Karl Adolph
Töchter
Karl Adolph

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Dreizehntes Kapitel

Zeigt, welch traurige und andere Folgen eine lustige Hochzeit nach sich ziehen kann. Die lustige Mirzl bereitet ihrem Vater ein unstillbares Herzweh. Poldi erlebt eine freudige Überraschung und gibt ein bindendes Wort.

Was ist Liebe? Es gibt so viele Erklärungen, als es Leute gibt, die diese müßigste aller Fragen aufwerfen. Am meisten ist die Erklärung der von diesem seltsamen Zustand betroffenen Personen in Betracht zu ziehen: daß nämlich die Liebe ein unerhörter Zustand der Glückseligkeit sei, der die halbe, wenn nicht die ganze Wonne des Himmels bedeute.

Da ich leichter geneigt bin, einem Betrunkenen zu glauben, sein augenblickliches Befinden sei ein über alle Maßen befriedigendes, als den Nörglern, die dieses Befinden als eine Art »Selbst-unter-das-Tier-geraten« bezeichnen (als ob ein Tier relativ und positiv etwas so Widernatürliches wäre), so leihe ich mein Ohr auch lieber denen, die von höchster Seligkeit sprechen, als jenen ausgebrannten Gehirnen und Herzen, die die Liebe ganz einfach »wissenschaftlich« werten 322 wollen; wie eine witzige Einrichtung der Natur, die einem Untergang der Rasse vorbeugen will.

Also mag auch nicht über die Berechtigung der lustigen Mirzl gestritten werden, sich in weiter nichts als ein wohlfrisiertes, leichtgewelltes, duftdurchzogenes Haupthaar und einen über alle Maßen schön geschwungenen Schnurrbart verliebt zu haben.

Mirzl war schon seit ihrer Kindheit eine mutterlose Waise. Eine in Monatslohn genommene Bedienerin hatte sich ihrer Erziehung und des Haushalts anzunehmen gehabt. Als aber Mirzl schulfrei geworden, übernahm sie aus eigener Machtvollkommenheit das häusliche Ressort. Sie war eines jener blitzblanken Mädchen, die selbst ohne besondere hervorragende Schönheit ein ästhetisches Wohlbehagen bei jedem Beschauer erregen. Zwei kohlschwarze Augen und zwei schneeweiße Zahnreihen schienen es auf eine Wette angelegt zu haben, welche von ihnen schöner und begehrenswerter sei.

Dem Vater war sie das, was Schneewittchen den sieben Zwergen gewesen sein mochte. Wenn er aus Hitze oder Kälte, aus Sturm oder Regen in sein kleines Heim kam, immer lachten ihm eine kleine schwarzäugige Fee und herzerfreuende, reinliche, blanke Häuslichkeit entgegen.

Die lustige Mirzl hatte ihren Namen erhalten, weil sie stets, im Gegensatz zu ihrem Vater, mit einem lachenden Gesicht gesehen wurde. Man konnte sich ihre Züge durch keine Grämlichkeit oder gar durch Tränen entstellt denken. Plauderlustig, aber nicht tratschsüchtig, war sie ein Liebling sogar ziemlich bissiger 323 Vertreterinnen ihres Geschlechts. An ihren Ruf wagte sich keine Verleumdung heran. Mirzl hielt auf ihre Ehre und wußte gewissen Nachsteigern, die in ihr ein leicht zu eroberndes Dienstmädchen vermuteten, wohl zu begegnen.

Herr Brückl vertraute seiner Tochter. Wenn man ihm gesagt hätte, die »Standratschen« werde einmal ihrer Schimpfgewalt müde werden, oder daß der Taxameter einmal eine obligatorische Einführung würde, oder daß . . . nun viel gewichtigeren Unglaublichkeiten hätte Herr Brückl ein geneigtes Ohr geliehen. Aber in seine Mirzl jemals irgend einen Zweifel zu setzen, wäre ihm gleichbedeutend mit dem zwangsweisen Verkauf seiner zwei Zeugeln gewesen. Mit letzterer Möglichkeit übrigens flunkerte Toberl gern. Er war ein Knicker und Sparmeister und Raunzer über die schlechten Zeiten. Wiewohl das Wort »raunzen« mehr in der moralischen Bedeutung genommen werden muß. Das heißt, auf teilnahmsvolle Fragen nach seinem Befinden und dem Geschäftsgang pflegte Toberl knurrend mit »ölendige Zeiten«, »höchste Stierität« und »ganz auf der Erd' sein« zu antworten.

