Karl Adolph
Haus Nummer 37
Karl Adolph

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Fünftes Kapitel.

(Ludwig macht eine fidele Bekanntschaft und bereichert seine Kenntnisse über das »Weana G'müat«.)

Der junge, eben akzeptierte Hauslehrer Herrn Tänzingers war von leicht begreiflicher Freude über seinen Erfolg erfüllt auf die Straße gelangt und besah nun das Haus mit den Gefühlen eines Menschen, dem sich die Verhältnisse sehr günstig erwiesen und der nun bereit ist, ebenfalls alles mit günstigen, teilnahmsvollen Blicken zu betrachten. Es fehlte nicht viel und er hätte Anton fast für einen Verleumder erklärt. Dieser echt menschliche Zug erklärt in der Geschichte die Möglichkeit des Tyrannenwesens.

Da nun sein Magen allen bestandenen Fährlichkeiten zum Trotz, vielleicht angeregt durch den wunderbaren Likör aus Herrn Tänzingers Privatflasche, ungestüm sein Recht auf Nahrung verlangte, begab sich Ludwig in ein auf dem Wege gelegenes Restaurant, in dessen Extrazimmer er sich auf einem noch freien Platz, an einem langen, weißgedeckten Tische niederließ. Es war Mittagzeit und das Lokal ziemlich voll besetzt. Die mit Essen beschäftigten Tischnachbarn Ludwigs erwiderten dessen Gruß mit der Liebenswürdigkeit, die ein kauender Mensch gerade aufzubringen vermag.

Nur einer, der abwechselnd die Gabel zum Munde führte, dann wieder in eine Zeitung blickte, deren Rahmen er in der Linken hielt, grüßte in einer Art wieder, welche an die eines Menschen erinnert, der einem guten Freunde ein Rendezvous gegeben, das dieser mit einiger Verspätung 68 eingehalten hat. Um dem Ankömmling genügend Platz zu verschaffen, rückte er seinen Stuhl bereitwilligst etwas zur Seite und lächelte so vergnügt und vertraut, als wäre Ludwig sein Sohn, über den väterliches Wohlgefallen zu äußern er allen Grund hätte. Sein rotes behagliches Gesicht, seine blau angefärbte Nase verscheuchten alle Zweifel, daß der biedere Mann dem Trinken nicht weniger zugetan sei als dem Essen. Wenn er, um die Aufregung des Essens zu beschwichtigen, einen Schluck Wein nahm, so war mit diesem einen Schluck das Glas zur Hälfte geleert.

Ludwig aß sein Rindfleisch nebst Gemüse mit dem guten Appetit der Jugend und schlürfte etwas von seinem Achtel mit Wasser vermischten Wein. Nachdem er die nicht allzugroße Essensportion bewältigt, nahm er vom Haken eine Zeitung und begann darin etwas zu blättern, aber ohne weiteres Interesse, und hing sie nach kurzer Zeit wieder auf.

Der essende, trinkende und lesende Herr wandte sich nach Wiener Art, die sich über die Förmlichkeiten feierlicher Vorstellung, sowie über den Begriff des Fremdetuns hinwegsetzt, unvermittelt an Ludwig.

»No, steht nix drin, was Ihner intressiert?«

Ludwig verneinte. »Ich bin kein passionierter Zeitungsleser, werde es wohl mit der Zeit werden. Im Augenblicke habe ich auch zu wenig Ruhe dazu.«

Der Herr schob nun den Teller von sich, legte sein Blatt ebenfalls beiseite und wandte das Gesicht so voll seinem jungen Nachbar zu, daß dieser nicht zweifeln konnte, er sei dazu bestimmt, in eine längere Unterredung verflochten zu werden.

