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(Schackerl versetzt, ehe er das Licht der Welt erblickt, seinen Vater in einen qualvollen Seelenzustand. Herr Kolb gibt Peperl einen ernsten Auftrag und bequemt sich selbst, einen guten Rat anzunehmen. Zeigt, welche Folgen das Beschwichtigen seelischer Unruhe haben kann und in welcher Weise Peperl seinem Auftrag nachkam)
Wenn man der mehr oder minder gewissenhaften Berichterstattung eines alten Mütterchens (nämlich meiner Gewährsmännin), das in seinen Erinnerungen um mehr als vierzig Jahre zurückforscht, Glauben schenken darf, so war es die achte Morgenstunde eines Maientages, als Herr Kolb wie ein Menagerietiger oder Löwe vor der Tür des Schlafzimmers unausgesetzt auf und ab wandelte.
Dieses Aufundabwandeln erfolgte unter so eigentümlicher Beobachtung von Vorsichtsmaßregeln, wie Krümmen des Rückens, Hochziehen der Knie, tastendes Aufsetzen der Fußspitzen, Ballen der Fäuste, daß man gleich den Eindruck eines Mannes hatte, der sich entschlossen hat, um jeden Preis Geräuschlosigkeit zu markieren.
65 Der Meister äußerte in seinem Umherwandeln solche Zeichen von Besorgnis, Angst und Trostlosigkeit, daß er das tiefste Mitgefühl aller erweckte, die ihn sahen.
Und deren waren nicht wenige. Nur die ganze weibliche Bewohnerschaft des Hauses mit einigen trotz der frühen Morgenstunde schon anwesenden externen Zuzüglern.
Das Speisezimmer, die Küche, der Vorraum waren belebt von ihnen. Es wurde nur geflüstert. Man tauschte besorgliche, mitleidige oder solche Blicke aus, die vom Aufgeben jeder Hoffnung zeugten. Manche der Frauen nickte nur mit gemacht gleichgültiger Miene, als wollte sie sagen:
»Wenn mir da vielleicht wer was erzählen will! Das habe ich selbst schon mehr als einmal ausgestanden.«
Ein Löwe oder ein Tiger in der Freiheit oder Gefangenschaft mag ein ganz sehenswerter Gegenstand der betreffenden Landschaft oder Menagerieverwaltung sein. Aber ein Zyklop, der auf Bulletins aus der Wochenstube harrt, nicht minder.
Ja, es war der zu erwartende Augenblick in der Nähe, der dem monatelangen Herzklopfen des riesengeschlechtigen Paares ein Ende bereiten sollte. Eines des Jubels oder der Trauer.
Es gibt Schriftsteller, die sich mit der 66 eingehenden Schilderung des verschwiegenen Aktes befassen und eine eingehende Kenntnis von Wochenbettgeheimnissen entwickeln. Da ich aber in jeder Art zu wenig feminin bin, bleibe ich lieber vor der Tür.
Herr Kolb versuchte manchmal, diese sachte (wie er überzeugt war) aufzudrücken, um nur zu seiner Herzensberuhigung einen Blick in das Mysterium zu gewinnen. Aber in solchen Momenten erschienen im Spalt eine spitze Nase, ein ebenso spitzes Kinn, eine dürre, knochige, verwelkte Hand, die den Riesen geradezu vor den Bauch stieß, daß er zurückwich, und die Tür schloß sich wieder.
Dann begann die Wanderung mit gelegentlichen Unterbrechungen abermals.
Während eines solchen verzweiflungsvollen Stillstandes vernahm das heute außerordentlich verfeinerte Ohr die Erzählung einer Frau, die einen gynäkologischen Vorgang behandelte, dessen Opfer »einer Freundin ihrer Freundin ihre Freundin« gewesen. Eines Falles, der jeden Inhaber eines anatomischen Präparatenkabinetts mit der Begierde erfüllt hätte, ihn plastisch seiner Sammlung einverleibt zu sehen, Herrn Kolb aber beim Anhören alle Weiße, die sein natürliches Erbteil gewesen sein mochte, unter die braune und rußgegerbte Haut trieb.
67 »Der Doktor soll so ka Arbeit g'habt hab'n«, lautete ein Teil des Berichtes, »wia er g'holt is word'n. D' Madam' hat scho a Stund' lang kan' Arm mehr rühr'n können, so hin war s' vor Plag'. Der Doktor allan hat aa nix richten können. So hab'n müassen zwa Professer kumma . . . Na, wia die ang'fangt ham, können S' Ihner denken. Seit achtundvierzig Stund' hat das arme Weib brüllt wia a . . . a . . . no, i kann's gar net ausdruck'n.«
Von dem Platze, auf dem der unglückliche Anwärter einer glücklichen Vaterschaft hielt, ließ sich ein dumpfes Knurren vernehmen, das mit seinen sonstigen Vergleichsmerkmalen einer Bestie im glücklichsten Zusammenhang stand.
»Marand Anna«, sagte die Frau, der die unvorsichtige Erzählerin den spannenden Vorgang erläutert hatte, zu dieser, »halten S' Ihner do z'ruck. Reden S' vor dem Mann net solche Sachen. I bitt' Ihner, schau'n S' Ihnern an. Meiner Seel', i glaub', der wird no ohnmächtig. San das Mannsbilder, dena wird scho übel vom Zuahör'n und mir müassen's selber mitmachen.«
Herr Kolb, den die Last des eben Vernommenen zu vernichten drohte, gab seinen Platz vor der Wochenstubentür auf und eilte in den Hof. Dieser war allmählich schon gefüllt worden von Frauen nicht nur der nächsten Umgebung.
Vielleicht war seit Gedenken in der Gasse kein solches Wochenbett gehalten worden wie heute. Der Ruf der Wallfahrt und ihrer Erhörung war über die Grenzen gedrungen. Die Wallfahrt mit ihrem geradezu mystischen Zauber der Verbindung von Lotterieglück und Familiensegen hatte sich bereits zur Legende ausgewachsen. Die Legende hatte Flügel und einige Frauen hatten Wind von der Sache bekommen.
Man begann so deutlich hier Gottes Finger zu spüren, daß sich aus dem Füllhorn seiner Gnade noch reichlich einige Abschnitzel in Gestalt von Lotterienummern finden mochten.
Herr Kolb achtete in seinem verdüsterten Gemüt all dessen nicht. Er ward zwar manchmal von einer ihm gänzlich unbekannten Dame fixiert, als ob er ein Schauobjekt sei, aber das genierte ihn nicht weiter.
In ziellosem Umherwandern vom Hofe nach der Küche, von der Küche nach der Werkstätte, von der Werkstätte auf die Gasse und von der Gasse durch die Einfahrt wieder in den Hof stieß er auf Peperl.
Peperl hatte im Nebenhause einen Freund, den Lehrjungen des Schustermeisters Udrzal, der, von den Ereignissen verführt, es nachsah, daß ein Platz am Schusterbankerl eine halbe Stunde länger unbesetzt blieb.
69 Herr Udrzal war nämlich Witwer und da er ebenso neugierig war, als ob er eine Witwe gewesen wäre, gab er seinem Lehrjungen den Auftrag, sich zu erkundigen, wie es Frau Kolb gehe. Er lasse sich dem Meister bestens empfehlen.