Also Herr Brückl vertraute seiner Mirzl in dem Maße, als wäre sie sein gesetztes, behäbiges Eheweib gewesen.

Aber der »Kellerlacher« war eine innerlich gefestigte Natur, an die dank ihrer natürlichen phlegmatischen Veranlagung keine Sonderwünsche heranzutreten pflegten. Auch war für ihn die Zeit der Liebe und Rosen lange vorüber, über welchen einstigen Zustand ich reichlich Gelegenheit fände, mich zu verwundern.

324 Wie immer! Mochte die lustige Mirzl etwas von einer äußerst lebensfrohen Urahne geerbt haben – kurz, sie fühlte ihr junges, achtzehn Jahre lang pulsierendes Blut plötzlich in eine Temperatur versetzt, die kaltsinnige Gelehrte auf einen erhöhten, durch verschiedenerlei Bedingungen erzeugten Blutdruck zurückführen, gegen den schließlich die erleuchtetsten Leuchten der Wissenschaft eine christliche Ehe als Allheilmittel ins Feld führen, besonders wenn es sich um Persönlichkeiten handelt, die ich niemals in das Reich meiner Betrachtungen zu ziehen mich unterfange. – – – – –

Die lustige Mirzl wurde von Tag zu Tag unlustiger. Sie ließ das Köpfchen hängen wie ein frischgefangener Sänger des Waldes, plauderte nimmer so heiter mit den Nachbarinnen, dem Fleischhauer, der Milchfrau, dem Greisler, dem Bäcker, wie sonst und erregte allseitiges Kopfschütteln der Umgebung.

»Dem Madl muaß was fehl'n,« erklärte mit viel Einsicht in die menschliche Natur eine Nachbarin.

»Ob s' net am End' a hamliche Liab hat . . .«

»D' Mirzl? Da hätten S' Ihner damisch g'schnitten. Wann i für ane d' Hand ins Feuer leg', so für das Madl. Wissen S' . . . i hab' scho was mitg'macht auf der Welt und i waß aa, was in ihr vorkummt. Aber wia g'sagt, für das Madl . . . Machen S' das Ofentürl auf, daß i mei Hand hineinhalt.«

Mochte die Aufforderung nicht so überzeugend geklungen haben oder wollte die zweite Frau Nachbarin, die eben beim hocherhitzten Küchenherd stand, sich die Mühe ersparen, das Ofentürl zu öffnen – ich weiß es nicht; aber das Gottesurteil blieb unausgeführt, 325 zum Glück für die Dame, die sich die Hand nicht mit heiler Haut gerettet hätte.

Denn die lustige Mirzl war nimmer das, was sie sonst gewesen. Die lustige Mirzl war eine junge, vergrämte Frau geworden und hütete ihr Geheimnis mit der Ängstlichkeit, die nur Verbrechern zusteht.

Wie war denn all das gekommen? Wie konnte Mirzl von ihrem Engel verlassen werden, der sie bisher so treu behütet? Ach! Fleisch und Blut hatten eben ihr gewichtiges Wort gesprochen und ein mit dem Teufel im Bund stehender Friseur hatte eine so wundervolle Frisur komponiert und einen so raffiniert schönen Schnurrbart »ausgezogen«. Wahrhaftig, das waren die Klippen, an denen die arme, nun nimmer lustige Mirzl zerschellt war. Wie nach jedem Rausch, stellte auch hier sich der Katzenjammer bald ein. Wo Rettung suchen? Wo sie finden? Beim Vater?

Merkwürdig genug, daß in solchen Dingen die Väter immer das Schreckgespenst sind. Dieselben Väter, die mit keinem unbeladenen Gewissen einhergehen, die gleich dem Löwenzahn ihre Sporen in alle Winde getragen haben, da und dort ein neues Leben ersprießen lassend. Ein Leben, um das man sich gar oft nicht zu kümmern in der Lage, noch Laune ist.