Einstweilen führte der diskussionslustige Herr das Glas zum Munde, trank es leer und faßte einen vorbeihuschenden Kellner am Schoße seines Fracks, nötigte ihn zur Mitnahme 69 des leeren Glases und schärfte ihm eheste Füllung desselben ein. Erst als er von dem frisch gebrachten Weine gekostet, als sei er über die Qualität desselben im Unklaren, was zum mindesten eine grobe Vergeßlichkeit, wenn nicht eine raffinierte Heuchelei war (denn er hatte bisher am Konsum dieses »Tropfens« wacker mitgeholfen), wandte sich der freundliche Nachbar wieder zu Ludwig: »Hab'n S' die Telegramm heut g'lesen? Net? Die san aber int'ressant, nur muaß m'r zwischen die Zeil'n lesen können. Schaun S', i les' alle Zeitungen, mi wird aber kane für an Narr'n halten. Und warum? Weil i das les', was net drin steht. Das is der ganze Witz.«

Der so zum Mitwisser in die Kunst des Zeitungsstudiums Eingeweihte nickte höflicherweise stumm, ohne zu wissen, wie er seinem freundlichen Belehrer auf das Gebiet des hohen politischen Disputs folgen könne.

Der fuhr fort. »Die Judenblatt'ln hör'n ord'ntli 's Gras wachsen und manen, mir san so dumm und fliag'n auf ihnern Pflanz. Die werd'n schon von der Regierung zahlt, daß mir net die Wahrheit hör'n. Jetzt schreib'n s' a so, in aner Stund anders. Am besten war's, man schauert gar ka so a Schmierblatt'l an. Sie san g'wiß von der Handlung oder a Beamter, net?« forschte er dann ungeniert.

»Nein, Student.«

»Ah! Student? Da müassen S' ja eh all's wissen, wia's in der Welt zuageht. Na, und Sie werd'n m'r do recht geb'n? In all'n beschmier'n an die Juden und mit ihnere Zeitungen am meisten. Sie san aber g'wiß kan Hiesiger. Das sicht m'r Ihner an.«

»Ich bin Mährer.«

»Mährer? Das san ganz take Kerln. In Brünn war i anmal. D'r Wein haßt nix, aber d'Leut' san ganz 70 anständige. He, Schau!« wandte er sich wieder an einen vorübereilenden Kellner, »a Viertel no.« Und mit einem weiteren Schluck leerte er das Glas, das er dem Kellner hinhielt.

»Ja bitte! Dem Herr auch noch g'fällig?« frug dieser auf Ludwigs geleertes Glas deutend.

Der verneinte. »Ich möchte bezahlen.«

»Zahlen, gleich bitte! Zahlen auf vier. Ein Viertel sechzehner,« leierte der Kellner, ging und erschien bald wieder mit dem gefüllten Glas.

»Sie werd'n's no net so versamen«, sagte der diskussionslustige Herr zu Ludwig. »Wissen S, die Zeit nach'n Essen, bei an Viertel Wein und an anständigen Diskurs is mir d'liabste. Mit'n Red'n kummen d'Leut' z'samm'. Und auf was studier'n S eigentli? Doktor, Inschener – – –«

»Moderne Philologie.«

»Das versteh' i net, das moderne . . .«

»Moderne Sprachen. Englisch, Französisch.«

»Ah so, alsdann a Sprachlehrer. Da können S' nacher parlier'n?«

»So ziemlich,« sagte der Inquirierte lächelnd und sah sich um, ob der Zahlkellner noch nicht erscheinen wolle.

Der wollte aber wie gewöhnlich nicht, da er am anderen Ende des Saales stehend, den Rechnungszettel in der Hand eben einen Gast abfertigte und die dringendsten Rufe: Zahl'n! überhörte.

»Seg'n S', d'r Kellner hat's net so gnädi wia Sie. Da is am g'scheitesten, man schafft si no ans an, wird an 's Warten net so lang. Auf die Art bin i schon manchmal auf fünf Vierteln kommen. G'schad't hab'n s' mir net, also war's guat. Wissen S', sonst bin i z' Mittag nia in Gasthaus, aber i bin no allweil Strohwitwer. Meiner Alten g'fallt's, mir scheint, so viel guat am Land, wo s' bei die 71 ihrigen is. Kinder hab'n m'r kan', so soll s' halt bleib'n. Wissen S', warum soll m'r si 's Leb'n net so schön machen wia's geht? Mein G'schäft tragt so viel als i und mein Alte brauch'n. I bin d'r Kürschnermaster von vis a vis, wissen S', wann S' anmal was brauchen sollten . . . . He, Schan! Himmellandon no anmal, wia lang soll i am Glas läuten? He, Pikkolo daher! Schau net lang. Was d' bringen sollst? An Wein, natürli. Das Viertel nimm weg, bring zwa Stutz'n und an Liter Salmiak! Den Achtz'ger, versteht si. Zu was sag' denn i Salmiak? Han? Fliag, fliag, Raubersbua, sonst mach' i d'r Füaß!«

