Karl Adolph
Schackerl
Karl Adolph

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Siebentes Kapitel

(Schildert einige weitere Reize des Saltnerschen Hauses. Peperl spielt ein wenig Sancho Pansa und es erscheint ihm eine unverhoffte Retterin)

Grüße mir meine Gasse, weilende Erinnerung! Grüße Herrn Saltners Haus, Herrn Saltners Hof mit seinem grünenden, schattigen Nußbaum, seinem grünen, rotkäppigen Brunnen und dem biederen, klotzigen Hackstock!

Grüße mir seinen streng behüteten Weinstock und sein liebliches Gärtchen mit den schimmernden Glaskugeln, die im Sonnenschein so hell blitzten und sich mit den stets reinlichen, blanken Mauern um die Wette freuten, da sein zu dürfen und Behagen zu erwecken!

Grüße mir die nun entweihten Wohnfenster, hinter denen heute schmutzige Leute mit Pappschachteln hantieren, hinter denen jedoch damals Frau Rosa einen friedlichen Wöchnerinnenschlaf schlummerte, der nur durch leise Traumanwandlungen gestört werden konnte: die ganze Welt nämlich hätte sich verschworen, sie des kleinen 141 Bündels an ihrer Seite zu berauben, aus blassem Neide allein über einen so unendlich kostbaren Besitz!

Grüße mir Herrn Kolb und Peperl! Grüße mir die kinderreiche Beugler-Bag . . . (bald wäre ich in Herrn Kolbs Dialektik verfallen) die Beugler-Familie! Grüße mir die alte scharfzüngige Hebamme und den Menuett tänzelnden alten Doktor.

Grüße alles! Am meisten jene harmlose, noch nicht allzu lange vergangene Zeit, die die rauhen Konflikte unserer Tage nicht ahnte.

Am wenigsten ahnte sie aber meine selbst vom damaligen Zeitgeist übersehene Gasse. Sie strahlte noch im Schwindsuchtsrot von Biederkeit, Albernheit, Geschwätzigkeit und eines gesetzten Arbeitsfleißes.

Man holte damals in ihr noch tief und lange Atem. Man schlenderte statt zu hasten und machte die vergnügliche Erfahrung, daß sich dadurch der Weg bis zur Grube um ein Bedeutendes verlängere.

Man war in seinen Vergnügungen noch sehr anspruchslos und mäßig. Bänkel- und Volkssänger, Theater mit viel Posse, Kegelschieben und Kartenspielen und ein wenig Spazierengehen, 142 wenn man den Frieden der großen, schönen Höfe nicht einer strapaziösen Fußtour vorzog.

Gnade dir Gott, meine kleine Gasse! Ein Weilchen noch und der letzte deiner alten Ziegel ist gefallen.


Da die sich überstürzenden, oft atembeklemmenden Ereignisse in Herrn Saltners Haus sowohl wie in dessen näherer Umgebung mich nötigten, von Schilderungen etwas untergeordneter Natur abzusehen, so will ich bei solchen einstweilen eine kleine Rast tun.

Herr Saltner war, wie schon erwähnt, ein sehr behäbiger, wohlwollender, friedfertiger, etwas pedantischer, aber sein Haus und sein Gärtchen mit allem Rechte liebender Hausherr. Er genoß in weitem Umkreis ein uneingeschränktes Ansehen. Von weitem lüfteten Männer und Knaben die Hüte, knicksten Frauen und Mädchen, wenn der alte Herr durch die Gasse schritt.

Es war damals für einen wohlwollenden und noch besser wohlhabenden Mann leicht, gut zu sein. Es gab eine Trauermiene der Armut, aber keine Fratze des verkommenen Elends. Hielt die Population gleichen Schritt mit der Ernährung oder umgekehrt – kurz, das menschenentwürdigende, häßliche, unästhetische Elend unserer Tage war noch unbekannt.

143 Unbekannt alles, was heute an unsere Nerven rührt. Die Weiber krochen nach guter alter Sitte ins warme Ehebett und machten nicht eine unliebsame Konkurrenz demjenigen, den sie in Wirklichkeit alle so gern untertan sein würden.

Man kannte noch keine Kontoristinnen, Buchhalterinnen, Tippmamsells, Stenographinnen, Post- und andere Beamtinnen, keine Studentinnen und keine weiblichen Advokaten und Ärzte. Man mag einwenden, daß die Notwendigkeit heute so gebiete. Da ich aber, durch Erfahrungen belehrt, eine Notwendigkeit niemals mit einer Annehmlichkeit verwechsle, sei mir gestattet, mit Trauer an jene Zeit Herrn Saltners zurückzudenken, die um so vieles unkomplizierter war als die unsere des unbarmherzigsten und niedrigsten Kampfes: um ein bißchen Platz am Futtertrog . . .

