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Hoch im Norden Deutschlands, dicht am Meere, liegt Schloß Hochwald. Seinen Hintergrund bilden herrlich bestandene, wildreiche Wälder von gemischten Hölzern, meist Eichen und Buchen, während die dunklen Föhren, vereinzelt oder gruppenweise darin verteilt, nur dazu da zu sein scheinen, um den Schattierungen des Waldes einen besonderen Reiz zu verleihen. Die Ausläufer dieser Wälder sind sehr geschickt zum Schloßpark umgewandelt worden, und in der That, einen Naturpark von großartigerer Schönheit als Schloß Hochwald besitzt wohl kein zweiter Herrensitz im ganzen Deutschen Reiche. Man hat dem Wald- und Haideboden vor der Parkfront des Schlosses einen herrlichen, smaragdgrünen Rasenplatz abgewonnen, in dessen Mitte eine der gewaltigsten Eichen, mit Runenschriften in der brüchigen Rinde, sich erhebt, während eine tief dunkelgrüne Föhre mit breitem Geäst, kerzengerade gewachsen, dicht vor dem Schlosse einen köstlichen Tannenduft verbreitet, der sich mit dem Rosenflor, welcher hier besonders gepflegt wird, auf das angenehmste vermischt.
Das Schloß selbst hat so viel Stile in seinem Bau aufzuweisen, daß man es einfach stillos nennen kann. Vielen Leuten ist das lieber als das langweilig und regelmäßig Stilvolle, mit dem heutzutage so viel Unfug getrieben wird. Kurz, Schloß Hochwald war ein vielgetürmter und beerkerter Bau, dessen älteste Teile aus dem 13. Jahrhundert stammten und nur noch einen Flügel bildeten, während der Mittelbau aus dem 16. Jahrhundert die spitzen, schiefergedeckten Mansardendächer mit den gleichfalls zugespitzten Türmen der Schlösser von Fontainebleau und St. Germain zeigte. Daß sich zwischen diesen eigentlichen Hauptbau und einen überreich mit Stuck dekorierten heitern Rokokopavillon ein Bankettsaal im reinsten Tudorstil der englischen Gotik drängte, mit spitzenartig durchbrochenen Strebe- und Dachpfeilern, erfüllte Sachverständige zwar mit Kopfschütteln, Mißbilligung und Entrüstung, sah aber trotzdem sehr malerisch aus.
Auf der Seeseite spülten die Wellen direkt an die schräg abfallenden Mauern des Schlosses, doch brach die Brandung sich schon an den spitz aus dem Wasser ragenden Felsenriffen, während nach rechts das Terrain sich verflachte. Eine breite Terrasse mit direkt ins Meer führender Treppe an der Nordseite des Schlosses, gab für sonnige Sommertage einen köstlichen kühlen Aufenthalt mit dem Blick auf die unendliche Fläche, deren Wellen im immerwährenden Einerlei kamen, sich rauschend und zischend an den Riffen und an der weißen Marmortreppe brachen und ihren Gischt oft heraufschleuderten bis zu den Füßen derer, die oben saßen und sich nicht satt sehen konnten an dem einzigen Schauspiel und dabei wohlig die kühle, klare und reine Seeluft einatmeten.
Das Geschlecht, das auf dem Schlosse erblühte, waren die Grafen von Hochwald, auch die Seegrafen genannt, denn sie hatten als Dynasten an der Küste gesessen seit undenklichen Zeiten und den Wechsel der Tage sattsam durchgemacht. Die kleine Souveränität, welche ihrem Ahn vorzeiten der böse König Abel von Dänemark verliehen, weil er ihm geholfen hatte, den König Erik Plochpenning, seinen Bruder, zu erschlagen, war natürlich nur ein leerer Begriff, von dem der Besitzer auch nichts weiter hatte als eine eigene Münze. Später war ein Hochwald so klug, seine Souveränität gegen großes Gelände zu vertauschen, ehe er ohne dieses mediatisiert wurde, und in neuester Zeit, bei Gelegenheit einer Thronbesteigung und in Anbetracht dessen, daß die Hochwalds trotz ihrer unzweifelhaft bestandenen Souveränität vermöge ihres Tauschvertrages es verscherzt hatten, jemals in die Zahl der Reichsunmittelbaren und Ebenbürtigen aufgenommen zu werden, ward ihrem Hause der Fürstentitel nach dem Rechte der Erstgeburt nebst einer Hofcharge verliehen. Das war alles ganz schön und gut für den ersten Fürsten und Vater des jetzigen, welcher auch beständig in der Residenz lebte und seine Revenuen nicht nur voll, sondern übervoll verzehrte. Dadurch hatte das Haus Hochwald einmal eine kritische Zeit durchzumachen. Aber die schlimme Zeit ging vorüber, man sagte, durch Vorschüsse aus der königlichen Schatulle, kurz, als der alte Fürst nach mehreren Jahren völliger Zurückgezogenheit starb, waren die finanziellen Angelegenheiten Hochwalds so geordnet als je zuvor.
Der Sohn des ersten Fürsten von Hochwald hatte seine Laufbahn sehr jung im Heere, und zwar bei der Leibgarde, begonnen und galt nicht nur für einen geistig bedeutenden und wahrhaft herzgewinnend liebenswürdigen jungen Mann, sondern auch für äußerlich schön und für einen flotten, schneidigen und guten Kavallerieoffizier, der sich in den höchsten und hohen Kreisen der Residenz einer wohlverdienten Beliebtheit erfreute. Und in der That hatte er etwas so Sonniges im Wesen, das die Herzen zu ihm hinzog; selbst wenn er auch ohne Titel schlichtweg Marcell Hochwald geheißen hätte, seine Gesinnungen, seine freie offene und ehrliche Natur würden ihn doch zum vornehmen Mann gestempelt haben.
Als er sein Erbe dann antrat und dennoch erklärte, der Armee treu bleiben zu wollen, begrüßte man diesen Entschluß mit freudiger Genugthuung: um so größer ward daher das Erstaunen, Bedauern und Kopfschütteln, als er kurz darauf plötzlich ernst und zurückhaltend wurde, als es sich wie ein schwarzer Schleier auf sein sonniges Wesen legte und er ein paar Monate später den weißen Koller auszog und den Adlerhelm einpackte – kurz, den Abschied nahm. Über die Gründe, welche ihn dazu bewogen, sprach er sich nur im allgemeinen aus, selbst seine nächsten Bekannten und Verwandten erfuhren nichts Bestimmtes, nichts Einleuchtendes, denn die Antwort des Fürsten auf die an ihn heranstürmenden Fragen, daß er sich vollständig dem Landleben und genealogisch-heraldischen Studien, die ihn stets sehr angezogen, widmen wolle, fanden nur ungläubiges Kopfschütteln, weil der Entschluß zu schnell, die Wandlung seines Wesens zu plötzlich gekommen war.
Aber jedes Staunen nimmt ein Ende wie alles in der Welt. Die Leute beruhigten sich nach und nach über »die Verrücktheit des Fürsten Hochwald«, weil andere Dinge passierten, welche ihr Interesse in Anspruch nahmen und ihre Zungen in Bewegung setzten, und nach Jahr und Tag wunderte man sich höchstens über das Einsiedlerleben des jungen Magnaten, der nur einigemale im Jahre ein paar intime Bekannte zur Jagd in seinen herrlichen Wäldern einlud und nur dann in der Residenz gesehen wurde, wenn fremder fürstlicher Besuch bei Hofe seine Anwesenheit dort erforderte, um seines Erbamtes als Oberstjägermeister seiner Provinz zu warten. Den bald nach seinem Ausscheiden aus der Armee ausgebrochenen Krieg hatte er bei seinem früheren Regiment mitgemacht und dabei eine nicht gewöhnliche, fast an Todesverachtung grenzende Tapferkeit bewiesen, welche andere, sehr tapfere Offiziere für unvernünftig und zwecklos erklärten, während sie beim gemeinen Mann Begeisterung und Nachahmung erregte. Ein Säbelhieb im Gefecht streckte ihn wochenlang auf das Krankenbett, doch auch im größten Wundfieber verriet sein Mund nichts, was über die Wandlung seines Wesens Aufklärung geben konnte, und nach dem Feldzuge zog er, geschmückt mit dem eisernen Kreuze erster Klasse, in sein Schloß am Meere zurück, stiller, ernster denn je; doch verhinderte seine glücklich angelegte, sonnige Natur, daß er hart wurde und schroff und wunderlich in seiner Einsamkeit.
Fürst Hochwald hatte nun schon zwanzig Jahre sein stilles Leben geführt, unterbrochen von weiten, einsamen Reisen, die ihn monatelang fern hielten von der nordischen, meerumspülten Heimat. Er war jetzt fast fünfundvierzig Jahre alt – ein Mann in den besten Jahren, aber allein.
Es war im zeitigen Frühjahr. Am Meere hoch im Norden rasten die eisigen Stürme noch durch das Laubholz und umpfiffen unheimlich das einsame Schloß. Diesem Kampf des Winters mit dem Frühling war, wie fast alljährlich, Fürst Marcell Hochwald entflohen, und er weilte die Monate Februar, März und April meist im Süden – in Spanien, Tunis, Kairo oder Italien, je nachdem es ihm gerade einfiel, nur gefolgt von seinem Kammerdiener, welcher vor vierundzwanzig Jahren Bursche bei ihm gewesen in der schönen, lustigen Lieutenantszeit und vier Jahr jünger als sein Herr war, mit ihm kapituliert hatte und dann mit ihm gezogen war. Sie hatten beide diese Unzertrennlichkeit nicht zu bereuen gehabt, denn der Fürst war ein gütiger, wenn auch strenger, so doch gerechter Herr, und Ratayczak, der trotz der Jahre sein gebrochenes Deutsch aus den Rekrutentagen nicht verbessert hatte, war eine goldehrliche und goldtreue Seele. Freilich hatte auch Ratayczak seine Eigentümlichkeiten, welche man bei langjährigen Dienern findet – im übrigen war er wie sein Herr, eine Hünengestalt mit blitzenden schwarzen Augen und gewichstem Schnurrbart, dem die kleidsame Jägerlivree, die er stets auf Reisen trug und nur daheim mit dem schwarzen Frack, kurzen Beinkleidern, Strümpfen und Schnallenschuhen vertauschte, vortrefflich und für die Herzensruhe von Spanierinnen, Italienerinnen und Nubierinnen gleich gefährlich, stand.
Ganz allein, wie er es liebte, war Fürst Hochwald an einem köstlich warmen Märztage durch die engsten Gassen von Florenz geschlendert, um gelegentlich aus den finsteren Höhlen der Trödelbuden Perlen zu fischen für seine Sammlungen – alte Majoliken, Gläser, Stoffe, Möbel – kurz, Antiquitäten. Und sein sicheres Auge trügte ihn selten: oft schon hatte er unter dem greulichsten Wuste von allen möglichen und unmöglichen Dingen Gegenstände gefunden, welche der Verkäufer gar nicht achtete, und noch heimlich lachte, wenn der verrückte »Inglese«, unter welchem Sammelnamen der Italiener alle zahlungsfähigen Leute versteht, mit einem Lumpen, einem zerschletterten Stuhl oder einer runden, bemalten Thonscherbe abzog und dafür auch noch einen anständigen Preis gezahlt hatte.
Jetzt eben trat er aus einer Seitengasse der Via Maggio, in der Rocktasche sorgsam eine kleine Dose von Sevresporzellan mit dem Bilde und dem Fabrikzeichen der Pompadour bergend, die er in einer nach Zwiebeln riechenden Spelunke von Laden herausgestöbert hatte. Mit dem Taschentuch den gratis mitgebrachten Staub von den Kleidern klopfend, wandte sich Fürst Hochwald nach dem Arno zu, überschritt Ponte San Trinità, unter dessen Pfeilern der Arno seine gelbgefärbten Fluten majestätisch durchwälzte – schwankte dann einen Moment, ob er rechts zu den Uffizien oder links nach den Cascinen den Lungarno hinabgehen sollte, und schritt schließlich geradeaus, um an dem gezinnten Palazzo Spini vorbei die Via Tornabuoni mit ihrem reichen Lädenschmuck zu betreten. Eigentlich wollte er nur sehen, ob Brogi, der berühmte Photograph und Kunsthändler, neues in seinem Laden habe, um dann nach dem San Marco-Kloster zu schlendern, wo ein Maler die berühmte Krönung Mariä von Fiesole für ihn auf Elfenbein kopierte.
Wer weiß, wie alles gekommen wäre, hätte er sich für den sonnigen Lungarno entschieden! Aber ahnungslos überschritt Fürst Hochwald die Straße und stand sehr bald vor dem Schaufenster von Brogi, wo im schweren, reichgeschnitzten Goldrahmen eine vorzügliche Kopie der berühmten Tizianschen Königin von Cypern seine Aufmerksamkeit erregte. Und wie er noch so stand und das Bild betrachtete und sich überlegte, ob er nicht als Pendant zur »Bella« eigentlich auch die schöne Catarina Cornaro besitzen müsse, trat aus der Ladenthür eine sehr starke, hübsche, ältliche Dame, gefolgt von einer jüngeren, welche im Gegensatz zur ersteren sehr schlank und durchaus nicht hübsch mit ihrem gelben Kalmückengesicht und schwarzem, krausem Negerhaar war. Die ältere Dame, deren schneeweißes Haar ihrem noch sehr frischen Teint wohl zu statten kam, blinzelte beim Heraustreten, geblendet von dem grellen Sonnenlichte, mit den Augen und wollte sich eben den Schirm aufspannen, als ihr Blick nach rechts fiel.
»Nein!« sagte sie erstaunt, und dann: »Marcell, bist du's denn wirklich?«
Auf die Nennung seines Namens hin wandte sich Fürst Hochwald rasch um.
»Olga!« rief er überrascht. »Wie kommst du hierher? Ich glaubte dich in Petersburg!«
Die Dame war die einzige Schwester des Fürsten und das junge Mädchen mit dem Kalmückengesicht ihre Tochter. Olga Hochwald war ein sehr hübsches Mädchen gewesen, aber, wie so viele Majoratstöchter, mittellos in Vergleich zu den Ansprüchen, in denen sie meist erzogen werden. Eine reiche Heirat war also auch eine Notwendigkeit für die verwöhnte und aller Orten gern gesehene Komtesse, die indes nur die Herzen solcher zu besiegen verstand, die so viel hatten wie sie selbst – also zu viel zum Verhungern und zu wenig zum Leben, wenigstens in dem von Olga Hochwald gewöhnten, großen Stile. Da lernte sie in Karlsbad, wohin sie ihre Eltern begleitet hatte, durch Vermittelung eines Herrn der russischen Botschaft einen alten Stockrussen mit einem Kalmückengesicht kennen, den steinreichen General Chrysopras, welcher trotz seiner 60 Jahre sein Herz an ihr entzündete und ihr seine Schätze nebst seiner Hand zu Füßen legte. Nach kurzem Schwanken nahm sie beides an, denn wenn der Adel des Generals auch nur allerneuesten Datums und mit einer seiner Ordensdekorationen verknüpft war, so war er dafür sehr reich und sie 25 Jahre alt und nur im Besitz eines hübschen, frischen Gesichtes und des Trousseaus, welchen das Majorat den Töchtern der Hochwalds aus einem besonderen Fonds bewilligte.