Mit Windeseile stob der Junge von dannen und erschien gleich darauf mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern. Beides setzte er mit so feierlicher Miene auf den Tisch, wie wohlerzogene Pikkolos zu tun pflegen, wenn sie einen Liter, gewöhnlich der Vortrab vieler anderer, zu kredenzen haben.

Offenbar gestattete die Schicklichkeit erst in diesem feierlichen Momente eine Vorstellung in aller Form. Der Kürschnermeister schenkte beide Gläser voll, erhob sich und sagte. »Mei' Nam' is Holzinger.« Ludwig nannte, gleichfalls aufstehend, seinen Namen.

»So und jetzt stöß'n m'r z'samm'«, erklärte Herr Holzinger, nahm sein Glas und bot das andere Ludwig an. Der machte ein erstauntes Gesicht. Die kurze Bekanntschaft rechtfertigte doch nicht die Bestgabe. Aber um nicht unhöflich zu erscheinen, tat er mit einem Schluck Bescheid.

Der Wirt erschien in der Türe und sah mit dem lächelnden Wohlwollen aller Wirte, die einen guten Gast bechern sehen, nach dem Tisch.

»Das is halt a Tropferl, was, Holzinger? Da kannst 72 in der ganzen Weanerstadt umrennen und find'st nix solches mehr.«

Man konnte auf die Vermutung kommen, daß der Wirt seinem Gaste gegenüber zum ersten Male den besonderen Tropfen zu rühmen genötigt sei. Dem war aber nicht so. Ungeachtet, daß der wackere Kürschner schon manchen Liter in die durstige Kehle gegossen, er mit der Qualität also schon aufs innigste vertraut war, unterließ der Wirt niemals, besonders vor fremden Gästen, auf die besonderen Vorzüge seines Kellers hinzuweisen.

Die meisten Anwesenden rüsteten zum Gehen. Das Ende der Mittagspause nahte.

Auch Ludwig wollte nach kurzer Danksagung und Gruß desgleichen tun, nachdem er den Zahlkellner endlich zur Abrechnung vermocht hatte.

Aber sein neuer Bekannter zog ihn am Rockaufschlag auf den Sessel zurück.

»Sie werd'n do nix versamen, oder ja?«

»Gewiß, ich habe noch viele wichtige Gänge zu verrichten.«

»No – – –! Net beleidig'n! I hab' an Ihner an Menschen g'funden, mit dem si diskurier'n laßt. An Korb laß i mir net geb'n. Also no anmal Prost!«

Die beiden gefüllten Gläser klangen abermals zusammen.

In einiger Entfernung standen die beiden Kellner und der Pikkolo. Alle drei hüllten sich in eine gewisse Ehrfurcht. Sie kannten Herrn Holzinger, der, besonders seit seiner Strohwitwerschaft, für den Wirt eine»schwere Wurzen« abgab.

Der eine Liter war dank der eigenen Tätigkeit Herrn Holzingers und der freundlichen Mithilfe des Wirtes bald geleert. Ein Wink des letzteren veranlaßte den Pikkolo ohne 73 weitere Frage die leere Flasche wegzunehmen und gefüllt wieder zu bringen.

Der Kürschner, als ob sich die Sache von selbst verstünde, füllte alle drei Gläser voll (ungeachtet des Protestes Ludwigs, der mit seinen zwei schon vollkommen genug hatte) und stieß abermals an. Dann ließ er Zigarren kommen, nötigte dem nichtrauchenden Studenten einige Virginia auf und war so lustig, kreuzfidel und lärmend, daß auch dem zerstreutesten Beobachter sich die beruhigende Gewißheit aufdrängen mußte, Herr Holzinger sei mit seinem Leben äußerst zufrieden.