Doch ich vergesse ganz Herrn Saltners Menagerie. In dem Gärtchen kroch vor allem eine als uralt in Ruf gekommene Schildkröte umher. Sie gab Anlaß zu den tiefsinnigsten zoologischen Erörterungen. Nicht nur seitens der Hausparteien, wie ich wohl nicht erst zu erwähnen brauche. Aber alle Dinge, die Herrn Saltners Haus betrafen, waren leidenschaftlich umstrittene Objekte für die ganze Gasse, und deren männliches Sprachrohr 144 (von dem weiblichen zu schweigen) das einzige Gasthaus Herrn Zauners.

Von besagter Schildkröte wurden fabelhafte Historien erzählt. So sollte sie weit mehr als hundert Jahre alt sein, ja es sollten sich noch Erinnerungen aus der Türkenzeit an sie knüpfen. Man diskutierte im besagten Gasthause manchmal sehr erregt die Frage, welcher Belastungsprobe der Schild des Kriechtieres eigentlich gewachsen sei.

»Mit an' Handwagl, und wann's no so gupft voll is mit Erdäpfeln, druckst es net z'samm', dös Viech«, erklärte der Grünzeughändler.

»Was? . . . Dein Wagerl mit dö paar Erdäpfeln? Laß di net auslach'n! A Möbelwagn kann drüber fahr'n und nix is dem Luader g'scheg'n.«

Einer verstieg sich sogar zu der zwar sehr bestrittenen Annahme, daß ein voller Lastzug der Schildkröte auch keine irgend nennenswerte Beklemmung zu verursachen imstande sei.

Herr Saltner ließ sich derlei Behauptungen mit vielem Behagen übermitteln und hätte sich niemals einen Zweifel an ihnen gestattet.

Aber trotzdem, wenn ihm einmal auf den feingeharkten Kieswegen des Gärtchens die Schildkröte entgegengekrochen kam, die ihren Herrn wohl zu kennen und sehr zu lieben schien, hob dieser 145 mit vieler Behutsamkeit das jeweilig ausschreitende Bein, um ein Geschöpf nicht unversehens zu treten, das gelegentlich einem Lastzug Widerstand bieten konnte.

Weiter befand sich in dem Garten ein eigentümliches Gerüst, einem altertümlichen, eingeschrumpften Galgen nicht unähnlich. Auf der Querstange hockte ein schon ziemlich kahlköpfiger Rabe mit einem jüngeren Genossen.

Auch auf diesen Teil seines zoologischen Besitzes tat sich Herr Saltner viel zugute. Er konnte um die Wette mit den beiden Gesellen den Hals zur Seite neigen, dann ein und später das andere Auge zudrücken und sich einem kurzen philosophischen Schlummer hingeben. Eigentlich schlummerte oder »tunkte« der würdige Hausherr niemals, wenn man seinen Behauptungen trauen darf. Er dachte nur nach. Dasselbe wurde von den beiden Raben behauptet, die wie alle Raben mit einem großen Innenschauen begabt sein sollten.

Herr Saltner vermochte oft den Wundern seines Besitzes nicht vollständig gerecht zu werden mit seiner Teilnahme.

Denn an einem Baume befand sich noch ein Starenhäuschen befestigt. Und die Nistzeit erforderte des Hauspatriarchen so uneingeschränkte Aufmerksamkeit, daß die schwarzen Philosophen 146 auf ihrem Galgen (vielleicht träumten sie von den besseren Zeiten, da ihre Vorfahren auf wirklichen Galgen hockten) sich eine gewisse Vernachlässigung gefallen lassen mußten, die aber in diesen Tagen außer ihnen und dem Genossen Schildkröte noch ein anderer teilen mußte.

Das war der »Hansl«. Welche Begriffe deckt dieser Diminutiv nicht! In diesem Falle jedoch einen, wie er sich nur als höchste Spezialität realisieren kann: einen wahrhaftigen, stelzbeinigen, wenn auch flügellahmen Storch.

Das ganze Haus, die ganze Gasse, selbst eine beschränkte weitere Umgebung betrachteten ihn als größten Stolz und Seltenheit. Er war den Kindern der am meisten mystische Vogel. Ach! Raben werden uns erst viel später bedeutsam als Mahner und Künder.

Wenn sich jemals die Bewohner der Gasse über die Förderlichkeit des Fremdenzuflusses bewußt gewesen wären (Segen auf sie, daß sie sich dessen jedoch nicht bewußt waren!), und wenn sie die Bedeutung der verschiedenen Sterne im Bädeker gekannt hätten, ihr Ausspruch dürfte Herrn Saltners Haus mit einem Stern erster Größe bedacht haben. Schon wegen seines »Hansls«.

