Karl Adolph
Haus Nummer 37
Karl Adolph

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Einundzwanzigstes Kapitel.

(Beweist, daß Festigkeit und Würde allein eine gefallene Größe zieren. Ludwig fühlt sich genötigt, ein Wort zu brechen und übernimmt eine heikle Mission.)

Ein geschlagener Feldherr, dessen Truppen die Walstatt bedecken oder den Siegeseinzug des Feindes zieren helfen, mochte mit geringerem Schmerze die Wetterwendischkeit des Kriegsglückes beklagen, als der Gentleman mit der schweren silbernen Uhrkette samt vielen Anhängseln und dem goldenen Flinsel im Ohr. Wie durch höhere Fügung war ihm eine schmähliche Gefangennahme erspart geblieben. Ein nicht näher interessierender Umstand hatte ihn verhindert, mit den Genossen das bisher schutzbereite Haus zu erreichen, und ihm verdankte er, das Haupt des edlen Bundes, seine Freiheit. Ach! es war eine teuer erkaufte Freiheit und »Ehre verloren alles verloren« war auch hier Wahlspruch.

Zu nicht geringem Staunen und grenzenloser Empörung des am nächsten Tage in der Nähe des Hauses patrouillierenden Wachmannes erschien mit den alten Allüren biederer Sorglosigkeit der armeelose General auf der Bildfläche und mit einer, seine seltene Geistesgegenwart ins schönste Licht setzenden Ungeniertheit redete er den Posten an.

»Also ham m'r s' endli? Gott sei Dank! Sö glaub'n gar net, was für a Trumm von an Stan mir vom Herzen g'fall'n is. Das war a Kapitalstückl von Ihna, dös hätt' i unserer Polizei gar net zuatraut. I bin froh, sunst hätt' i aus derer Geg'nd müassen wegziag'n, und mir is nur um 364 dö frische Luft da heraus z' tuan. I bin nämlich ziemli schwach auf der Brust, können m'r 's glaub'n, soviel schwach. Aber wann m'r si ah um seine paar Netsch do heraußt sorg'n muaß, da ziag' i mi do lieber eini. Gott sei Dank, jetzt leb' i wieder auf.«

Es lag soviel Unverfrorenheit, soviel Hohn und soviel kränkende Beleidigung für eine im staatlichen Dienst stehende Person in diesen Worten, daß der mit der Persönlichkeit des frotzelnden Herrn wohlvertraute Wachmann die Geduld und Selbstbeherrschung verlor, die bisher er und seine Kollegen an den Tag zu legen für gut befunden.

Einem unterlegenen Feind gegenüber fühlt man sich nimmer zur Selbstverleugnung verpflichtet.

»Schaun S', daß S' abfahr'n, Strotter elendiger, sunst nimm i Ihner mit. Am besten war's, Sö verschwinderten überhaupt, denn es wird nimmer lang dauern, werd'n S' g'suacht werd'n und daß m'r Ihner finden, können S' sicher sein.«

»So?« Und der Verbrechergeneral zwinkerte sehr verdächtig mit einem Auge. »Glaub'n S' wirkli? I möcht' nur wissen, weg'n was i sollt' g'suacht werd'n.«

»Halten S' mi net für an Narrn und schleichen S' Ihner. Mit so Bürscherl mach'n mir kane G'schichten. Und wann m'r Ihner anmal bei uns drin hab'n – brauchen S' Ihner net umschaun, wia's do der Haslinger gnädi hat.«

»Gehst net doni!« schrie der andere und tat unendlich erschrocken. »I bitt Ihner, san S' wieder guat, i wir schon wieder brav sein!« Und er faltete mit einer kindlich neckischen Art die Hände und tat so, als wollte er jeden Augenblick auf die Knie fallen.

Dem Wachmann mochten angesichts solcher Frechheit und Verruchtheit doch Bedenken darüber aufsteigen, ob es 365 geraten sei, diesen gefährlichen Burschen durch einen Akt der Autorität zu einem unversöhnlichen Feind zu machen. Er begnügte sich, ihm einen verächtlichen Blick zuzuschlendern und dann – Kehrt zu machen und seine Runde nach der entgegengesetzten Seite hin aufzunehmen.

Der Zurückgebliebene sah ihm mit einem höhnischen Grinsen nach. Ihm schmeichelte die Anerkennung seiner Macht, die sogar jetzt noch in ihrer Verblaßtheit genügend wirkte, daß man seine Feindschaft vermied.

Dann jedoch, sich seiner Stellung als depossedierter Heerführer bewußt werdend und mit Gefühlen, die einst Napoleon auf seinem Felseneiland bewegt haben mochten, wandte auch er sich und verschwand in der Richtung des Laaerberges zu, um unter einem Gebüsch mit sich selber Rats zu pflegen, was unter gegebenen Umständen am besten zu tun wäre.

