erklärte, so gern er ihr auch das schmerzliche Zeugniß erlassen hatte, sei es doch nothwendig. Der junge Gerbod zerfloß in Thränen. Nachdem sie wieder zu sich gekommen und hereingeführt war, sprach sie so leise, daß der Präsident ihre Worte den Geschworenen wiederholen mußte.

Die Hérin sagte aus: nachdem sie ihre Kinder angezogen, hätte sie sie auf die Promenade geführt. Eine Frau in einem Rosakleide näherte sich den Kindern, stellte verschiedene Fragen an sie, und schlug dem ältesten (scherzhaft) vor, es mit sich zu nehmen. Der Knabe aber wollte nicht. Die Fremde küßte die Kinder und ging fort. Bald darauf bemerkte die Hérin einen Herrn, dessen Gesicht ihr schon unangenehme Ahnungen erweckte. Aus seinem blauen zugeknöpften Ueberrock und seiner schwarzen Cravatte schloß sie, daß er ein Offizier sei und hielt ihn für den Mann der Rosadame. Kaum hatte sie das bei sich gedacht, als sie auch schon Beide mit einander sprechen sah. Sie führte ihre Kinder jetzt ins Gehölz und theilte unter sie das frugale Frühstück, welches sie mitgebracht. Da fing es an zu regnen, und sie führte ihre Kinder nach der Seite von Vincennes zurück, als derselbe Mann, der schon ein Mal bei den Kindern vorübergegangen, sich ihr näherte und mit einer abscheulichen Stimme zu ihr sagte: »Ihre Promenade ist bald zu Ende.« Im selben Augenblicke ist er schon bei dem einen Kinde, sticht es und wirft es in den Graben. Sie glaubt, er habe dem Kinde nur einen Fauststoß gegeben und sie versetzt dafür dem Menschen einen Stoß mit dem Regenschirm. Ohne sich daran zu kehren, hat sich Dieser aber rasch umgewandt, hat das zweite Kind ergriffen und es mit ihm ebenso gemacht.

»Als ich meine Kinder umgebracht sah, fiel ich in Ohnmacht.« Sie selbst mußte nach diesen Worten hinausgeführt werden; sie hatte nichts mehr zu sagen.

Als eine eigenthümliche Person in diesem Proceß trat der Zeuge Davesne, Notar zu Vincennes und Stellvertreter des Friedensrichters auf. Er benachrichtigte mit Wichtigkeit den Präsidenten, daß er sehr Vieles über die Familie Gerbod wisse, daß er es aber nicht sagen könne, weil alles ihm nur in seiner Eigenschaft als Notar mitgetheilt worden. Indessen gab er doch einige Auskunft über das, was beim ersten Verhör mit Papavoine vorgefallen war. Dieser schien nicht im geringsten bewegt. Auch da nicht, als man in seiner Gegenwart mit der Leichenschau der Kinder verfuhr.

Präsident. Papavoine, Sie schienen ohne Theilnahme und Bewegung vor den Leichen der geschlachteten Kinder, und Sie haben diese anscheinende Ruhe in einem Verhör vor dem Instructionsrichter erklärt, indem Sie sich der Worte bedienten: »Ich war von Schmerz zerrissen; aber ich suchte meiner Bewegung Herr zu werden.« Jemand, der so Herr seiner selbst ist, ist nicht gestört.

Der Präsident wandte sich noch ein Mal zum Zeugen Davesne und fragte ihn: ob das Viele, welches er über die Familie Gerbod wissen wolle, Bezug habe auf den gegen Papavoine geführten Prozeß und auf die Ermordung der Kinder?

Davesne antwortete nicht, machte aber ein Zeichen, welches anzudeuten schien, daß sie darauf bezüglich wären.

Präs. Sagen Sie aus, was Sie wissen. Ich frage Sie kraft meiner richterlichen Gewalt. Sie können, Sie müssen antworten.