Wenn dieser (mit seinem Herrn im Einverständnis) gelaunt war und er die Gittertür des 147 Gartens offen fand, machte er gravitätische Spaziergänge im Hofe, die er dann bis auf die Gasse auszudehnen pflegte. Ein gänzlich ungefährliches Beginnen damals selbst für einen flügellahmen Storch. Die Technik lag noch in den Windeln und keine schnaubenden, rasenden, knatternden, übelriechenden Ungeheuer konnten das kostbare Leben »Hansls« gefährden, der sich überdies im Bewußtsein seines Gebrechens und seiner sonstigen Geborgenheit niemals weiter als um eine Häuserlänge entfernte.

Dann gab es aber ein Hallo! Die Kinder klatschten vor fast wahnsinniger Freude in die Hände und schrien unausgesetzt: »Hansl! Hansl!« Das lockte die Großen vor ihre Laden und Werkstättentüren und an ihre Fenster – und alles lachte vergnügt, bejubelte »Hansl«, der steif umherstelzte, gelegentlich seine typische Einbeinstellung annahm und sich mit dem Schnabel das Gefieder richtete.

Oben in seinem Rundfenster stand dann gewöhnlich das Ehepaar Saltner (der Hausbesorger war der Behüter des kostbaren Vogels) und freute sich in das Innerste seiner ausgedehnten Leiblichkeit über einen solchen Besitz.

Man sieht, daß der alte Hausherr allen Anlaß hatte, sich seines Lebens zu freuen, und er genoß es auch mit Bedacht und Gründlichkeit. Der frühe 148 Morgen schon sah ihn mit seinem Gärtchen beschäftigt, das er unter Beihilfe seines alten Hausmeisters pflegte. Dann folgten Frühstück, Kirchenbesuch, Schlendern über den Naschmarkt, Mittagessen, Nachmittagsschläfchen, Kaffeehaus. Jenes trauliche alte Kaffeehaus, das weniger Luxus, Beleuchtung, Überschwemmung mit den unmöglichsten Zeitschriften, Weiber mit Riesenhüten, poetasternde Jugend, unheimlich geschäftige Kellnerschar, dafür aber eines kannte, was uns unwiederbringlich verloren ist: Behaglichkeit und gesetzte, aber herzliche Lustigkeit.

An schönen Abenden saß das Ehepaar Saltner in seinem Garten auf einer weißgestrichenen Bank gleich einem liebenswürdigen Herrscherpaar, das in geziemender Entfernung von seinen Untertanen Hof hält. Die Kinder mochten im Hofe tollen und schreien wie sie wollten, die Weiber schwatzen, die Männer debattieren, die zwei Alten lächelten und nickten allen zu, den Großen wie den Kleinen. Und wahrhaftig, wenn es schöne Menschlichkeit und menschliche Glückseligkeit gibt, so besaßen sie Herr Saltner und seine Frau.


Herr Kolb hatte sich von den süßen Schrecken seiner ersten Vaterschaft, den schweren eines Katers und den fürchterlichen seines Zusammentreffens 149 mit der Schaffnerin erholt und durch das Wiedersehen mit Roserl soweit gestärkt, daß er die Pflichten des Alltags ins Auge faßte.

Zu diesem Behufe begab er sich nach der Werkstätte zurück, wo er seine Leute schon bei ihrem Tagewerk fand. Peperl war an den Blasbalg gestellt worden als bestes Mittel, seinem verkaterten Gemüt auf die Beine zu helfen.

Hätte der Meister nicht selbst einigermaßen Butter auf dem Kopfe gehabt, wären nicht die Hohnreden der Schaffnerin und die Fürbitte Frau Rosas gewesen – Peperl stand noch nie einer solchen toten Gewißheit gegenüber, tüchtig gebleut zu werden, als zur Stunde. Aber der Gestrenge würdigte ihn keines Blickes, was die seelischen Qualen des pflichtvergessenen Lehrjungen steigerte, der in der nicht unbegründeten Anwandlung von Furcht lebte, aufgeschoben sei nicht aufgehoben.

Für Herrn Kolb selbst war auch heute noch kein Werktag. Es traten einige andere Pflichten an ihn heran, die ein kinderloser Ehemann ganz einfach nicht kennt. Aber ein so umsichtiger Geschäftsmann er war, so stand der Hausvater in Herrn Kolb diesem nicht nach. Da auch für den heutigen Tag die Magenfrage noch durch die Küche des Zaunerschen Wirtshauses ihre Lösung finden mußte, so erschien, bald nachdem sich der Meister 150 entfernt, eine andere Persönlichkeit auf dem Schauplatz.