Daß die Behörden diesem Burschen nicht ankonnten, lag daran, daß er von einer Schlauheit war, die aller Schlingen spottete. Obwohl der Anführer und das geistige Haupt einer gefürchteten Rotte von Verbrechern, brauchte er nicht einmal zu besorgen, daß ihm ein Verrat schaden könne. Niemals persönlich tätig an einem inszenierten Einbruch oder Überfall, vermochte keines der Mitglieder seiner Bande behaupten, ihr Chef hätte dies und jenes am Gewissen; abgesehen davon, daß es im Interesse eines jeden einzelnen lag, ihn nicht zu verraten, denn seine Freiheit bedeutete mehr als die jedes andern. Sein Spürsinn, die Genialität seiner Leitung, die Finten und Schliche, deren er sich bediente – all das kam denjenigen zugute, die nach verbüßter Haft ihr gewohntes Fortkommen sichern wollten. –

Selbstverständlich hatte die Aufhebung des Verbrechernestes allenthalben die freudigste Sensation erregt. Die 366 allergefährlichsten Strolche waren für längere Zeit unschädlich gemacht. Es befanden sich darunter manche, die nicht zum ersten Male die Bekanntschaft mit dem Strafhause gemacht, und bei der Untersuchung mochten sich Dinge ergeben, die ihnen nun lange Jahre »Stein« eintrugen. Allenthalben rühmte man den Spürsinn und die Energie der Polizei, der diese Tat gelungen. Blaschke hüllte sich in bescheidenes Schweigen.

Herr Schwarz, der alle Ereignisse nur unter dem Winkel ansah, in dem sie zu seinem persönlichen Interesse und Wohlergehen standen, äußerte sich nichtsdestoweniger sehr mißbilligend über genannte Institution.

»Alls recht schön,« sagte er, indem er einer Kunde Butter abwog und bemüht war, von dem armseligen Stück mit dem Messer winzige Fragmente abzustechen, da die Wage (die von unerhörter Feinfühligkeit sein mußte) die Neigung nach der Warenseite zu bewahren schien, »alles recht schön, jetzt'n ham s' ös. Aber wia lang ham s' ös net g'habt? Während der ganzen Zeit hätten s' unseran ausraub'n und waß Gott was no können. Auf wem verlaßt m'r si nocha no, wann schon d' Hausmasterleut' mit dem Raubersvolk in an Bandl san? Gebert m'r die Polizei was dafür, wann i ausg'raubt war wurd'n ehnder, bevur s' no die Haderlumpen derwischt hat? Seg'n S', für so was zahlt mar pünktli seine Steuern, daß an so was passiern kunnt. Rechnen S' Ihner z'samm, was seit kurzer Zeit alls in und um den Haus vurgangen is. Sö, da vergeht am der Gusto, wissen S', und i wir schaun, daß i so bald als mögli weiterkumm. Zu was i m'r ah da heraus, in dem Haus, a G'schäft g'numma hab', waß i wirkli net.«

Herr Schwarz wußte es aber wirklich sehr gut. Er war auf einem weiten Umkreis der einzige Gemischtwarenverschleißer 367 und man kam in sein Geschäft aus ziemlicher Entfernung. Dann wußte er, daß in absehbarer Zeit die umliegenden Gründe verbaut würden, und was ließ sich da verdienen an den bei den Bauten beschäftigten Arbeitern! Drittens hatte er dann schon einen alten Posten, dem eine zahlreiche Kundschaft aus den neuerbauten Häusern zuflog und der eine später auftauchende Konkurrenz nimmer zu fürchten hatte.

Allgemein wurde das traurige Ende der Frau Fischer bedauert, deren Leiche man noch am selben Morgen aus dem Wasser gezogen hatte.

In überraschender Weise betätigte sich das Mitgefühl bei dem Leichenbegängnisse der erlösten Dulderin. Hunderte von Menschen folgten dem Sarge, eine eingeleitete Sammlung ermöglichte ein anständiges Begräbnis bei Tage und unter den Zeichnern für einen Kranz seitens der Hausparteien waren der »Kapral« und – Herr Schwarz vertreten.

Am erschütterndsten hatte der endliche Ausgang dieser Familientragödie auf Anton gewirkt, obwohl er sonst seit einiger Zeit allen Vorkommnissen um ihn mit einer Gleichgültigkeit gegenüber stand, die sich nur daraus erklären ließ, daß sein Geist mit irgend etwas Besonderem intensiv beschäftigt sei. Dem war in der Tat so. Seit seinem letzten Zusammentreffen mit Milly versank er in Grübeln und Sinnen, das den schon früher keineswegs wortreichen und lebhaften Menschen vollständig zum düsteren Sonderling werden ließ. Er zog sich in gänzliche Vereinsamung zurück, und scheuchte auch die Ambros noch mehr von sich, als er es bisher getan hatte.