General Chrysopras lebte noch zehn Jahre, und seine Frau blieb als eine recht lebenslustige Witwe im Vollbesitz ihres ererbten Vermögens und mit zwei Kindern zurück, von denen der »süße« Boris die hübschen Züge seiner Mutter und die »arme« Sascha leider die Kalmückenphysiognomie ihres Vaters geerbt hatte. Als Sascha dann heranwuchs und »ausgeführt« werden sollte, machte dieser Umstand der Generalin vielen Kummer, denn, nachdem sie, um ihrer Mutterrolle ein besonderes Relief zu geben, ihr zum Ergrauen neigendes Haar mit Eau de Cologne und Poudre de rix zu der schneeigen Weiße gezwungen hatte, die ihr so gut stand, und sie sich eingestehen mußte, daß sie wirklich immer noch viel hübscher war als ihre Tochter, da sank ihr oft das Herz.
»Wie soll ich sie mit dem Gesicht verheiraten?« pflegte sie zu sagen. »Hätte nicht Boris lieber seinem Vater ähnlich sehen können? Bei Männern verdeckt der Bart so viel?«
Und Sascha war nun auch schon 25 Jahre alt, ohne daß sie auch nur einen Korb ausgeteilt hätte, trotz ihres Geldes, trotzdem der persönliche Adel ihres Vaters in Erbadel umgewandelt worden war, trotz der gesicherten und angenehmen gesellschaftlichen Stellung, welche ihre Mutter in Petersburg einnahm, trotzdem ihr Bruder in der diplomatischen Carriere reüssierte und trotz des jährlichen Besuches aller Weltbäder gegen das unausrottbare Übel, eine alte Jungfer zu werden. Da hatte die Generalin Chrysopras eine Idee: sie versuchte es mit den großen Städten Italiens, wo alle Welt sich Rendezvous giebt und wo vornehme italienische Granden mit alten Namen schon so oft reiche Erbinnen gegen ihre zerrütteten Vermögensverhältnisse gesucht und gefunden hatten. Vielleicht, vielleicht fand Sascha auch solch einen Marchese oder Duca oder Conte! Das war aber trotz allen darin liegenden Chancen ein Rechenfehler, denn der Italiener mit seinem angeborenen Schönheitssinn muß schon sehr gedrängt sein, wenn er trotz seiner Liebe zum Gelde eine häßliche Frau damit kauft, denn Stumpfnasen, hohe Backenknochen und Schlitzaugen rechnet er absolut zu den Häßlichkeiten, während der Kalmückenstamm wiederum edelgeformte Nasen und große Augen für unannehmbar erklärt.
Aus diesem Grunde traf also Fürst Hochwald mit seiner Schwester und seiner Nichte in Florenz am Schaufenster von Brogi in der Via Tornabuoni an jenem schönen, warmen Märztage zusammen.
»Ich glaubte dich in Petersburg,« hatte er im ersten Erstaunen gesagt.
Die Generalin machte ein entsetzliches Gesicht.
»Ich bitte dich, Marcell, das wäre ja gar nicht chic,« rief sie. »Wenn die Fastenzeit beginnt, kann man ja eigentlich in Petersburg nicht bleiben, denn als gute Russin muß man da in Sack und Asche gehen. Ist das amüsant? Nicht? Also – ich reise schon den dritten Winter nach dem Süden. Voriges Jahr waren wir in Rom – jetzt wollen wir erst zu Ostern dorthin. Es ist hier in Florenz eigentlich viel mehr Verkehr, die richtige Winterstadt. Man kann sich einen ganz internationalen Salon konstruieren, sage ich dir, und besonders jetzt, wo mein süßer Boris in Rom der Botschaft attachiert ist –«
»Boris in Rom! Davon wußte ich auch nichts,« unterbrach der Fürst den Redestrom.
»Seit zwei Monaten,« nickte die Generalin stolz, und indem ein Blick ihre Tochter streifte, setzte sie mechanisch hinzu: »Sascha, halt' dich gerade!«
»Und weil Boris in Rom ist, bist du in Florenz?« fragte der Fürst lächelnd.
»Wir gehen auch hin,« entgegnete die Generalin, »denn siehst du, Boris hat einen Monat Urlaub und ist auch in Florenz –«
Sie brach kurz ab und seufzte.
»Nun und –?«
»Sascha, halt' dich gerade,« ermahnte Madame Chrysopras, indem sie ihrem Bruder den Arm reichte und mit ihm den Lungarno zuschlenderte, gefolgt von Sascha, welche gelangweilt aussah und mürrisch wie ein Landregentag. » Entre nous, Marcell – Boris hat Feuer gefangen und seinen Urlaub nach hier genommen, bloß weil die betreffende Familie auch hier ist.«
»Das scheint dich nicht sehr zu entzücken, Olga.«
»O – eine deutsche Komtesse wäre mir ja keine unwillkommene Schwiegertochter, siehst du, aber sie hat zu wenig, ich weiß es aus bester Quelle.«
»Was braucht Boris danach zu fragen!« warf der Fürst ein.
»Ah, er hat viel verbraucht,« flüsterte die Generalin. »Siehst du, Marcell, er hat eben sein Leben genießen wollen, der arme Junge, nun, und – und da ist sein väterliches Erbteil fast ganz dahin! Was sagst du dazu?«
»Daß ein jeder so liegen muß, wie er sich bettet,« meinte der Fürst trocken.
»Nein, daß er eine gute Partie machen muß, sage ich,« ereiferte sich die Generalin. »Und er war auch ganz überzeugt davon, bis er dieses blonde Komteßchen sah – o, Marcell, ich habe wirklich großen Kummer – bin eine arme, unglückliche Witwe!«
»Unsinn, Olga,« tröstete der Fürst. »Daß Boris mit seinem Erbteil fertig geworden ist, ist ja tragisch genug –«
»Ja aber, soll denn der arme Junge wie ein Kartäuser leben?« unterbrach ihn Madame Chrysopras empört. Warum soll mein Boris, mein süßer Boris sich um Rubel und Kopeken kümmern? Er, der sich in den höchsten Kreisen bewegt, soll dabei ein Leben führen, das ihn einfach vom high life ausschließen würde? Mein Boris hat ein Recht an das Leben, und er soll's genießen!«
»Es scheint ja, als ob er es redlich thäte,« erwiderte der Fürst.
»Nun, und wenn auch? Wen geht es etwas an? Niemand!«
»Richtig, liebe Olga. Also um auf das abgebrochene Thema zurückzukommen – daß Boris sein Erbteil verbraucht hat, ist für dich zwar eine wesentliche Beruhigung und Freude –«
»Nein, Marcell, du bist zu schlecht,« rief die Generalin ernstlich böse.
»Also auch nicht,« meinte der Fürst resigniert, und begann abermals: »Daß Boris sein Erbteil auf den Kopf geschlagen hat, ist zwar sehr lobenswert –«
Ein unterdrücktes Lachen von der hinter ihnen gehenden Sascha belehrte den Fürsten, daß er in der That die Achillesferse der Schwester getroffen und sich aufs Glatteis begeben habe.
»Sascha, was ist da zu lachen – halt' dich gerade,« rief die Generalin scharf verweisend über die Schulter zurück. Aber Sascha benutzte das betäubende Geräusch eines vorüberfahrenden Lastwagens, um dem Fürsten warnend zuzurufen:
»Onkel, du stichst in ein Wespennest! Was Boris thut, ist wohlgethan!«
»Also du begreifst, daß Boris eine reiche Partie machen muß,« fuhr die Generalin fort, als der Wagen vorüber war, »denn mein Geld kann ich ihm nicht geben, wenn ich einigermaßen ein Haus machen will, und Saschas Erbteil – ja, wenn Sascha überhaupt heiraten soll, muß sie wenigstens Geld haben, da ihr die äußere Attraktion fehlt –«
Erschrocken über die Rücksichtslosigkeit der Schwester sah der Fürst sich nach seiner Nichte unwillkürlich um. Doch diese nickte ihm zu und zeigte lachend, ihre spitzen, weißen Zähne.
»Wenn's mir Mama nicht sagt, so erzählt mir's der Spiegel, daß ich häßlich bin,« sagte sie gleichmütig.
»Sie ist dem guten, seligen Chrysopras so ähnlich,« murmelte die Generalin seufzend. »Und Boris ähnelt mir – so soll's ja eigentlich Glück bringen, aber mir wär's umgekehrt lieber, denn Häßlichkeit –«
»Häßlichkeit entstellet immer, selbst das schönste Frauenzimmer,« deklamierte Sascha ohne Bitterkeit, aber mit so viel Humor, daß es dem Fürsten ganz warm ums Herz wurde.
»Sascha, unterbrich mich nicht,« rief die Generalin scharf. »Halt' dich gerade und laß mich endlich ausreden. Was wollt' ich denn eigentlich sagen? Ja – Häßlichkeit ist solch ein Fluch für ein Mädchen. Also muß sie wenigstens Geld haben, und dieses Geld ist nebenbei auch noch so sichergestellt, daß es für Boris gar nicht zu erlangen ist.«
»Sonst wär's auch schon fort,« tuschelte Sascha an des Fürsten Seite.
»Und nun dieser Unsinn mit der kleinen Komtesse – es ist zum Weinen!«
»Hm,« machte der Fürst. »Und wie heißt diese Angebetete?«
»Sie ist die Tochter von dem Erlenstein, der seiner Frau wegen erst so lange in Kairo lebte und sich jetzt hier ganz ansässig gemacht hat, weil die Frau das deutsche Klima nicht vertrug.«
»So so! Und erwidert die junge Gräfin diese Gefühle von Boris?«
»Das kann weder er noch sein bester Freund behaupten,« meinte Sascha.
»Was redest du da für Unsinn?« fuhr die Generalin auf. »Gefühle? Was sind Gefühle? Natürlich wird sie nach Boris mit beiden Händen greifen, denn erstens ist er ein sehr schöner Mensch – er sieht mir ähnlich – und zweitens ist er eine brillante Partie.«
»Du sagtest aber doch eben, daß er sein Erbteil verbraucht habe,« fiel der Fürst trocken ein.
»Er ist auch, abgesehen davon, eine brillante Partie vermöge seiner Talente und Begabungen.«
»Er soll unter anderm einen wundervollen Tempel legen können,« stimmte die unverbesserliche Sascha ein.
»Boris muß in den letzten Jahren eine Perle geworden sein,« dachte der Fürst, der sich jetzt auch der Affenliebe, welche seine Schwester stets für den Knaben gehegt, erinnerte. Er war daher eigentlich froh, wie Madame Chrysopras nach dem letzten Einwurf Saschas etwas unvermittelt das Thema fallen ließ und ihrem Redestrom eine andere Richtung gab, indem sie plötzlich frug:
»Wie lange bist du denn eigentlich schon hier, Marcell? – Seit vierzehn Tagen? Großer Gott, was hätte man in dieser Zeit nicht alles unternehmen können – Landpartien, Picknicks, Galeriebesuche – entre nous, Galerien sind das sträflich Langweiligste, was es giebt, aber es gehört nun einmal zum guten Ton, sie zu besuchen. Italien ohne Galerien wäre ein Eldorado, Marcell! Dabei fällt mir ein, Sascha nimmt hier Unterricht im Pastellmalen – das ist fabelhaft chic, und sie war so vernünftig, es selbst zu wollen, trotzdem sie sich sonst allem widersetzt, was Mode ist. Sascha, halt' dich gerade und rede nicht, es ist so,« warf sie mit einem Blick nach rückwärts ein, obgleich Sascha gar nichts gesagt hatte. »Warum wolltest du voriges Jahr nicht die Geige spielen lernen?«
»Weil ich kein Gehör habe, Mama, kein Talent zur Musik!«
»Gehör! Talent! Welcher Unsinn! Was ist Talent? Ein dummes, landläufiges Wort. Man nimmt einen Lehrer, bezahlt ihn und macht ihm alles nach. Das kann jeder Affe!«
Nun aber lachte der Fürst laut auf.
»O Olga, du hast dich entsetzlich russifiziert,« rief er, »so sehr, daß alles schon bei dir per Muß gehen muß. Sogar das Talent. Arme Sascha, mußt du Pastellmalerei durch die Knute lernen, nur weil es Mode ist?«
»Du wirst's ja sehen, Onkel,« erwiderte Sascha im gleichen Tone.
»Pastell ist eine Kunst, welche vor Ölmalerei zwar den Vorteil hat, daß sie geruchlos ist und die Bilder gleich fertig sind,« plauderte die Generalin, welche mitgelacht hatte, weiter, »aber ich kann nie dabei sein, wenn Sascha malt, weil der Ton, den die trockenen Stifte auf dem rauhen Papier hervorbringen, und das schreckliche Geräusch des Wischens mir entsetzlich auf die Nerven gehen. Aber Saschas Kunst ist ein Erfolg, sage ich dir, Marcell! Sie malt jetzt die beiden Erlensteins – deliciös!«
»Beide Erlensteins?« fragte der Fürst. »Es sind also zwei Töchter da? Und welche betet Boris an, die ältere oder die jüngere?«
»Das weiß er selbst nicht, Onkel,« rief Sascha, »denn einmal sind die beiden Schwestern Zwillinge, und dann schwankt sein Herz noch zwischen beiden hin und her, wie – wie – nun, du kennst ja das Sprichwort von dem Esel mit den beiden Heubündeln.«
»Sascha, welche Vergleiche! Ich bin entsetzt,« rief Madame Chrysopras; doch als sie ihren Bruder harmlos genug lachen sah, lachte sie mit. Urplötzlich blieb sie aber stehen. »Ich habe eine Idee,« sagte sie, förmlich atemlos vor innerer Erregung.
»O, die mußt du uns auch zum besten geben, Olga,«, meinte der Fürst amüsiert.