Davesne. Herr Gerbod, der Vater, wollte nicht in die Ehe seines Sohnes willigen. Dieser junge Mann ist sehr sanften Gemüthes und ich lud ihn ein, dem Willen seines Vaters sich zu fügen. Endlich willigte er auch ein und entsagte. Man stellte nun dem Vater vor, daß er das Schicksal der Kinder sichern müsse, und er versprach ihnen, eine Pension auszusetzen. Im Verlauf des 10. Oktober nun kamen die Schwiegersöhne des Herrn Gerbod, die Herren Longueil und Belhomme zu mir, und fragten mich über die Umstände der Mordthat aus. Ich antwortete ihnen nur, daß ich als Stellvertreter des Friedensrichters, das ist als Beamter der richterlichen Polizei, eigentlich von Dem nichts sagen dürfe, was Papavoine in seinen Verhören ausgesagt.

Präs. So hatte Sie doch Herr Longueil gefragt, ob Papavoine Entdeckungen gemacht?

Davesne. Ja, mein Herr Präsident, das ist gerade die Frage, die er an mich richtete. Auch Herr Belhomme richtete sie an mich und schien sehr dringlich, daß ich ihm antworten solle.

Longueil ward vorgerufen, konnte sich aber nicht erinnern, daß er diese Frage gethan. Davesne wiederholte es mit Bestimmtheit und fügte hinzu, ihm habe geschienen, als ob Herr Longueil ein sehr lebhaftes Interesse an allen Umständen der Begebenheit genommen,

Präs. Schien er bewegt?

Davesne. Er war sehr erhitzt.

Longueil. Ich war gelaufen.

Einer der Geschworenen forderte hier von Longueil, daß er davon Rechenschaft gebe, wie er den Tag am 10. October verbracht. Der Zeuge führte einige Einzelheiten an.

Ein anderer Geschworener verlangte, daß auch Belhomme erscheine. Er solle erklären, ob er sich bei Davesne am Tage des Mordanfalls eingestellt und in welcher Absicht dies geschehen sei?

Belhomme erschien auch wirklich, aber sagte nicht mehr aus, als daß er etwa 5 Minuten bei Herrn Davesne geblieben, und Herrn Davesne über nicht mehr befragt habe, als was alle Welt in seiner Stelle gethan haben würde.

»Nein, mein Herr«, sagte Davesne zu Belhomme, »die Fragen, welche Sie an mich richteten, waren durchaus nicht in so gleichgültiger Weise vorgebracht. Sie drangen darauf, ich sollte Ihnen sagen, ob nicht Papavoine Enthüllungen gemacht habe?«

Belhomme entgegnete: Wenn diese Fragen mich wirklich so interessirt hätten, wie hier behauptet wird, würde ich sie doch nicht vor den Schreibern des Herrn Davesne gethan haben. Ich habe aber gar nicht so sehr darauf gedrungen, da ich im Ganzen nur 5 Minuten dort geblieben bin.

Davesne senkte den Kopf und antwortete nicht.


Am 26. hielt der Generaladvocat seine Schlußrede. Es war dieser Generaladvocat ein Mann, der bald darauf zu einer traurigen politischen Berühmtheit gediehen, und seine Plaidoyers nicht mehr gegen Mörder aus Monomanie, sondern im Sinne autokratischer Monomanie gegen die Forderungen einer ganzen Nation vor einer höhern Curie abhalten sollte – der Vicomte de Peyronnet. Seine Rede dürste daher, schon der persönlichen Bedeutung des Redners wegen, hier auf einen Platz Anspruch machen, wenngleich sie mehr oratorisch als von tiefer eindringenden psychologischen Blicken begleitet ist:

»Meine Herren, der Haß, der Ehrgeiz, die Rache und die wilde Begier sind im Allgemeinen die Leidenschaften, welche Gemüther zu den Verbrechen hinreißen, unter denen die menschliche Gesellschaft leidet. Unglücklicherweise sah man aber auch bisweilen Menschen zu Verbrechern werden durch einen zügellosen Hang zum Laster, und mit dem einzigen Zwecke, einer Wildheit zu fröhnen, von der in der Regel die menschliche Natur frei ist. Müssen wir Handlungen dieser Art Ihrer Justiz anzeigen, so werden Sie uns ohne Versicherung glauben, daß unsre Aufgabe zugleich schmerzlich und schwierig ist.