Ihr Anblick schien ihm geradezu widerwärtig zu sein. Ihre verhängnisvolle Ähnlichkeit mit dem jungen Mädchen lag, so sonderbar es scheinen mochte, dieser Abneigung zugrunde. In sein Kabinett gebannt, nachdem er von der Arbeit heimgekommen, hing er den unfruchtbarsten Gedanken 368 nach, und so durch gar nichts abgelenkt, mußten sie eine Gewalt über ihn erringen, die endlich zu seinem Verhängnis wurde.

Wäre Anton ein Wirtshausgänger gewesen, oder hätte er seinen Geist durch Lektüre zu beschäftigen vermocht, wäre die Intensität seiner Gedanken an Milly eine bei weitem schwächere gewesen.

Immer vermeinte er den Duft des feinen Parfüms einzufangen, glaubte ihr süßes Lächeln auf sich gerichtet zu fühlen und ihre klare, heitere Stimme zu hören.

Männer aus dem Volke hängen zäher und leidenschaftlicher an dem Gegenstande ihrer Liebe, als Männer der besseren Stände. Sie haben noch den naiven, unabgestumpften Sinn für das, was sie als schön und liebenswert erklären, und fühlen vor allem nicht die Furcht vor Lächerlichkeit. Wie in all ihren Leidenschaften, sind sie auch in der Liebe von natürlicher Urwüchsigkeit, durch keinerlei Spekulationen beschwert und wie Kinder, in ihren Absichten nur dem Ziel zugewandt, ohne sich zu fragen, ob dessen Erreichen der Mühen wert sei und vor allem was die Welt dazu sagen möge.

Wie es so geht – wenn zwischen zwei noch so guten Freunden eine räumliche Trennung eintritt, erblaßt allmählich bei einem das Bild des andern, und wie heilige Versprechen man sich gegeben haben mochte, sich recht oft wiederzusehen, der Besuchseifer kühlt allmählich ab. Auch Ludwig hatte nun schon seit Wochen keine Gelegenheit gefunden, Anton aufzusuchen, ebensowenig als er die Ambros mehr mit einer Tagesvisite beglückt hätte. Einesteils war seine Zeit wirklich beschränkt, andernteils wollte er sich nicht in die Netze der hübschen Witwe verstricken und vor allem war es ihm peinlich, an das Milieu erinnert zu werden, in dem er einige Zeit 369 hindurch eine so hervorragende Rolle gespielt. Wie einstens Lord Leicester der Mortimer, so war Ludwig der »krumpe Seppl« sehr gelegen gestorben. Es war vielleicht der klügste Einfall seines Lebens, den dieser je gehabt. Schade übrigens, daß er ihm so spät gekommen.

Eines Tages schickte sich Ludwig an, eben vom Hause Herrn Tänzingers den Weg nach der nächsten Tramwayhaltestelle anzutreten, als er merkte, daß ihm eine Frau zuwinke. Diesem Zeichen folgend und auf die Person näher zutretend, erkannte er zu seinem größten Unbehagen die Ambros, deren in das Gesicht gezogene Kopftuch ein Erkennen von weitem erschwert hatte. Es wäre ihm unangenehm gewesen, so in unmittelbarer Nähe des Hauses mit der Frau im Gespräche betroffen zu werden, deshalb lenkte er seine Schritte in eine Seitengasse, wohin ihm Frau Ernestine folgte.

»Haben Sie mir etwas zu sagen?« frug er nach der ersten, etwas steifen Begrüßung, in der er seine Freude ausgedrückt hatte, seine ehemalige Quartierfrau wiederzusehen.

»Warum lassen S' Ihner denn gar nimmer anschaun bei uns?« fragte diese mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Liebe Frau Ambros, bei meiner Überhäufung mit Arbeit kann Sie das wirklich nicht wundern und ich muß schon um Entschuldigung bitten.«

»Mein Gott, anmal kunnten S' Ihner do um Ihnern Freund umschaun. Weg'n mir is eh net, was werd'n Sie Ihner ah viel um a Person kümmern, wia i bin.«

Es lag soviel weibliche Entsagung und Untertänigkeit in diesen Worten, daß Ludwig fühlte, er sei sehr undankbar gegen diese Frau, die ihm nur Zuneigung entgegengebracht, und daß er kein Recht habe, durch ein fremdes, verletzendes Wesen ihr Kränkung zuzufügen. Er beeilte sich daher zu versichern:

370 »Sie irren sich, wenn Sie glauben, ich würde nicht Ihretwegen allein mich zu einem Besuche gedrängt fühlen. Ich machte mir in letzter Zeit schon oftmals selbst Vorwürfe, so nachlässig zu sein, wenn man es so nennen kann. Was wird sich Anton denken?«

»Grad weg'n dem is, daß i mit Ihner reden will, i hab' m'r beiläufig g'merkt, um welche Zeit als Sie von da weggengan . . . .«

»Wie,« sagte Ludwig erschrocken, »ist ihm etwas passiert, ist er vielleicht krank?«

Die Ambros schüttelte den Kopf.

»Das net, obwohl's vielleicht no besser wäre, als das andre. Sie glaub'n gar net, wia er si in aner kurzen Zeit verändert hat. Er is wia ausg'wechselt, net zum derkenna.«

»Bitte, sagen Sie rasch, was es gibt! Ich bin ganz außer mir vor Besorgnis«, drängte Ludwig.

»Die G'schicht is dö,« fuhr die Frau fort, »daß er gemütskrank is. Und jetzt waß i ganz bestimmt, warum, wia i m'r's früher dacht hab', Ihnen hab' i's ja ah g'sagt – Sie erinnern Ihnen do, damals . . . .«

So weit das vorgeschobene Kopftuch es gestattete, sah man, daß die der Ambros eigene Röte wieder ihr Gesicht überzog. Heute fand aber der junge Mann keine Zeit, es ihr gleichzutun. Er forschte nur hastig.

»Also die Liebesgeschichte mit diesem jungen Mädchen soll . . .?«

»Richtig. Er hat s' vor aner Zeit g'seg'n. Der Huxtl, der damals mit war, es war am Tag nach sein' Benefiz, hat mir's erzählt. Wissen S', i kenn' die zwa Leut', 'n Anton und das Madl, schom wia s' no Kinder war'n. Sie san für a paar Jahr ausananderkummen und wia sie si wieder g'seg'n hab'n, war beim Anton 's Malör firti. Seit derer Zeit denkt 371 er nur immer an sie, und jetzt, seit'n letztenmal, is gar aus. Wann m'r an Menschen so lang kennt, hat m'r an Blick für so was. Denken S' Ihner, in letzter Zeit fangt er an zum Trinken.«

»O, nicht möglich!« rief Ludwig erschüttert. »Ich kenne ihn doch als ganzen Mann, der nicht eine Leidenschaft durch eine andere, so schreckliche aufheben wird wollen.«

»Ui je,« sagte die Ambros mit der Miene einer Person, die ihr Stück Welt kennen gelernt, »da müassen S' erst wissen, was a verliabter Mensch imstand is. I kann mit eahm gar nix reden, er mag mi net anmal anschaun. Ich möcht' wissen, warum?« fügte sie mit Bitterkeit hinzu. »Aber Sie, wann S' mit eahm reden möchten, auf Ihner halt' er was. Sag'n S' eahm, wia patschert er is, wann er si an das Madl anhängen will . . .«

»Ich denke,« unterbrach sie Ludwig, »das Geeignetste wäre, man könnte ihm die Verbindung mit dem Mädchen verschaffen. Vernunftgründe dürften in einem solchen Falle nur eine sehr schwache Wirkung haben.«

»Das Madl? O na, die is für eahm verlurn. Da kenn' i's z' guat. Sie hat eahm ja gern, aber heirat'n – na! Da dürft er ka armer Fabriksschlosser sein. Alles tät s', nur das net.«

»So, Sie kennen das Mädchen? Haben Sie denn keinen Einfluß auf dasselbe?«

»I? O Gott na! Villeicht hab' i selber viel Schuld, daß 's jetzt so is, das hab' i aber net wissen können, und dann hab i 's nur guat g'mant mit ihr.«

»Sei die Sache wie immer, hier können wir das Nähere nicht besprechen, ich komme heute abends. Selbstverständlich braucht Anton nicht zu wissen . . .«

»Um Gottes will'n net!« rief die Frau erschreckt. 372 »Wann der a Idee hätt« – Nach Art weicher, liebebedürftiger, sinnlicher Frauen hegte sie eine fast sklavische Furcht vor ihrem Geliebten.