Und diese Persönlichkeit war niemand anders als der diskussionslustige Heinrich, der mit einer Trage angekeucht kam, die einige Schüsseln duftenden, saftigen Gollasch, einen Laib Brot und als Andeutung, daß die Vaterfreudigkeit Herrn Kolbs noch ihre Nachwirkungen zeigte, einige Liter Bier enthielt.

Es gibt Menschen, die von ihren Unterstellten das Unmöglichste verlangen können an Arbeitslast und Kraft. Es würde gemacht, ganz einfach, ohne Widerrede, kraft eines suggestiven Willens oder unter dem Einfluß einer Volkstümlichkeit, die Erdgeruch hat.

Hätte der Meister im Augenblick all diesen mit schnuppernden Nasen dastehenden, vor Freude grinsenden Gesichtern aufgetragen, eine für zwei Arbeitstage bestimmte Leistung in einem fertigzustellen, sie hätten nicht eifriger und willenskräftiger der Initiative gehorchen können als jetzt, da sich alle auf die Schüsseln stürzten und sie im Verlauf einiger Minuten so blank ausgeputzt hatten, daß das Abwaschmädchen in Verlegenheit kommen mußte, ob sie an dem Geschirr noch ihre Handfertigkeit zu erproben habe. Der Laib Brot löste sich förmlich unter den Blicken in ein Nichts 151 auf. Das Bier floß wie aus der Piepe durch die Kehlen, um den etwas scharfen Eindruck des roten Pfeffers zu mildern.

Peperl, der ungeachtet des Bannes, der auf ihm ruhte, dieses beste aller Wiener Katerfrühstücke in der ihm zukömmlichen Portion erhielt, fühlte es wie ein Auftauchen aus allertiefster Bedrängnis. Man mag sagen, was man will, der Magen regiert die Welt. Ich könnte mir wahrhaftig nicht vorstellen, daß man mit einer Indisposition dieses wichtigen Muskels etwa »Lieder zum Lobe der Geselligkeit, des Weines und der Liebe« dichten könnte.

Heinrich hatte dem ganzen Beginnen mit schweigender Sympathie zugesehen. Wenn er imstande war, auf irgendeinem Felde tüchtige Leistungen zu würdigen, so auf dem des Essens. Und da sich sein Herz einmal erwärmt fühlte und die Gelegenheit günstig schien, ohne Zensordruck seines Herrn einen kleinen Plausch einzuleiten, begann er:

»A Gollasch iß i aa gern. Und a Banfleisch iß i aa gern. Und a G'selcht's iß i aa gern.«

Man war in der Laune, Heinrich auf seine Kosten kommen zu lassen.

»Und was ißt denn net gern?« fragte der Altgeselle mit so viel Ernst, als die Angelegenheit verdiente.

152 »A Brot iß i net gern, a Einbrennsuppen iß i aa net gern. Und einbrennte Erdäpfeln iß i aa net gern.«

»Sixt, Heinrich, da hast recht. Das ess'n m'r alle aa net gern. Trinkst aber gern was?«

Heinrichs Auge leuchtete.

»O ja, an' Wein trink' i gern. I trink' immer an' Wein«, fügte er schlau hinzu und stierte im Kreise herum, um alle auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß dieses Trinken eine geheime Tat sei und dafür gelten müsse.

Dann, von dem Übergewicht an Eindrücken fast niedergeworfen, suchte sich sein Geist in die Höhe zu ringen. Die kausale Verbindung zwischen Wein und dem gestrigen Tage lag sehr nahe. Triumphierend hob er wieder an:

»Gestert is damisch g'soff'n wurd'n bei uns. Alle ham an' Rausch g'habt. D'r Herr Kolb hat aa an' damischen Rausch g'habt. Hihihi! Und d'r Peperl hat aa an' damischen Rausch g'habt.«

Es schien, als ob plötzlich alles Interesse an Heinrichs Diskussionskunst sich verflüchtigt habe. Denn ehe er noch imstande war, die Wirkung seiner feinsinnigen Beschreibung der Ereignisse des gestrigen Tages abwarten zu können, sah er sich auf die Straße gesetzt.

Er kam erst wieder einigermaßen zur 153 Besinnung, als ihm Peperl seine Trage mit den Gläsern hinausbrachte und hochrot vor Entrüstung ihm einige Püffe als Zugabe versetzte. Auf diese hin nahm er seine Last auf, heulend wie ein kleiner Junge und nach dessen Art sich die vertränten Backen reibend.