Herr Brückl war Soldat gewesen. Wenn ihm die Gabe des Schmunzelns und der Renommage zuteil gewesen wäre, er hätte oft unter ersterem im Kreise guter Freunde von seinen einstigen Eroberungen sprechen können. Und ebenso Herr Trümmler, der es in früheren Zeiten mit Dingen der Moral sicherlich nicht so genau genommen, wie an dem Tage, da ihn seine 326 Tochter verließ. Erinnerte sich keiner von beiden wie so viele Tausende anderer Väter jener Töchter, durch die sie einstens andere Väter in Jammer gestürzt? Keiner jener Töchter, die vielleicht irgendwo in Verzweiflung für den Rausch einiger schöner Stunden zahlten? Was war es, das die ehrbaren Besitzer weiblicher Nachkommenschaft so streng sein ließ? Gerechtigkeit? Nein, die war es nicht, denn sonst hätten sie sich reumütig an die Brust schlagen und beteuern müssen: ich, ich habe selbst große Schuld auf mich geladen, vielleicht kommt sie mir an meinem Kinde heim.

Also die arme Mirzl wagte sich an niemanden um Rat, Trost und Hilfe zu wenden. Hätte sie sich doch der Freundin erinnert, der braven Annerl! Und derjenigen, die so rasch ihre Freundin geworden war und die sie in undankbarer Weise niemals mehr zu treffen versucht hatte. Seit dem Abschied an jenem verhängnisvollen Hochzeitsabend, wo sich Poldi und die Mirzl beim Abschied Gelöbnisse eines Wiedersehens gemacht hatten, war es zu einem solchen nimmermehr gekommen. Denn der Ladenadonis hatte nicht nur jeden ihrer Gedanken, sondern jede ihrer freien Stunden in Beschlag zu nehmen gewußt. Vielmehr unbewachte Stunden, denn an Zeit mangelte es Mirzl keineswegs.

Erst war ein verstohlenes Stelldichein geworden, dann immer mehrere und dann – man lese im »Faust« nach!


Es war ein Nachmittag am Standplatz, wie einer stets dem andern gleich. Nur herrschte vollkommene 327 Stille, denn Gustl war mit einer »Fuhr« unterwegs. Die Fiaker, die nicht gerade auch in Ausübung ihres Dienstes begriffen waren, vertrieben sich die Zeit in allbekannter Weise entweder auf der Bank vor dem Standgasthause oder in diesem selbst.

Der »Kellerlacher« stand bei seinem Zeugl und richtete einiges an dem Geschirr der Pferde. Die starren Mienen seines Gesichts drückten nichts weiter von Zufriedenheit aus, aber allem Anscheine nach, wenn von dem Zustande der zwei Rappen geschlossen werden konnte, mußte sich Herr Brückl in einem Zustande befinden, der auf äußerste Befriedigung deuten ließ. Oder war doch etwas wie Besorgnis vorhanden? Hatte das Auge des Vaters bemerkt, daß sein Kind nicht mehr die lustige Mirzl war? Daß die kohlschwarzen Augen nimmer lachten und die zwei weißen Zahnreihen sich nimmer enthüllten? Mochte dies alles der Fall sein – das unglückselige Maskengesicht Herrn Brückls, des »Kellerlachers«, war verdammt, weder Besorgnis noch Kummer, weder Leidenschaft noch Lust ausdrücken zu können.

Also Toberl stand bei seinen Pferden, als vom Ende der Gasse eine Frau herbeigeeilt kam. Es war eine Nachbarin. Diese zeigte ein hochgerötetes Gesicht, das einem eiligen Laufe oder einer großen Erregung zugeschrieben werden konnte. Bei Herrn Brückl angelangt, hielt sie keuchend an, um einige Augenblicke Atem zu schöpfen, dann rief sie dem Vater Mirzls einige Worte zu.

Und was war es? Welch fürchterlichen Inhalt besaßen diese wenigen Worte? Man sah den 328 »Kellerlacher« ein wenig wanken, bleich werden, soviel das die Kupferfarbe des Gesichts zuließ, und plötzlich niedersinken. Die Kollegen waren im Augenblick zur Stelle. Man hob den Ohnmächtigen auf, knöpfte ihm die Weste auf, spritzte, vielmehr schüttete ihm Wasser ins Gesicht und tat all das bei solchen Gelegenheiten Schickliche.

Mittlerweile hatte man aus der Frau, die in ein lautes Jammern ausgebrochen war, die inhaltsschwere Mitteilung herausgeholt, die imstande war, einen Mann vom Schlage Herrn Brückls wie einen vom Blitze getroffenen Baum niederzuschmettern.