Der Lehrjunge ging zwar, hatte es aber mit dem Wiederkommen nicht sehr eilig. Im Augenblick stand er in angeregtestem Gespräch mit seinem Freunde Peperl.
Dieser freute sich der Gelegenheit, einmal über die gewöhnliche Anfangszeit hinaus den Morgen zu verlängern. Denn er war bis auf weiteres zur Disposition gestellt, falls es sich darum handeln sollte, Wege zu machen, Dringliches berichten zu müssen, kleine Hantierungen vorzunehmen usw.
Peperl stand auf dem Boden einer vorurteilslosen Weltanschauung und erklärte die ganze Wallfahrt für »an' Holler«, an den kein aufgeklärter Mensch mehr glauben sollte.
Weiter erwog er in einer sehr ernsthaften Auseinandersetzung alle Möglichkeiten eines günstigen oder ungünstigen Ausganges der Geburt, ohne sich übrigens um die Meisterin sonderlich Sorgen zu machen. Er erklärte sie seinen Genossen als »a tüchtige Frau«, die schon durchkommen würde. Ein anderer Ausgang als ein günstiger würde ihn schon wegen der Kochkunst der Meisterin in Verlegenheit setzen.
70 Als er Herrn Kolb auf sich zukommen sah, trennte er sich rasch von seinem Gefährten und stand plötzlich seinem Herrn in der Art gegenüber, als hätte er ihn gesucht. Dabei trugen seine Züge den Ausdruck unbewußter, kindlicher Teilnahme zur Schau, einer Teilnahme, die, scheinbar mit den Ursachen eines fremden Kummers nicht vertraut, dennoch diesen Kummer ebenfalls schwer auf sich wirken läßt.
Herr Kolb in seiner Anlehnungsbedürftigkeit war von dieser unschuldigen Demonstration ergriffen. Er brauchte einen uneigennützigen Tröster als Schutz gegen die Stürme einer nie gekannten, wahnsinnigen Aufregung.
Die fürchterliche Erzählung der gynäkologischen Herkulesarbeit wirkte mit ihren Schrecken noch in ihm nach. Daher kam ihm Peperl in seiner Unschuld in solchen Dingen als wahres Labsal entgegen.
Alle kleinen, nichtssagenden Differenzen, in die er mit Peperl gelegentlich zu geraten pflegte, traten in diesem Augenblick in den Hintergrund.
»Na, Peperl«, sagte er weichmütig, »hast aa ka Ruah, gelt ja?«
Statt jeder Antwort produzierte der gefühlvolle Peperl eine Grimasse, die andeuten sollte, daß das Weinen ihm näher stände als jegliche andere Äußerung seines übervollen Gemüts.
71 »I glaub' d'r 's, Peperl«, sagte der Meister gerührt und versuchte, wider Willen selbst eine solche Grimasse zu schneiden. »I glaub' d'r 's, Peperl. Möcht'st aa bald wieder so a Masterin find'n?«
Zur Schande der sittlichen Natur Peperls sei es gesagt, er brachte es wirklich zu zwei bis drei Tränen, die wie echte Perlen des affizierten Gemüts über die nicht allzu reinlichen Wangen hinabkollerten. Waren sie auch nichts mehr als gewöhnlicher Theaterflitter, so übten sie nichtsdestoweniger auf den harmlosen Meister eine erschütternde Wirkung aus.
»Gelt ja, Peperl«, sagte er halb heiser, »so a Masterin kriagerten wir alle zwa nimmer. Es war' Rest mit uns. Gelt ja, Peperl.«
Peperl rieb mit beiden Fäusten an den Augen.
»Waßt«, würgte Herr Kolb mühsam hervor, »du bist no a Kind, und i hab' g'hört, daß unser Herrgott auf so an's mehr gibt wia auf'n Papst selber. Da hast (und er zog eine Handvoll Kupfer- und Silbermünzen hervor, die er Peperl reichte), geh, wohins di g'freut, aber vergiß net, am Weg in a paar Kirchen z' gehn und aufrichtig z' beten. Ja? Für mein Teil aa, i selber kunnt net, i hab' ka Ruah, mi druckt's da (er brachte die Hand zur Kehle), daß i glaub', i derstick. Gib aa was in' 72 Opferstock und Klingelbeutl. Besunders in d' Sparkassa von der Muattergottes. Hat s' anmal a Wunder tan, so vielleicht das zweitemal aa no. Sunst, meiner Seel'«, fuhr er etwas roh und der Stimmung unangemessen fort, »hätt' i auf das erste Wunder Verzicht g'leist't.«
Man sieht, Herr Kolb drückte seine Religiosität etwas drastisch aus. Bisher war er nur ein indolenter Mann gewesen, aber mit jenem stillen Vorbehalt, der es sich mit dem Ungewissen nicht ganz verderben will.
Er war nie Ketzer oder Freidenker gewesen. Das hieße doch, alle Brücken hinter sich abbrechen. Aber ebensowenig war er ein hingebender Gläubiger, denn die wahre Frömmigkeit schießt erst unter den Einwirkungen menschlichen Leidens empor. Genau betrachtet ist diese Art von Frömmigkeit der Feigheit sehr ähnlich. Aber was tut es, wenn sie die Düsterkeit unseres Gemütes bannen hilft?
Gäbe es in der Welt nur eitel Freude und Sonnenschein, keine menschliche Natur wäre darauf gekommen, das Dasein eines verzeihenden oder rächenden Gottes anzunehmen.
Drum keinen Stein auf den kindlichen Riesen! Wer jemals unter anderen Einwirkungen als schmerzlichen so recht inbrünstig gebetet – der tue es!
73 Peperl hatte mit tiefer Rührung das Geld zu sich gesteckt. Er war weit entfernt, das zu sein, was man im besten Sinne Gemütsmensch nennt. Aber er war Gentleman. Im Augenblick war jede Erinnerung an mehr oder minder beschämende Episoden ausgelöscht, in denen die schwere Faust des Meisters zuletzt das gewichtigste Wort sprach. Er betrachtete solche Angelegenheiten als die durch Tradition geheiligte kriegsrechtliche Austragung des Konflikts zweier Mächte und wußte, daß er dem Gegner nichts schenke, mochte dieser auch den Vorteil der autoritativen und brutalen Gewalt für sich haben.
Daher verwarf auch der hochsinnige Peperl von vornherein eine etwa auftauchende Absicht, mit Umgehung jeglichen Kirchenbesuchs seine blitzschnell projektierten Vergnügungsabsichten zu realisieren. Daß er im allgemeinen die Zahl der Besuche wie der Opferspenden geringer veranschlagte als sein vertrauensseliger Lehrherr, lag an Einflüssen, denen oft die gewissenhaftesten Sachwalter ausgesetzt erscheinen.
Er beeilte sich daher, von der wie vom Himmel gefallenen Gelegenheit eines freien Halbtages (denn höchstens ein solcher verstand sich) Gebrauch zu machen, dankte nochmals und verschwand, und möge verschwunden sein bis zu jener Stunde, da 74 ich genötigt bin, ihn wieder auf der Bildfläche erscheinen zu lassen.