»Es kostet Mühe, an so viel Grausamkeit in einem Mitmenschen zu glauben, und man empfindet das Bedürfniß, die furchtbare Wahrheit immer wieder in Zweifel zu ziehen. Auch Sie, meine Herren, mögen immerhin nachgeben der ersten Regung Ihrer Herzen, denn können Sie glauben, daß Ihre Zweifel, eingegeben von Ihrer Humanität, über die Beweise den Sieg davontragen werden? Sie werden den Angeklagten so wenig als wir unschuldig erklären können. Die Ihnen vorgelegte Anklageacte ist nicht zerstört; die Beweise, welche sie unterstützen, haben durch die Oeffentlichkeit eine furchtbare Stärke erhalten.

»Sie zeigt Ihnen ein großes Verbrechen. Sie zeigt Ihnen den Schuldigen, und die Gesellschaft setzt ihr Vertrauen auf Ihre Erleuchtung und Ihre Unparteilichkeit. Indessen, meine Herren, müssen wir Ihnen die Gründe unsrer Ueberzeugung auseinandersetzen.«

Der Ankläger prüfte nun mit großer Genauigkeit und Schärfe die ganze Lebensgeschichte des Angeklagten. Er verfolgte ihn auf den Staatsschiffen, auf denen er gedient, in den Hafen von Brest, in die Manufactur von Mouy. Ueberall findet er ihn, seine Pflichten erfüllend, und mit merkwürdiger Klugheit und Pünktlichkeit. Bei der Betrachtung der Thatsache des Verbrechens selbst prüfte er besonders, ob hier der Begriff des Auflauerns dasei.

»Um den erschwerenden Umstand des Vorbedachts zu entfernen, hat der Angeklagte vorgeschützt, er habe das Messer gleich nach seiner Ankunft in Vincennes gekauft. Das Mädchen Malservait, als Zeugin, hat diese Erklärung unterstützt. Sie werden mir beistimmen, meine Herren, wie wenig Vertrauen man dieser Zeugin schenken kann, wenn man die ganz besondere Lage betrachtet, in der sie sich befunden, in der sie sich befindet, in der sie sich vielleicht einst befinden wird.« (Wozu das! Wie wenig kommt darauf an; wie wenig wäre daraus zu schließen, da der Messerankauf selbst auch durch das Zeugniß der Frau Jean feststeht. Peyronnet's Art war es auch als Staatsmann, mit giftigen Pfeilen zu verwunden.)

Nachdem er auch das Attentat auf Labiey dargestellt, fuhr er fort: »Von uns fordern, daß wir die Motive zu wissen thäten, welche die Arme des Schuldigen bewegten, als er mitleidlos seine Opfer niederstieß, hieße mehr von uns fordern, als wir zu thun verpflichtet sind, und wir hätten das Recht zu antworten: Welches auch die Leidenschaft gewesen, die ihn mit sich riß, das Gesetz will den Schuldigen erfassen. Aber wir wollen uns dieses Rechts nicht bedienen. Denn nichts darf in einer so wichtigen Sache ohne Aufklärung bleiben. Versuchen wir daher dieses bis da undurchdringliche Mysterium zu enthüllen.«

Der Staatsanwalt entwickelte seine Ansicht, daß man den Argwohn, der auf die Familie Gerbod gefallen, ganz entfernen müsse. Nur der wilde Instinct habe Papavoine geleitet. » Er hat nur getödtet, um menschliches Blut zu vergießen und einer wilden Leidenschaft zu genügen. – Wohl wissen wir, daß beim ersten Blick diese Auffassung nicht Ihre Beistimmung hat. Wenn Sie aber den von uns gesammelten Beispielen einige Aufmerksamkeit schenken wollen, zweifeln wir nicht, daß das Unwahrscheinliche auch vor Ihnen verschwindet, wie es allmälig auch vor unseren Augen verschwand. Wir wollen nicht alle in der Geschichte enthaltenen Beispiele von verwilderten Menschen aufzählen, die aus keinem andern Grunde als aus ihrer Grausamkeit Anderen den Tod gegeben; denn diese Beispiele sind leider nicht selten; wir erlauben uns aber. Sie an die minder bekannten Fälle zu erinnern.