»Nein, du darfst nicht lachen,« sagte sie, und da man inzwischen an den Cascinen, dem herrlichen, öffentlichen Park von Florenz angelangt war, deutete sie auf eine Bank unter einer mächtigen Steineiche. »Wir wollen hier einen Moment ruhen, Marcell – indes sieht Sascha, ob der Wagen uns langsam gefolgt ist, denn leider wohnen wir nicht vor Porta del Prato, sondern in der Viale Regina Margherita, dort haben wir eine Villa gemietet, dicht an der Piazza Cavour!«
»Wie konntest du, Olga!« meinte der Fürst vorwurfsvoll. »Moderne Straßen und Häuser kannst du überall haben. Aber wenn man nach Italien kommt, da sucht man sich einen alten Palazzo aus, möglichst nah an den Galerien und möglichst historisch.«
»Larifari,« sagte die Generalin, sich erschöpft setzend, »was gehen mich die alten Spelunken an und all' der historische Unfug, den ihr Archäologen treibt! Ich fühle mich in Italien erst wohl in den neuen Häusern an der Piazza Cavour, wo man sich wenigstens einheizen lassen kann, wenn man friert. Doch davon ein andermal. Was ich sagen wollte – – ist Sascha weit genug? Sie spottet immer über meine Pläne, ach! und wenn sie doch dem seligen Chrysopras nicht so ähnlich sehen möchte! Doch was ich sagen wollte – Marcell, ich will dir nicht mit Einleitungen und Gemeinplätzen kommen, ich will dir auch keine Vorwürfe darüber machen, daß du noch Junggeselle bist – – Marcell, du wirst dieses Jahr fünfundvierzig Jahre alt, und Krähenfüße bekommst du auch schon um die Augen, und graue Haare gewiß auch, nur daß man sie bei dieser Frisur nicht sieht – – sage, Marcell, weißt du denn nicht, daß du verpflichtet bist, dich zu verheiraten?«
»Man sagt so,« erwiderte der Fürst lächelnd, »aber das, liebe Olga, ist nicht gut zu befehlen und nicht gut zu untersagen. In dieser Beziehung bin ich Lessings Meinung: Kein Mensch muß müssen, wenigstens in gewissen Dingen.« –
»Und die Erbfolge in Hochwald? Soll die an die jüngere Linie fallen? Das fehlte noch!« sagte die Generalin, ihren Sonnenschirm energisch in den Sand stoßend.
»Was geht mich die Erbfolge an? Die soll mir keine grauen Haare machen, denn bei der jüngeren Linie giebt's Söhne genug. Man muß anderen Leuten auch etwas gönnen,« meinte der Fürst ruhig lächelnd.
»Nein, das kann dein Ernst nicht sein, Marcell,« rief die Generalin mit ungeheucheltem Entsetzen.
»Er ist's im Wortlaut und gewissermaßen auch im Sinne,« entgegnete er ruhig; »aber,« fügte er träumerisch hinzu, »du hast ja ganz recht. Hochwald hat sich seit Jahrhunderten vom Vater auf den Sohn vererbt, und in die jüngere Linie ist viel Blut gekommen, das den Stamm nicht veredelt hat. Doch meine Zeit habe ich versäumt. Ich fange an, alt zu werden. Aus Liebe wird ein junges Mädchen mir nicht zum Bunde fürs Leben die Hand reichen, und um mich wegen des Fürstentitels heiraten zu lassen, dazu fehlt mir jede Neigung. Also wird die jüngere Linie doch wohl die Erbfolge antreten.«
» Nous verrons, nous verrons,« meinte die Generalin mit geheimnisvoller Miene, und da Sascha mit dem Wagen erschien, setzte sie hinzu: »Wir besprechen das wohl noch einmal, Marcell, nicht wahr? Denn dein letztes Wort war das doch nicht? Einstweilen mußt du mir versprechen, heute Abend mein Gast zu sein. Es ist mein jour fixe, und du sollst sehen, über welch interessanten internationalen Salon ich verfüge.«
»Also das ist immer noch dein Ideal, diese kosmopolitische Gesellschaft?«
»Aber ich bitte dich, was giebt es interessanteres! Es kommt auch ein Liebhaber alten Plunders, wie du, ein Mr. Marstone.«
»Ist er Herren- oder Damenschneider?« fragte der Fürst. »Man kann das bei diesen › innocents abroad‹ niemals wissen.«
»O, du bist so schlecht, Marcell,« rief die Generalin mit Überzeugung. »Also du kommst? Au revoir!«
Und dann rollte sie mit Sascha in ihrem gemieteten Landauer die Via del' Re Umberto hinauf.
»Also ein Teil meiner schönen persönlichen Freiheit wäre verkauft und dahin,« murmelte der Fürst seufzend, als er den Lungarno wieder herabzuschreiten begann. »Nur Rom oder Venedig kann mich jetzt von den internationalen Salons der guten Olga retten. Da wird Natayczak wohl bald wieder packen müssen! Und mein schöner, alter Palazzo in der Via Maggio – ja – es giebt keine reine Freude in der Welt!«
Angelangt an der Piazza Manin, überlegte er, ob er nun doch noch nach dem San Marco-Kloster fahren oder ob er den fast ganz verlorenen Morgen lieber im nahen Palazzo Corsini beschließen sollte. Er wußte dort eine Madonna von Filippino Lippi und Soustermansche Porträts, die einen schon trösten konnten über verlorene Stunden in Florenz. Und während er stillstand, um in seiner Brieftasche die Eintrittskarte zu suchen, die ihm den Palazzo Corsini sogar um Mitternacht geöffnet hätte, sagte plötzlich jemand dicht an seinem Ellenbogen: »Fürst Hochwald, wenn ich nicht irre!«
Überrascht wandte sich der Angeredete um und sah neben sich einen jungen Mann stehen, groß gewachsen und hübsch von Angesicht, aber durch den »pschüttesten« aller »pschütten« Anzüge bis zur Möglichkeit karikiert. Alles war an diesem jungen Manne kariert, von dem merkwürdig geschnittenen Anzug an, den man, hätte ihn ein armer Gymnasiast getragen, dürftig genannt hätte. Aber hier waren die Karos noch klein, während sie sich auf dem sackförmigen und viel zu kurzen Überzieher zu fabelhafter Größe erweiterten. Den Hut hintenübergesetzt, an den Füßen gelbe, rindlederne Schnabelschuhe, aufgekrempelte, maßlos weite Unaussprechliche, rotgefüttert, und blaue Strümpfe mit aufgedruckten Sportemblemen, mit leuchtend zimtfarbenen Handschuhen bekleideten Händen, über welche Manschetten mit Riesenknöpfen fielen, ein Stöckchen wie für einen dreijährigen Jungen: so stand das wandelnde Modell eines verrückten Pariser Schneiders vor dem erstaunten Fürsten.
Dieser verbeugte sich leicht.
»Allerdings,« sagte er, »ich weiß aber nicht, mit wem ich die Ehre habe –«
Doch bevor er ausgeredet hatte, war ihm das karierte und karikierte Wesen schon um den Hals gefallen und applizierte ihm auf offener Straße einen Kuß.
»Aber Onkel, kennst du mich nicht mehr? Ich bin ja Boris – Boris Wassilijewitsch Chrysopras, dein Neffe!«
»Nun eben,« war alles, was der Fürst in den Armen dieses Neffen hervorbringen konnte, und als dieser endlich seinen verwandtschaftlichen Gefühlen genug gethan hatte, steckte er resigniert seine Karte für den Palazzo Corsini wieder ein und besah sich den Sohn seiner Schwester.
»Du also bist Boris, die Perle des Hauses,« sagte er. »Hm! schön angezogen bist du jedenfalls.«
»Alles Pariser Modelle, Onkel!«
»Scheint so. Habe eben deine Mutter und Schwester verlassen, nachdem wir uns aus Zufall getroffen.
»Lebst du inkognito hier, Onkel?«
»Nicht doch. Ich schreibe mich in die Fremdenbücher M. F. Hochwald ein. Das ist mein ganzes Inkognito, denn ich werde auf die zwei mystischen Lettern M. F. hin meist für einen Reisenden in irgend einer Branche geschätzt von Oberkellner und Portier. Und da Ratayczak nicht plaudert und ich mir meine Briefe stets poste restante bestelle, so entgehe ich meist der mir so widerlichen Servilität und dem ewigen ›Durchlaucht‹, für das ich so teuer bezahlen muß.«
»Merkwürdig!« sagte Boris Chrysopras in seiner Ahnungslosigkeit, daß Leute mit Titeln im Gegensatz zu Titellosen sich's meist nur mit dem Bewußtsein begnügen lassen, dieselben zu besitzen, während jene anderen ängstlich hervorsuchen, wie sie sich nennen könnten. Aber Grübeln über menschliche Schwachheiten und andere Probleme, Grübeln und Sinnen überhaupt war nicht die Sache von Boris Chrysopras. Er sagte also erstaunt über seines Oheims Sonderbarkeit: »Merkwürdig!« und setzte sogleich hinzu: »Ich habe einen scheußlichen Hunger, Onkel – Gemütsbewegungen machen mir immer Hunger und wirken auf Leere des Magens. Merkwürdige Konstitution, was? Du hast doch auch Hunger, Onkel? Es ist auch fast Lunchzeit, und ehe wir so langsam bis zu Doney schlendern – was meinst du dazu?«
»Einverstanden,« sagte der Fürst gutgelaunt; denn nachdem seine erste schwere Enttäuschung, den Besuch des Markusklosters betreffend, überwunden war, fand er sich in die zweite, die ihm den Besuch der Galerie Corsini entrückte, schon leichter, um so mehr, als sein Neffe mit seinem Pschütt entschieden den sehr starken Sinn für Humor in ihm weckte. Er legte also seinen sehr unauffällig bekleideten Arm in den in allen Farben spielenden des jungen Diplomaten, und beide schlenderten zurück nach der Via Tornabuoni, zu dem vornehmsten Restaurant von Florenz, wo man für hohe Preise vorzüglich speisen kann.
Sie saßen auch sehr bald an einem Tische des eleganten Restaurants und sahen hinab auf die Straße mit ihrem bewegten Treiben, mit ihren einander drängenden Passanten, ihren Equipagen, ihren strahlenden Juwelen-, Mosaik- und Kunstläden – und siehe da, da kam auch eines der »Wunder« von Florenz, der ältliche Amerikaner, der von einem turmhohen Wagen herab 24 paarweise davor gespannte Pferde mit 24 Leinen kutschiert und den Schaden, den er durch diese sonderbare und unbequeme Passion täglich anrichtet, dem Magistrat durch Vereinbarung monatlich bezahlt.
»Donnerwetter, wer so viel Geld hätte wie dieser Kerl!« seufzte Boris Chrysopras über seiner Tasse Beeftea aux Truffes.
»Nun, dein Vater konnte es sich seinerzeit auch wohl gestatten, mit 96 Pferdebeinen spazieren zu fahren,« erwiderte der Fürst.
»Papa? O ja. Aber erstens ist sein Geld in drei Teile gegangen für Mama, Sascha und mich, – na, und ich –«
Er vollendete nicht, denn der Kellner kam und setzte eine kleine Terrine Straßburger Gänseleberpasteten auf den Tisch und eine Flasche Steinberger Kabinett.
»Ja, es ist so unangenehm, daß das Geld rund ist,« meinte der Fürst, indem er einschenkte.
»Scheußliche Eigenschaft,« murmelte der junge Diplomat. »Mama wird dir natürlich schon vorgejammert haben,« setzte er mißtrauisch hinzu, und als der Fürst hierauf nichts erwiderte, meinte er tröstend: »Na, eine Weile hält es schon noch vor, und dann werden wir ja Rat schaffen. Kolossal reiche Partie in petto – fürchte nur, daß die unseren Stammbaum nicht gerade mit Edelreisern okulieren wird.«
»So?« machte der Fürst. »Deine Mutter sprach doch aber von einer deutschen, jungen Gräfin, welche –«
Boris Chrysopras wehrte mit der Linken lebhaft ab, während die Rechte den Rest der Pasteten auf seinen Teller legte.
»Siehst du, Onkel, das ist mir ja eben so auf den Magen gegangen, hat mir diesen unnatürlichen Hunger gemacht! Gemütsbewegungen vertrage ich einmal nicht!«
»Nein?« fragte der Fürst, amüsiert der verschwindenden Pastete nachsehend.
»Nein,« bestätigte der junge Russe mit tragischem Kopfschütteln, »denke dir meine Lage, Onkel! Hier – ein immer mehr schwindendes Vermögen – habe scheußliches Pech gehabt im Spiel und auf dem Turf – und die Aussicht, nächstens brichst du nieder. Dort – eine äußerst pikante Amerikanerin mit blödsinnigem Mammon, und dazwischen eine blonde Elfe, die nichts, oder doch zu wenig für mich hat. Nun stell' dir das mal vor, und stelle dir vor, daß ich diese blonde Elfe gerade lieben muß!«
»Ja, ja, es ist schrecklich,« sagte der Fürst, insgeheim lächelnd, indem er an Saschas drastischen Vergleich von dem Esel zwischen den Heubündeln dachte. »Ich glaube gern, daß dieses Dilemma dich aufregt.«
»Ah, du weißt noch nicht alles,« unterbrach ihn Boris, dem Kellner zusehend, welcher eben delikat aussehende Hammelkoteletten à la Maintenon servierte nebst einer staubbedeckten Flasche alten Burgunders. »Onkel, diese Koteletten kann dein Koch nicht bester machen – sie sind einfach in der Perfektion. Und diese Haricots vert flageolets dazu werden nach meinem Rezept bereitet, denn vom Gemüsekochen haben diese elenden Italiener keine Ahnung.«
Er zerlegte eines der saftigen, thalergroßen, aber dicken Koteletten in ihrer Panade von Parmesankäse und aß mit Kennermiene.
»Gut,« sagte er, indem er langsam ein paar Schluck des alten Burgunders schlürfte. »Also, Onkel,« fuhr er fort, »ich sage dir, du weißt noch nicht alles. Stelle dir vor, daß ich, alle pekuniären Bedenken beiseite schiebend, nur meinem Herzen folgen will und mich heut früh entscheide. Geld hin, Geld her – die oder keine andere, sage ich mir. Und da ich weiß, daß die Erlensteins heute früh nach den Uffizien wollen, gehe ich auch dahin, rase durch alle Säle wie ein Besessener, sehe den Vater mit der anderen Tochter natürlich erst im Niobidensaal, und wie ich mich in die leere Sala del Baroccio zurückkonzentriere, um einen Kriegsplan zu entwerfen, wer, meinst du wohl, steht an dem schönen Mosaiktisch in der Mitte und zeichnet sich ein Ornament davon ab in ein kleines Skizzenbuch – Sie! Sie! Sie!«
»Woraus man ersieht, daß ein junger Mensch Glück haben muß,« meinte der Fürst ernsthaft. »Und was thatest du?«
»Ich?« Boris Chrysopras sah tiefsinnig zu, wie der Kellner nach raschem, geräuschlosem Tellerwechsel erst eine Flasche Roederer, extra dry, in Eis vergraben in silbernem Kübel auf bronzenem Gestell herbeibrachte und dann einen zarten gebratenen Fasan mit Kaviar-Beilage servierte, begleitet von ausgesuchtem Endivien-Salat und Kompott von grünen Mandeln. »Siehst du, Onkel, der Kaviar ist recht gut hier – das Beste vielleicht, was ins Ausland kommt, aber Kaviar, wie wir ihn essen, ist es nicht: grau, großkörnig, perlend und mild – kurz, Kaiserkaviar. Aber auch dieser ist, wie gesagt, passabel und meiner Ansicht nach die beste Beilage zum Fasan, obgleich viele Sauerkraut in Sekt gekocht mit Austern darin vorziehen. Das ist nicht meine Passion. Ich weiß ja nicht, wie du über diesen Punkt denkst, aber –«
Er zuckte bezeichnend mit den Achseln.