Herr Kolb war mittlerweile von mindestens einem Dutzend Frauenstimmen gleichzeitig zur Wohnungstür gerufen worden. In dieser stand die Schaffnerin, die schier uralte Bezirkshebamme.
Ebenso den Wöchnerinnen eine Trösterin und liebevolle Helferin, war sie den Männern ein Schrecken und Widersacher ärgster Sorte. Fast lächerlich klein, runzelig, dürr, spitzig und beweglich, mit einer Stimme vom höchsten Diskant und einem Mundwerk scharf wie ein Rasiermesser, jagte sie dem Mutigsten heillosen Respekt ein.
Keine Frau in der kleinen Gasse und noch vielen anderen hätte in ihrer schweren Stunde den Beistand einer anderen Hebamme in Anspruch genommen. Ich denke, selbst keine Leibesfrucht hätte sich unter anderer Assistenz in diese Welt der Leiden befördern lassen.
Alle, wie sie hier im Hofe und in den Räumen herumstanden, hatten ihren ersten Schrei unter den barmherzigen Händen der alten Schaffnerin ausgestoßen, zum erstenmal in diesen gegen das erste Bad gestrampelt.
»No, schleichen S' Ihner no a bißl mehr«, tönte es ihm entgegen. »Ja? . . . Oder dürft' i bitt'n, daß S' Ihnere Elefantenhaxen a wengerl mehr 75 rühr'n? Oder net? Wär'n S' net a wen'g neugierig, wia's dem armen Hascher drin geht? Na? Tuat mir recht lad. A G'fühl hat so a Mannsbild, das is wahr. Können S' verstehn, was i Ihner zum sag'n hab'? Alsdann ja? G'freut mi wirkli!«
Dieser ironische Wortschwall betäubte den hilflosen Mann noch mehr. Er vermochte nur zu stammeln:
»Schaffnerin . . . um Gottes will'n! Um Gottes will'n! . . .«
»Tuat si was, um Gottes will'n, Melak, tepperter! Schicken S' g'schwind zum Dokter! Allan kann i nix machen. Ham S' mi verstand'n? Ja? Oder soll i hundertmal red'n? Ob S' mi verstand'n ham, frag i?« kreischte die Schaffnerin in den grellsten Tönen. »Ja oder na? He?«
Es war erbarmungswürdig, zu sehen und zu hören, welchen Ausbruch der Verzweiflung die Ankündigung im Gefolge hatte, daß der Arzt nötig sei. Krampfhaft an den Türpfosten geklammert, brach Herr Kolb in ein Gebrüll aus:
»Roserl, Roserl, mein armes Roserl! O Gott! O Gott! Wirst mi do net verlassen woll'n, Roserl, wirst m'r do net sterb'n woll'n, dein' Radl? O Jessas, Jessas! Wann scho d'r Dokter kommen muaß . . . du armes, armes Weib! O Roserl!«
76 Es war trotz allem Rührenden dieser Szene doch sehr ergötzlich, mit welcher Verve und Wut sich die alte Hebamme auf den jammernden Koloß stürzte, umringt von den anderen Frauen, die teils überredend, teils zerrend und drängend auf den unglücklichen Wagnermeister einzuwirken suchten.
»Hat ma schon so an' Narrntattl g'sehn!« schrie die Schaffnerin im höchsten Zorn, »so a Rindviech, so a ausg'wachsenes!« Dabei puffte sie ihn, wo sie nur hingelangen konnte, und hämmerte sich schließlich krebsrot. »Werd'n S' 's Maul halten? Ha? Oder net? Macht mir der narrische Lackl das arme Weib da drin rebellisch, daß er mir 's no unter d' Erd'n bringt vor Schrock'n. Wo hab'n S' Ihnan Lehrbuam, den Raubersbuam, den nixnutzigen? Ha? Mach'n S' eahm Füaß. Er soll zum Doktor laufen. Und mach'n S' ka so a Theater, daß ma glaub'n kunnt, die G'schicht' gang't Ihna so nahe. Oder vielleicht ja? Ha? I kenn' die Männer. Brauchen Ihner aber net g'freun, daß S' bald aa Wittiber san. O na! Die Freud' wer' i Ihna versalz'n. Wo is d'r Bua? He?«
Die Ankündigung seitens der alten Frau, daß sie den Arzt benötige (die Schrecken des erhorchten gynäkologischen Vorganges krochen aufs neue heran), sowie deren eben entwickelte Energie lähmten 77 die Geisteskräfte Herrn Kolbs in einer Weise, daß er, der ersten Überraschung erliegend, einer Lüge ungewohnt, überhaupt nicht geeignet für schnelles Erfassen von Situationen, die Mission bekannte, in welcher er Peperl entsendet.
Er bereute im nächsten Augenblick (ein denkwürdig rascher geistiger Vorgang) das Geständnis. Ein so grelles, höhnisches Lachen, nein, Kreischen folgte diesem, daß er trotz seiner Größe und Stattlichkeit gern einen Spalt zum Verbergen aufgesucht hätte.
»Hihihi! Schauts so a Mannsbild an! Das san die Leut', die über a altes Weib lachen, weil's in d' Kirchen geht. Und Sie . . . Sie . . . Esel glaub'n, der Bua, der verdurbene, der mit alle Salb'n g'schmiert is, rutscht si die Knia in der Kirch'n a'? Oder glaub'n S' das selber? Ja oder na? No seg'n S'! Jetzt aber Spaß beiseit', i muaß hinein, i kann die Beuglerin net allan lassen. Laufts an's zum Dokter. Sagts, die Schaffnerin braucht 'hn. Aber rasch! Ha?!«
Mehrere Kinder, die trotz dem Einreden und Wehren der Mütter sich ebenfalls vor der interessanten Tür herumtrieben, stoben davon, überzeugt von der Unentbehrlichkeit desjenigen, der am ersten den Doktor herbeibrachte.
Welchen? Es konnte sich nur um einen 78 handeln, der am entgegengesetzten Ende der Gasse wohnte.
Doktor Plum, ein schon sehr alter Herr, hatte seine eigentliche Praxis aufgegeben. Aber aus Liebe zu seiner kleinen Gasse, mit der er ebenfalls durch Traditionen verknüpft war, sowie auch aus großer Achtung für Frau Schaffner, deren gute Qualitäten er besser zu schätzen wußte als irgendeiner, säumte er nie, einem Rufe dieser zu folgen. Eine eigentliche Behandlung überließ er dann einem jüngeren Kollegen.
Doktor Plum war kein kaltsinniger Beinsäger und Honorarschinder. Er heilte vielleicht ebensoviele durch Händeauflegen als er durch Arzeneien der Grube überantwortete. Aber man wandelte von ihm geleitet in lächelnder Weise dieser zu, wie man weinend nur durch die alte Schaffnerin an das rosige Licht des Tages gedrängt hatte.