»Der vielgenannte Don Carlos, Philipp's II. Sohn, kannte kein größeres Vergnügen, als den Todeszückungen der Thiere zuzusehen, die er unmenschlich getödtet hatte. Als er noch ein Knabe war, hatte ihm eines Tages ein anderer Knabe misfallen. Er drang darauf, daß man ihn hängen solle. Und dieser scheußlichen Laune wurde kaum genug gethan, als man das arme Kind in einer naturgetreuen Abbildung vor seinen Augen wirklich aufknüpfte.

»Calvino Fonduli ward wegen verschiedener Verbrechen zum Tode geführt. Im letzten Augenblicke des Schreckens erklärte er, daß er gar keine Reue empfinde und nur einen Verdruß: den, daß er den Papst Johann XXIII. und Kaiser Sigismund nicht von den Zinnen des Thurmes von Cremona herabgestürzt, auf welchen er Beide geführt hatte. Sein einziger Beweggrund: daß man doch von ihm gesprochen haben würde.

»Ein großer Monarch, der aber sein Andenken durch furchtbare Thaten befleckt hat, Peter der Grausame, weidete sich an den Hinrichtungen, die er zuweilen selbst vollstreckte. Er gestand selbst ein, daß er darin seine Sinnesart nicht habe überwinden können.

»Möchten diese Lehren nicht verloren sein! Möchten sie Denen, die ihrer Zügellosigkeit keine Zügel anzulegen vermögen, als Warnungen dienen am Rande des Abgrundes, daß sie zittern und zurückschaudern, indem sie seine Tiefe messen.«

Aus den angeführten Gründen bestritt Peyronnet die Annahme eines temporellen Wahnsinns: »Papavoine hat schon längst gefühlt, daß er den gethürmten Beweisen nicht entschlüpfen könne. Deshalb hat er sich dahin geflüchtet, wo möglicherweise die einzige Rettung ihm blühte, in die Fiction einer Geistesabwesenheit. Dem widerspreche aber sein ganzes Leben, und man dürfe und könne diese Annahme nicht gelten lassen.« – Der Schluß der Rede ist rein oratorischer Art und enthält keine neuen Momente.


Zur Vertheidigung Papavoine's war der jüngere Paillet aus Soissons, ein Freund der Familie Papavoine, nach Paris gekommen. Die Rede dieses auch berühmt gewordenen Advocaten wird als ein Musterstück aufgeführt, wir können in ihr indeß von dem nicht viel mehr finden, worauf es hier ankommt, von einer tiefer gehenden Anschauung eines ungewöhnlichen Seelenzustandes, als in der des Staatsanwalts, wogegen auch sie im declamatorischen Element sich ergeht, entschuldbarer bei einem Vertheidiger als bei einem Ankläger.

»Meine Herren Geschworenen! In einer Sache, wie diese, ist es vor allem Pflicht, daß Sie mit Ernst in die Aufgabe eingehen, welche das Gesetz Ihnen überträgt. Indem Sie diese heilige Schwelle übertreten, müssen Sie sich aller trüben Vorurtheile entkleiden, die nur zu oft die Tugend selbst irren machen. Und mit welchen feindseligen und doch ganz allgemein gehaltenen Vorurtheilen ist man gegen meinen Angeklagten zu Werke gegangen!

»Das Verbrechen selbst ist furchtbar.

– – Ach noch so jung!
Wie konnten sie ein solches Loos verschulden!

»Hat man doch sogar versucht, vor Ihnen einen jener Menschen erscheinen zu lassen, welche in andern Ländern aus dem Meuchelmorde ein Gewerbe machen, und deren Dolch seinen bestimmten Preiscourant hat.