»Gewiß, das soll auch nicht sein, er würde sich beschämt fühlen. Also abends, ich muß mich heute schon beeilen, denn ich habe noch zu tun.«

Ludwig verabschiedete sich mit einem Händedruck und nahm von dem zärtlich vorwurfsvollen Blick der hübschen Frau heute nicht mehr Notiz, als von dem irgendeiner gleichgültigen Person. Er war im Augenblicke wirklich nicht gelaunt, zärtlichen Regungen nachzugeben, wo ihn die Eröffnung, welche ihm eben gemacht wurde, noch allzu sehr beschäftigte. – – –

Abends traf er seinem Versprechen gemäß bei Frau Ernestine ein. Anton war noch nicht zu Hause. Ein Alleinsein mit seiner ehemaligen Quartierfrau und Geliebten behagte Ludwig indessen bei seiner jetzigen Stimmung durchaus nicht. Er liebte seinen Vetter aufrichtig und war in großer Besorgnis um ihn.

Früher wäre es niemals der Fall gewesen, daß Anton um diese Zeit nicht daheim war. Es lag etwas fast Pedantisches, Nüchternes in der Pünktlichkeit, wie er seine Zeit einteilte.

Die Ambros wäre übrigens über dieses Ausbleiben heute nicht sehr böse gewesen. Für sie gab es keine Gelegenheit, die ernst genug gewesen wäre, ihre girrende Sehnsucht zurückzudrängen. Aber Ludwigs ernstes Wesen, eine gewisse energische Weise, in der er ihr befahl, in dem Kabinett Licht anzuzünden, bewogen sie von weiteren Versuchen, die alten Liebesstunden zu erneuern, abzusehn. Sie brachte das Licht und nach einem letzten bedauernden Blick zog sie sich zurück. 373 Ludwig blieb in tiefes Nachsinnen versunken sitzen und bedachte gar nicht, wie schnell die Zeit verrann.

Endlich störten ihn Schritte, die sich der Türe näherten, auf. Wie eine schwere Last befiel es sein Herz, als er dem Takt dieser Schritte lauschte. War das der feste elastische Gang Antons?

Die Türe ging auf und in ihr stand dieser. Es bedurfte nur eines raschen Blickes und Ludwig wußte, daß die Ambros leider nur zu wahr gesprochen.

Anton blickte erschreckt und beschämt seinen Besucher an. Er war sich seines Zustandes bewußt, und noch nicht gegen ein Gefühl abgestumpft, das ihn bisher stets beherrscht hatte, das Gefühl der Anständigkeit. Sein Gesicht war unnatürlich gerötet und der Gang schwankend. Mit weinschwerer Zunge grüßte er Ludwig, und sogar in diesem Zustande bemühte er sich, sein Geheimnis zu bergen, indem er mit einem traurigen Lächeln ihm die Hand reichte und versicherte, heute ausnahmsweise ein wenig verunglückt zu sein.

Wortlos sah der Student seinen armen Vetter an. Ihm war so schwer ums Herz, wie es jedem ist, der einen Lieben auf einen Weg gebracht sieht, zu dem diesen ein verborgenes Leid nötigt.

Anton setzte sich an den Tisch mit der offenkundigen Bemühung, seinem Gegenüber einen gleichgültigen Ausdruck zu heucheln. Als er jedoch Ludwigs Augen mit so schmerzlichem Vorwurf auf sich gerichtet fühlte, hielt er beide Hände vors Gesicht und verharrte in dumpfem Schweigen.

Minutenlang saßen sich die beiden jungen Leute stumm gegenüber, ein jeder befürchtend, die Stille zuerst zu unterbrechen.

Endlich ermannte sich Ludwig und dem andern die Hände von den Augen ziehend, sprach er:

»Anton, mein Lieber, höre mich an! Schäme dich nicht vor mir! Du gehst entweder einen schweren oder bösen Weg, aber in jedem Falle bin ich deines Vertrauens wert. Bedenke, daß wir Brüder sind, und daß ich dir helfen will, soviel ich vermag.«

Anton ließ sich einen Augenblick die Hände von seinem Gesicht trennen und heftete den unstäten Blick auf den Sprecher. Dann barg er wieder den Kopf.

»Ich lasse nun nimmer von dir ab«, fuhr Ludwig fort, indem er seinen Stuhl neben Anton rückte und brüderlich den rechten Arm um dessen Schulter schlug.

»Es ist schon lange etwas mit dir nicht in Ordnung, aber ich bemerkte es früher nicht, ich kannte dich zu wenig. Anton, mein Bruder, ich denke daran, wie brüderlich du mir fremdem, armen Studenten entgegenkamst, wie deine Freundlichkeit und Güte mir das Leben in dieser großen Stadt erleichterten und jetzt mache ich mir Vorwürfe, einige Zeit dir ferngeblieben zu sein, so daß ich nicht gleich im Anfange dir zurufen konnte: Halt ein! Aber die Zeit da wir uns nicht gesehen, hat mir den Unterschied klar gemacht, der zwischen dem Anton von damals und dem von heute herrscht.