Wenn der alte Arzt im Gegensatze zu den neuen unendlich weniger Methode besaß, so genügte er seiner Zeit und vor allem seiner kleinen Gasse. Er übte eine Heilslehre, die an Krankenbetten oft Wissenschaft ersetzt. Das heißt, er war gütig, freundlich, respektabel aber trotz allem.
Er war ein Herzenshelfer für die seiner Obhut Anvertrauten, gleich seiner alten Kollegin, der Schaffnerin. Von einer andern Kollegenschaft 79 hätte man sich in jenen gesegneten Zeiten noch nichts träumen lassen.
Da der alte Arzt, der sich in ein kleines Raritäten- und Antiquitätenmuseum zurückgezogen hatte, sehr selten ausging, und das auch erst zu einer späteren Stunde, konnte man mit Bestimmtheit auf sein ehestes Erscheinen hoffen.
Er erschien wirklich bald, vornehm, zierlich, fast im Menuettschritt. Seine Beiziehung zu dem Falle Kolb alarmierte die ganze Nachbarschaft, denn die alte Schaffnerin verstand sich auf ihr Metier und trotz einer schier übertriebenen Gewissenhaftigkeit bemühte sie doch nur in den äußersten Fällen den Kollegen.
Dieser also schritt jetzt trotz seines Alters so stramm und dabei fast tänzelnd durch die ehrfürchtig Spalier bildenden Frauen mit seinem Besteck nach dem Kreißzimmer, in welchem ihn die Hebamme und Frau Beugler sorgend erwarteten.
Nach kurzer Zeit jedoch trat der alte Herr wieder heraus, tat sehr zuversichtlich und gab dem in Todesängsten harrenden Gatten die beruhigendsten Zusicherungen. Die Entbindung sei wohl etwas hartnäckigerer Natur als es gewöhnlich der Fall zu sein pflege, aber von irgendeiner Gefahr könne keine Rede sein.
Zugleich erteilte er Herrn Kolb den nicht 80 unangemessenen Rat, sein Standlager von der Wohnungstür nach einem anderen Ort, vielleicht in das Gasthaus zu verlegen, was sowohl seinen eigenen Nerven wie denen seiner Frau und nicht in letzter Linie denen der Frau Schaffner (hier lächelte der alte Herr auf seine Weise) zugute kommen dürfe. Herr Kolb möge sich nur auf die um seine Gattin bemühten Personen verlassen.
Der Meister, nunmehr der tödlichsten Sorge entledigt, fand den Rat des alten Arztes der Befolgung würdig. Nachdem ein minutiös klappender Nachrichtendienst eingerichtet worden war, als dessen Stafetten alle im Hofe weilenden Frauen mit Feuereifer zu dienen sich bereit erklärten, begab sich Herr Kolb in die Werkstätte und gab seinen Gesellen den Tag frei. Er selbst vermochte keine Hantierung vorzunehmen.
Dann begab er sich in sein Stammgasthaus. Er erschien in diesem zu einer so ungewohnten Stunde, in der der noch halbverschlafene Wirt eben die Laden geöffnet hatte, daß der mit riesigem Erstaunen seinen Gast hereintreten sah. Noch größer wurde aber dieses Erstaunen, als er die Ursache des unvermuteten Erscheinens erfuhr.
»Na, so was«, philosophierte der Wirt, »was über d' Nacht net alles passieren kann!« Er sagte das mit einem Kopfschütteln, das man sonst höchst 81 unglaublichen oder zweifelhaften Nachrichten entgegenbringt. »Das muaß i aber glei meiner Alten sag'n, die wird so net kla' schau'n!«
Es war, als ob die Mär vom Storch, der zu einer unerwarteten Stunde einen ganz unerwarteten Besuch macht, in diesem Falle eine unumstößliche Wahrheit sei, denn nur so konnte die staunende Verwunderung des Wirtes ihre Erklärung finden.
Vorher bedachte er jedoch, daß seine Pflichten als Gastgeber die ersten und dringendsten seien. Er fragte daher, ob er einen Stutzen des »Bewußten« einschenken solle, was bejaht wurde. Nachdem er diese Angelegenheit bereinigt, ging er zum Schiebfensterchen, das die Verbindung mit der Küche behufs schnellerer Speisenversorgung bildete, und brüllte hinaus:
»Du, Emma . . . d'r Kolb is da. Es geht scho los bei seiner Alten . . . D' Schaffnerin arbeit't scho a paar Stund' . . . Der Doktor is aa da . . . D'r Kolb is ganz narrisch . . . Komm' a bißl eini!«
Auf diesen im Telegrammstil gebrüllten Bericht ertönte aus einem fernen Hintergrund der Küche (wohl einem Nebenraum) eine weibliche Stimme: »Jessas Marand Josef!« und bald darauf wurde die Küchentür aufgerissen und die 82 Wirtin watschelte so eilig, als es ihr Körperumfang erlaubte, heran.
»Is 's wahr, Kolb? Jessas, und der Dokter? Hat die Schaffnerin eahm hol'n lass'n? Mein Gott und Herr! Ja sag' m'r nur, wia is das mögli? So a stark's Weib. Aber derzähl'!«
Herr Kolb berichtete nun mit Ausschluß des Faktums Peperl die bekannten Tatsachen und starrte dann höchst betrüblich in sein Weinglas.
»Trink's aus«, sagte die Wirtin.
Herr Kolb befolgte den guten Rat und leerte das Glas bis auf den letzten Tropfen.
»Hast recht«, sagte der Wirt, »trink' nur, das nimmt a bißl den Schrocken weg. Es is aa wirkli ka Klanigkeit. Meiner Seel', was über d' Nacht passieren kann . . .«
Er ging, um das Glas wieder zu füllen.
»Hast scho was g'fruahstuckt?« fragte er mit dem intensiven Interesse aller Wirte an den Bedürfnissen der Leiblichkeit.
»Woher denn? Hab' i Zeit g'habt zu an' Fruahstuck? Die Knia zittern m'r no. D' Schrocken, sag' i d'r, wia die alte Fur . . Schaffnerin aussikummt, mi wia an' Buam z'samm'schimpft und sagt, daß d' Dokter kumma muaß. 83 Na glücklicherweis' is 's net so arg, wia i gfurcht'n hab'. Drauf hat ma d'r Dokter die Hand geb'n«, log Herr Kolb mit dem Optimismus eines Hoffenden.
»Ja wirkli, was alles auf d'r Welt passieren kann! So über d' Nacht . . .«, war die neuerliche Antwort des Wirtes, der sich von seiner philosophierenden Verwunderung nicht erholen konnte. »Also, willst was essen? A kalt's Kälbernes war' da, a G'selcht's, Frankfurter, auf a Gollasch muaßt no warten. Alsdann vielleicht a G'selcht's?«
»Is recht«, sagte Herr Kolb. »Hunger hab' i grad net, aber i fürcht', es kunnt m'r schlecht werd'n vom laar'n Mag'n.«
Der Wirt brachte das Gewünschte, dann begann er die Tische frisch zu bestecken, das heißt die baumwollenen, blaugewürfelten Tischtücher abzunehmen, etwas auszubeuteln, wieder aufzudecken, die Zündholzständer ihres abgebrannten Inhalts zu entledigen, frisch zu füllen und noch viele andere Hantierungen, die die Morgenergötzlichkeit eines Wirtes und seines Stabes bilden.