»Man wußte auch, daß diese unglücklichen Kinder, die Früchte einer von der Familie ihres Vaters verdammten Verbindung, in diese Familie eine Art Zwietracht geworfen.

»Und siehe da, ein Weib, unbekannt in diesem Lande, von bizarrem Gepräge und noch bizarrerem Benehmen, hatte im voraus diese Schlachtopfer des Meuchelmörders, der ihr auf dem Fuße folgte, signalisirt. Sie hatte auf ihre Stirn den Kuß des Todes gedrückt!

»Und doch sagte man sich schon damals: Wie! dicht vor den Thoren von Paris! An einem Sonntag! Bei hellem Tage! An der großen Landstraße! Mitten unter der Garnison von Vincennes!...

»Wir wissen jetzt, daß die Familie der Kinder über allen Verdacht hinaus ist.

»Wir wissen, daß jenes Weib, die anfänglich in die Verfolgung einbegriffen war, sich nichts zu Schulden kommen ließ als einige Liebkosungen, gerührt von den Reizen der Kleinen. – Sie gab ihnen nur einen ewigen Scheidekuß. Alle die weiblichen Wesen, die mich jetzt hören, würden ebenso gehandelt haben, sie würden Alle Mitschuldige des Meuchelmörders geworden sein.

»Und nun dieser Meuchelmörder! Wer ist er denn selbst! Sie kennen ihn auch, meine Herren Geschworenen! Er gehört der ehrenwerthesten Familie an. Er genoß die trefflichste Erziehung. Jetzt 42 Jahr alt, legt er Ihnen das Zeugniß eines bürgerlich und öffentlich wohlgeführten Lebens vor. Es war fast ganz dem Dienste des Vaterlandes gewidmet; nicht der kleinste Makel bis da haftet daran. Er war ein guter Sohn, guter Freund, guter Bürger.

»Gerechter Himmel! Könnte ein solcher Mann für das Schaffot, plötzlich für das Schaffot reíf geworden sein!«

Der Vertheidiger schilderte nun den Angeklagten als einen Menschen, der von Natur finster und melancholisch ist. Er habe in sich den Keim der Krankheit getragen, die sein Verbrechen erzeugt. (Diese Ausführung, auf die hier viel ankäme, hat man nicht für nöthig gefunden aufzubewahren, nach dem, was man von dem Darum und Daran mitgetheilt, ist indeß nicht zu besorgen, daß viel verloren ist.) Dies sei das einzige Erbtheil, welches sein Vater ihm hinterlassen. (Auch ob dies gegründet, also eine Familienanlage dagewesen, finden wir nicht weiter berührt.) Nach dem Zeugnisse aller Aerzte habe man aber den Kummer als eine der accidentiellen Ursachen zu betrachten, welche auf unsere moralischen Fähigkeiten die furchtbarlichste Zerstörung ausübten.

»Wenn es eine unbestrittene moralische Wahrheit gibt, so ist es die, welche der Dichter in den Versen ausgedrückt hat:

Quelques crimes toujours précédent les grands crimes:
Ainsi que la vertu, le crime a ses degrès.

»Aber wo denn nun das Motiv dieses Verbrechens?

»Soll man es in den Enthüllungen suchen, die der Angeklagte zu einer gewissen Epoche des Processes gemacht hat?

»Gesetzt, diese Enthüllungen seien wahr gewesen, mit andern Worten, wenn es wahr, daß, als er die Kinder Gerbod niederstieß, der Angeklagte viel erlauchtere Opfer zu treffen glaubte, so müßte man doch eingestehen, daß die Absicht selbst, und dann der Misgriff in der Ausführung die allerdeutlichste Probe seines verirrten Verstandes damals liefern.

»Die Absicht! sage ich. Denn sie steht in offenbarem Widerspruch mit den politischen Gesinnungen, welche Papavoine beständig bekannt hat und die er mit seiner ganzen Familie theilt.

»Der Misgriff in der Ausführung! sage ich ferner. Wenn er den Gebrauch seiner Vernunft gehabt, würde er dann Madame la Dauphine in der Oper erwartet haben, während der Hof in Trauer war? (Eine Aussage, die uns nicht mitgetheilt ist.)