»D' Fräul'n Mirzl hat si vergift't! O Gott! Wann i das g'wußt hätt', daß 's den Mann so packt . . . I hab' daham alles lieg'n und steh'n lassen und bin mit der Elektrischen herg'fahr'n, daß er sein Kind vielleicht do no seg'n kann. O das arme, arme Madl! Das anschau'n müassen, wia sie si g'wunden hat . . . Den ganzen Mund verbrennt . . . An' so an' Jammer möcht i bei an' Kind amal net derleb'n.«

Es war mehr die robuste Natur Herrn Brückls als alle Erweckungsversuche, die ihn in kürzester Zeit aus seiner Bewußtlosigkeit emporraffte. Er blickte einige Augenblicke verwirrt um sich, ersah die Hiobsbotin und war nun wieder der alte »Kellerlacher«, der mit seiner tiefen, teilnahmslosen Stimme fragte:

»Wo hab'n sie s' hing'führt?«

»Ins Triesterspital!«

Herr Brückl fragte nichts weiter. Mit der methodischen Genauigkeit, wie bei Gelegenheiten, da er 329 einen Fahrgast bekommen, richtete er die Pferdedecken zurecht, schwang sich auf den Bock, und der wohlbekannte leise Zungenschlag und ein Wehen der Peitsche ließ die zwei Rappen ausgreifen. Dann flog das Gespann dahin, als ob es keine Polizeiverordnung gegen wahnsinnig einherfahrende Fiaker gäbe.

Durch die Allee, die zum Spital führt, ging es noch – der bekannte Kutscherpfiff für den Portier, der das Gittertor weit öffnete – und zitternd und schweißtriefend hielten die Pferde mit einem jähen Ruck vor dem Hauptgebäude.

Herr Brückl wäre kein Fiaker gewesen, um nicht in alle seine Aktionen etwas von Ruhe, Überlegung und Sichauskennen zu legen. Vor allem wurden die dampfenden Pferde zugedeckt und die Decke festgeschnallt. Dann holte sich Herr Brückl in der Anstaltskanzlei die nötige Auskunft, wo sich seine Tochter befinde. Da der Besuch ein dringlicher war, wurde die Auskunft trotz der verspäteten Zeit erteilt und der arme »Kellerlacher« ging, um sein Kind womöglich noch lebend zu sehen.

Im Saale angekommen, trat ihm eine Schwester entgegen. Er brauchte nur einen Namen zu nennen – und die Schwester führte ihn mit einem mitleidigen Blicke durch eine Reihe von Betten, in denen lauter weißgekleidete Frauengestalten lagen, nach rückwärts.

Und da in einem Bette lag die lustige Mirzl. Ja, sie hatte es getan, die Unglückliche. Hatte die Tat verübt, deren sich so oft verzweifelte, kopflos 330 gewordene, arme Dinger schuldig machen; die Tat, die statt eines, zwei Leben hinweg tilgt. Was mochte alles vorhergegangen sein an fürchterlicher Angst, an Grauen vor der Zukunft, daß es das Grauen vor dem Tode überwand? Welche Nächte und einsame Tage, verbracht in einem Zustand der Fieberangst – und warum all dieses? Weil der »Kellerlacher«, so gut er in seiner Art zu seinem Kinde stand, plötzlich als ein fürchterlich drohendes Gespenst erschien: als der rächende, strafende, nie verzeihende Vater. Mirzl fühlte sich in Armut und Schande hinausgestoßen in eine düstere, verhängnisvolle Zukunft. Sie kannte ihren Vater nicht; wer weiß denn, was hinter dieser Maske lauerte an Strenge und Unerbittlichkeit. Und zudem die Schande, die Schande . . .

Dann, wie immer in solchen Fällen: der Geliebte hatte plötzlich all die schwere Bürde auf ihren schwachen Schultern allein gelassen. Denn Mirzl galt als armes Mädchen und der Delikatessenhändler, bei dem Ehrgeiz, Eitelkeit und Gewissenlosigkeit einander aufwogen, verwünschte dieses Abenteuer, bei dem sich ihm ein liebevolles Mädchen an den Hals geworfen. Sollte er in jungen Jahren mit einem Weib und Kind als Last, genötigt sein, fortan in dienender Stellung als einfacher Kommis zu verbleiben?

Herr Brückl hatte seine vorgebliche Armut (denn nur als solche konnte der Delikatessenhändler den kleinen Wohlstand für seine Verhältnisse und Interessen betrachten) nur allzu gut allen plausibel zu machen gewußt. Was ist ein Fiaker, dessen einziger Besitz in seinem Wagen- und Pferdematerial besteht, 331 wenn er gezwungen ist, damit die Bedürfnisse des einzelnen Tages zu verdienen?