»Ich finde deinen Geschmack gut,« erwiderte der Fürst, mit Anstrengung ernsthaft bleibend. Und indem er seinem Neffen zutrank, sagte er: »Also du fandest ›Sie‹ in der Sala del Baroccio?«
»Ja, ein Ornament kopierend,« begeisterte sich Boris für seine »jungen Leiden« wieder, nachdem er den schwachen Leib gestärkt. »Wir schüttelten uns die Hand, besprachen den Mosaiktisch, wurden ganz darüber einig, daß die ›Magdalena‹ von Carlo Dolci widerlich süßlich sei und fanden beide Rubens zweite Frau schöner als die erste. Und während wir noch verglichen, faßte ich mir ein Herz, schoß mit einer Liebeserklärung los und bot ihr Herz und Hand.«
»Nun, und ›Sie‹?« fragte der Fürst, als Boris sich von neuem mit einem Glase Sekt stärkte, ein Fasanenbruststück dick mit Kaviar bestrich und es in seinen Mund schob.
»Sie?« kam es dumpf zurück, weniger aus Herzensqual, als weil er seinen Mund voll hatte. »Sie?« wiederholte er dann mit hellerer Stimme, »nun, sie gab mir einen klippklaren, unverzuckerten und unzweideutigen Korb!«
»Ah –« machte der Fürst überrascht. Dann erhob er das Glas. » Cheer up, old boy,« sagte er, »es lebe die Amerikanerin.«
»Noch nicht, Onkel,« erwiderte Boris wiederum dumpf aus naheliegenden Gründen. »Wie ich also so stehe, bildlich genommen, mit offenem Munde über die unglaubliche Geschmacksverwirrung dieser blonden Borste von einem kleinen Satan, wer tritt in den Saal? Der Papa mit seiner anderen Tochter. Und wie die über die Schwelle tritt, da bricht die furchtbare Erkenntnis über mich herein, daß ich nicht die Korbspenderin, sondern deren Zwillingsschwester liebe!«
»Mein Gott, das ist ja ein Stoff für Ibsen,« rief der Fürst überrascht. »Doch ich sage dir noch einmal, alter Junge: cheer up, denn Schlimmeres kann dir dabei ja gar nicht passieren, als daß du dir noch einen Korb holst, den Zwillingskorb.«
»Onkel, spotte nicht,« erwiderte Boris mit Pathos, der ihn aber nicht verhinderte, eine eben aufgetragene, köstlich nach Aprikosen duftende Schaumtorte, wie sie eben nur in Florenz gebacken werden kann, einer näheren Beachtung zu würdigen. »Ich sagte dir schon, solche Gemütsbewegungen gehen mir nah zu Herzen.«
»Ich dachte, sie machten dir Hunger?« unterbrach ihn der Fürst, »denn ich sehe, daß du trotz unseres reichlichen Frühstücks diese Torte allein zu verzehren gedenkst.«
»Sie ist aber auch köstlich!« gestand Boris, eine zweite Schnitte des aromatischen süßen Gebäcks auf seinen Teller schiebend, »ich meine die Torte, denn die Erlensteinschen Zwillinge sind mehr elfenhaft als überwältigend. Ach, und ich mußte mich stärken nach dieser Offenbarung meines Herzens, Onkel, und darum erlaubte ich mir, die eben servierten Speisen auszuwählen als Stammgast dieses Lokals – –«
Als dann die Reste der Torte abgetragen waren und der Kellner Butter, Pumpernickel, Radieschen, Selleriestengel, Stracchino und Roquefort brachte und schon die Mokkatassen zu einem Zuge des wahrhaft vollkommenen Doneyschen Kaffees hinstellte, da fragte der Fürst noch einmal:
»Nun, Boris, und die Amerikanerin?«
»Klotzig reich, sehr pikant,« brummte Boris achselzuckend. »Manchem zu ausländisch, zu sehr › free county girl.‹ Wirst sie ja heut bei Mama sehen, Onkel, denn daß du nicht in dem internationalen Salon eingefangen sein solltest, ist doch nicht anzunehmen.«
»Nein, leider richtig erraten,« sagte der Fürst seufzend.
»Na, ja eben,« meinte Boris mit bezeichnender Handbewegung, scheußliche Erfindung, Mamas Routs. Allerdings wird Sie auch da sein –«
»Ah so – die neuentdeckte ›Sie‹ deines Herzens?«
»Und die Korbspenderin auch. Sie stehen alle nicht in so großer Gunst bei Mama wie die pikante Miß › I reckon‹, wie ihr Spitzname ist, aus ›N'York‹. Mag wohl noch ein Tropfen Negerblut in ihr sein. Der Vater war jedenfalls Schweinehändler, der Großvater Schweinetreiber.«
Fürst Hochwald fiel's unwillkürlich ein, daß der Großvater seines Neffen, des »guten, seligen Chrysopras« Vater Schneider gewesen sein sollte – aber »mein Himmel!«, das war ja am Ende der alte Derfflinger auch vor grauen Jahren.
Nachdem Boris noch seinen Kaffee geschlürft, der nach seiner Angabe »heiß wie die Hölle, schwarz wie die Nacht und süß wie die Liebe« sein mußte, um gut zu sein, verließen die Herren Doneys Restaurant und trennten sich unten auf der Straße, Boris, um in seinem Hotel Siesta zu halten, der Fürst, um sich einen Wagen zu nehmen und hinauf zu fahren nach Fiesole, wo er im Garten des alten Franziskanerklosters auf der Höhe ein paar Stunden verträumte. Er hatte sich die wenigen Mönche, welche das cypressenbekränzte, malerische alte Kloster bewohnen, zu Freunden gemacht, und sie ließen den signore tedesco gern hinein in den Klostergarten mit seinem schwermütigen Haine von Cypressen, Lorbeer und Steineichen, mit seinem Fernblicke in den grandiosen Bergkessel des Apennin. Von dieser Stätte geht die Sage, daß Atlas sie errichtete für solche, welche die Ruhe des Geistes und die Heiterkeit des Herzens verloren haben.
Die Sonne neigte sich schon, als Fürst Hochwald sich von dem Block von Pietra Serena erhob, der zu Füßen des Kreuzes liegt, von welchem aus man in die großartige Bergschlucht hinabschaut. Nur schwer trennte er sich von der Aussicht in die Tiefe, in welcher schon dunkelviolette Schatten lagerten und aus der es anfing, eisig kalt emporzusteigen. Langsam durchschritt er den Hain, dessen Laubkronen schwermütig flüsterten und rauschten, dessen Zauber sein Herz stets neu umspann und ihm zu sagen schien: »Bleib' hier, denn hier wohnt der Friede!«
Der Friede – ein anderer, tieferer Friede noch als in seinem Schloß am Meer, wo die Wogen unablässig rauschten und brandeten – wie sein eigenes Herz – der Friede der Entsagung, der Friede der Ergebung und der Erwartung eines besseren Lebens, in dem das Herz nicht mehr irrt und nicht mehr zu bereuen braucht.
Reue! O, die schwere Kette; die, im Feuer der Seelenqual geschmiedet, nimmer nachläßt, wenn auch der Dichter sagt:
»Kummer und Reue,
Alles zerstiebt,
Es vergißt selbst die Treue,
Wie treu sie geliebt.«
Ja, vergänglich ist auf Erden alles – nur zwei sind's, die uns überdauern – die Liebe und der Schmerz, denn die erstere höret nimmer auf, und der zweite läutert uns fürs bessere Leben, und mit ihm müssen wir oft die irdische Glückseligkeit erkaufen.
Fürst Hochwald zögerte, bevor er in den malerischen Klosterhof trat, hinter dessen Pforte sich ihm die Welt wieder öffnete, diese schöne Welt mit ihren Wundern der Natur und Werken von Menschenhand, in welcher nichts unvollkommen ist als der Mensch selbst.
»Die Abende sind noch so kalt,« meinte der Superior, als sich der Fürst von ihm im Kreuzgange verabschiedete. Und er versteckte fröstelnd die Hände in den Ärmeln seiner groben Kutte. »Unsere Zellen droben, nach Norden und Westen gelegen, sind gar nicht zu bewohnen. Freilich langen die südlichen Zellen reichlich hin für meine kleine Herde, aber auch im Refektorium ist's eisigkalt zu dieser Jahreszeit.«
»Und doch hätt' ich am liebsten eine von diesen nördlichen Zellen,« erwiderte der Fürst mit einem Seufzer.
Der Superior sah den Fremden prüfend an, denn er kannte nicht den Namen des Signore tedesco.
»Armut kann Euch solchen Wunsch nicht eingeben,« sagte er, der reichen Gaben gedenkend, die dieser häufige Gast stets in der Sammelbüchse an der Klosterpforte zurückließ. »Und Gott dienen kann man auch ohne Kutte und Klosterzelle. Nicht alle sind dazu berufen. Den Frieden des Herzens aber müßt Ihr mitbringen in die stille Zelle, denn nicht jeder, der ihn dort sucht, wird ihn finden – wenigstens nicht ohne Kampf. Manchen Gemütern ist die Einsamkeit wohl wünschenswert, aber dennoch unerträglich.«
»Die Einsamkeit allein thut's nicht,« erwiderte der Fürst und nahm Abschied von dem Superior, der ihm lange nachsah und dazu oft den grauen Kopf schüttelte.
»Was ist's mit dem Manne?« dachte er. »Weltschmerz oder Seelenschmerz! Hm! hm! Sieht nicht aus, als ob dem der Erdenstaub zu schwer, die Sonne zu dunkel wäre. Und Seelenschmerz? Davor sind auch die Besten unter uns nicht geschützt!«
*
Es war spät geworden, als Fürst Hochwald bei seiner Schwester in der Viale Regina Margherita anlangte, aber er machte sich darüber weiter keine Vorwürfe, da er die ketzerische Meinung hegte, daß er noch viel zu zeitig käme für dieses Konglomerat von »Specialitäten«, wie Madame Chrysopras sie liebte. Es war eine neue und elegante Villa, die sie bewohnte, mit elektrischem Lichte, viel Vergoldung und Marmor heuchelnden Gipsstatuen. Die Einrichtung des nur der Geselligkeit geweihten Erdgeschosses mit seinen großen und hohen Räumen war modern und elegant, denn Seidenstoffe überzogen die Polstermöbel und dekorierten in steifen Falten Thüren und Fenster – aber es war alles so alltäglich, so mietskasernenmäßig, so ganz im Geschmack jener Dekorateure, deren unerträgliche Falten- und Bogendekorationen einem jedes Zimmer verleiden können, daß es Fürst Hochwald nach dem ersten Blicke in diese elektrisch beleuchtete Pracht ganz elend zu Mute wurde, worauf aber das Gefühl: »Gottlob, daß du hier nicht wohnen mußt!« sich wohlthuend bei ihm geltend machte.
In den geräumigen Salons war eine elegant gekleidete, Gelato und süße Kuchen speisende, schwatzende Menge versammelt, welche zunächst an den babylonischen Turmbau erinnerte, denn die sehr lebhafte Konversation wurde in allen erdenklichen Sprachen geführt, die vom Sacramento bis zum Bosporus zu hören sind. Uniformen waren nur vereinzelt vertreten – der schwarze Frack mit der weißen Binde und der chapeau claque dominierten, nur spärlich unterbrochen durch die Uniformen einiger Bersaglieri-Offiziere oder die violette Schärpe eines Monsignore und belebt durch den roten Mantel und das gleichfarbige Käppchen eines Kardinals, um den sich eine gewählte Gruppe gebildet hatte. Madame Chrysopras, in prächtiger, taubengrauer Brokatrobe, Diamantsterne im schneeweißen Haar, rauschte ihrem Bruder schon im ersten Salon entgegen. »Mein Gott, Marcell, wie spät,« rief sie vorwurfsvoll, »ich hätte dich so gern früher hier gehabt, damit du mir bei dem Empfange helfen möchtest.«
»Na, das hätte mir gerade noch gefehlt,« dachte er, und überreichte seiner Schwester mit einem »Pardon, Olga!« einen Strauß prächtiger Orchideen, der sie sofort versöhnte.
»Wie reizend von dir, an mich zu denken,« rief sie erfreut. »Und noch dazu Orchideen! Orchideen sind so modern. Nun aber komm – ich muß dich dem Kardinal vorstellen und ein paar Leuten von Einfluß, die gerade mit ihm sprechen – mitgefangen, mitgehangen, lieber Marcell – hier giebt's keine Einsiedeleien.«
Fürst Hochwald machte mit Vergnügen die Bekanntschaft des kunstsinnigen und als Redner berühmten Kirchenfürsten und mit Entsagung die mehrerer abgedankter Minister und Staatsmänner verschiedener Nationen, aber Madame Chrysopras wich vorläufig nicht von seiner Seite.
»Und jetzt zur Königin,« sagte sie, den Arm ihres Bruders ergreifend, nachdem sie ihn noch einem halben Dutzend Damen vorgestellt hatte.
»Also auch Königinnen hast du in deinem Musterlager moderner Gesellschaftsmenschen?« fragte der Fürst belustigt. Die Generalin nahm's für ein Kompliment.
»Die Königin Darja, weißt du, flüsterte sie mit stolzem Lächeln hinter ihrem Fächer. » On se mêle un peu aux affaires politiques – cela nous donne un certain haut goût diplomatique, wenn ich's so ausdrücken darf. Die Königin verbringt den Winter hier offiziell à cause de sa santé, aber wir alle wissen, daß es eine Art von Verbannung ist. Und da sie unserer Nation von Geburt angehört, so haben wir uns ostentativ bei ihr eingeschrieben – das war ein Wink von oben, weißt du, durch Boris, der doch eingeweiht ist. O, es hat doch sein Schönes, wenn man einen Sohn hat, der mit der haute diplomatique ganz au fait ist!«
Marcell Hochwald hätte das nun nicht gerade blind unterschreiben mögen, aber er hütete sich, es zu sagen. Er wurde im nächsten Augenblicke auch schon der Königin vorgestellt, die in einem kleineren Salon Cercle abhielt und den ihr dem Namen nach wohlbekannten deutschen Magnaten sehr freundlich begrüßte. Sie hielt ihn wohl eine Viertelstunde lang im Bann ihrer tiefen, verschleierten Stimme und ihrer wunderschönen, traurigen, dunkeln Augen, und dann durfte er weiter fortfahren im Durchforschen der terra incognita des Salons seiner Schwester, wobei er halb belustigt und halb entrüstet nicht umhin konnte zu bemerken, daß sie »allen Tod und Teufel« eingeladen hatte.
»Aber Marcell, ich bitte dich,« erwiderte Madame Chrysopras etwas zerstreut, denn ihre Augen suchten offenbar etwas, oder vielmehr, jemanden in der Menge. »Nur noch in Deutschland hat man diesen Kastengeist, der sich immer in demselben Kreise langweilt.«
»Nein, Olga, gegen diese Beschuldigung erhebe ich Widerspruch,« sagte der Fürst lächelnd. »Nur vermeiden wir Deutschen allerdings gern zweifelhafte Existenzen in unseren Salons. Du aber hast ja hier eine förmliche Ausstellung Bassermannscher Gestalten!«
»Welche Übertreibung, Marcell! Aber hast du Boris noch nirgends entdeckt? Der Schlingel sitzt sicher mit seiner blonden Komtesse in irgend einer Ecke oder Nische und raspelt Süßholz!«
»Lassen wir ihn! Er muß sich doch seinem schweren diplomatischen Amte entsprechend erholen. Und Süßholz zu raspeln ist solch unschuldiges Vergnügen!« meinte Marcell Hochwald mit leisem Spott. Madame Chrysopras aber fing sofort Feuer.