Peperl, der sein seelisches und moralisches Gleichgewicht gefunden hatte, trabte nach seiner Werkstätte zurück mit dem Bewußtsein, nunmehr die Vergehungen des gestrigen Tages hinreichend gesühnt zu haben.

Nach dem Frühstück begann die Fortsetzung des Tagewerks der Hilfskräfte in der Art, daß sie sich vorerst mit Blicken ansahen, die weder das Bewußtsein der Würde und des veredelnden Einflusses der Arbeit, noch die Anerkennung ihrer absoluten Notwendigkeit ausdrückten.

Der gestrige ungewohnte Ruhe- und Zechtag lag noch in aller Erinnerung und Gliedern.

»Wann ma an' Teil von dem hätten, was ma gestern z'viel g'habt hab'n«, meinte ein Geselle, »so kummert's grad g'leg'n.«

»Meiner Seel' . . . jetzt, auf das Gollasch und auf das Bier hin so an' Wein . . .«

Der Altgeselle sagte nichts, sondern begab sich nach dem Hintergrund der Werkstätte, wo er in einem tiefen Winkel kramte. Nachdem einige 154 Holzstücke beiseite geworfen waren, kam etwas zum Vorschein, was sich beim hellen Lichte als ein tüchtiger und dabei gefüllter Steinkrug erwies.

Der Wackere hatte die Schlauheit besessen, von dem gestrigen unkontrollierten Überfluß, unbemerkt von den anderen, einen »Nottropfen« zu retten, wie er sich ausdrückte.

Ein Freudengeschrei begrüßte die Idee. Das einzige in der Werkstätte befindliche Halbliterglas wurde gefüllt und machte die Runde. Peperl, in Erinnerung an das gestrige Übermaß, schüttelte sich. Es stieg ihm jetzt noch säuerlich auf.

Der erste Geselle merkte diese Widerwillensäußerung und rief:

»Peperl, da kumm amal her.«

Der Gerufene folgte ganz ahnungslos.

»Du, Peperl, sag' amal«, nahm der erste wieder das Wort und hielt ihm das gefüllte Glas dicht an die Nase, »möchst net trinken? Trink' aus, is ja gnua da.«

Die anderen horchten hoch auf. Eine solche Rücksicht wäre dem Verbrecher gegenüber doch gar nicht am Platze gewesen. Aber bald fingen sie ein verstohlenes Zwinkern vom Auge des vierten auf, das die Vorbedeutung einer »Hetz« sein sollte.

»O Gott na«, sträubte sich Peperl, »kan' Schluck, net um a G'schloß. I vertrag' kan' Wein.«

155 »So? Das is m'r das neueste. Seit wann is das? Hast di eppa verlobt drauf, daß d' kan' Wein mehr anschaust?«

Er schöpfte noch einen anständigen Zug, stellte das Glas beiseite und hub wieder an:

»Pass' amal auf. Erklär' m'r das, wia ma so in an' Tag alle Kirch'n a'straf'n kann. Da muaß aner rein 's Fliag'n g'lernt hab'n. Jetzt stell' d'r vor, i war' die erste Kirch'n, wo du das allererste Bittopfer für die Frau Masterin 'bracht hast. Sunst war' die G'schicht' net so guat aus'gangen. Dort d'r Hubert is die zweite, net wahr? Wia kummst durt am g'schwindesten hin?«

Peperl, dem der Ernst der Situation klar wurde, wollte sich rasch salvieren. Aber schon hatte ihn der Geselle bei den Ohren erfaßt, ihn umgedreht, den Oberkörper seines Opfers so tief gezogen, bis dessen ausladendster Teil so recht zur Disposition stand, und es mit einem Fußstoß seinem Gegenüber zugesendet, das Peperl in seinen freundschaftlichen Armen auffing.

Mit der genialen Intuition, die die meisten Menschen in solchen Sachlagen auszeichnet, hatten die anderen die humoristische Idee aufgegriffen.

Der zweite hatte die Manipulation des ersten wiederholt. Im Nu hatten alle einen Abstand zueinander genommen, wie die Ecken eines 156 Quadrats, und nun begann mit Peperl ein Spiel, das dem sportlichen Erfindungsgeist des ersten Gesellen alle Ehre machte.

Jeder nannte sich zum Überfluß als eine Kirche, ehe er den verhängnisvollen Tritt anbrachte. Dazu gab es noch viele ironische Bemerkungen.