»Prosit! Hoch Österreich! Nieder mit die Juden!« schrie er ein ums anderemal. »Das is a Mensch, der a Büldung hat, das is a G'studierter, mein Freund«, indem er Ludwig zärtlich auf die Schulter klopfte.

Der Wirt breitete sein »Hangerl« auf dem Tische aus, stützte darauf beide Arme und glich an dem Ausdrucke vollkommensten innersten Gleichgewichts seinem biederen Gast und Freunde Holzinger.

Noch einige schüchterne Versuche machte das unglückliche Opfer wienerischer Gastfreundschaft, sich aus dem Staube zu machen, doch vergeblich.

»Jetzt sei ka fader Kerl«, sagte sein Gönner mit sentimentaler Miene. »Schau, wia i so jung war als du, bin i glei drei Täg net hamganga. Waßt, du bist mein Freund und so jung kumman m'r nimmer z'samm'. Wann mein' Alte z'ruckkummt vom Land, muaßt bei uns essen. Da wirst wissen, was a Papperl is, net so a Schlangenfraß, wia in der Butik.«

Da eine direkte Umkehrung der Tatsachen in ihr 74 Gegenteil, sowie die Andichtung verschiedener abscheulicher oder kriminell zu ahndender Verbrechen einer befreundeten Person gegenüber als Zeichen geläutertsten und unwiderstehlichsten Humors gilt, folgte der Wirt sogleich seinem Freunde auf dieses heitere Gebiet.

»Geh' du wamperter Einbrecher, tuast als ob's d' so was b'sunders g'wohnt warst. In Stan werd'n s' d'r die Schnitzerln und Henderln aufg'wart't hab'n. Da hast hübsch Fisoln und Lins papperlt.«

Herr Holzinger stimmte mit seinem schlagfertigen Gastgeber ein Lachduett an.

»Schau d'r 'hn an!« wendete er sich an Ludwig, »hast a Idee, daß der weg'n Giftmischerei schon dreimal in Landesgericht g'sessen is? So a verdächtiger Weinpantscher, so a ausg'hauter! Waßt, wia der Wein einkaufen geht? In d'r Fruah um a achte geht er furt, um zehne kummt er mit an Packel unterm Arm ham. Was manst, was da drin is? Zehn Ema Wein. Natürli 's Wasser kost' eahm nix. So a krauperter Hundling.«

Und außerstande, seinem Entzücken darüber, daß er den Wirt»a bißl steig'n« ließ, den gehörigen Ausdruck zu geben, gab er diesem über den Tisch einen mächtigen Schlag auf die Schulter, warf sein Weinglas um und behauptete, daß »so a Hetz« noch nicht da war.

Auch die Wirtin kam jetzt aus der Küche, in der obligaten weißen Brustschürze, den Schlüsselbund an der Reversseite, die obligate weiße Haube auf dem Kopf und nahm ihren Platz bei der fidelen Gesellschaft ein.

Ihre Ankunft lenkte die Scherze Herrn Holzingers von dem Gebiete des Kriminellen auf das des Pikanten.

75 »Du, Bräuner, sag, was hast denn mit deiner Alten g'habt? Schau dir's nur anmal an.«

»Gengan S', Sie alter Narrntatt'l, was soll er denn g'habt hab'n?« sagte die Wirtin mit verstelltem Unwillen und nippte von dem Weinglase ihres Mannes.

»Sie, Sie,« drohte schalkhaft Herr Holzinger, »Sie g'fall'n m'r gar guat. Schaun S' Ihner anmal von der Seiten in Spieg'l. Schaun S' den Bachhend'lgottsacker an! Da habt's wieder anmal Adam und Eva g'spielt. No, mir kann's recht sein, nur daß's net anmal haßt, i war die Schuld.«

»No freili, Ihner hätt' m'r dazua notwendig, Sie alter Krauterer. Denken S' auf Ihner Elend und Ihnere krumpen Füaß. Gelt, Alter, wann m'r was brauchen, san mir zwa no tak gnua.«

Die Vorstellung, daß Holzinger sich anmaßte, seine Persönlichkeit zur Komplettierung des bekannten Dreieckes in Verbindung mit dem Ehepaar zu bringen, wirkte auf alle drei fast katastrophal. Herr Holzinger »verkutzte« sich dermaßen, daß ihm die Tränen nur so herabliefen.