»Ich begreife nicht, wie man in solchen Dingen scherzen kann, rief sie entrüstet. »Und das, nachdem ich dir erst heut' früh auseinandergesetzt, daß Boris solch kleinen Habenichts nicht heiraten kann! Ah, da ist unsere liebe Miß Grant. My dear child, hier bringe ich Ihnen meinen Bruder, den Fürsten Hochwald! Marcell, ich lasse dich jetzt hier zurück, denn meine Pflicht als Wirtin ruft mich zu der Königin – und wenn du meinen süßen Boris siehst –«
Das übrige verlor sich in der Begrüßung anderer, und das eben vorgestellte Paar blieb allein zurück, falls man ein Nebeneinanderstehen, Ellbogen an Ellbogen inmitten einer schwatzenden, Sandwich verzehrenden Menge »Alleinsein« bezeichnen kann.
»Aha, das ist also die Schwiegertochter nach dem Herzen meiner Schwester,« dachte der Fürst, sein Gegenüber diskret musternd. Miß Fuxia Grant war zweifellos sehr hübsch und sehr pikant – daß ihr rotes Haar zu goldigeren Tinten gezwungen worden und infolgedessen zwar heller, dafür aber glanzlos geworden war, machte ihr pikantes Gesichtchen, das dem bekannten Porträt der Dubarry auffallend ähnlich war, noch eigenartiger, und wenn sie ihren blassen Brauen und Wimpern mit chinesischer Tusche zu dem frappanten Kontraste mit ihrem Haar verhalf und ihren großen braunen Augen durch einen sehr diskreten bläulichen Ring einen besonderen Reiz verlieh, so war das eben ihre Sache, und der diese kleinen Korrekturen der Natur durchschauende Beobachter mußte notwendig zugeben, daß das Gemälde äußerst geschickt und wirksam war. Miß Fuxia Grant war ferner gut und geschmackvoll gekleidet, in ein sehr einfach gearbeitetes Kleid von weicher, aber kostbarer, crêmeweißer, indischer Seide, deren glanzlose Falten sich um ihre wunderbar schön gewachsene Figur und wahrhaft klassische Büste mit jener Vollkommenheit des Arrangements legten, wie nur Worth in Paris sie imstande ist zu »komponieren«. Und zu diesem Kleide schmückte nur eine Schnur kirschgroßer echter Perlen den schlanken Hals, ein Stern von Brillanten das Haar, und ein ebensolcher Stern dieser kostbaren Steine schloß vorn die etwas tief ausgeschnittene Taille.
»Hm – in dieses Yankee-girl würde ich mich verlieben, wenn – sie mein Genre wäre,« dachte der Fürst weiter. »Leider mag ich Gemälde aber nur im Rahmen oder auf der Staffelei!«
Indes hatte » Miss I reckon of N'York« den Fürsten ihrerseits sehr ungeniert durch eine sogenannte Pompadour- oder Stock-Lorgnette gemustert.
»O, also Sie sind der Bruder der Madame Chrysopras?« begann sie dann das Gespräch. »Aber viel jünger, wie diese, I reckon!«
»Eine Thatsache, die der Gothaische Kalender erhärtet, von meiner Schwester aber nicht gern gehört wird,« erwiderte der Fürst lächelnd.
»Aber Frau von Chrysopras ist doch eine geborene Gräfin Hochwald, denke ich, keine Prinzessin,« fuhr Miß Grant fort.
»Gewiß. In unserem Hause führt nur der Chef des Hauses den Fürstentitel, und ›Prinz‹ ist nur sein ältester Sohn und Erbe. Die übrigen Glieder des Hauses sind Grafen und Gräfinnen!«
» How interesting,« meinte Miß Grant mit großen Augen. »Ähnlich ist's ja wohl auch in England, I reckon! Und Sie sind also ein wirklicher, richtiger Fürst?«
»Es kommt darauf an, was Sie darunter verstehen,« War die Erwiderung des Fürsten.
»Nun, ich meine, solch ein Fürst wie in England die Herzöge!«
»Ganz richtig – im Prinzip sind wir dasselbe – landsässige Fürsten ohne die Rechte der Ebenbürtigkeit mit den regierenden Häusern!«
» How strange!« machte Miß Grant und nahm die Lorgnette wieder vor die Augen. »Ich habe mir immer gewünscht, mit den europäischen Herzögen und Fürsten bekannt zu werden. Wir haben drüben eine kleine Schwäche für solche Titel, you know! Sind Sie verheiratet, Fürst?«
»Gott sei Dank, leider noch nicht,« erwiderte Marcell Hochwald mit völlig ernstem Gesicht. Aber die schöne Fuxia Grant merkte nichts von dem Doppelsinn der Antwort: Sie schlug die Augen nieder und neigte den fuchsroten Kopf etwas zur Seite – sinnend, nachdenklich. Dann holte sie tief Atem und sagte mit schönem Freimut:
»Ich habe mir nämlich vorgenommen, einen deutschen Fürsten zu heiraten!«
Marcell Hochwald verneigte sich, ohne daß in seinem Gesicht eine Muskel gezuckt hätte.
»Sie erweisen meinem Vaterlande zu viel Ehre, meine Gnädigste,« erwiderte er ernsthaft. In diesem Moment kamen mehrere Herren, welche durch einen von ihnen der amerikanischen Millionärin vorgestellt werden wollten, und Fürst Hochwald benutzte diesen günstigen Moment, um sich »nach Boris und Sascha umzusehen«.
»Das nehme mir kein Mensch übel,« dachte er, sich durch die Menge windend. »Da muß man sich ja vollständig über die Art des Korbes klar sein, wenn diese reizende Miß mit ihrem Antrage noch deutlicher werden sollte. Aber wer. um alles in der Welt, ist dort jener alte Herr? Den muß ich irgendwo schon gesehen haben!«
Dieser innere Ausruf galt einem Herrn, der an einem Thürpfosten stand und die Gesellschaft ziemlich teilnahmslos betrachtete. Sein Haar war weiß, doch konnte er noch nicht alt sein, was ein gewisses Etwas in seinen schönen, vornehmen und ruhigen Zügen verriet, und die blauen Augen unter den Weißen Brauen waren noch zu wenig eingesunken, um von hohem Alter zu zeugen. Gefesselt von dem Aussehen des Herrn, dessen Züge ihn, er wußte nicht, an wen erinnerten, trat Hochwald vor ihn hin und stellte sich, seinen Namen nennend, vor.
Überrascht sah der Fremde auf.
»Wir sind alte Bekannte, lieber Fürst,« erwiderte er in deutscher Sprache. »Freilich werden Sie mich kaum mehr wiedererkennen, denn in den zwanzig Jahren, seit ich Sie zum letztenmal sah, bin ich weiß geworden, während Sie fast unverändert sind. Ich bin Ludwig Erlenstein.«
»Darum also zog's mich zu Ihnen hin, als ich Sie sah, Herr Graf,« entgegnete Hochwald bewegt. »Zwanzig Jahre! Die Zeit vergeht uns oft zu langsam, und wenn wir auf sie zurückblicken, scheint sie so kurz. Wir sahen uns zum letztenmal im Klub, wenn mir recht ist.«
»Ja – ganz recht, im Klub. Es war an jenem Abend« – Graf Erlenstein dämpfte die Stimme, »an jenem Abend, als meine Schwester verhaftet wurde. O, man vergißt solche Tage nicht.«
»Nein, man vergißt solche Tage nicht,« wiederholte der Fürst, indem ein Zug tiefsten Schmerzes über sein Gesicht ging. Und erst nach einer beredten Pause setzte er hinzu: »Sie haben den Süden ganz zu Ihrer Heimat gemacht, Graf Erlenstein?«
»Die Gesundheit meiner Frau erforderte damals einen Winter im Süden – die Ereignisse haben ihn dann für eine neue Heimat wünschenswert gemacht,« erwiderte der Graf. »Wir haben mehrere Jahre in Kairo zugebracht und sind dann nach der italienischen Küste des Mittelmeeres gezogen, wo wir so lange blieben, bis unsere Töchter schulreif wurden. Dann lebten wir in Neapel, später in Rom, und dort starb meine Frau. Sie ruht auf dem Cimitero bei Tedeschi am Vatikan. Rom wurde mir durch diesen schweren Verlust verleidet, und nun sind wir hier und haben vor kurzem ein schönes altes Haus gemietet. In zwanzig Jahren haben wir also viermal den Wohnort gewechselt – für uns seßhafte Deutsche ist das fast ein Nomadenleben. Aber Rom wurde unerträglich für mich, der den guten Geist des Hauses begraben mußte, und nachdem ich's fast zwei Jahre versucht, mich zu beherrschen, mußte ich nachgeben. Solche Schicksalsschläge machen weiß vor der Zeit. Aber ich darf nicht undankbar sein, denn meine Zwillinge machen mein Haus heiter und füllen es mit Sonnenschein – wenn's nur immer so bliebe,« schloß er mit einem Seufzer.
Fürst Hochwald hatte mit dem größten Interesse zugehört. Er war durch diese Begegnung mit dem einst lieben und sympathischen Bekannten – zu einer Freundschaft in diesem Sinne war es noch nicht zwischen ihnen gediehen – aufs tiefste bewegt, und manche Frage drängte sich ihm auf die Lippen, die er indes nicht aussprach. Hier war nicht der Ort dazu, darum kehrte er zu dem leichteren Umgangston zurück.
»Sind die jungen Gräfinnen, Ihre Töchter, hier, und wollen Sie die Güte haben, mich Ihnen vorzustellen?«
Graf Erlenstein sah sich prüfend um.
»Sie gingen, um ein von Fräulein Chrysopras gemaltes Bild anzusehen,« meinte er. »Ich glaube, es war in dem kleinen Boudoir am Ende der Zimmerflucht, das als Atelier dient. Dort müssen wir meine Mädchen noch finden.« –
Fürst Hochwald folgte dem Grafen durch einen kleinen Salon, den eine schwere, herabgelassene Portiere von dem erwähnten Raume trennte. Er schlug den Vorhang zurück und trat in das allerdings kleine, aber reizend eingerichtete Atelier mit seinen die Ecken füllenden Palmen, seinen alten Stoffen, Gefäßen und Möbeln – alles Saschas Eigentum, das Madame Chrysopras als »Gerümpel« bezeichnete, den Fürsten aber gleich wohlthuend anmutete und ihm die Nichte sofort näherbrachte.
Vor einer Staffelei stand eine kleine Gruppe von fünf Personen: Boris und Sascha Chrysopras, ferner ein großer Herr mit sehr dunkler Gesichtsfarbe, schwarzem Haar, schwarzem Schnurrbart und merkwürdigen hellen, dunkelverschleierten Augen – Augen, die weder zu übersehen noch auch zu vergessen waren. Zwei junge Mädchen in einfachen, weißen Kleidern von weichem Wollstoff vervollständigten die Gruppe und erfüllten das nur matt erleuchtete Atelier wie mit einem Sonnenzauber. Sie waren beide fast gleich groß, kaum Mittelhöhe erreichend, beide gleich schlank, beide blond, beide von zarter, aber reizender Schönheit. Sie sahen einander auch ähnlich durch Familienähnlichkeit, aber hier trat der Unterschied zwischen beiden hervor. Die größere mit dem goldblonden Haare hatte schärfere Züge, der Mund war fester geschlossen durch einen eigentümlich reizvollen Zug von Energie, die nur etwas dunkler als das Haar getönten Brauen und Wimpern umrahmten große und schöne, aber etwas kalt blickende graue Augen, die wohl sehr weich, aber wohl auch sehr hart blicken konnten. Die kleinere hatte flachsfarbenes Haar, fast weiß, so licht war's, und duftig und fein dazu wie gesponnenes Silber, nur mit jenem Hauch von Farbe darüber wie Mondlicht im Mai. Fast ganz dunkel waren dazu ihre Brauen und Wimpern, so dunkel, daß die Leute sie schwarz nannten, und ihre großen, lachenden Kinderaugen waren so veilchenblau, daß sie im Schatten auch schwarz erschienen. Der süße Mund war hier nicht herb wie bei der anderen, sondern weich und von unbeschreiblichem Liebreiz, den die Grübchen in den rosigen Wangen nur noch erhöhten.
»Kinder, Fürst Hochwald wünscht euch vorgestellt zu werden,« sagte Graf Erlenstein im Eintreten. »Lieber Fürst – meine Töchter Sigrid und Iris!« –
Die jungen Gräfinnen reichten dem Fürsten mit unbefangener Freundlichkeit die Hand – Boris begrüßte ihn lebhaft, Sascha herzlich, aber ruhig. Der noch anwesende Herr stellte sich selbst vor als Cavaliere Spini.
»Onkel, was sagst du? Ist sie nicht entzückend?« – tuschelte der in einem unglaublich modernen Frack mit noch unglaublicher hohem Hemdkragen steckende Boris hinter seinem » Claque« dem Fürsten voll Ungeduld zu.
Der Fürst antwortete nur durch ein Lächeln – er streifte Gräfin Sigrid eben nur mit dem Blick, während er das Auge kaum von ihrer Schwester wenden konnte. Ja, er kannte sie, diese wunderschönen Erlensteinschen veilchenblauen Augen – der Graf selbst besaß solche, und eine, die lang' schon tot war, eine andere Erlenstein hatte sie auch besessen – – –! Nur die liebreizenden Züge waren nicht Erlensteinsches Erbgut, sie dünkten ihm bekannt und doch fremd zugleich. Ihm war, als hätte er dies Antlitz schon einmal gesehen, nur anders umgeben, aber wann und wo?
»Sie ähnelt wohl ihrer Mutter,« dachte er.
»Es ist sehr nett von dir, Onkel, daß du uns in meinem buen retiro aufgesucht hast,« sagte Sascha. »Eigentlich ist's ja wohl unhöflich, daß wir unsere Gäste so schnöde verlassen haben, aber der Cavaliere wollte gern sehen, wie mein Bild von Sigrid und Iris geraten ist. Ich habe es heut' vollendet!«
Und damit deutete sie auf die Staffelei, wo in einem geschnitzten und vergoldeten Florentiner Rahmen ein Pastellbild stand: – – auf dem Hintergrunde einer dunkel-moosgrünen Sammetportiere die blonden Köpfe der Erlensteinschen Zwillinge aneinandergelehnt.
»O Sascha, nach dem, was deine Mutter über deine Kunst gesagt, hatte ich recht mäßiges Dilettantenwerk erwartet und finde nun, daß du eine Künstlerin bist,« rief der Fürst freudig überrascht.
»Ich weiß, daß ich Talent habe, Onkel,« erwiderte Sascha ruhig. »Das ist die Entschädigung, die mir der Himmel für mein garstiges Gesicht gegeben,« setzte sie lächelnd und ohne Bitterkeit hinzu.
Fürst Hochwald drückte der häßlichen Nichte warm die Hand. »Du hast das bessere Teil erhalten,« sagte er herzlich.