»Wenn er den Gebrauch seiner Vernunft hätte, würde er vermuthet haben, die Kinder von Frankreich in Vincennes zu treffen, wo sie niemals ohne Escorte erscheinen, in einem Gehölz, welches aller Welt offen steht? Hätte er vermuthen können, daß zwei Kinder in Knabenkleidung einem verschiedenen Geschlecht angehörten?

»Aber Sie wissen, meine Herren, wie Anklage und Vertheidigung darin einig sind, daß diese Angabe des Angeschuldigten, die er später selbst zurücknahm, nichts als eine Chimäre ist.

»Die öffentliche Anklage will sie nur einem Rechtfertigungssystem zuschreiben, welches Papavoine sich damals gebildet; ich aber behaupte, auch diese Enthüllungen sind nichts als eine deutliche Spur des Wahnsinns. Denn es gehört zu den eigenthümlichen Bizarrerien dieser Krankheit, daß der Irre sich häufig anklagt und oft mit nicht zu überwindender Hartnäckigkeit solcher Verbrechen, die er nicht begangen hat, und die er zu begehen auch außer Stände wäre.

»Papavoine weiß auch sehr wohl, daß, als er diese angeblichen Enthüllungen machte, er einen bestimmten Zweck in seinem Wahnsinn hatte. Er wollte untergehen, er wollte den Tod, die Hinrichtung. Und merken Sie wohl, meine Herren, unter welchen Umständen er sie machte. Am 15. sprach er zuerst davon, am 16. waren sie fertig. An demselben Tage wollte er, wie es Narrenart ist, Feuer anlegen an das Stroh seines Bettes, um die Flöhe zu zerstören, die ihn belästigten. Tages darauf, am 17., brach er in die heftigste Wuth und Thätlichkeit gegen einen seiner Mitgefangenen aus!

»Ist es denn möglich, meine Herren, ich frage Sie, in diesen verschiedenen Handlungen, die sich so aneinander drängen, die gemeinschaftliche Quelle zu verkennen, nämlich einen Rückfall in die Raserei, der möglicherweise durch die ganz neue Gesellschaft veranlaßt ist, in welche der Angeklagte gebracht worden, die Reden, die er da hören mußte, und er litt immer an Schlaflosigkeit! ...

»Aber Sie fragen noch immer nach dem Motiv des Verbrechens! – Ja, wenn wir der Anklage glauben sollten, hat sie es endlich entdeckt. Papavoine ist ein Ungeheuer, ein anderer Leger!

»Also, lieber als einen Wahnsinnigen entschuldigen, dessen Delirium ebenso bewiesen ist als seine vorwurfsfreie Moralitat, möchte man aus ihm einen Kannibalen machen, einen Vampyr, um ihn dem Henker zu überliefern!

»Dieses Motiv, meine Herren, lassen Sie nicht gelten. Es scheint Ihnen noch leerer, eitler, chimärischer als alle andern. Was bleibt aber dann vor Ihren Augen? – Ein Verbrechen ohne Motiv. Ich glaube nicht der Lüge gestraft zu werden, wenn ich behaupte, daß ein solcher Fall unter der Sonne noch nicht vorgekommen ist. Ein Verbrechen ohne Motiv! Fühlen Sie, meine Herren, was Alles dieses Wort umschließt? – Und welches Verbrechen! Der Meuchelmord zweier Kinder! Wer von Ihnen wird denn nicht ausrufen: Nein, der Mensch ist toll! Und doch, dieser triviale Ausruf, oder vielmehr diese naturgemäße Bemerkung hat Alles gesagt. Ja, dieser Mensch war im Delirium, das ist bewiesen. Das ganze Geheimniß des Processes ist uns enthüllt.

»Ehe ich ende, meine Herren, sei es mir vergönnt, an den Herrn Generalprocurator noch einige Worte zu richten, eine Betrachtung, die mir von Einfluß scheint für den vorliegenden Fall.