Ludwig, der weit entfernt davon war, die Witzigkeit des Gespräches zu begreifen, bemühte sich aus Höflichkeit krampfhaft einiges zu lächeln und paßte nur auf den günstigen Wind, abfahren zu können. Er hatte schon mehr getrunken als ihm bekömmlich war, und sehnte sich an die frische Luft. Überdies waren noch einige wichtige Gänge zu tun und einem jungen Manne seines Schlags däuchte das Hinmorden der kostbaren Tageszeit in einem Gasthause eine Todsünde.

Er erhob sich daher abermals und wollte einige Worte 76 des Dankes und der Verabschiedung anbringen. Aber war sein freundlicher Bekannter vor einer halben Stunde nicht geneigt, seinen Schützling so ohneweiters fahren zu lassen, jetzt wäre gar nichts imstande gewesen, ihn zu einer Trennung zu veranlassen.

»Das gibt's net, Bruader. Jetzt'n, wo's so fesch is, möchst hamgehn? Versamst was? Ha? Was di' dös kost, zahl' i. Wann dein Master was net recht is, gib eahm a Watsch'n und nimm dein Büachl.«

Herr Holzinger hatte nämlich im Augenblicke ganz den Beruf seines neuen Freundes vergessen und war der Ansicht, dieser sei als Arbeiter bei dem Leistenerzeuger Mrzal, den er nicht leiden konnte, beschäftigt. Um seinem Gefangenen jegliche Aussicht zu benehmen, dem goldenen Käfig zu entkommen, wäre er imstande gewesen, ihm den Rock auszuziehen, hätte sich Ludwig nicht resigniert in sein Schicksal ergeben mit der Hoffnung, baldige Gelegenheit zu finden, ohne Empfehlung davonzukommen.

Mittlerweile war der Zahlkellner zum Tische getreten und berichtete, daß im Schankzimmer draußen eben ein Gast die Geschichte eines interessanten Diebstahls erzählte. Der betreffende Gast, ein Hausbesorger, habe gelegentlich des Toraufsperrens einen Mann abgefaßt, der diesen Moment zum Entschlüpfen benützen wollte. In seinem Besitze fanden sich einige Sachen, die der Hausbesorger sogleich als aus einem im Hause befindlichen Geschäfte entwendet erkannte.

»Z'erst hat er eahm«, fuhr Schan in seiner Erzählung fort, »links und rechts a paar saftige Fotzen geb'n, daß er in an Winkl tamelt is, dann hat er g'schwind es Haustor von draußen zuag'spirrt und an Wachmann g'holt. Der Falott hat si aber schon wieder derfangt g'habt, und hat si in Hof 77 hinter a paar Fasseln versteckt. Da hab'n s' 'hn aber außikitzelt und dann is er g'salzen wurd'n – – – – –« Schans Gesicht strahlte bei dieser erhebenden Vorstellung, »daß der a zweit'smal 's Stehln vergessen wird. Der Wachmann, a fescher Kerl, hat nur g'sagt: derschlag'n därft's 'hn net. No, wann er ah net umbracht is wurd'n, aber a halberte Leich hat der Wachmann aufs Kommissariat bracht.«

Es war ein Genuß, den Ausdruck freudigen Aufhorchens in den Mienen des Wirtspaares, Herrn Holzingers und der die Gruppe umstehenden Kellner und Pikkolos zu betrachten. Es lag eine Art gerührter Heiterkeit auf jedem Gesichte, die einen Tauben, der von der Erzählung nichts verstand, aber ein guter Physiognomiker war, zu der Überzeugung gebracht hätte, er lebe in der besten aller Welten. Einen solch strahlenden Glanz auf ein menschliches Antlitz zu zaubern, konnte doch nur die Erzählung irgendeiner erhebenden, göttlich schönen Tat des Wohltuns vermögen.