»Das denke ich auch, nun ich's gefunden habe,« nickte sie freundlich.
»Die Signorina hat in der That hier ein Kunstwerk geschaffen,« fiel der Cavaliere mit tiefem, vibrierendem Organ ein. »Nicht in der Technik und in der Ähnlichkeit allein, sondern vor allem in der Charakteristik der beiden Köpfe, die sie so fein individualisiert hat. Es ist zu beklagen, daß die Signorina trotz alledem nur in den Reihen der Amateure bleiben soll.«
»Wer sagt Ihnen das, Cavaliere?« fragte Sascha ruhig. »Halten Sie mich für so thöricht, das mir verliehene Talent nur darum zersplittern und vertändeln zu wollen, weil ich zufällig zur Aristokratie gehöre und weil doch jetzt alle Welt Pastell malt?«
»O Sascha, was würde Mama sagen, wenn sie dich hörte!« murmelte Boris hilflos.
»O, sie würde und wird auch Lärm machen,« war die phlegmatische Erwiderung. »Aber ich habe ja gute Nerven und weiß auch, daß ich dem Sturm nicht allein trotzen werde. Nicht wahr, Onkel Marcell? Ah, das wußte ich, als ich dich heut' früh sah! Nun, der Hochwaldsche Eisenkopf und das zähe Strebertum Chrysopras in mir vereint, müßten sich eigentlich doch den Weg durch eine chinesische Mauer bahnen!« schloß sie lächelnd, indem sie Spini ansah.
»Nun sag' mir bloß, Papa, was würdest du thun, wenn Sigrid oder ich irgend ein großes, ungewöhnliches Talent hätten?« rief Gräfin Iris lebhaft. »Ich meine natürlich solch ein Talent, das wie bei Sascha empordrängt ans Licht!«
»Zeigt mir solch ein Talent, Kinder, und die Antwort will ich euch nicht schuldig bleiben!« erwiderte Graf Erlenstein mit einem glücklichen Blick auf seine beiden Blondköpfe. »Ich muß freilich bekennen,« fügte er hinzu, »daß ein gewisser Heldenmut dazu gehört, ein uns liebes Wesen auf den dornigen Pfad des Künstlers hinausziehen zu lassen.«
»Welcher Vogel bleibt aber stets im Nest?« wandte Spini ein.
»O, überhaupt – eins schickt sich nicht für alle,« meinte Gräfin Sigrid mit einer nur ihr eigenen Kopfbewegung. Es erschien dabei auf ihrem jungen Antlitz ein überraschender Zug von Hochmut und Verachtung.
»Und doch glaube ich, daß Sie, Gräfin, wie keine andere imstande wären, den Stürmen des Lebens zu trotzen,« sagte der Cavaliere halblaut, indem er sich etwas zu dem goldblonden Kopf an seiner Seite herabneigte. »Das ist Rasse-Erbteil!«
»Ein ungleich verteiltes Gut, Cavaliere,« erwiderte sie. »Oder meinen Sie, daß meine Schwester Kraft hätte, in einem Sturm zu stehen?«
»Vielleicht nicht, vielleicht doch. Solch biegsame und zarte Gestalten werden oft nur gebeugt, nicht aber gebrochen,« meinte Spini.
»Ja, es gießt aber Naturen, die schon erlöschen, wenn sie nur gebeugt werden. Meine Schwester würde einen Sturm nicht überleben.«
»Und Sie, Gräfin Sigrid?«
»Ich? O, ich weiß nicht. Ich würde mich wehren – bis zum äußersten. Es kommt dann darauf an, ob ich siege oder unterliege!«
»Wunderbares Mädchen!« murmelte der Cavaliere mit einem Blick auf die junge Gräfin, daß Boris, der zwar die Worte nicht gehört, dem Fürsten, der seinerseits das halblaute Gespräch genau verfolgt hatte, einen leisen Stoß versetzte und dazu entrüstet flüsterte:
»Ekelhafter Geck, dieser Spini, was?«
Geckenhaft kam der Cavaliere dem Fürsten nun zwar nicht vor, aber die Bezeichnung gab ihm doch einen Wegweiser.
»Aha – er hat also denselben guten Geschmack wie du?«
»Nicht wahr, Onkel? Nun begreifst du doch, wenn ich sage: wie könnt' ich so mit Blindheit geschlagen sein und mir von Iris einen Korb holen,« tuschelte Boris. »Schade nur, Gräfin Sigrid ist wie ein Eiszapfen.«
»Das freut mich,« sagte der Fürst zerstreut.
»Freut dich? Wieso?
»Nein doch – ich meine, es freut mich, daß Gräfin Iris dir den Korb gab, denn wenn sie deine Hand nahm, und du entdecktest erst dann, daß du die andere liebst – denk' an diese Verwirrungen!«
»Ja, es wäre scheußlich geworden!« gestand Boris mit einem Seufzer der Erleichterung.
Der Fürst hatte mit den Schwestern noch kein Gespräch gewechselt, doch er fing jetzt einen lachenden Blick voll Schelmerei auf, mit dem die Gräfin Iris seinen Neffen streifte, und dieser Blick aus den unschuldigen Kinderaugen machte ihm das Herz ganz warm, als wäre ein Sonnenstrahl hineingefallen. Da aber sah sie's, daß ihr Blick aufgefangen worden war, und errötete tief, wie eine ertappte Sünderin; der Fürst aber trat jetzt an sie heran.
»Der arme Boris!« sagte er, »wenn er ahnte, daß Ihr Blick, Gräfin, mit dem Sie seinen pschütten äußeren Menschen maßen, mir erst Ihren Ausdruck auf dem Bilde dort überraschend wiedergab!«
»Seien Sie ruhig, Durchlaucht! Er ahnt es nicht,« gab sie mit mühsam unterdrückter Heiterkeit zurück.
»Ich bewundere meine Nichte,« erwiderte Hochwald lächelnd. »Sie hat in der That die Gabe der Auffassung in hohem Grade. Besonders solch ein flüchtiger Ausdruck, der so schnell kommt und geht und den Menschen oft am meisten charakterisiert, ist nicht leicht wiederzugeben, denn, Gräfin, so sehen Sie doch sicher nicht immer aus mit dem Schelm im Nacken.«
»Auf die Gefahr hin, Saschas Kunst zu schmälern, muß ich leider sagen, daß ihr das leicht gemacht worden ist. Herr von Chrysopras hat nämlich fast allen Sitzungen beigewohnt. Sie werden also verstehen, Durchlaucht!«
»Ich verstehe,« lachte der Fürst mit einer Herzlichkeit wie seit lange nicht.
In diesem Augenblick erschien das weiße, diamantgeschmückte Haupt der Dame des Hauses zwischen den Portieren.
»Sascha! Boris! Die Königin hat ihren Wagen befohlen und ihr seid nicht zu finden,« rief sie. »Aber an meine Verlegenheit dabei denkt niemand von euch. Sascha, halt' dich grade. Boris, du sollst doch Miß Grant zum Singen begleiten – die Königin wünschte sie zu hören! Was! Auch du hier, Marcell? Nein, es ist zu schlecht von euch, mir armen Frau die ganze Last der Repräsentation allein zu überlassen!«
»Und ich habe bei diesem Akt der Unmenschlichkeit noch Vorschub geleistet! Wollen Sie mir verzeihen, gnädigste Frau?« sagte der Graf von Erlenstein, indem er seiner Wirtin den Arm bot. »Darf ich Sie zu der Königin zurückführen?«
»O, es soll Amnestie erlassen werden, vorausgesetzt, daß Saschas Trödelbude hier geräumt wird,« meinte Madame Chrysopras rasch versöhnt, aber nicht ohne einen verächtlichen Blick in das kosige Atelier zu werfen. Sehen Sie, Graf,« setzte sie, davonrauschend, hinzu, »es ist ja hochmodern, solch ein Simmelsammelsurium von altem Trödelkram, wie Sascha es zusammengeschleppt hat, und deshalb lasse ich auch ihren Geschmack gelten. Aber mir sind moderne Sachen lieber!«
Die Antwort des als Altertumssammler berühmten Grafen verlor sich im Gemurmel der Menge.
»Papa versucht's wieder einmal, Wasser mit einem Siebe zu schöpfen,« flüsterte Gräfin Sigrid dem Cavaliere zu. Spini konnte aber nicht mehr antworten, denn schnell wie der Blitz war Boris da und reichte seiner Herzdame neuesten Datums den Arm. Da nun Fürst Hochwald neben Iris Erlenstein stand, so wurde er naturgemäß ihr Führer, und mit Staunen sah er, wie der finster blickende Cavaliere seiner Nichte den Arm reichte und Saschas häßliches Gesicht sich dabei ganz wundersam verklärte. Doch er verweilte nicht allzulange bei dieser Entdeckung, wohl aber ertappte er sich selbst bei dem Wunsch, allein zu sein inmitten dieser großen, geräuschvollen Gesellschaft, allein mit dem süßen, holdseligen Geschöpfe an seinem Arm und dabei auf das harmlose Geplauder des reizenden Kindermundes zu lauschen wie auf höhere Offenbarungen. Ein ganz eignes, nie gekanntes Glücksgefühl zog ihm dabei warm durchs Herz, und es schien ihm wie ein schwerer, längstgeträumter Traum, daß er sich nur wenig Stunden früher so einsam gefühlt und so schweren Herzens.
Dicht vor ihm schritt Boris mit Sigrid Erlenstein am Arm, doch sie schien wenig darauf zu achten, was er ihr mit der ihm eigenen Zungenfertigkeit vorschwatzte, wohl aber wandte sie mehrfach den Kopf nach ihrer Schwester um, die ihr dann harmlos lächelnd zunickte.
»Sigrid ist so ernst und kühl,« meinte Iris, als sie ihr Lächeln unerwidert sah. »Sie macht ihrem nordischen Blut alle Ehre, während ich entschieden etwas vom lachenden Süden darein vermischt habe. Meine gute selige Mama meinte zwar immer, Sigrids ernst angelegte Natur sei für mich ein Segen, denn sie dämpfe etwas meinen Übermut. Papa nimmt's nicht so scharf, denn im Haus bin ich's doch allein, die ihn zum Lachen bringt. Natürlich meint's Sigrid ebenso gut, vielleicht noch besser als ich, aber ein jeder muß doch seiner Natur folgen, nicht wahr?«
Doch noch ehe der Fürst antworten konnte, wandte sich Gräfin Sigrid um, diesmal mit einem halben Lächeln. »Nicht so laut, Iris,« sagte sie scherzend. »Wer bringt denn alles wieder ins Geleise, wenn Fräulein Sonnenschein ein Kunterbunt gestiftet?«
»O Sigrid, du bist ja auch viel, viel besser und klüger als ich,« war die reuig-übermütige Erwiderung.
»Reue hat sie immer, die Sünderin, aber keine Besserung,« rief Sigrid dem Fürsten über die Schulter zu, und die Weichheit, die ihre Züge dabei annahmen, kleidete sie sehr gut.
»Man sollte meinen, Ihre Gräfin Schwester wäre mindestens zwanzig Jahre älter als Sie, und dazu berufen. Sie zu bemuttern,« sagte Hochwald lächelnd.
»O, das thut sie auch,« erwiderte Iris ernsthaft. »Sie ist überhaupt unser guter Hausgeist und führt, seit Mama nicht mehr ist, ganz allein unsere Wirtschaft.«
Inzwischen war man in das Musikzimmer gelangt, dessen Wände mit heiteren Amorettengruppen bemalt waren, welche zwar mehr guten Willen als künstlerische Vollendung zeigten, aber doch in jeder Linie den angeborenen Schönheitssinn der Italiener verrieten, der auch den Dekorationsmaler kaum verläßt. Teppiche und Portieren fehlten hier, ein prachtvoller Steinway-Flügel nahm die schmale Längswand ein, und im Nu waren Stühle im Halbkreis gestellt für ein kleines, sitzendes Publikum. Die schöne Königin mit den traurigen Augen saß in der ersten Reihe und unterhielt sich gerade mit Miß Fuxia Grant, deren Energie ihr eine Vorstellung verschafft hatte – ein Unterfangen, dem Madame Chrysopras bei jeder anderen mit schneidender Verachtung begegnet wäre, die es aber in diesem Falle für vorteilhaft erachtete, den kühnen Flug der unabhängigen Republikanerin zu unterstützen. Und da dieses free country-girl nun einmal vorgestellt war, so hatte Madame Chrysopras der Königin auch ihren Gesang gepriesen und Miß Fuxia durch den allerhöchsten Wunsch nach einer Probe ihrer Kunst in den siebenten Himmel der Seligkeit befördert. Aber nun mußte auch Boris kommen, um zu begleiten. Als die kleine Gesellschaft aus dem Atelier im Musikzimmer anlangte, hatten gefällige Kavaliershände schon den Flügel geöffnet, Miß Grants Notenmappe geholt und ihre »Specialität«, ihre Negerlieder, auf das Pult gelegt, vor dem Boris alsbald Platz nahm und präludierte, um eine verhältnismäßige Ruhe damit zu erzielen. Und war Boris Chrysopras sonst schon unwiderstehlich – am Flügel war er geradezu erhaben, und hätte Schiller ihn statt seiner Laura die Saiten meistern sehen, statt des Namens Laura würde sicher jetzt der Name Boris in den »Gedichten der ersten Periode« der Unsterblichkeit geweiht sein. Aus seinen viel zu kurzen Ärmeln fielen ihm die Manschetten bis an die Fingerknöchel trichterförmig herab und verursachten mit den Riesen-Hufeisenknöpfen ein angenehmes Accompagnement an den Tasten – die dürftigen Frackschößlein, die bei anderen kümmerlich ausgesehen hätten, hier aber kolossal pschütt wirkten, flatterten an dem Taburett herab wie zwei sterbende Schmetterlingsflügel, und der rechte Fuß im kurzen Lackleder-Schnabelschuh trat das rechte Pedal mit so viel Grazie, daß er dem staunenden Publikum dabei einen diskreten Blick auf seine rotseidenen Strümpfe gewährte. Neben diesen pschütten Begleiter trat jetzt Miß Fuxia Grant und vergaß ihre republikanische Unabhängigkeit dabei so weit, daß sie sich tief vor der Königin verneigte. Und dann sang sie ihre Negerlieder, mit kleiner, aber gutgeschulter Stimme und mit noch besserem Vortrage, der den Eindruck natürlichen Empfindens machte. Sie sang erst das melancholische:
»
The sun shines bright in the old Kentucky-home,
't is Summer, the Darkies are gay –
The corn-tops ripe and the meadows in the bloom,
While the birds make music all the day –«
dann das traurig-naive: » Master's in the cold, cold ground« – und zuletzt das übermütige: » Wait for the Waggon.« Und als dann der Beifall kein Ende nehmen wollte, sang sie noch das Lied der Yum-Yum aus dem »Mikado« von der Sonne und dem Mond – sehr graziös und reizend sang sie's, aber es erinnerte doch stark an eine Vorstadttheater-Soubrette mit seinen das Künstlerische etwas hintenansetzenden Pointen. Die Königin nickte sehr gnädig – sie rechnete das etwas ungezwungene Wesen der Amerikanerin als eine Specialität an, was ein paar andere Amerikaner aus gutem, altem Haus mit Recht schwer verdroß und zu recht unschmeichelhaften Bemerkungen über ihre Landsmännin veranlaßte, die ihr Vaterland hier zum Mißkredit desselben repräsentierte. Man tröstete sie damit, daß andere Nationen sich solcher »Repräsentanten« auch nicht erwehren könnten, und die Königin fragte, ob man noch mehr Musik hören würde. Da trat Sascha, einen Geigenkasten in der Hand, vor die hohe Dame hin.