Die Wirtin hatte sich schon vorher entfernt und schalt draußen in der Küche mit der Köchin und dem Abwaschmädchen, weil sie während der ganzen Unterredung mit fieberhafter Neugierde an 84 dem Schiebfensterchen gelauscht hatten, um von dem Bericht Herrn Kolbs kein Wort zu verlieren. Ich weiß nimmer, ließen die beiden etwas anbrennen oder dergleichen, aber meine Forschungen nehmen bei derlei untergeordneten Dingen eine Flauheit an, die nur durch das Drängen größerer Ereignisse entschuldigt werden kann.
An der Schank hatte während der ganzen Zeit seit Herrn Kolbs Erscheinen ein Bursche gestanden, der sich mit nur geteiltem Eifer der Arbeit des Gläserausspülens gewidmet hatte. Sein Typus war der eines Mikrozephalen: zurückstrebende, niedere Stirn, stumpfe, vorquellende Augen, mächtige Freßwerkzeuge.
Er war stets bemüht, eine Unterhaltung mit den Gästen einzuleiten und weiterzuspinnen, wobei er in forcierter, kindischwichtiger Art Tagesereignisse besprach, zu ebenso großem Gaudium der Gäste als zur größten Wut des Wirtes.
Heute brannte er nur darauf, Herrn Kolb zu dessen Erheiterung in ein tiefsinniges Thema zu verflechten. Er hub daher, als eine stumpfe, gedankenschwere Stille angebrochen war, in gedehnter Weise an:
»Gestern hat's a Murdshitz' g'habt, Herr Kolb. Heute wird's aa so a Murdshitz' ham. Das ganze Monat wird's so a Murdshitz' ham.«
85 Herr Kolb, vielleicht um seine Kümmernisse zu vergessen, vielleicht weil ihm die Stille unangenehm war (denn der Wirt war nichts weniger als redselig), ging auf die Intentionen des Burschen ein.
»Heut hat's ja a Murdshitz'. Hast aber scho a Murdsviech g'seg'n?«
»Na!« lautete die verblüffte Antwort.
»Dann schau di halt amal in' Spiegel.«
»Gestert hab' i damisch g'schwitzt«, fing Heinrich abermals an, dessen kurze Verblüffung dem Ansturm neuer, anregender Gedanken gewichen war. »Wann's heut wieder so a Murdshitz' hat, schwitz' i aa wieder wia gestert.«
»Is nur gut, daß d' ka Hirn zum ausschwitz'n hast, Heinrich. Sixt, in der Art bist besser dran als unseraner.«
»Gestert war d'r Sauhandler da . . .«
»Halt's amal z'samm', sunst kumm' i d'r!« rief der Wirt aus dem Extrazimmer herüber. »Tummel di mit dein' Gläserwasch'n! . . . Von an' Tag zum andern wird er tepperter. Schau liaber, ob d'r Herr Kolb no was eing'schenkt hab'n will.«
Da dies der Fall war, entledigte sich Heinrich erst seines Auftrages und harrte gläserschwenkend auf eine günstige Gelegenheit, seine Unterhaltung 86 fortzusetzen. Es mußte ihn plötzlich eine glänzende Idee erleuchtet haben.
»Zu d'r Frau Kolb is d'r Dokter kumma . . . Und wenn amal d'r Dokter kummt, is 's eh scho Rest. Der arbeit' nur für d' Gruab'n.«
Er beeilte sich, diesen lieblichen Faden vollständig auszuspinnen.
»Dokter und Totengraber san zwa G'schwisterkinder.« Obwohl nur ein Idiot diese fürchterliche Volkssentenz zum Ausdruck brachte, vielleicht eben deshalb war die Wirkung auf Herrn Kolb eine geradezu niederschmetternde.
In ihm webte unbewußt jener uralte Glaube an die Seherkraft geistig Armer, deren sich ein böser Geist bedient, um seine Möglichkeiten des Schreckens zu offenbaren. Die Gabel entsank seinen Händen und mit vorquellenden Augen stierte er den tölpelhaften Unglücksraben an.
Der Wirt, der währenddessen in Hör- und Sehweite gelangt war, geriet in wahre Raserei. Mit einigen Schritten war er bei dem in liebenswürdigster Causerie begriffenen Heinrich gelandet, schlug ihm links und rechts ein paar um die nicht allzu kleinen Ohren, faßte ihn beim Genick und warf ihn zur Tür hinaus.
Das alles geschah mit so präziser Schnelligkeit, daß das unglückliche Opfer seiner unüberwindlichen 87 Diskutierlust erst auf der Straße zum vollen Bewußtsein seiner jammervollen Lage gelangte.
»Emma«, brüllte der Wirt abermals durch das Schiebfenster, »schick' mir 's Madel aussi. Sie soll Gläser a'wasch'n. Der Trottl muaß heut no fort, durthin, wo er hing'hört, zu dö Kropferten aufs Land. Wo kumm' i denn hin, mit so an' Menschen? Wann er nur den gottverfluachten Brotlad'n haltert! . . . D'r Schlag kunnt' an' treff'n. Wirst do net auf das blöde Viech aufpass'n«, wendete er sich entschuldigend zu Herrn Kolb, der mit seinem letzten Bissen bemüht war, den letzten fürchterlichen Eindruck zu verdauen.
»Ah . . . is ja zu dumm! Aber waßt, wann ma so aufg'regt is wia i heut, so deut't ma si glei all's aufs schlechteste. Der arme Kerl kann ja nix dafur, daß er a Trott'l is, aber i, daß i a alt's Weib bin wurd'n. Ruaf 'hn z'ruck und schick' eahm mit aner Trag Fruahstuck zu meine Leut überi. I hab' eahna heut freigeb'n, aber i denk', i werd' s' scho in d'r Werkstatt b'halten, wann s' was zum Essen und Trinken hab'n.«
Heinrich stand vor der Tür und weinte, so groß er war, nach Art kleiner Kinder, die sich von der Mutter zur Strafe hinausgesperrt sehen. Er stand vor der Tür, heulte laut, schluchzte herzzerbrechend und verschmierte die Tränen mit beiden Handballen.
88 Diesem trostlosen Zustand machte auf Fürbitte Herrn Kolbs der Wirt insofern ein Ende, als er Heinrich bei beiden Ohren in das Lokal zurückzog und an seinen alten Platz stellte, als eben das Mädchen aus der Küche das Ressort bei der »Schank« übernehmen wollte.
»Geh wieder in d' Kuch'l!« befahl der Wirt diesem und wendete sich an Heinrich.
»Wannst wieder amal dei Maul aufmachst, außer zum Luftschnapp'n und Fress'n, schick' i di ham. Kannst nacha als Dorftrott'l herumrennen, wia's eigentli für di am best'n war'! Marsch, arbeit'! Sunst liegst glei wieder draußt!«
Heinrich, ein entfernter Verwandter der Wirtin, aus einem niederösterreichischen Orte stammend, war halb aus Barmherzigkeit, halb aus Spekulation ins Haus genommen worden. Denn waren auch seine Geisteskräfte minimal, so war doch seine Körperstärke eine desto ansehnlichere.