»Es gibt verschiedene Classen von Wahnsinnigen und Tollen. Solche, welche die Natur verdammt hat zum ewigen Verlust ihrer Vernunft; andere, die sie nur zeitweilig verlieren, in Folge eines großen Gemüthsschmerzes, einer furchtbaren Ueberraschung oder aus ähnlichen Ursachen.

»Sonst ist kein Unterschied zwischen beiden Tollheiten, als daß die eine kürzer, die andere länger dauert. Der, dessen Kopf die Verzweiflung auch nur auf einige Tage oder Stunden verwirrt macht, ist während dieser ephemeren Aufregung ebenso vollständig toll, als Der, welcher lange Jahre im Irrsein verharrt.

»Ist dies anerkannt, so wäre es eine höchste Ungerechtigkeit, den einen oder den andern dieser beiden Tollhäusler wegen einer Handlung zu bestrafen, die ihnen entschlüpft ist, während sie den Gebrauch ihrer Vernunft nicht hatten.

»Außerdem wäre es eine unnütze Ungerechtigkeit für die menschliche Gesellschaft. Denn da die Strafen nur (?) des Beispiels wegen verhängt werden, ist die Züchtigung eine Barbarei, wo das Beispiel null wäre.

»Ist das Beispiel aber gleich null, so wäre es nur Rache, die man an einem Verbrechen beginge, welches von einem Menschen begangen worden im Exceß der Wuth, der Liebe, der Trunkenheit oder der Verzweiflung. Denn das Beispiel kann nicht hindern, daß unsere Sinne nicht wieder fortgerissen werden, nicht hindern, daß nicht ähnliche Excesse und Verbrechen nach wie vor begangen werden. Noch weniger kann die öffentliche Todesstrafe, an einem Fieberkranken vollzogen, hindern, daß Andere in ein rasendes Fieber verfallen.

»Umsonst wird man anführen, hier sei doch aber ein Mord begangen, und der Mord müsse bestraft werden. Noch ein Mal sage ich, der Tod des Mörders gibt den Gemordeten das Leben nicht wieder. Wenn ein Wahnsinniger ein großes Unglück begangen hat, so ist er allerdings zu fürchten, so muß man ihn streng bewachen, meinethalben fesseln und einschließen; das fordert Gerechtigkeit und Vorsicht. Aber man muß ihn nicht aufs Schaffot schicken, das wäre Grausamkeit.

»Nein, meine Herren Geschworenen, Sie werden den Angeschuldigten nicht dahin schicken, Sie werden nicht die Menge beklagenswerther Opfer noch vergrößern wollen, von denen eine ärztliche Autorität gesprochen, Opfer, die weit mehr das öffentliche Mitleid als die Rache der Gesetze in Anspruch nehmen.

»In diesem Augenblicke, meine Herren, spreche ich nicht mehr zu Ihnen im Namen des Angeschuldigten. Denn was kümmert ihn, im Grunde genommen, der Ausspruch, den Sie thun? Leben oder sterben, es wird immer ein Henkerspruch für ihn sein. Verurtheilen Sie ihn zum letztern, so ist er nur der kürzere.....

»Aber ich spreche zu Ihnen im Namen einer 60jährigen Mutter, einer geliebten, hochverehrten Matrone, die von Schmerz und Unglück erdrückt ist...

»Ach, meine Herren Geschworenen, dieser Proceß hat uns nur zu furchtbar gelehrt, was es eine Mutter kostet, die ihre Kinder verliert!«

Es wird uns gesagt, daß der Ton der Stimme des jungen Advocaten, seine edle und rührende Haltung, das tiefe Gefühl, mit dem er sprach, die ganze Versammlung bewegt hätten. Man hätte nicht wärmer und hinreißender plaidiren können. Von allen Seiten empfing Paillet Händedrücke und Glückwünsche der ersten juridischen Notabilitäten von Paris.

Auch erwiderte der Generalprocurator nichts auf die Verteidigungsrede, und doch war sie ohne Erfolg.