»Gräfin Iris Erlenstein ist eine wunderbare Geigenfee,« sagte sie. »Aber ich fürchte, um sie zu hören, bedarf es erst eines Befehles Eurer Majestät!«
»Ich habe hier nichts zu befehlen, aber bitten kann man ja überall,« erwiderte die Königin mit einem freundlichen Lächeln zu der tief errötenden Iris gewendet, die Sascha vorwurfsvoll ansah und ihr dann zuflüsterte:
»Das ist Verrat an der Freundschaft, Sascha! Hinter meinem Rücken meine Amati holen zu lassen! O, o!«
Aber Sascha triumphierte, denn Iris spielte immer nur im engsten Kreise. Graf Erlenstein selbst blickte etwas finster, aber er war viel zu sehr Kavalier, um der Bitte der Königin nicht sofort Erfüllung entgegenzubringen, und er flüsterte seiner etwas unruhig gewordenen Tochter nur zu:
»Mache gute Miene zum bösen Spiel, Iris! Und Ruhe vor allem! Denk' nicht an die Menschen hier, sondern nur an die Musik!«
»Danke, Papa!« nickte sie zurück und folgte Sigrid, die ihr Spiel stets begleitete, zum Flügel. Die Schwestern einigten sich rasch, daß eine Reverie von Vieuxtemps das Passendste für Zeit und Ort sei, und Iris legte die kleine braune Geige gegen den schlanken Hals und hob den Bogen – –
Da fiel ihr Blick auf die neugierig aus den Nebenzimmern hereindrängende Gesellschaft, die alle die blonde deutsche Contessa in ihrem lieblichen Jugendzauber sehen wollten – sie wurde blaß bis an die Lippen, und die Hand mit dem Bogen sank wieder herab. Da sah sie auf Marcell Hochwald, der in der nächsten Fensternische stand, und er grüßte sie, wie ermutigend, mit einem für andere kaum sichtbaren Neigen des Kopfes – aber Iris hatte es doch bemerkt und ihn verstanden, denn ein liebreizendes Lächeln dankte ihm – sie hob den Bogen von neuem, und dann klang es wie Sphärenmusik von den Saiten, goldrein, voll und ergreifend. Schon nach den ersten Takten hatte sie ihre Befangenheit überwunden, sie ließ sich ganz von der Macht der Musik fortreißen, so daß Raum und Menschen verschwanden, und ihre großen, sonst so lachenden Kinderaugen blickten mit einem Ernst, der etwas von Verklärung in sich hatte, wie in einen leeren Raum, oder in ein nur ihrem Blick erschlossenes Heiligtum.
Eine ohrenbetäubende Salve von Applaus, Brava- und »Bisbis«-Rufen folgte dem letzten, traumhaft leisen Ton und erschreckte das junge Mädchen fast bis zu Thränen. Doch ehe sie noch recht zur Besinnung gekommen war, hatte die Königin sie schon feuchten Auges in die Arme geschlossen und auf die jäh erglühenden Wangen geküßt.
»Wie reich sind Sie mit dieser Himmelsgabe,« sagte sie bewegt. »Sie haben mein armes Herz mit Ihrer Musik erquickt und gelabt, wie seit langer Zeit nicht mehr! Hier –,« sie streifte dabei den Handschuh von der Linken und zog einen Ring vom Finger – »hier diesen Ring bitte ich Sie zum Andenken an mich zu tragen – möchte er Ihnen Glück bringen, mehr Glück als mir!«
Dann brach die hohe Frau auf. Als sie sich, geleitet von der Dame des Hauses und deren Kindern, entfernt hatte, mußte Iris eine wahrhaft betäubende Flut von Lobeserhebungen über ihr Spiel über sich ergehen lassen. Schweigend hörte sie zu und zog sich dann bescheiden zurück, um ihre Geige sorgsam in den Kasten zu legen. Plötzlich stand Fürst Hochwald vor ihr.
»Ich habe eine Entdeckung gemacht,« sagte er.
»Ja? O, ich bitte darum,« rief sie mit heiterem Lächeln.
»Sie werden böse darüber werden, Gräfin!«
»Ja? Dann erst recht heraus mit Ihrer Entdeckung, Durchlaucht! Ich brenne jetzt natürlich durch Ihre Einleitung vor Neugierde!«
»Nun denn, ich habe entdeckt, daß Sie blasiert sind, Gräfin!«
Ein lustiges, helles Lachen antwortete ihm besser als alle Gegenbeweise in Druck, Schrift und Sprache.
»Das ist brav, Durchlaucht, das hatte ich gar nicht gewußt!« lachte sie. »Und darf ich fragen, was Ihnen zu dieser Erkenntnis verholfen hat?«
»Nun natürlich Ihre bewundernswerte Gleichgültigkeit, mit der Sie alle Komplimente über Ihr Spiel entgegennahmen. Ich habe Sie dabei beobachtet,« erklärte der Fürst ernsthaft.
»Nein, wirklich?« fragte Iris naiv. »Aber da sind Sie doch zu falschen Schlüssen gelangt, Durchlaucht. Denn sehen Sie, nicht Gleichgültigkeit habe ich bei all diesen Phrasen gefühlt, sondern nur Bedauern und, wenn Sie wollen, auch ein wenig Ärger, weil unter all diesen Leuten nicht einer und nicht eine war, aus deren Worten ich die wirkliche Freude an der Kunst und die echte Liebe zur Musik heraushören konnte. ›Charmant!‹ ›Reizend!‹ ›Entzückend!‹ › Ravissante!‹ › Splendid!‹ und › Molto bellissimo!‹ – das war alles!« schloß sie fast traurig.
Der Fürst lächelte.
»Gräfin, Sie werden erst lernen, das dies das Höchste ist, was die große Masse giebt,« sagte er. »Aber daß nicht einer darunter tiefer fühlen sollte, ist doch ein hartes Urteil. Und ich kam gerade, um Ihnen zu sagen, wie Ihr Spiel mich im tiefsten Herzen bewegt und gerührt hat. Aber nun –«
»Ich danke Ihnen,« unterbrach sie ihn leise und reichte ihm die Hand, die er einen Moment länger festhielt als vielleicht nötig war, während sein Blick den ihren suchte. Sie hielt diesen Blick fest aus, aber jähes Erröten und tiefste Blässe wechselten dabei auf ihrem reizenden Gesicht. Als Fürst Hochwald die kleine, schlanke Hand mit den zarten Fingern freigab, sah er daran den Ring der Königin glänzen – ein länglicher, wunderbar schöner Opal, mit Diamanten umfaßt, schmückte ihn.
»Und noch eine müssen Sie von der großen Menge ausnehmen, Gräfin,« sagte er. »Ich meine die Spenderin dieses Ringes. Ihr Spiel hat echte Thränen in ihr Auge gebracht, und diese Gabe war spontan und impulsiv – wie ja leider all ihre Handlungen.«
»Ja, Sie haben recht – was die Königin mir sagte, hat mich herzlich erfreut. Und darum auch dieser Ring,« – Iris ließ das elektrische Licht in dem Farbenmeer des Opals spielen und in den ihn umgebenden köstlichen Diamanten blitzen. »Ein schöner Ring,« setzte sie mit naiver Freude hinzu.
»Und doch möchte ich nicht, daß Sie ihn tragen, Gräfin!«
»Warum?«
»Aus zwei Gründen. Erstens, weil dem Opal nach alten Traditionen geheimnisvolle Kräfte innewohnen sollen, welche seinen Trägern Unglück bringen,« erwiderte der Fürst.
»Aber,« meinte Iris mit ganz erstaunten Augen, »aber das ist ja –,« sie stockte.
»Aberglaube, wollen Sie sagen,« vollendete er. »Ja, Gräfin, der Mensch hat seine schwachen Seiten, besonders wenn es sich um bestimmte Dinge handelt.«
»Das verstehe ich nicht ganz –,« sagte sie verwundert.
»Ich glaube es schon. Vielleicht verstehen Sie mich nicht einmal zur Hälfte,« erwiderte er mit einem halben Lächeln.
»Nun, und Ihr zweiter Grund, Durchlaucht?«
»Ah, der hängt mit dem ersten eng zusammen!«
»Aber Fürst, die berühmte Sphinx von Theben war ja gegen Sie ein reines Kinderrätselbuch,« lachte Iris heiter.
»Doch nicht, Gräfin – ich streiche vor dieser Dame die Segel,« war die gleiche Erwiderung.
»Aber Ihr Grund, Ihr zweiter Grund gegen diesen Ring! Nein, hören muß ich ihn wenigstens, selbst auf die Gefahr hin, daß der Rede Sinn dunkel für mich bleibt!«
»Mein zweiter Grund ist klar, wie Sonnenlicht. Ich bilde mir nämlich ein, daß für Ihre Hände nur zwei Arten von Ringen passend – nein, bestimmt sind –«
»Nun –?«
»Für die Rechte ein einfacher, breiter, goldener Reifen –«
»Ein Trauring?« fragte Iris lächelnd und ganz harmlos.
»Ja,« sagte der Fürst.
»Nun, und für die Linke –?«
»Für die Linke –,« wiederholte er und stockte dann. »Nein, Gräfin, Sie dürfen diesen Opal nicht tragen, wirklich nicht,« setzte er lebhaft hinzu. »Sie sind nicht geschaffen für Unglück und Leid und Nacht – denken Sie, wenn dieser Opal Ihnen wirklich die Sonne erlöschen ließe, die Sie zum Leben brauchen. Ich würde sagen, geben Sie mir den Ring, und ich will Ihnen einen anderen dafür geben – aber ich bin beinahe ein alter Mann, jedenfalls ein Mann im Herbste des Lebens, und Sie würden mir dies kostbare Andenken an die Thräne einer Königin, an eine von Ihrer Kunst entlockte Thräne nicht anvertrauen –«
»Man sagt aber doch immer, daß das Alter zuverlässiger ist als die Jugend,« unterbrach sie ihn lächelnd.
Er sah ihr ernst und sichtlich bewegt in die klaren, unschuldigen Kinderaugen.
»Gott segne Sie,« sagte er leise, so leise, daß sie ihn kaum verstand, und in diesem Augenblicke kam Graf Erlenstein, um seine Tochter zu benachrichtigen, daß es Zeit sei, heimzufahren. Er hatte Sigrid schon aus der Menge hervorgeholt und blieb nur noch, um sich von der Dame des Hauses verabschieden zu können. Fürst Hochwald benutzte diese Gelegenheit, den Grafen um die Erlaubnis zu bitten, ihn aufsuchen zu dürfen.
»Aber das wird mir ja eine besondere Freude sein,« war die freundliche Entgegnung, »nur ist's noch ziemlich kunterbunt bei uns, weil noch nicht alles vom Umzuge her an Ort und Stelle steht, aber ein Fleckchen zum Plaudern wird sich ja mit Hilfe meiner Töchter schaffen lassen!«
Als dann alles gegangen war und Hochwald der erschöpften, aber von dem Erfolg ihres Abends ganz seligen Madame Chrysopras gute Nacht gesagt, traf er in der Garderobe seinen Neffen, der sich mit wütendem Gesicht in einen fabelhaft kurzen Überzieher, aus dem sogar seine Frackschöße noch hervorsahen, einzwängen ließ.
»Gehst du noch aus, Boris?« fragte er verwundert, denn es war schon, selbst für eine italienische Abendgesellschaft, reichlich spät.
»Nur nach Hause,« pustete Boris, der den Überzieher nicht über die Schultern brachte.
»Du wohnst nicht hier?«
»Na, Onkel, das könnte mir passen! Damit Mama jeden Ausgang von mir kontrollierte, nicht wahr? I wo! Weit vom Schuß ist gut. Ich wohne im ›Angleterre‹ am Lungarno!«
»Gut, dann haben wir denselben Weg. Ich gehe aber, denn ich muß Luft haben und Bewegung nach diesem Massenmord in solcher Atmosphäre!«
» Bon, Onkel, ich gehe mit! Atmosphäre? Na, da sei noch froh, daß hier elektrische Beleuchtung ist und kein Gas. Uff – na, nun wären wir so weit!«
Boris war richtig in seinen Überzieher gelangt, der ihn nun mit beängstigender Enge umspannte, dann ließ er sich noch ein Paar Gummigaloschen von dem Umfang kleiner Panzerkorvetten über seine Schnabellackschuhe ziehen, stülpte seinen atlasgefütterten Claque auf und folgte nun dem Fürsten, schlürfend und latschend infolge seiner Fußbekleidung, sonst aber stumm und vor sich hinbrütend.
»Boris, du bist ja so schlechter Laune, brauchst du Geld?« fragte der Fürst, als sie nach einer Weile nach der Via Faënza einbogen.
»Na, Onkel, kennst du einen, der keins braucht?« war die prompte Erwiderung.
»Das möchte ich doch nicht so schroff hinstellen,« meinte Fürst Hochwald lachend. »Aber jedenfalls hoffe ich, du wirst dich nicht genieren und meinen leider stets vergessenen Paten-Obolus mit Zinsen von mir annehmen!«
»Donnerwetter, das nenn' ich ein taktvolles Geschenk,« rief Boris mit aufrichtiger Bewunderung. »Onkel, daraus sieht man, Noblesse ist angeboren und läßt sich nicht verleihen – hupp la!« setzte er überlaut hinzu und verschwand von der Bildfläche, das heißt, er fiel der Länge nach aufs Trottoir.
»Gott steh' mir bei, was machst du denn da?« rief der Fürst entsetzt.
»Schad't nischt, Onkel,« murmelte Boris, sich emporraffend und die Kniee abklopfend. »Ich bin bloß über meine Galoschen gestolpert! Nee, das ist rührend von dir,« setzte er aufrichtig hinzu und fiel dem gänzlich unvorbereiteten Fürsten um den Hals.