»Mein Gott,« nahm die Wirtin das Wort, »Leut' gibt's heutzutags, daß 's an' graust. Hätten s' den Falotten glei derschlag'n, war ka Schad net g'wesen. Auf der Polizei sollten s' eahm erst recht 's Lederzeug anstreichen.«

»Geh, red net!« sagte ihr Mann in einem Tone, als ob er ihr das Ungereimteste nachwiese, »glaubst, dö tan durt so an Kerl was? Den wickeln s' no in Watta ein, und dann wird er guat versorgt, daß er ja kan Hunger leid't und er's recht schön warm hat. Mir G'schäftsleut' kinnan für dös G'lumpert zahln. An jeden so an Gaunerbuam aufhenken – war glei a Ruah.«

»Sixt, Bräuner, da hast recht,« rief entzückt über diese Ansicht eines summarischen Gerichtsverfahrens Herr Holzinger, »das hast recht. Auf an G'schäftsmann schaun s' net, ob er was z'beißen hat, wer gibt eahm was, wann er z'grund 78 geht? Ha? Kummen s' net zu dir um d'Steuer, um d'Gas, muaßt ka G'nossenschaft zahln? Und der Hausherr stagert di von an Viertel aufs andre. He, Schan, bring no an Liter, aber an von Bessern.« Schan nahm respektvoll die Flasche an sich und Herr Holzinger fuhr fort: »Wann ma's recht bedenkt, zahlt si heut nix besser aus, wia Einbrecher oder Taschelziager z'werd'n. Hat aner sein Logis und sei guat's Essen. Steuern solln dö andern zahln. No, gibst m'r recht?«

»Ganz recht ham S', Herr Holzinger«, stimmte die Wirtin bei. »Das san eben Leut', dö von der Arbeit g'fressen ham, eh s' es nur seg'n. Wann's auf mi ankummert, i tat an, der g'stohln hat, was anders an.«

Allgemeine Spannung wegen des Radikalmittels der wackern Frau. Holzinger wagte ein aufmunterndes: »Na??«

»D'Aug'n ausstechen«, sagte mit stillem Triumph das holde Wesen. »Glaub'n S', daß da no aner stehl'n möcht'?«

Die Einfachheit und schmucklose Darstellung dieses Universalmittels gegen Diebstahl, sowie die Vorstellung, welchen Eindruck so ein augenloser Verbrecher bei seinen Versuchen, weiter zu stehlen, machen müßte, zwangen Herrn Holzinger zu immer erneuten Ausbrüchen von Hahahas und Hohohohos.

Der Wirt, der mit stolzem Schmunzeln den seiner treuen Ehehälfte gespendeten Beifall quittierte, warf noch ruhig ein. »D'Fingerspitzeln o'hau'n, is a net schlecht,« (er bog die Fingerglieder seiner Rechten ein und imitierte somit den Stumpf einer Hand) »soll aner greifen damit!« Der lächelnde Ausdruck seines Gesichtes schien sagen zu wollen: Das Unkomplizierte, Naheliegende ist doch stets das Verblüffendste.

Ludwig hatte streng vermieden, sich auch nur mit einem Worte an dem ganzen Gespräch zu beteiligen. Er fühlte das 79 Demütigende, Peinliche seiner Lage, unfreiwilliger Zechgenosse und Dubruder des Herrn Holzinger zu sein, der in großem Ansehen stand, weil er hohe Zechen machte, indes sein jeweiliger Schützling (Ludwig wußte trotz seiner Unerfahrenheit gut genug, daß ein andersmal ein anderer seine Stelle ausfüllen würde, wie vielleicht schon mancher zuvor) von den andern mit Einschluß des Pikkolo als reine Luft betrachtet wurde. Bei der selbstgefälligen Darstellung einer bestialischen Strafausübung, die Gott sei Dank nur in der rohen Phantasie der Wirtsleute existierte, konnte er jedoch ein entrüstetes. O Pfui! nicht unterdrücken.

»Was ham S' g'mant, junger Herr?« frug der Wirt.