»Hoppla! Ausg'halten! A Engerl kummt g'flog'n!«

»Ui je! Das Engerl is kasweiß. Das kummt, weil's schon Zigarrln raukt!«

»So da. Mit dem Tritt mach' i 'n ältesten Binkeljuden zu an' Engerl!«

Peperl brüllte entsetzlich. Er versuchte es, sich nach Kräften zu wehren. Aber was waren seine Kräfte gegen die von vier Wagnergesellen? Ich wage keine Vermutung, was nach solcher Behandlung eines unserer heutigen jugendlichen Hilfsarbeiter geschähe. Mir schweben Zeitungsartikel, Gewerbegerichtsverhandlungen, polizeiliche Maßnahmen, Verhandlungen vor dem Bezirksrichter, Intervention der Genossenschaft der Wagner, Wechsel der Lehre, Verurteilung zu Freiheitsstrafen und zu Geldbußen und ähnliches vor.

Und das alles mit Recht. Denn Roheit tobt sich nie so aus wie gegen Unmündige, Hilflose, was eigentlich für die menschliche Natur beschämend ist. Es ist so viel brutale Feigheit darin, einen uns 157 durch Herkommen, Gesetz oder Vertrag überantworteten Mitbruder zu quälen, statt ihn zu schützen.

Frühere Tage waren duldsamer gegen die Übergriffe von Meistern und Gesellen. Selbst das Gesetz blieb so ziemlich lahm und es mußte erst ein Bursche halb erschlagen sein, ehe es sich aufraffte zur Sühne. Wie viel noch bleibt unseren Tagen vorbehalten an Aufklärung, an Mahnung zur Selbstzucht, zur Liebe zu jeder Kreatur!

Jene Zeit war duldsamer gegen die Roheit des Starken gegen den Schwachen.

Noch in unserer Zeit schrillt ab und zu ein Schrei der gepeinigten Menschenkinder, deren vom Gesetz zum Lehren und Schutze berufene Hüter in ihnen nur ein Mittel sehen, fast kostenlose Arbeitskräfte auszunützen und dabei den in niederen Menschen wohnenden Instinkten der Roheit und Grausamkeit Genüge zu tun.

Aber ich spreche ja von Herrn Saltners Hause und Herrn Kolbs Werkstätte. Und daß in beiden derlei Dinge nicht an der Tagesordnung waren, ja von beiden Besitzern sehr stark gerügt worden wären (bei Herrn Kolb muß ich mir für den heutigen Vorfall eine kleine Ausnahme bedingen, wie man später sehen wird), glaube ich bisher jedermann klargemacht zu haben.

Und ich will das kleine Reich, in dem ich meine 158 Phantasie herumreisen lasse, nicht verunglimpfen, indem ich von Ausartungen spreche, für die es mir im Interesse der Reputation der ganzen Gasse im innersten Herzen leid tut. Aber nur mein Sinn für streng gerechte Schilderung zwang mich, den Vorfall zu schildern, wie er sich ereignete.

Also Peperl brüllte entsetzlich. Sein Schreien drang wohl nicht in den Hof – die Küche war endlich von den Frauen geleert –, wohl aber an ein Ohr in der Gasse, und in seinem Elend erschien ihm niemand anderes als Retterin und Helferin als – die alte Schaffnerin.

Diese befand sich eben auf dem Heimweg von Frau Kolb und im Vorüberschreiten durch die menschenleere Gasse, an der Werkstättentür vorbei, erreichten sie Peperls Jammerrufe. Hineinstürzend gelangte sie gerade zum Ende der erheiternden Exekution. Sie übersah rasch die Sachlage.

Ihre Tasche schleuderte sie von sich und griff mit beiden Fäusten den ihr Nächststehenden an. Sie glich einer alten, ausgemergelten, gereizten Katze. Mit beiden Händen hämmerte sie gegen die Brust des Gesellen. Höher gelangte sie nicht. Doch bedenke man, daß sie Herrn Kolb nur an den Bauch zu hämmern vermochte und der Geselle seinen Herrn knapp unter dem ausgestreckten Arm passieren konnte.

159 »So Haderlumpen, so b'soffene!« kreischte sie. »Schamts enk denn net, a armes Kind zu malträtieren? Schamts enk wirkli net? Ha? Ja oder na! Is das a christlich's Haus, a christliche Werkstatt? Ha? Oder net? Ja oder na – möcht' i wissen!« Und sie hielt in ihrem Hämmern gegen die Brust des Gesellen nicht ein, der vor Schreck ganz erstarrt war.

»In der Näh' liegt a arm's Weib im Wochenbett«, knirschte die Schaffnerin zwischen ihren zwei vorragenden Zahnruinen, »die gestern mehr ausg'standen hat, als ös Lackeln alle z'samm im Leb'n jemals ausstehn werd's. Und so a verruafenes, b'soffenes, schweinisches, übernachtig's G'sindel hat grad so viel G'fühl, daß es a armes Kind z' Tod martert und sein' Jux dabei hat?«

In ihrer Erregung ließ die Schaffnerin ihr Opfer los und wendete sich an den Altgesellen.