Nicht daß Herr Zipfer Mirzl in bündigster Form den Abschied gegeben hätte. Er war nur ein Feigling, der sieht, daß eine »Dummheit« böse Folgen nach sich gezogen, und der sich durch Einstellung dieser »Dummheit« über die Schwere der Nachwirkungen zu täuschen sucht. Er war nun fast stets verhindert, denn Mirzls beschwörende Klagen waren unangenehm. Seitdem sie nicht mehr ihren Beinamen verdiente, war der Verkehr mit ihr keine Unterhaltung mehr. Wenn Mirzl irgendeine erfahrene Frau zur Seite gehabt hätte! Aber sie hatte seit jeher, trotz ihrer Beliebtheit, einsam gelebt. Die kleine Wohnung war ihr Reich, in das noch nie irgendeine Nachbarin die Nase zu stecken Gelegenheit hatte. Mirzl war isoliert durch ihre Anständigkeit.

Und so hatte sie in einem Augenblick jenes Wahnsinns, der aller Selbstvernichtung vorangeht, das Tötungsmittel der meisten Frauen aus dem Volke genommen. Sie trank Laugenessenz. Ihr Ächzen und Wimmern hatte die Nachbarn alarmiert. Man erbrach die Tür und fand Mirzl sich windend auf dem Boden der Küche, in die sie sich noch herausgeschleppt hatte.

Herr Brückl sah auf Mirzl. Herrgott im Himmel . . . Aber war das noch seine Mirzl? Dieses wachsgelbe Gesicht mit den verbrannten Lippen, dieser Körper, den manchmal das Zucken eines unerhörten Schmerzes durchbebte . . . Die Unglückliche hatte die Augen geschlossen.

332 »Mirzl!« sagte Toberl nach einer Weile regungsloser Betrachtung. Das Mädchen schlug schwer und langsam die Augen auf. Es trat ein Erkennen in sie. Der arme, sonst so plauderlustige Mund war stumm geworden. Aus dieser verbrannten Kehle, über diese verbrannten Lippen gelangte kein Laut mehr. Nur ein Verständigungsmittel war dem gemarterten Körper geblieben.

Mirzl faltete bittend die Hände und sah den Vater an. Die Schwester hatte inzwischen Toberl einen Stuhl gereicht und sich leise entfernt.

»Mirzl,« fuhr der Vater mit seiner tiefen, ausdruckslosen Stimme fort, »warum hast mir das nur an'tan?«

Die Befragte vermochte nichts anderes, als nach Art kleiner Kinder, die sich durch Bitten eine Gabe verdienen sollen, die Hände zu falten. Aus ihren Augen rollten schwere Tränen.

»Es war so unnötig, Mirzl, so unnötig! Hast denn vielleicht vor mir a Angst g'habt? I hätt' dir nix 'tan. Und hast denn gar net an dein' Vodan denkt, Mirzl, der di so gern hat g'habt, dem du sei Anzig's warst?«

Ein Pause trat ein.

»I hab' eigentli allani schuld, daß i 'glaubt hab', a jung's Madl is wia a alte Muatter,« begann Herr Brückl wieder, »und das is jetzt mei Straf'. Töchter sollt' man hüat'n wia a Bleamal, gar wann s' ka Muatta nimmer hab'n . . .«

Es ist unnötig, zu erklären, daß die Blicke aller Insassinnen des Zimmers auf die interessante Gruppe 333 von Vater und Tochter gerichtet waren. In jedem Herzen lebte ein Verdammungsurteil für den unnatürlichen Vater, der in einem solchen Augenblick mit so unbewegtem Gesicht an dem Sterbelager seiner Tochter saß.

Ach, wären auf alle diese Herzen die Tränen getropft, die der »Kellerlacher« in sich hineinweinte! Wie alles Lachen, durch die Maske gehindert, sich in das Innerste Herrn Brückls verbreitete, so auch das Weinen, dem neidische Augen keinen Austritt gönnten.

Längere Zeit saß er wieder schweigend da. Ein Zusammenziehen der Wülste über den Augenbrauenhügeln schien allein die folgende Frage vorzubereiten:

»Wer war's?«

Mirzl war wieder für einige Augenblicke in Teilnahmslosigkeit versunken. Bei dem Klange der Stimme des Vaters riß sie die Augen auf.