»Ich finde Ihre Idee abscheulich,« erwiderte Ludwig mutig, »ein harmloses Verbrechen, wie es der Diebstahl ist, mit so fürchterlichen Strafen belegt zu wissen. Augenausstechen, Händeabschlagen – leben wir denn im Mittelalter?«

»Dös waß i net, wo mir leb'n, im Mittel oder obern und untern Alter, aber mir scheint, Sie halten zu so aner gottverlassenen Bagaschi. A harmloses Verbrechen – dös is guat. Wann jetzt aner hergeht, und nimmt Ihner d'Uhr und 's Geldtaschl und ziagt Ihner den Rock aus, werd'n S' ah sag'n: no, a ganz a harmloses Verbrechen?«

Man sieht, der Wirt schätzte Ludwigs unfreiwillige Rolle ganz richtig ein. »Iß und trink – im übrigen halt d'Pappen«, schien der Auszug seiner Gedanken zu sein. Er wußte genau, Ludwig war ein Vorbeiläufer, der einmal in dieses Gasthaus kam und nimmer wieder. Auch war er überzeugt, daß ihn sein Gönner von heute schmählich abfallen ließ, wenn sein Mitteilungsbedürfnis versiegt, oder der Wein ihn gänzlich denkunfähig gemacht hatte. Darin hatte er sich nicht getäuscht. Herr Holzinger sah Ludwig mit glühenden Blicken an und lallte (denn dieses Stadium war schon erreicht). »Du bist 80 a guater Bruader, hörst, haltst es du mit die Taschelziacher und Einbrecher?«

Ludwig war viel zu wenig mit dem Milieu vertraut, in dem er sich jetzt befand, um vorsorglicherweise vielleicht zu sagen: »Ich? Was fällt dir ein! Mit so Gaunern« usw. Er war ungeschickt genug zu sagen: »Mich empört eben schon der Gedanke an eine solche Grausamkeit, deren man sich selbst gegen die schwersten Verbrecher nicht mehr bedienen möchte.«

»Hörst und da bleibst no bei den Tisch sitzen und saufst mein' Wein?« frug Holzinger in einem solchen Tone ironischer Entrüstung, daß alle vergnügt grinsten. »Da geh auf d'Schmelz oder am Laaer-Berg zu deine Freund'. Dös is guat, meine Herrn,« wandte er sich an die Kellner, »der Herr da mant, dö Gauner san die Ehrenmänner und mir – mir san Gauner. Da hört si schon alles auf. Dös hätten S' ah früher sag'n können, bevur S' Ihner da ang'soffen ham, verstengen S'? Sö, Sö Philokrowot oder was S' san. Dös is guat, Bräuner, was? Mir san Gauner, mir san Diab'.«

Das Merkwürdige war, daß alle, obwohl sie Ludwigs wenige Worte genau vernommen und verstanden hatten, fest überzeugt waren, er hätte die ihm von Holzinger imputierten Ausdrücke gebraucht, obwohl weder die Gedankenfolge, noch auch nur ein Wort dieser Überzeugung einige Berechtigung verliehen hatten.

Der arme Ludwig! Mit einem irren Lächeln blickte er bald Herrn Holzinger, dann das Wirtspaar, dann die einander angrinsenden und bedeutungsvoll winkenden Kellner an. Der erste sah ihn mit Blicken tödlicher Feindschaft an, die zweiten blickten mit solch einem Ausdruck beleidigter Würde an ihm vorbei in die Luft, daß man meinen konnte, sie wollten einem Deklassierten seinen Standpunkt klar machen; und die letzten – in deren Angesicht stand all der brutale 81 Hohn, den die Menschen einem Fallengelassenen entgegenbringen.

»Erlauben Sie,« konnte der wie vor den Kopf geschlagene Student endlich hervorbringen, »Sie behaupten, ich hätte das alles gesagt?«

»Na, epper net?« fuhr Holzinger auf. Der Wirt drückte ihn sachte zurück, wie man einen guten, treuen Freund zurückhält, daß er nicht in berechtigtem Zorne sich einer Tat schuldig mache, die für ihn verhängnisvolle Folgen haben könnte.

»Habe ich Sie veranlaßt, diesen Wein kommen zu lassen? Habe ich Ihnen meine Gesellschaft aufgedrängt?« fuhr Ludwig in voller Erregung fort.