»Und Sie, alter Esel, der für'n Herrn a Stellvertretung sein sollt', pfui Teufel, halten bei solche Sachen mit? Sie halten mit? . . . A paar Watschen g'höreten Ihnen no, wia an' Buam. Schad', daß i auf so an Klachel net auffig'läng. Ham S' mi verstanden? Oder vielleicht net?«

Das Erscheinen der gefürchteten alten, kleinen Frau mit ihrer vernichtenden Zungenfertigkeit, ihrer nadelspitzen Ironie und den stets 160 schlagbereiten, knochigen Händen hatte auf alle mit den Schrecknissen eines katastrophalen Ereignisses gewirkt.

Peperl, der infolge seiner sozialen Stellung und Wirksamkeit an und für sich niemals wie aus dem Schachterl gekommen aussah, durch seine vortägigen Betäubungen ohne genügende nachherige Restaurierung zu einem sehr landstreicherischen Aussehen gelangt war, glich durch seine entdeckte Eignung als Spielobjekt einer von Herbstwettern verunstalteten Vogelscheuche.

»A arm's Kind«, hatte die so gefürchtete Frau von ihm gesagt. Diese Worte bildeten einen Rundtanz in seinem Hirn, der es mit dem anderen, durch überflüssige Bewegung erzeugten aufnahm. »A arm's Kind!« Von der Schaffnerin gesprochen! Wenn er sich kurze Zeit vorher nicht verhört hatte, waren es ganz andere Bezeichnungen gewesen, die sie auf seine Persönlichkeit angewendet.

»Armes Kind!«

Es gibt ein Mitleiden mit sich selbst, das unter den Einwirkungen eines Katers eine Elementarkraft erlangt. Und Peperl laborierte noch unter den ärgsten, nämlich denen des allerersten.

Peperl kam sich so urplötzlich als eine schutz- und heimatlose, verirrte, umhergestoßene, mißhandelte, vom Schicksal verdammte Waise vor, daß 161 er mit Recht hätte staunen können, sich all dieser Merkmale bisher nicht bewußt geworden zu sein. Und so kam es, daß er, der sonst Starke, Vorurteilslose, zu seiner gestrigen und heutigen Niederlage noch eine neue gesellte. Er hub nämlich ganz unvermittelt zu weinen an.

Ich betone das Weinen. Denn bisher hatte er gebrüllt, was an und für sich kein Zeichen von Unmännlichkeit ist. Wenn Peperl aber mit den zutage getretenen Gefühlen der alten Dame zu seinen weiteren Gunsten rechnen wollte, so war der Irrtum auf seiner Seite ein vollkommener.

Die Schaffnerin tat urplötzlich, als wäre von ihr die eben vorhergegangene Einmischung zur Errettung aus seinen Nöten gänzlich vergessen worden und als sähe sie nur den nichtsnutzigen, hoffnungslos verdorbenen, gänzlich verwahrlosten, aller menschlichen und religiösen Gefühle baren Sünder von gestern und sonst. Daher fuhr sie Peperl an:

»Was heulst denn? Schamst di net, z' blazen! Mistbankert, verwahrloster, schau di an, wias d' ausschaust. Blazt vielleicht über dei Schlechtigkeit und Sündhaftigkeit? Ha? Ja oder na? Is vielleicht a Funken Reu' in di einig'fall'n, Mißgeburt, ausg'wachsene? He? Manst, daß eppa do no a Mensch aus dir werd'n kunnt, du – du 162 Betbruader (sie kreischte das Wort mit dem größten Hohn heraus); ja du Heuchler und Pharisäer. Du schlagerst unser'n Herrgott no amal ans Kreuz, und ös alle mitanand!« wendete sie sich in der Runde an die noch immer wie betäubten Gesellen.

»Aber i geh«, schloß Frau Schaffner und hob ihre Tasche auf, mit der sie nicht übel Lust zu haben schien, das »arme Kind« gründlich zu zerbleuen. »I geh, daß i in derer sündhaften, gottverlassenen Werkstatt, die das reinste Sodoma und Gomorrha is, net vom höllischen Schwefel derstickt wir.«

Man sieht, daß die alte Hebamme in ihren Stimmungen nichts weniger als einheitlich war und daß sie deren Umschlägen drastischen Ausdruck verleihen konnte. Als sie draußen war, herrschte vor allem noch eine dumpfe Stille. Die fünf sahen sich an, als hätte sich etwas ereignet, das geeignet ist, für eine Zeitlang die Sinne zu lähmen.