Ich bin mir nur nicht ganz bewußt, was dich bedrückt. Etwas Böses hat über dich keine Macht. Also ist es die unfruchtbare Zuneigung zu einem Weibe. Jetzt gestehe mir einmal alles!«

»Du hast recht,« sagte Anton, ohne sein Haupt zu erheben, »i bin selber a alt's Weib word'n und bin jetzt am besten Weg mi zum verlier'n. Schau, soviel kann a Madl aus dir machen, daß d' aner wirst, den m'r mit'n nassen Fetzen niederschlag'n kann. I hab' mi bis heute g'schamt, von der G'schicht' mit dir z'reden, i siech's ja ein, sie is zu dumm, zu dumm, aber was kann i machen, es is stärker 375 wia i. I will d'r anmal all's erzähl'n, wannst m'r ah net helfen kannst.

»Wer weiß? Zum mindesten dir einen vernünftigen Rat geben, wird mir wohl gelingen. Kopf hoch, Anton! Sei dein Unglück ein wirkliches oder eingebildetes, so bitte ich dich dennoch, sei ein Mann! Willst du einem Dämon dich ergeben, dessen Macht du nur zu sehr an andern kennen gelernt? Du, der edelmütige brave Bursche, willst nur gegen dich allein wüten in einem Schmerze, der zu töricht ist, als daß du ihn binnen kurzem nicht selbst belächeln solltest?«

»Leicht g'sagt, Ludwig,« sagte Anton müde, »aber mit dem allen wird mir net leichter. Es is net um a Liebschaft z'tuan, wia m'r g'wöhnli ane anfangt und bald wieder vergißt. Da schau di um,« und er deutete auf die paar ärmlichen Möbelstücke seiner Behausung, »das alles erinnert mi an sie, an Zeiten, so schön, wia s' niamals, gar niamals mehr kummen werd'n.

I hab' z'Haus ka leicht's Leb'n g'habt, d'r Voda war a finsterer Mensch, streng, daß's nimmer schön war, mein arme Muatta hat mit mir vur eahm zittert – und da, da is wia a Engel vom Himmel die klane Milly von Nachbarn mir beig'standen. Ja, das war's, sixt, weil m'r uns schon von klan auf kennt hab'n, und weil s' mi an mein Muatta g'mahnt, die s' gern hat g'habt wia a eigenes Kind. War s' net so bald gangen, war alles anders wurd'n, b'sunders für das Madl.«

Empfand Ludwig einen schnellen, blitzartigen Verdacht, wie er sich dem Menschen manchmal aufdrängt, wie eine kurze, rasch entschwindende Erkenntnis, er vermochte sich selbst nicht zu sagen, warum ihn der Name Milly so erschreckte. Er wartete indes ruhig, bis Anton fortfuhr.

»Lang hab' i's auß'n G'sicht verlurn g'habt, aber vur 376 aner Zeit is s' m'r wieder begegn't, schöner und liaber als jemals.«

Dann erzählte er Ludwig die ganze Geschichte seiner Kindheit und der Zeit, als er Milly nach Jahren wiederum getroffen. Wie er von ihr nichts anderes wußte, als daß sie um ihrer Schönheit willen Hände gefunden, die sie in Seide kleideten. Den Beschluß bildete die Schilderung des Zusammentreffens mit ihr, da er und Huxtl den bekannten »Generaldrahrer« gemacht.

»Also die Ambros kennt das Mädchen?« frug Ludwig, nachdem er zwischen dieser Frage und Antons Mitteilungen eine lange Pause gewahrt hatte.

»Selbstverständli. Und wannst d'r die Ambros anschaust, hast die Milly. Nur was der Unterschied vom Alter und 'n G'wandl ausmacht.«

»Und du sagst, das Mädchen sei eine – eine – Ausgehaltene, wie man hier sagt? Was willst du dann von ihr? Kannst du ihr Ersatz bieten für das, was du ihr an Existenzmöglichkeit nehmen willst?« Er frug dieses rein mechanisch, ohne Teilnahme.

Anton warf einen stolzen Blick auf seinen Verwandten, dann sagte er einfach.

»An ehrlichen, rechtschaffenen Namen als Weib möcht' i ihr geben, guat g'halten wurd' s' von mir, wia nur ane verlangen kann, und arbeiten möcht' i für sie, daß s' niamals a Not kennen lernet. Mehr kann unseraner net tuan.«

Ludwig, den die Eröffnung Antons in einer Weise erschüttert hatte, daß er ganz seines Vorsatzes, wegen dessen er gekommen war, vergaß, blickte schweigend vor sich hin.