»I frag' di, Mirzl,« wiederholte dieser die Frage, »wer war's? Sag', is 's der, den i man' von der Annerl ihrer Hochzeit her? Wannst a net reden kannst, Kind, deut' mir's mit die Aug'n und i waß g'nua.«

Aber diese Dolmetscher richten sich mit einem jäh erschreckten Ausdruck auf den Vater, und Mirzl hob die gefalteten Hände so rührend, daß diese Geste, von einem Mieter produziert vielleicht sogar Herrn Weißmann von einer Pfändung abgebracht hätte.

Der »Kellerlacher« verstand und neigte das Haupt. Der Verführer war begnadigt.

334 Nun begann der große Kampf gegen den endlichen Bezwinger. Herr Brückl hielt die eine Hand seines Kindes in seinen zwei roten Fäusten. Nicht eine Sekunde des Anblickes ersparte er sich. Die Schwester, die herangetreten war und das Ende gekommen sah, wollte Herrn Brückl in sanfter Art darauf aufmerksam machen, daß seine Anwesenheit der Scheidenden nimmer zum Troste, ihm selbst jedoch zur Pein sei. Umsonst. Der »Kellerlacher« hielt aus.

Dann nahm er mit einem langen Blicke Abschied von dem Körper, über den die Schwester ein weißes Tuch zu breiten begann, legte für die Wohltätigkeitszwecke der Anstalt einen größeren Geldbetrag auf das Kästchen neben dem Bette und entfernte sich nach kurzem Gruße.

Nur bei der Stiege angelangt, mußte er sich eine Zeitlang an dem Geländer halten. Jetzt flossen wohl unaufhaltsam die heißesten Tränen, die geweint werden konnten, in das Innere Herrn Brückls.

Vom Spital fuhr er wieder zurück auf seinen Standplatz. Die Kollegen umdrängten ihn, man wollte Beruhigung über das Schicksal Mirzls haben. Sonst, wenn es ein anderer Mann gewesen wäre – ein Blick in sein Antlitz hätte genügt, um alles zu wissen.

»Wia geht's d'r Mirzl?« keuchte Gustl, der aus dem Gasthaus herausgestürmt kam. Die Nachricht, als er von einer Fuhr zurückgekehrt war, hatte ihn fast ebenso niedergeschmettert wie Toberl. Gustl war eine schwache, weichherzige Natur, die in natürlicher 335 Feigheit bestrebt war, das Unangenehme oder Schmerzliche eines Vorfalls durch irgendein Mittel zu lindern. Dieses Mittel fand die »Standratschen« stets in einem oder mehr Vierteln Wein. Er hatte vor der Rückkehr des Freundes gezittert, vor der Botschaft, die er bringen werde. Und zur Stärkung seiner Bereitschaft, vielleicht was Schreckliches hören zu müssen, hatte sich Gustl in das Wirtshaus geflüchtet.

»Wia geht's der Mirzl? . . .«

»Derer geht's guat,« klang es so teilnahmslos als Antwort, als hätte Herr Brückl eben zuvor sein Kind zu Hause gesund verlassen. Es mochte aber doch in einem gewissen Zittern des Tones was gelegen sein, das die anderen nicht mit einem »Gott sei Dank!« aufatmen ließ.

Gustl mußte das Entsetzliche erraten haben, denn er erhob urplötzlich ein Geheul.

»Toberl . . . du wirst do net sag'n, daß dein Madl am End' tot is? Toberl . . . die Mirzl . . . dein Madl . . .«

»Vur aner Stund' grad,« kam es mit einer schauerlichen Ruhe aus Herrn Brückls Tiefen.

Die Bestürzung war eine allgemeine. Man stand etwas so Elementarem, Unfaßbarem gegenüber, daß in den ersten Sekunden ein starres Schweigen herrschte. Dann löste sich der Bann in eine tumultarische Bewegung auf. Denn nicht nur Gustl war beim Nahen von Toberls Wagen herausgestürzt, ihm folgten das Wirtspaar, das Personal, anwesende Gäste. Die Wirtin, die Köchin, das Küchenmädchen brachen 336 in lautes Weinen aus. Die lustige Mirzl tot! Unmöglich!

Herr Brückl berichtete in seiner kurzen Art über die letzten Augenblicke seiner Tochter.