Der Präsident resumirte klar und kurz die Thatsachen des Processes. Gegen 5 Uhr traten die Geschworenen zur Berathung ab. Um 6 Uhr kehrten sie zurück und erklärten Papavoine auf alle ihnen vorgelegten Fragen: Schuldig!

Der Präsident sprach das Todesurtheil aus. Auf Papavoine's Gesicht zeigte sich keine Aenderung. Er stand auf und sprach mit Ruhe: »Ich appellire an die göttliche Gerechtigkeit.« Dann richtete er einige Worte des Dankes an seinen Vertheidiger.

Papavoine legte ein Cassationsgesuch ein. Es ward verworfen. Die Familie kam mit einem Begnadigungsgesuch beim Könige ein; auch dies war vergeblich.

Seine That bleibt ein Räthsel, alle Schlüssel sind dazu verloren, oder man hat sie nicht zu finden verstanden; einen Nachschlüssel mag Jeder sich selbst fertigen. Nur die Nebenmotive scheinen durch die Untersuchung gründlich entfernt. In der Natur des Menschen selbst, in der geistigen Vorgeschichte des Verbrechers ist das Motiv zu suchen, eine Vorgeschichte, die uns nicht vorliegt, nach der man wahrscheinlich auch im Processe nicht auf die rechte Weise suchte. Doch hätte ein Umstand unsers Erachtens wenigstens vom Vertheidiger zur Sprache gebracht werden müssen. Angenommen, daß Papavoine durch das über ihn und seine Familie hereinstürmende Unglück in jenen Zustand der Schwermuth versetzt worden, wo er aus Haß gegen die Glücklichen und Unschuldigen zum Mordstahl griff, so entlud sich dieser Groll doch nicht im Augenblick, wo seine Aussichten ganz darniederlagen, sondern wo sich wieder durch die Aufträge der Regierung ein Lichtstrahl ihm zeigte. Angenommen, daß er die That in einem Anfall jener menschenfeindlichen oder menschenfreundlichen Melancholie beging – denn möglich ist auch letzteres, der Wahn, Unschuldige aus dieser Welt der Trübsale zu retten, ehe sie deren Druck empfanden – so ist es eine That, die wir Wahnsinn nennen, aber ein Wahnsinn, auf den die Richter dieser Welt keine Rücksicht nehmen dürfen. Der Wahnsinn, der sich nur in momentanen Ausbrüchen zeigt, und mit soviel Ueberlegung und Vernunft eingefaßt, ist der gefährlichste; seinen Wirkungen ist am schwersten vorzubeugen. So lange die Strafe auch als Nothwehr gilt der gefährdeten Gesellschaft, gegen den ihr täglich neue Gefahr drohenden Verbrecher, so lange die Todesstrafe Giltigkeit hat, konnte ein solcher Wahnsinn nur mit dem Tode bestraft und abgewehrt werden, ein Wahnsinn, der, eben nicht sichtbar, da hervorbricht, wo man seiner zum wenigsten sich versieht, der anfängt mit dem Ende, und gegen den Schloß und Riegel, ja die Aufsicht von Gefangenwärtern und Mitgefangenen nicht hilft. War Papavoine ein Rasender, den man ohne eine Verletzung heiligerer Menschenrechte an den Boden angeschlossen zeitlebens in Kerkermauern einsperren durfte? Und wenn man erwidert, und wir wollen es glauben, daß dieser Anfall, der Labiey traf, nicht wiedergekommen sein würde, so ist das ein Grund mehr, bei Jenem die Störung der Vernunft ganz zu bezweifeln und darin eine wohlberechnete Handlung zu erblicken. Es gibt einen Wahnsinn, der gefährlicher ist als die Tobewuth, und wenn die gewöhnlichen Mittel nicht ausreichen, uns davor zu schützen, ist der Tod das letzte, aber nicht das schlimmste, so lange die menschliche Gesellschaft das Gesetz der Nothwehr anzuerkennen genöthigt ist.

Am 24. März 4 Uhr Abends wurde Papavoine auf dem Grèveplatz hingerichtet, ohne neue Aufschlüsse zu geben.


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