»Jetzt halten S' d'Pappen und schaun S, daß S' fortkommen, Sö Hochstapler«, erklärte der Wirt aufstehend. »Z'erst umasunst mitsaufen, und dann an G'stank machen, dös kenna m'r. Gengan S' zu Ihnere Brüaderln, gengan S', gengan S'! Allo marsch! Schan, hat er sein' Sachen zahlt, was er früher g'habt hat?« Schan bestätigte.

»Na, dann soll er gehn. Wo hat er sein' Huat?« Der Pikkolo brachte denselben. »So pfiat Ihner g'sund!«

Wie ein von einem schwerem düstern Traum befangener Mensch wankte Ludwig so mutlos und gebrochen fort, daß er sich später gar oft bitter einer unmännlichen Feigheit bezichtigte. Es war aber sein guter Genius gewesen, der ihm die Flügel eines Mutes beschnitt, der nur böse Folgen gehabt hätte.

Die Gesellschaft sah ihm lachend nach.

»So a G'sell«, sagte der resche Wirt. »Wo du aber ah nur immer so a Bekanntschaft auftreibst? Dir wird's no anmal schlecht gehn, weils d' mit an jeden glei anhängst.«

»Haßt mi der an Gaunerbuam«, lallte Holzinger. »Mi 82 an Gaunerbuam. Hätt'st mi net z'ruckg'halten, Bräuner, dem hätt' i an Gaunerbuam zagt!«

Es muß, um Herrn Holzinger und dem wackeren Wirtspaar Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nochmals betont werden, daß sie sich im guten Glauben befanden, Ludwig hätte wirklich diese Beschimpfung ausgesprochen. Zu der geringen Nüchternheit des ersten gesellte sich der Autoritätsglaube an seinen Freund, den Wirt.

Dieser und seine Frau hatten nur klar die Erinnerung, daß ihren Anschauungen über Justiz widersprochen wurde. Von da zu einer Solidaritätserklärung mit Dieben und Einbrechern fehlte nur ein Schritt und dieser Schritt führte leicht weiter zu einer vollständigen Verdrehung der anfänglichen Äußerung des Malefizianten.


Nach einem stundenlangen Spaziergang kehrte Ludwig heim, mit einem so bleichen entstellten Gesichte, daß die Ambros tödlich erschrak. Anton war ebenfalls in der heftigsten Besorgnis. Er vermutete, daß seinen Prophezeiungen gemäß sein Vetter bei Herrn Tänzinger erbärmlich abgefallen sei.

Nur mit Mühe ließ sich Ludwig endlich bewegen, ihm die Abenteuer des heutigen Tages zu berichten. Bei Schilderung der Irrfahrten in »Vatta Danzingers« Lokale mußte Anton lachen.

Ebenfalls bei der Einleitung der Bekanntschaft mit dem Kürschnermeister. Dann aber geriet er in heftigen Zorn und wäre am liebsten gleich in das unwirtliche Gasthaus gegangen, um dem Wirte das »Wilde abiz'ramen«.

Aber Ludwig wollte dem heißblütigen Freunde keine Gelegenheit geben, irgendeine vielleicht verhängnisvolle Szene 83 heraufzubeschwören und sagte, er wisse nimmer, wo das Lokal sei. Nur fügte er bitter hinzu:

»Wie viel Roheit und Niedrigkeit fand ich nicht gleich in den ersten zwei Tagen in der Stadt, die man als die Stadt der Gemütlichkeit preist!«

Anton zuckte die Achsel. »Du hast halt Pech g'habt, grad so Leut' kennen z'lernen, dö net zur Weaner Gmüatlichkeit beitrag'n. Im übrigen tröst' di, daß die G'schicht' mit'n Tänzinger guat ausgangen is. Meiner Seel, da kannst von Glück sag'n, und i man, es hat d'r viel g'nützt, daß d' dem rotschädlerten Bankert'n g'falln hast.«

Anton befleißigte sich ebensowenig zarter umschreibender Ausdrücke, als viele Helden, die wir bisher kennen gelernt, überdies konnte er die Juden nicht leiden. 84

 


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