Nun war ihm mit einem Male klar, daß er selbst Milly liebte, daß er eigentlich ein Nebenbuhler desjenigen sei, den 377 zu trösten und ihm zu helfen er gelobt hatte. Zu gleicher Zeit war seiner Eigenliebe ein mächtiger Schlag versetzt worden.

Verliebt in die Geliebte Herrn Tänzingers, wie ein dummer Junge, dem man ein beliebiges Märchen aufbinden konnte! Er fühlte sich gefoppt und in seiner Manneswürde tödlich beleidigt. Zugleich war er böse auf sich selbst, daß er diese durchsichtigen Lügen nicht als das genommen, was sie waren. Aber wenn ihm das Bild Millys vor Augen erschien, fühlte er, wie natürlich Antons Leidenschaft und sein Liebeskummer waren.

Wie bereute er seine erst gemachte Äußerung über ein Leid, das Anton binnen kurzem selbst belächeln sollte. Auch ihm war nicht danach, seine Schmerzen allzubald belächeln zu können. Was ihn jedoch trotz aller Bitternis noch mit Erstaunen erfüllte, war die Selbstverständlichkeit, mit der sein Cousin von der schnöden Stellung der Geliebten sprach.

Wie, er wußte von ihrer Schmach, und dennoch begehrte er sie zum Weibe? Eine Gefallene, eine Dirne – trotz alledem, was sie von den Dirnen gewöhnlichen Ranges unterschied?

Anton mißdeutete das Schweigen seines Vetters.

»Jetzt hast all's g'hört, und wirst selber sag'n, die G'schicht' hat kan Hintergrund. Du kannst das net verstehn, Ludwig, du waßt net, wia's an im Innern is.«

Der war aufgestanden und machte in dem kleinen Raum so viele Schritte, als sich durch oftmaliges Umkehren machen ließen. Dann hielt er vor Anton und sagte.

»Wir sind alle zwei das Opfer dieses Mädchens. Seinetwegen habe ich dich unwissentlich belogen. Verzeihe mir, aber ich hatte keine Ahnung des Verhältnisses, in dem ihr zueinander standet. Ich kenne Milly seit längerer Zeit, ich bin ihr Lehrer und sie ist – du brauchst nicht zu raten, 378 es würde dir niemals beifallen – die Maitresse Herrn Tänzingers.«

Kein Ausdruck von Haß und Leidenschaft würde in diesem Momente dem geglichen haben, der Antons Gesicht verzerrte. Wohl, er wußte, daß Milly die Geliebte eines reichen Mannes sein müsse. Aber ihretwillen, um ihrer Schönheit und ihrem Werte die gebührende Achtung zu zollen, war in seinen Augen der Aushälter ein Kavalier, ein schöner begehrenswerter Mann, dem zum Überflusse noch der nötige Reichtum zur Verfügung stand. Er haßte bisher diesen Unbekannten instinktiv, mit dem Hasse des Nebenbuhlers. Aber diese Nebenbuhlerschaft hatte nichts Schmähliches, Entehrendes, sie vermochte das Mädchen seiner Liebe nicht herabzusetzen, ihren Geschmack nicht als verirrten zu brandmarken.

Und jetzt? – Anton konnte das Ungeheuerliche fast nicht begreifen. Er kannte Tänzinger, wer hätte diese Persönlichkeit nicht gekannt, wenn auch nur vom Sprechen? Anton jedoch hatte Gelegenheit gehabt, ihn dank Huxtls Verführungskünsten leiblich, unmittelbar zu sehen. Und wenn je eine Kröte auf einem Rosenblatt gehockt, war es dieser schmierige, fettige, schmerbäuchige Branntweinverkäufer.

Nun forderte Anton seinen Cousin auf, zu erzählen. Ludwig berichtete von seiner Bekanntschaft wahrheitsgetreu und fand sich auch nicht bewogen, das Versprechen zu verschweigen, das er geben mußte, um Millys Spur verborgen zu halten.

Es lebte eine ehrliche Empörung in ihm, die freilich auch ein gut Teil auf seine gekränkte Eigenliebe zu setzen war.

Anton, dem die Aufregung selbst den letzten Rest seiner Trunkenheit genommen, horchte aufmerksam, aber trübe gestimmt dem Berichte zu.

379 »Arm's, arm's Madl,« murmelte er, »aus dö Händ' muaßt herausg'rissen werd'n.«

»Was hast du vor?« frug Ludwig, als er geendet und diese Worte vernommen.

»Was i vurhab'? Das, was i früher woll'n hab', und jetzt mehr als sunst.«

»Du wolltest – – sie dennoch heiraten?« frug der Student mit einem Staunen, das dem andern fast ein Lächeln entlockte.