»Jessas, Maria und Josef,« schluchzte die Wirtin, »warum hat s' das 'tan?«

Die Frage lag offen und war nur allzu berechtigt. Herr Brückl schwieg und man ehrte sein Schweigen. Man wußte genug. Wenn junge Mädchen, die sich bisher der Bezeichnung »lustig« als schmückenden Beinamens rühmen durften, in den Tod gehen, so gibt es nur eine einzige einwandfreie, einleuchtende, durch nichts zu widerlegende Begründung: der Mann.


Es besteht eine mathematische Erklärung für das, was wir Zufall nennen. Daß sich nämlich zwei Ereignisse in zwei exzentrischen Kreisen bewegen und daß beim Zusammentreffen dieser Ereignisse oder auch Vorfälle im Schnittpunkte der zwei Kreise das entsteht, was wir, wie gesagt, Zufall heißen.

Wohl in diesem Sinne kann es genommen werden, daß zur selben Stunde, als Herr Brückl einsam auf dem Bocke seines Wagens sitzend (man hatte seinen Schmerz geehrt und ihn allein auf seinem Lieblings- und Sorgenplatze gelassen) wer weiß welche Gedanken in seinem Hirn kreisen ließ und ohne von seinem Posten zu wanken, sich in Trauer um sein Kind zerfraß, ein Paar durch eine Straße schritt.

337 Von diesem Paar sprach der eine Teil sehr eindringlich, während der andere, der weibliche Teil, zwar ernst, aber doch mit stiller Beglückung zuhörte.

Diese zwei Tatsachen: der auf seinem Bocke einsam trauernde Vater und das dahinwandelnde Paar hatten von einem einzigen Punkte ihren Ausgang genommen. Dieser Ausgangspunkt war das Standgasthaus gewesen, zur Zeit der Hochzeit von der Tochter des Sedlmaier Gustl. Zwei Ereignisse hatten im gleichen Augenblick ihren Flug in der einmal in sich selbst zurückkehrenden Linie des Kreises genommen. Kurz, um nicht mehr »mathematisch« zu sprechen: an bewußtem Abend hatte die lustige Mirzl ihren Adonis und Poldi ihren Siegfried kennen gelernt. Und zur selben Stunde, wo der Körper der ersten auf einer Bahre in der Prosektur seiner Zerschneidung entgegenharrte, gab Julius seine feste und unumstößliche Absicht zu erkennen, Poldi zu seinem Eheweib zu machen.

Ja, es war so gekommen, wie es im Interesse einer schönen menschlichen Rasse zu hoffen wäre, daß solches öfters geschähe. Daß Menschen von so sieghafter Schönheit sich paarten und ein Geschlecht erzeugten, das eine Kampfkraft gegen unsere ausgemergelte Zeit des Hungers, der Tuberkulose, der Syphilis bilden würde. Abgesehen von den Eigenschaften nichtkörperlicher Natur.

Julius' Mutter war vor einigen Wochen gestorben mit der Sehnsucht, ihren Platz möge eine ihres Sohnes würdige Frau einnehmen. Ihr letzter und bester Segenswunsch war dies gewesen, da sich die 338 alte, gelähmte Dame der Gefahr sehr wohl bewußt war, die ein so schöner und junger Musikant lief, ohne irgendeine ordnende weibliche Hand in seiner Häuslichkeit, sei es nun die einer Mutter, Schwester oder Gattin. In diesem Sinne hatte sie den Sohn in letzter Zeit oft beschworen, auf vier Dinge bei der Wahl einer Frau zu achten: Reinheit, Reinlichkeit, Güte und Geist.

Das jähe, unvermittelte Abscheiden der alten Dame hatte den Sohn verhindert, von einer zu sprechen, die in seinen Augen und in Wirklichkeit diese Tugenden besaß.

Julius, der pietätvoll war, wie es ein Sohn nur sein kann, hatte sich entschlossen, einige Wochen über das Begräbnis hinaus mit seiner Werbung zu warten. Andererseits fühlte er, daß eine endgültige Erklärung notwendig geworden sei, um bei Poldi kein Mißverständnis über seine ernsten Absichten aufkommen zu lassen.

Und zur Stunde geschah es. Und es geschah ganz einfach, nicht vielleicht im Stile des Abschiedes Julius des Ersten.