Jetzt machte er sich schluchzend und schluckend an seine Arbeit und schwieg einstweilen bis zur neuen günstigen Gelegenheit, sein Plaudertalent zur Geltung zu bringen.
Allen, die jemals Kinder recht bitterlich weinen sahen, wird der Schmerz des armen Heinrich ans Herz greifen. Er war in Wahrheit nichts als ein Kind, nur mit dem Körper eines Mannes. Herr 89 Kolb, den Leiden stets rührten, tröstete den Burschen, und hierin zeigte sich die kindische Zurückgebliebenheit Heinrichs, daß er über einige teilnahmsvolle Worte allen Schmerz vergaß.
Der Wirt war kein böser Mann. Bewahre! Aber er lebte nach dem Schlendrian Überlieferung. Leute seines Standes lieben es, energische Maßregeln »Reschheit« zu nennen. In Wirklichkeit ist diese »Reschen« nichts als Roheit, gerade wie die »Patzwachheit« unangebrachte Sentimentalität ist.
Heinrichs große Schuld war, daß er wirklich ein armer Heinrich war. Er hatte nur eine einzige, ganz kostenlose Leidenschaft: er plauderte gern, und es sei zugestanden, er plauderte Unsinn. Er sprach etwas lallend, wie wir es bei Kindern lieben, bei Trunkenen belächeln, bei Einflußreichen ignorieren, bei Mächtigen aber bewundern.
Heinrich war ein Armer im Geiste und deshalb hätte er der Roheit entgehen sollen. Die Indianer als Wilde verehrten sogar diesen Defekt und der geistige Krüppel war ihres vollen Schutzes sicher. Was den Inhalt von Heinrichs Reden betraf, unterschied er sich in Wirklichkeit gar nicht viel von dem Redestoff der meisten Stammgäste, die schon vormittags, mit Nichtigkeiten vollgepfropft, erschienen und nur diesen Nichtigkeiten einen artikulierten Ausdruck gaben.
90 Jetzt kam der erste Nachrichtenposten. Eine Frau vom zweiten Stock, Mutter einiger Kinder, unverbesserliche Neugierige, Tratscherin, Näscherin, Schuldenmacherin, überall dabei und die Zeit als etwas höchst Überflüssiges und Nutzloses verachtend.
»Guat geht's«, schrie sie schon draußen vor der Tür. »Ganz guat. Vielleicht no a Viertel- oder höchstens a Stund'. Mein Gott, die Beuglerin want vor Freud' und laßt Ihnen, anstatt der Frau Gemahlin, sag'n, Sie soll'n Ihna hübsch brav z'samm'nehmen. Wirkli, mir is selber zum Wana. I kann m'r net helfen, Herr Kolb. (Dessen Nerven wurden durch ein Taschentuch vor jedenfalls tränenschweren Augen aufgeregt.) Unser Herrgott gab's, daß 's a Bua is, Herr Kolb. I bet' schon seit langen Tag und Nacht drum. I bin selber a Muatta und waß, was das haßt, a Muatta z' sein. Halt ja, daß i 's waß.«
Hier folgte ein Seufzer, wie ihn vor ihrer Wallfahrtsangelegenheit Frau Rosa nicht besser an das Tageslicht holte.
Herr Kolb hatte nur ein Ohr für die Nachricht gehabt, daß es gut gehe.
»Is 's wirkli wahr?« kam er endlich zur Frage. »Geht's wirkli guat?«
»Meiner Seel', so wahr i da steh«, war die 91 würdevolle Antwort. »Wann i Ihnen's amal sag' . . .«
»He, Zauner!« brüllte Herr Kolb, »hast a paar Krüag? Füll s' an und schick s' überi zu mir. Alle Weiber, dö im Hof und in d'r Wohnung san, soll'n si stärk'n. Das andere kummt später, bis 's Kind da is. He, Frau Turner«, wendete er sich an die Überbringerin der Glücksbotschaft, »Sie trinken auf der Stell' an' halben Liter Gumpers. Heinrich . . .«
Doch Heinrich war mittlerweile mit seiner Trage fortgegangen, um vier hungrige Wagnergesellen mit Speise und Trank zu versorgen.
Dafür beeilte sich der Wirt, der gleich eine volle Flasche auf den Tisch stellte. Frau Turner genoß mit den Gefühlen größter Wichtigkeit sehr unzimperlich von dem guten Tropfen und beantwortete der rasch herausgeeilten Wirtin in instruktivster Weise verschiedene, auf das sich eben vollziehende Ereignis bezügliche Fragen. Dies alles geschah mit so detaillierter Weitschweifigkeit, daß Frau Turner um die Göttergabe Phantasie beneidet werden muß.
Mittlerweile war auch Heinrich zurückgekehrt und zu schleunigem Wiederabzug mit einigen Krügen Wein veranlaßt worden. Gäste hatten sich schon eingefunden, deren jedem einzelnen 92 ebenfalls Bericht zu erstatten war. Man drückte Herrn Kolb die Hand, wünschte ihm Glück und beeilte sich rasch nach Hause zu kommen, um die Neuigkeit brühwarm der Gattin mitzuteilen, die in bedauerlicher Vernachlässigung ihres Geschlechts bisher noch gänzlich ununterrichtet war.
Frau Turner, die während des Erzählens fast die ganze Flasche Wein geleert hatte und aus diesem Grunde sehr rot aussah, ward jedoch besorgt, daß während ihrer Abwesenheit sich der wichtigste Teil des Aktes vollziehen und irgendeine Nachbarin die Überbringerin der endlichen Freudenbotschaft sein könnte. Sie nahm daher noch einen Schluck und sagte:
»Jetzt muaß i aber überischau'n. Jetzt gibt's ka Aufhalten mehr.« Als wäre ihre An- oder Abwesenheit an einem der beiden wichtigen Orte von irgendwelcher nennenswerten Bedeutung gewesen.
Die Verwirklichung ihrer Absicht war jedoch überflüssig, denn in demselben Moment wälzte sich eine Schar von Frauen über die Gasse. Allen voran eine, die, mit dem Organ einer Schlachttrompete begabt, unausgesetzt schrie:
»A Bua is's! A Bua is's! D' Muatta und 's Kind san pumperlg'sund. Gratulier', Herr Kolb!«
93 Frau Turner stellte mit zitternder Hand das Glas nieder. Ihre Blicke bedrohten die Überbringerin des glücklichen Endresultats fast tätlich.
Also eine andere hatte den Vogel abgeschossen. Eine andere, die sich nicht schon seit Stunden vor der Wochenstube herumgetrieben. Eine, die es nur einem schnöden Zufall dankte, als erste am Platze sein zu dürfen.
Und wie gemein, aufdringlich und wichtigtuerisch sich nur diese ganze Person benahm! Dann, was wollte der ganze Rattenschwanz überflüssiger Anhängsel?
Frau Turner empfand plötzlich die Melancholie großer Seelen beim keuchenden Wettlauf der Menge nach der Gunst eines Großen. Sie war jetzt überflüssig, das fühlte sie. Hier wenigstens. Aber drüben?