»Warum net? War a schlechte Liab', dö si an dem stoßen möcht'. Und wann i ah auf mi schaun wollt' – das Madl kann i do net so verkummen lassen! Wann's jetzt scho so weit is, was wird denn später werd'n? Schau, mi kümmert's nix, was war, sundern was sein kann. Bisher hab' i net mit ihr allan reden können, daß i ihr so recht hätt' vorg'halten, wo das Leb'n hinführt. Heut oder morg'n muaß ihr do der Grausen davor kummen. I waß, was du dir denkst. So a Madl, mit dem Ruaf möcht' er heiraten, eahm sein ornd'tlichen Nam' geb'n! I bin allan, hab' auf neamd aufz'passen und wann das Alte von mir vergessen wird, möcht' i an kennen, der no dran denkt, solang i dabei bin. Ludwig, schau, tua m'r den anzigen G'fall'n und red' mit der Milly. Sie möcht' m'r nur anmal G'legenheit geb'n, daß i mit ihr z'sammkummen kann. Sie wird vielleicht mehr auf di hör'n wia auf mi selber. Sag ihr, wia's um mi steht. Sie hat mi immer gern g'habt, i waß's, und wann is' könnt' in Spitzen und Seiden g'wanden, so hätt' s' gar niamals na g'sagt. Daß i s' b'hüaten tät vor der klansten Sorg' und vor'n Armsein – Ludwig, du kennst mi. Mit dem Madl wir i a ehrlicher, fleißiger Mann, ohne ihr a Lump. Tua m'r den G'fall'n!«

Es lag in der klaren Anerkennung der Tatsachen und 380 in der Bereitwilligkeit, ihre Folgen trotzdem auf sich zu nehmen – in der edelmütigen Art des Verzeihens und Sichentäußerns eine so schlichte Würde, daß Ludwig trotz aller widersprechenden Gedanken sich mit der ihm zugemuteten Rolle des Vermittlers zu befreunden begann, zumal Anton noch hinzusetzte:

»Därfst's dem Madl net für übel nehmen, wann's am unrechten Weg kummen is. Ihre Leut' a leichtsinnigs G'lumpert, seelenguat, aber für a Erziehung gar nix. Nach d'r Muatta ihr'n Tod is d'r Vota a B'suff word'n, der si um sein Kind gar nimmer kümmert hat und wia i d'r erzählt hab', auf anmal verschwunden is. Wer hätt' soll'n auf das Madl aufpassen? Als a verwilderter is s' auf der Gassern umeranand g'rennt, und die einzige, die aus ihr was richten hätt' können, war mein' Muatta g'west. Und wia s' in d'Fabrik kummen is, das arme Ding, a jung's, saubers Madl – unter die alten Neidschachteln einpreßt, die all's verzeihn können, nur net, daß ane jünger und fescher is – san m'r ehrli, es war a Wunder g'wesen, wann s' si da g'halten hätt', wo s' nur zuagreifen hat brauchen. I kann ihr in aner Art net unrecht geb'n. Was sie bisher g'seg'n hat vom Familienleb'n, war, wann's guat gangen is, ewige Entbehrung und Not. Und für an Mann, der s' net zum schätzen waß, war sie viel zu guat. Wann ah der alte Branntweinjud a abscheulicher Kerl is, so waß er, was er an ihr hat und wickelt s' in Gold ein.«

Diese freimütige, einfache Art, die Geliebte von dem ärgsten Makel der Feilheit und Käuflichkeit zu reinigen, bewirkte, daß Ludwigs Urteil ein minder hartes und verdammendes wurde, obwohl er das Erwachen aus einem lieblichen Traum nach wie vor schmerzlich genug empfand. Die größte Sorge machte ihm der Umstand, Milly als ein 381 Vertrauter ihres ganzen bisherigen Lebens entgegenzutreten. Es gehörte seinerseits große Selbstüberwindung und Takt dazu, um über diese gefährliche Klippe zu kommen.

Nach allem, was er von des Mädchens Charakter wußte, hegte er für seinen Cousin nicht viel Hoffnung. Es war absurd anzunehmen, das an Wohlleben, Trägheit und Luxus gewöhnte, seichte und nur dem Tage lebende Ding würde ohneweiters, einer schönen Rede willen, alles im Stiche lassen und dem Jugendfreunde in einfache, ja ärmliche Verhältnisse folgen. Nein, da kannte er Milly zu gut. Nichtsdestoweniger, um Anton zu trösten, versprach er, sein möglichstes zu tun, und verließ ihn nach einiger Zeit betrübter und sorgenvoller als er gekommen. 382

 


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