Am ersten erholte sich Peperl. Er tat es auf die jedenfalls beste Art, indem er in ein Gelächter ausbrach. Das steckte an. Zuerst lachte einer und der andere, dann lachten sie im Quintett.

Peperl, der urplötzlich die letzten Spuren des abscheulichen Katers verloren, fühlte sich wieder ganz und vermaß sich, den Altgesellen zu hänseln.

»An' Lausbuam hat s' Ihner g'haßen und a paar Watsch'n hat s' Ihner geb'n woll'n, stöhnte er unter übermäßigem Lachen.

163 Der Gehänselte wurde gar nicht einmal böse. Er konnte nur schluchzen:

»Und das klane Bubi hat g'want. Das arme Kindi! Hahaha!« Und dann wiederholte er alle nachfolgenden Kosebezeichnungen der alten Dame.

Peperl war vor Scham rot geworden. Mit seiner zurückgekehrten gewöhnlichen Natur hatte sich die Reue über seine Unmännlichkeit eingestellt. Und Peperl war wie alle junge Herren seines Alters besonders in diesem Punkte äußerst empfindlich.

»Weil S' ma weh 'tan hab'n«, suchte er so viel als möglich zu retten. »Sie ham aa amal blazt vor lauter Zandweh!«

»Ja, vur lauter Wut«, entgegnete der Geselle, »und da kann a jeder Mann blazen. Je mehr er blazt, desto mehr Wut hat er, und je mehr Wut und Viechszurn als er hat, desto mehr is er a Mann. Aber net a klan's Bubi wia du, Lausbua, kecker. Wannst di no mal traust . . .«

Der Erzürnte mit seiner eigenen Psychologie des Weinens griff nach dem Kruge, füllte das Glas wieder voll und tat einen tiefen Zug. Seinem Beispiel folgten die anderen.

Dann siegte das gewohnte Pflichtgefühl und der Älteste trieb zur Arbeit. Feiertage, Arbeitspausen gleichen dem Kruge schäumenden Bieres, 164 dessen erster, zweiter und auch dritter Schluck erfrischend wirkt, aber dessen Neige schal wird und Verdrossenheit erzeugt.

Das gewöhnliche Alltagswerk bewirkte rasch, daß auch die gewöhnlichen Gesetze sozialer Ordnung zu ihrem Rechte gelangten. Es ging nunmehr so zu, wie es jeglichen Tag und jegliches Jahr unter der Oberaufsicht des Meisters zugegangen war. Peperl nahm seinen Platz am Schmiedefeuer ein und in kurzem klopfte und hämmerte und klang es wie sonst hinaus in die stille Gasse.

Aber einer stopfte in der Küche die Faust in den Mund, um sich nicht zu verraten, wand sich und beschrieb komische Tanzfiguren. Dann, als sei ihm des Erlaubten zu viel, verschwand er spur1os in den Hof, durch den Hof in den Flur und gelangte zur Stiege . . .

Doch das alles bedarf einer kleinen Vorbeschreibung.

Der »eine«, der die verschiedenen Stadien einer geheim genossenen, unbeachteten Lustigkeit genoß, war niemand anderer als Herr Kolb, der aus seinem Zimmer gekommen war, in dem er Toilette gemacht hatte. Den Zweck dieses Verfahrens schildert das nächste Kapitel.

Die Küche war einstweilen, sei es durch Einwirkung der strengen Hebamme, sei es durch den 165 mehr nebensächlichen Umstand geschehen, daß alle versammelte Weiblichkeit der Aufregung satt, sich auch häuslicher Verpflichtungen bewußt war – kurz, die Küche war zur Zeit der Begebenheiten mit Peperl vollkommen einsam. Deshalb hatten dessen Hilferufe auch kein verstärktes Echo gefunden.

Nur Herr Kolb allein war durch den Spalt der nur angelehnten Tür Zeuge, wie mit Peperl eine damals noch unbekannte Art der Sportbeteiligung, des heutigen Fußballs, getrieben wurde. Diese, dann das unerwartete Eintreten der sorgsam gemiedenen, gefürchteten Hebamme hatten den Riesen in eine Situation gedrängt, aus der er selbst sich nicht anders als durch schleunige Flucht zu retten vermochte.

Und noch lange, bis zu einer gewissen geweihten Schwelle, kollerte das Vergnügen in Herrn Kolb nach. Er fühlte, das rächende Schicksal habe seinen Händen vorgegriffen.

Und ich, dem Gange der Historie folgend, die ein Ding um das andere mit manchmal scheinbar unnötiger, aber strenger Genauigkeit schildert, folge nun Herrn Kolbs Spuren. 166

 


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