Und Frau Turner gedachte des Weines, der dort noch ungetrunken stand. Und sie dachte so nebenbei, daß jetzt die Gelegenheit gegeben war, aus dem Vollen zu schöpfen, das heißt einen ziemlichen Teil des derzeit noch ungenossenen Weines in einen großen, bisher unbenützten Krug für die nächsten Tage zu sammeln. Jeder Tag brachte nicht solche Gelegenheit, auf Regimentsunkosten zu leben. Also verschwand Frau Turner unbemerkt, ehe die »Weiber« vielleicht auf den gleichen 94 Gedanken geraten konnten, die bis nun blödsinnig ihrem Leithammel (Frau Turner schämte sich ihres Geschlechtes) nachbrüllten: »A Bua is's!« . . .
Was Herrn Kolb anlangte, so überfiel ihn ein Zittern, eine Schwäche, daß er vorerst nicht vermochte, sich von seinem Stuhle zu erheben. Die runden Glotzaugen starrten bedenklich die mittlerweile sich stets vergrößernde Schar von Eindringenden an.
Die Lippen zuckten, die Hände tasteten zitternd umher und dann geschah, was noch niemand gesehen, ja nicht einmal in seiner Phantasie sich vorgestellt: Herr Kolb, der Riese, der Hammerschwinger, der moderne Mimer brach in ein Schluchzen aus.
Das war ein Zeichen für die weibliche Empfindsamkeit. Ein Schluchzen hob an, als würde von einem lieben Toten Abschied genommen. Doch jegliche Spannung braucht ihre Lösung.
Der Wagnermeister faßte sich zuerst voll Beschämung über die zweite heute schon an den Tag gelegte Schwäche. Aber über allem stand es hell und licht: sein Roserl war am Leben und er hatte einen Sohn.
Vor dem geistigen Auge des glücklichen Vaters stiegen infolge einer ganz natürlichen Ideenverbindung die nach Feierabend an die Wand der 95 Werkstätte gelehnten Hämmer auf. Da war der erste, ganz große, gleich dem Bogen Ulisses' nur für die Hand des Herrn bestimmte. Drauf folgten sie in Abstufungen nach unten. Herrn Kolbs Prophetenblick (den alle jungen, närrischen Väter zu besitzen vorgeben) sah seinen Erstgeborenen mit dem Hammer des Vaters aus dem Eisen Funken schlagen.
Ein unbezähmbares, nur natürliches Verlangen bemächtigte sich seiner, Weib und Kind zu sehen.
Aber gegen diese Absicht erhob sich ein allgemeines weibliches Veto. Man gab dem jungen Vater zu bedenken, daß die Wöchnerin durch die ausgestandenen Schmerzen so erschöpft sei, daß für absoluteste Stille gesorgt werden müsse. Man dürfe die unerläßlichsten Gegenstände nur außer Gehörweite in Flüstertönen erörtern und den Kindern sei laut von allen Parteien einstimmig gebilligten Entschlusses Herrn Saltners der Aufenthalt im Hofe auf das strengste verboten.
Um aber jeden rebellischen Gedanken Herrn Kolbs gegen diese vernunftgemäße Anordnung gleich im Keime zu ersticken, unterließ man nicht zarte Hinweise auf gewisse, ganz unzarte Andeutungen der Schaffnerin, die sich ein erstens ganz unnützes und zweitens auch ganz 96 aussichtsloses Aufdrängen des glotzäugigen Barbaren ein für allemal energisch verbeten hatte.
Als Ersatz jedoch für diese notwendige Enthaltsamkeit von den Äußerungen nur sehr anständiger und natürlicher Gefühle schwuren sämtliche Frauen, Herrn Kolb stets auf dem laufenden zu erhalten.
Und als wäre dieses Versprechen das Signal für jede einzelne gewesen, sich auch gewisser Verpflichtungen gegen die Wöchnerin zu erinnern, verließen sie gemeinsam ebenso eilig und geschlossen das Lokal, wie sie es erstürmt hatten. Ich gestatte mir aber trotzdem nicht die Behauptung, daß das mysteriöse, schnelle Verschwinden Frau Turners damit in einen losen Zusammenhang gebracht werden dürfte.
Wenn ich schon einigemal darauf hingewiesen habe, daß sich die glückliche, kleine, kurzsichtige, eingesponnene Gasse gewisser Vorrechte erfreute, deren sich leider keine Gasse unserer Zeit mehr rühmen darf, so kann es nicht wundernehmen,. wenn der Puls der Geschäftstätigkeit besagter örtlicher Umgrenzung des Stadtbildes sich anschickte, in Stillstand zu geraten.
Das zur ungewohnten Frühvormittagsstunde nur von Herrn Kolb und auf Minutenlänge von 97 edler Weiblichkeit bevölkerte Lokal begann sich alsbald lebhaft zu füllen. Gott sei Dank jener Zeit! Man hatte noch einbringliche Stunden, Ahle, Nadel, Schere, Hammer, kurz jegliches Handwerksgeräte ruhen zu lassen. Die keuchenden Scheusale Konkurrenz und Profitwut saßen einem noch nicht so auf den Fersen wie heute.
In kurzem war Herrn Zauners, des Wirtes, Lokal mit Gästen gefüllt, die teils aus Teilnahme an Herrn Kolbs junger Vaterschaft, teils aus Lust an billigen Frotzeleien (fast das tägliche Brot des Wieners), im großen ganzen aber wie gesagt aus Lust an Unterbrechung ihres Werkeltages sich versammelt hatten.
Der glückliche Vater aber saß inmitten einer Schar der ihm nächststehenden Bekannten, darunter der Roßhaarkrempler, und nötigte unaufhörlich den Wirt und Heinrich zur Herbeischaffung von Getränken.
Unter anderen mit der glücklichen Tatsache in Verbindung stehenden Themen geriet man auf das nächstliegende und zurzeit gewiß auch brennendste: auf die Berufswahl des Neugebornen.
»Was er werd'n soll?« erklärte mit Stolz Herr Kolb. »Was sei' Urgroßvoda scho war und sei' Voda jetzt is: a Wagner!«
Allgemeine Protestrufe ertönten.
98 »Waßt«, erklärte ein Spezi, »'s tuat net guat, wann m'r an Buam 'n Vodan sei Handwerk lerna laßt; was d'r Voda is, braucht just net d'r Bua z' werd'n. Das war mein Prinzip. I an deiner Stell' liaßt eahm studier'n. Übrigens tua was d' willst!«
»Nix da!« entwickelte ein anderer Freund voll Eifer die Zukunftsaussichten des künftigen Namensträgers der Dynastie Kolb. »Vom Studier'n hat bis heut no kaner was herunterbiss'n. Laufen gnua Studierte herum, dö nix zum Ess'n hab'n. Laß eahm die doppelte Buchhaltung lerna, mit der kummt er vorwärts. I kenn' d'r an, der lebt von der doppelten Buchhaltung wia d'r Herrgott in Frankreich. Wannst auf mi hörst . . .«
Die Meinungen über diesen Punkt gingen nun so vielfach auseinander, als Gäste anwesend waren. So wurden zum Beispiel noch folgende Berufsarten zur Wahl gestellt: Offizier mit der höchstwahrscheinlichen Anwartschaft auf den »grean' Busch'n und 'n rot'n Straf'n«, womit die Generalcharge gemeint war; Koch in einem hohen Herrschaftshause; Großfabrikant eines erst zu erfindenden und zu patentierenden Artikels; Bildermaler, der mit »Öl auf Leinwand« malt; Musiker, »der aber aa d' Noten kennt«, usw.