». . . I kenn' Ihner, Polderl, reden S' nix! Ehrlich g'sagt, kenn' i überhaupt die Weiber. No halt . . . no ja . . . wissen eh . . . hm! . . . was ma' halt Weiber haßt, die net zum Heirat'n san. Und wann s' no so nobel san. I hab's meiner seligen Muatter am Totenbett versprochen, daß i mi net wegwirf. Jetzt können S' seg'n, was mei' Muatter für a Frau war und was Sie für a Madl san, daß i glaub', mein Wort halten z' können. Also werd'n S' ja sag'n?«

339 Dieser Auftritt hatte mit der Abschiedsszene von Julius dem Ersten insofern etwas verblüffend Gemeinsames, als Poldi plötzlich stehen blieb, ihre Hand auf den Arm ihres Begleiters legte, ihn zum Stehenbleiben zwang und sehr ernst sprach:

»Herr Julius . . . was a arm's Madl, wia i, jemals hätt erhoffen können, heut trag'n S' mir's an. Aber i bitt Ihna um an's: täuschen S' Ihna net! Sie wissen do, wia's bei mir z' Haus steht. Mei' Familie is, so ehrenhaft als s' is, bis auf mein' Bruadern, ka Zuawachs, den man si gern wünschen möcht'. Andererseits san meine Leut' aa mein all's und anzig's. So wia Sie an Ihrer Muatter g'hängt san, häng' i an die Meinen. Und auf ihr'n Tod vielleicht warten? . . .«

»Ah! Wer red't denn von so was? Wissen S', i werd' Ihnen aufrichtig was sag'n. Schwiegereltern passen nia in an' Haushalt von junge Leut'. Es is schon a alte G'schicht, bleibt aber doch ewig wahr. Sag'n S', was hab'n Ihnere Leut' z' Haus? I kann mir's vorstell'n. Die zwa armen Hascher! . . . Jetzt . . . aber derschrecken S' net! Mir tan die zwa Leut in d' Versorgung. Lanz is ka Bäckernhäusl mehr. Auf meine Kosten kriag'n s' a Zimmer für Eh'leut. Und dann extra no, was d' Muatter für a Schalerl Kaffee, der Vater für a Glasl Wein, a Packl Tabak oder a Zigarrl braucht. Abgeh'n soll eahna nix, Fräul'n Poldi, das schwör i Ihner. Hamsuachen können s' uns, wann's eahna g'freut. Was sag'n S' dazua?«

340 »Und d' Katherl?«

»Bleibt bei uns. A jung's G'sichterl hab' i no immer vertrag'n. Scherz beiseite . . . daß 's ihr net am End' so geht wia . . . Sie wissen ja . . .« Er meinte Reserl.

Poldi blieb eine Weile sinnend stehen.

»Und Sie glaub'n, daß 's Ihner nie reu'n möcht' mit mir? San S' net harb . . . aber unserans is immer a bißl mißtrauisch . . .«

»Mißtrauisch? Geg'n mi', Fräul'n Poldi?«

»Geg'n Ihner? O na. Aber geg'n 's Schicksal, das uns arme Leut' immer a Zeitlang für an' Narr'n halt und dann . . .«

»Ihner Schicksal bin jetzt i,« sagte Julius wohl mit mehr Anmaßung, als ihm zustand, die ihm aber unendliche Würde verlieh, und die glückliche Poldi in Tränen ausbrechen ließ.

»Geh'n m'r weiter,« sagte sie und zog Herrn Julius etwas heftig an sich. »Was i g'sagt hab' und Einwendungen g'macht hab', war weg'n Ihner. Daß i aber in mein' Herzen tausend und hunderttausendmal ja sag' – Julius, können S' mir ehrlich glaub'n.«


Es war viel später als sonst, da Poldi heimkam. Vor allem hatte sie es für notwendig gehalten, auf ihrem Spazierweg ihrem Bräutigam das Geheimnis ihrer ersten Zuneigung zu einem anderen Julius zu gestehen, einer Zuneigung, die nun schon so lange welkte als die Rose in der hintersten Ecke der Schublade. Und Julius der Zweite war sonderbarerweise 341 gar nicht unangenehm berührt. Die welkende Rose schien ihm zu behagen. Wenn ein Mädchen keine anderen Geständnisse zu machen hat, als die des zweiten Kapitels, ist es für einen Bräutigam gut . . .

Zu Hause fand Poldi zu ihrem Erschrecken Annerl mit verweintem Gesicht vor. Die junge Frau war in der Fassungslosigkeit ihres Schmerzes gleich zu Poldi geeilt. Diese, in ihrem Liebesglück, erfuhr es jetzt, das grausame Schicksal der armen Mirzl . . . 342

 


 


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