Ein Externer, der im Vorübereilen das ihm 99 unbekannte Lokal zwecks Stillung eines offenbar sehr quälenden Durstes betreten hatte und sich mit der Wißbegierde eines karg über seine Zeit verfügenden Menschen über die Ursache des herrschenden Disputs unterrichten ließ, meinte leichtfertig:
»A Kanalramer war' aa net schlecht. Der geehrte Herr Vatta 'tschuldigt scho'. Sollt' nur a Witz sein.«
»Traurige Witz', Herr Vetter vom Land oder wo S' her san. Wirkli traurige Witz'. Mir scheint, Sie hab'n Ihner in der Adreß g'irrt, i man' immer, in das Lokal san S' hereing'fall'n wia die Maus ins Honigfass'l. Glaub' wirkli net, daß S' selber Kinder hab'n, Sie Surm! Wann d'r Kolb net a so a guate Haut war, hätten S' ane am Dach, daß S' Ihner um ka zweite mehr umschau'n braucherten. Schamen S' Ihna, ja!«
Dies alles brachte im Tone schmerzlichster Entrüstung Herr Beugler vor, der sich bemüßigt sah, die Vertretung seines Freundes und Gönners zu übernehmen. Seit der Wundergeschichte hing er an diesem mit einer Art ehrfürchtiger Verehrung.
Zu gewöhnlichen Zeiten war der Roßhaarkrempler ein so stiller, friedfertiger Mann, als nur je ein kleiner gedrückter Geschäftsmann mit zahlreicher Kinderschar es sein konnte. Abgesehen von 100 einigem Selbstbewußtsein der letzten Zeit, hatte er zur Stunde schon ein wenig ins Glas geschaut, so daß er es an Mut mit jedem aufzunehmen gedachte.
Die Abfertigung, die er dem fremden Vorüberläufer zuteil werden ließ, verfehlte nicht, lebhafte Zustimmung zu erwecken.
»I man immer«, sagte ein höchst gutgelaunter Gast der intimen Tafelrunde, »der Herr hat a paar Ratzen daham als Kinder, sunst wußt' er net so an' Bescheid mit 'n Kanal. Pfui Teufel! In a so a Loch steckert i mei Nas'n net eini, net um die Burg.«
Diese neuerliche Abfuhr erregte noch weiteren Beifall. Aber der angegriffene Gast war ebenfalls nicht wehrlos und er meinte, auf Herrn Beugler deutend:
»Und der Herr wird sicher a Küniglzucht daham hab'n. Er hätt's just net notwendi, daß er si um an' Menschen annimmt, der wirkli an' Buam z'samm'bracht hat.« Er lüftete den Hut nach allen Seiten. »Erlaub'n die Herrschaften, daß i mi vurstell: Salinger zu dienen, Salinger von der Neubaugassen. Bandwaren . . . mein' Laden kennt jed's Kind. Wann S' mi dort hamsuach'n woll'n«, wendete er sich ironisch an Herrn Beugler, »so werd'n Ihna meine Buam die 101 Honnär machen. Vier Stuck und alle net ohne. Kane Ratzen, sondern richtige Buam«, wiederholte er nochmals, um über diesen Gegenstand keinen Irrtum aufkommen zu lassen.
Herr Kolb in seiner Gutmütigkeit hatte sich durch den unziemlichen Witz über die Berufswahl seines Sohnes nicht im mindesten aufgeregt. Das Geplänkel des fremden Gastes mit seinen »Spezis« bereitete ihm großes Vergnügen. Aber die Ansicht des ersteren bezüglich der Mannheit des Roßhaarkremplers nötigte ihm ein dröhnen des Lachen ab.
»Kommen S'«, sagte er endlich zu Salinger aus der Neubaugasse, »schenken S' Ihner ein. Heut soll all's leb'n. Und weiter ka Streiterei. Was aber den anbelangt«, er deutete auf den kinderreichen Beugler, »so waß in net, san's bei eahm scho anderthalb Dutzend oder fehlt no ans drauf. Schau'n S' Ihnern an, den Mann, – alle Achtung! Da müassen mir uns verstecken. I mit mein' anzigen und Sie mit Ihnere viere, bei all'n Respekt davur.«
Er hob das Glas.
»Hoch! Alle soll'n leb'n und alle an eahnere Kinder a Freud' derleb'n!«
Der Eingeladene hatte sich nicht zweimal nötigen lassen. Alle Bitterkeit sowohl auf seiner 102 wie auf seiten Herrn Beuglers ward in kernigen Schlucken ertränkt.
Man stieß lärmend zusammen, brachte unzählige Hochs aus, und als die Stimmung schon bedeutend fortgeschritten war, trank Herr Salinger, der sich der Gesellschaft als fescher Kerl entpuppte, mit allen Bruderschaft.
Ab und zu schoß etwas wie eine verwirrte Erinnerung durch sein Hirn, als wäre er in der Früh beim Verlassen seiner Wohnung im Begriff gewesen, einen dringenden Geschäftsgang zu machen. Da er jedoch über den betreffenden Gegenstand der »Dringlichkeit« mit sich nicht ins klare kommen konnte, versenkte er das Gedenken an ihn reulos ins Meer der Vergessenheit.
Wer sich dem vermessenen Glauben hingäbe, die ganze männliche Kumpanei sei in den geborgenen Hallen des Gasthauses allen zärtlicheren weiblichen Einflüssen und Heimsuchungen entrückt gewesen, würde sich einen nicht nachzusehenden Irrtum zuschulden kommen lassen.
Denn abgesehen von dem stets aufrecht erhaltenen Nachrichtendienst, entwickelten die Ehefrauen der jeweilig in der Gastrunde vertretenen Männer einen sonderbaren Eifer, sie auf die Mittagsstunde, dann auf jede weitere verrinnende Stunde aufmerksam zu machen, sie zu ihrem heute 103 unterbrochenen Tagewerk zu drängen, alles mit mehr oder minderer Liebenswürdigkeit.
Aber keine einzige versäumte, ob mit freundlichem oder grollendem Antlitz, zu jeder Zeit den ihr angebotenen flüssigen Beweisen für die Seßhaftigkeitsdauer nachzugeben.
Um die Worte meiner schon zitierten Gewährsmänner zu gebrauchen: »I man' allweil, an dem Tag war die ganze Gassen b'soffen. Na, wann das dem Kolb net mindestens an' Hunderter 'kost't hat . . .«
Möge es ihn was immer gekostet haben. Herr Kolb besaß es und hatte nichts zu bereuen. Und das große Glück, das, ihm einstweilen neidisch verborgen, daheim lag, war wohl viel, viel mehr wert. 104