»Aber deswegen, des Geldes wegen war ich nicht schlechter Laune, wahrhaftig nicht. Hab' ich welches, na, dann ist's gut – hab' ich keins, na, da hab' ich halt keins. Ich habe mich bloß geärgert, weil der Lump, der Spini sich mit solch aalglatter Gewandtheit an die Erlensteins 'rangemacht hat, daß er die kleine Sigrid zum Wagen führen durfte statt meiner. Gerade um eine Nasenlänge kam ich zu spät!«
»Holla, holla, alter Junge! Du wirst wieder fallen,« hielt der Fürst seinen Neffen von einem zweiten Sturze über seine Galoschen auf. »Ja,« setzte er dann hinzu, »auf dem Turf, im Spiel und in der Liebe muß man sich an die Spitze der Bewegung setzen, wenn man gewinnen will. Übrigens, wer und was ist dieser Cavaliere Spini?«
»Was wird er sein? Solch ein eleganter Pflastertreter, wie's in allen Großstädten genug giebt. Er ist wie die alte Marquise in Sardous ›Dora‹, die keine andere Ressource hat, als ihres Seligen unverkaufte Flinten – er hat ein unerreichbares Marquisat irgendwo im Monde oder in Parma, was weiß ich!«
»Also so eine Art von vornehmem Abenteurer?«
»Ganz problematische Existenz! Kein Mensch weiß, wovon er lebt und wo! Zeigt sich in allen Klubs, und keiner wagt's, ihn rauszuschmeißen – ganz gefährlicher Duellant. Macht's halt mit seinem Namen. Man nennt ihn im Klub zu Rom ›die Lilie des Feldes‹, weißt du, weil er weder sät noch erntet etc.«
»Ah – sehr gut! Aber wieso in Rom? Ich denke, er lebt hier in Florenz!«
»Das heißt, er ist den Erlensteins nachgegangen! War schon in Rom immer Sigrids Schatten! Na, das war mir höchst gleichgültig, weil ich der Schatten von Iris zu werden gedachte. Habe mich deshalb in so 'ne Art von Freundschaft mit Spini eingelassen. Aber seit ich heut' – nee, gestern, in den Uffizien erkannt habe, daß es ja eigentlich Sigrid ist, die ich liebe –«
»Höre Boris, laß dir raten und nimm die Amerikanerin! Wenn sie dich nimmt, vorausgesetzt! Spini wird unangenehm, wenn er merkt, daß du ihm in den Weg trittst!«
»Na, was denn noch! I, wo werde ich mich denn von solch einem Mensch in meinen Courmachereien stören lassen – überhaupt –«
»Hier ist dein Hotel,« rief der Fürst. »Gute Nacht, alter Junge, und komme morgen früh zu mir, oder wenn dir's sonst paßt – du weißt ja, Via Maggio!«
»Gute Nacht, Onkel, und noch schönen Dank! Nee, wahrhaftig, du bist zu nett – ganz normal!«
Die Hotelthür schloß sich hinter Boris, und der Fürst ging weiter, um über Ponte San Trinità die Via Maggio zu erreichen.
»Geck mit sehr beschränktem Unterthanenverstand, leichtsinnig, aber gutes Herz und dankbaren Gemüts,« – das war des Fürsten Urteil über seinen Neffen, und es that ihm leid, daß er sich seiner nicht früher angenommen und ihn ein wenig gelenkt hatte. Aber das kam von seinem einsamen Leben, seiner Zurückgezogenheit von der Welt, die ihn alles vergessen ließ, was in ihr lebte und webte.
»Was für elende Egoisten sind wir Menschen doch,« dachte er bitter. »Nur das eigene Ich, nur die eigenen Einbildungen sind für uns maßgebend – ob wir Pflichten haben gegen andere oder nicht. Und heut' zum erstenmal seit zwanzig Jahren kommt mir die Erkenntnis, daß ich Pflichten habe, Pflichten hatte gegen die vaterlosen Kinder meiner einzigen Schwester!« Tief getroffen von diesen Gedanken blieb er mitten auf der Brücke stehen und lehnte sich gegen das steinerne Geländer. Noch war's Nacht – die helle Frühlingsnacht »des Gartens von Toskana«, aber über den rasch dahinfließenden Arno zitterte von Osten her schon das erste, blasse Licht des nahenden Morgens wie ein Gruß aus der anderen Welt. Opalartige Dämmerung lag über Florenz mit jener Stille, jener todesähnlichen Ruhe, die dem ersten Sonnenstrahl vorausgeht und für das menschliche Herz so tief ergreifend ist mit ihrer unsäglichen Erhabenheit. Und doch war's ein Menschenname, der sich beim Anblick dieses ungewissen Lichtes auf die Lippen des einsamen Mannes auf der Brücke drängte – ein Frauenname: »Iris«. –
Und wenn ich darum zwanzig Jahre meines Lebens in krassem Egoismus vergraben hätte in die Einsamkeit, damit inzwischen eine Blume für mich keimte, sproßte und erblühte –?« dachte er, denn nichts in der Welt ist der Hoffnung zugänglicher als das menschliche Herz, für das sie ja freilich auch erschaffen wurde, diese freundlichste der drei göttlichen Schwestern. Freilich, im nächsten Augenblicke schon wehrte er dem lieblichen Bilde, und es fiel ihm dabei ein Lied ein, ein jetzt veraltetes Lied, das ihm stets unerträglich sentimental erschienen war:
»Und doch – was soll die Blüte
Am welken Baum?«
War er ein welker Baum? Schon, jetzt schon? Er dehnte die kräftige Brust und reckte die starken Arme – nein, er war kein welker Baum, er stand auf der Höhe des Lebens, eine Eiche, die zwar einmal ein Blitzstrahl getroffen, doch dünkte ihm die Wunde vernarbt, ohne die Wurzeln und das Mark geschädigt zu haben.
Dann aber kamen ihm andere Zweifel. Die Kinder seiner Schwester nannten ihn »Onkel« – war's da nicht ganz naturgemäß, daß sie, daß Iris sich ihn auch als solchen nur dachte? »Onkel« – wie ernüchternd, wie schrecklich patriarchalisch, wie jeden raschen Pulsschlag dämpfend ist das Wort. O ja, man liebt einen Onkel, man scherzt und lacht harmlos mit ihm oder vertraut ihm seine Sorgen an und stickt ihm Sofakissen und Schlummerrollen – – –
»Saschas Onkel,« wird sie ihn nennen, dem ihr holdes, reines Bild so mächtig das totgeglaubte, künstlich begrabene Herz geöffnet, er hörte es sie förmlich neben sich sagen mit ihrer süßen, lieben Stimme – – –
Aber in all diese ernüchternden, qualvollen Zweifel drängte sich doch das schönste Wort, das die Sprache für solche Stunden birgt – das kleine Wort: »vielleicht –«. Es hat schon Lehrsätze umgestoßen, Dogmen vernichtet, warum also sollte es in Herzensfragen keine Stimme haben? Freilich hat es sich öfters trügerisch als heilbringend erwiesen, aber dennoch kommt dieses »vielleicht« mit einem solch blendenden Gefolge von süßen, lockenden Zukunftsbildern, daß der schärfste Verstand schon vor ihm geschwiegen und ihm den Platz geräumt hat. Und darum schwiegen auch in Marcell Hochwalds Brust alle Zweifel, als das schmeichelnde »vielleicht –« ihm nahte, und mit der Gier eines Verdurstenden sog er das süße Gift ein, das heilen kann, aber öfter noch vernichtet. Wohl hatte seine Wage zwei Schalen – in der einen lag der »gute alte Onkel« von Boris und Sascha Chrysopras schwer wie Blei, in der anderen aber stand er selbst mit seinem redlichen, treuen Herzen, seinem vornehmen Charakter, seinem tadellosen Ich! Und dabei kam's ihm gar nicht einmal in den Sinn, seinen Reichtum und seine Fürstenkrone mit in die Wagschale zu legen, denn was hat das für Wert, wenn das Herz wägt?
Höher richtete er sich auf. – Das Wörtchen: »vielleicht« machte sein Herz hoffnungsfreudig. – »Vielleicht –«
Unter der Brücke rauschte der Arno dahin, hinab gen Pisa zur Vereinigung mit dem blauen tyrrhenischen Meer. Im Osten stieg jetzt ein blutroter Schimmer auf, und von den Apenninen her strich ein eisiger Hauch über das Wasser. Marcell Hochwald zuckte fröstelnd zusammen, und langsam verließ er die Brücke, Hoffnung und Entsagung in wunderlichem Gemisch im Herzen.
*
Am Morgen, der dem Rout bei Madame Chrysopras folgte, hatte Iris Erlenstein die Zeit verschlafen. Nicht lange, aber für die frühen Gewohnheiten des Hauses immerhin ein Stündchen, und entsetzt fuhr sie beim Erwachen auf, als sie Sonnenstrahlen durch die Jalousien auf dem Fußboden tanzen sah. Verwundert rieb sie die Augen – ihr hatte so schön geträumt, sie wußte nicht mehr genau, was; aber sie war durch goldene und rosige Wolken geschwebt, immer höher und höher, trotzdem Sigrid unten stand und sie am Kleide festhielt und Boris Chrysopras verzweifelnd die Hände rang. Wie sie daran dachte, mußte sie lachen, da war alle Müdigkeit fort, und sie stand auf und kleidete sich schnell an. Die Komtessen Erlenstein hatten zwar eine sogenannte »Cameriera«, die sie frisieren konnte und ihre Kleider machte, aber sie bedienten sich meist allein und zogen vor, ihr eigener Herr und unabhängig zu sein. Deshalb ging auch die Morgentoilette der Gräfin Iris flink von statten aus Übung – das flachsblonde Haar war im Nu in seinen zierlichen Knoten auf der Höhe des kleinen Köpfchens geordnet, das frisch und reizende, trotz seiner Einfachheit allerliebste Negligé von lichtblauem Flanell übergeworfen –, dann flog die zierliche Elfengestalt durch den breiten, langen Korridor und über die Steintreppe hinab in das untere Geschoß des alten, geräumigen Palastes, den der Graf gemietet.
Unten stand Gräfin Sigrid im gleichen Morgenkleide, eine weiße Schürze sorglich vorgebunden, einen Schlüsselkorb am Arm, und ließ eine umfangreiche Kiste in einen weiten, mit Fresken am Tonnengewölbe geschmückten, getäfelten Raum schaffen, den Graf Erlenstein für seinen Specialgebrauch bestimmt hatte. Er liebte es, bei seinen Studien auf und ab zu gehen, und deshalb waren ihm die modernen Mietwohnungskäfige ein Greuel, in denen ein Mensch wohl sitzen, aber sich nicht bewegen konnte. Der alte Palazzo am Borgo degli Albizzi war wohlfeil zu haben mit seiner ganzen Einrichtung, und der Graf hatte ihn gemietet unter der Bedingung des Vorkaufsrechtes, falls ein Käufer dafür auftreten sollte. Einmal mußte er doch irgendwo fest ansässig werden, und da sagte ihm Florenz am meisten zu, und vor allem war der Palazzo genau das, was er suchte. Die Einrichtung war im oberen Geschoß, in dem die Schlafzimmer, Diensträume und Werkstätten für Hausarbeit lagen, nur sehr lückenhaft, wurde aber durch die eigenen Möbelstücke ergänzt, während das untere Geschoß mit dem eben beschriebenen Gemach, dem Speisesaal, dem » salone« und zwei kleineren Gemächern für die jungen Gräfinnen vollkommene, wenn auch in den Überzügen stark verblichene Einrichtungen aufwiesen. Auch gab es da allerhand verborgene Schränke, geheime Verstecke und Kabinettchen, wie sie eben nur ein italienischer Palazzo aus der Blütezeit der Medici, dem »Cinquecento«, haben kann. Die Einrichtung der meisten Zimmer, mit Ausnahme des Salons, der im Empirestil eingerichtet war und als Deckengemälde eine Kopie von Guido Renis »Aurora« zeigte, stammte aus der Blütezeit der Medici. All diese Möbelstücke hätte man beim Antiquar mit Gold aufwiegen müssen, aber die Erben hatten über den Verkauf nicht einig werden können, sie hatten die kostbarsten und seltensten Stücke untereinander verteilt und das übrige vorläufig stehen lassen, in der Hoffnung, daß es irgend einen »Inglese« reizen würde, den ganzen großen alten Steinhaufen von Palazzo mit zu kaufen, zu welchem Zweck auch ein alter Plan des in Rusticamanier erbauten Hauses mit seinen hohen weiten Räumen, breiten Treppen, Verstecken, Kellern, Verließen und seiner unheimlichen Vorgeschichte die nötige Zugkraft ausüben mußte.
Nun war wieder Leben eingezogen in den alten Palast, frisches junges Leben. Iris flog lautlos, wie auf Elfenfüßen die Treppe hinab und der ahnungslosen Sigrid von rückwärts um den Hals, daß diese fast ihr Schlüsselkörbchen fallen ließ. »Liebes Hausgeistchen, laß dir von mir Faulpelz einen Kuß geben,« rief sie. »Nein, wie ich mich schäme, so lange geschlafen zu haben!«
»Ich hab' dich nicht wecken wollen – es war so spät gestern geworden,« erwiderte Sigrid freundlich. »Und nun komm frühstücken, denn Papa kann jeden Augenblick von seinem Spaziergange zurückkommen, und will dann diese Kiste ausgepackt haben.«
Iris eilte, mit silberheller Stimme ein Liedchen trällernd, voraus in den Speisesaal und setzte sich an den behaglichen, am Fenster gedeckten Frühstückstisch, den Ubaldo, der Diener, Haushofmeister und Kammerdiener in einer Person bald mit der singenden Theemaschine von schönem, altem Silber versorgte. Während Sigrid einschenkte, ordnete Iris rasch die Blumen in der Jardiniere, rückte die Brötchen, Butter, Honig und Eier in reizender Unordnung zurecht und eilte dann nochmals um den Tisch, um ihre Schwester zu umarmen.
»Nun laß uns recht gemütlich miteinander plaudern,« sagte Iris, indem sie sich setzte.
»Zum Beispiel von der Eroberung, die du gestern Abend gemacht hast,« rief Sigrid und heftete ihre großen Augen fest auf die Schwester, die wie mit Blut übergossen schien und den Löffel fallen ließ.
»Ach, du meinst den Ring der Königin,« stammelte sie nach einer Weile, indem sie den Opal an ihrer Hand betrachtete.
»Nein – das war ein Triumph –, ein wohlverdienter, Herz, aber keine Eroberung,« entgegnete Sigrid, deren Blässe nun im schärfsten Gegensatz zu den glühenden Wangen ihrer Schwester stand. »Man erobert keine Frauen, wenn man selbst eine ist.«
»Sesam, öffne dich,« lachte Iris, etwas verlegen zwar, aber doch wie ein glückliches Kind und mit einem Aufleuchten ihrer wunderschönen Augen, das sein Licht von innen, aus der Seele lieh. Um so starrer war Sigrids Blick geworden, und fest preßte sie die Lippen aufeinander – unbemerkt von Iris, welche die Augen nun niedergeschlagen hatte und mit halbgeöffneten Lippen wie traumbefangen vor sich hin sah.
Da ertönte draußen im Korridor die Stimme des Grafen, der von seinem gewohnten Morgengange zurückkehrte und sich erkundigte, ob man die bewußte Kiste in sein Zimmer geschafft. Mit einem hellen »Guten Morgen!« eilte Iris hinaus und ihrem Vater in die Arme.
»Holla, holla, kleiner Käfer, du wirfst mich ja um,« rief er scherzend und doch überglücklich seinen Blondkopf streichelnd, und setzte dann eifrig hinzu: »Nun kommt, Mädels! Jetzt wird ausgepackt. Eine nimmt die Sachen aus der Kiste, die andere reicht sie mir, und ich räume sie ein in den famosen Wandschrank mit dem geheimen Verschluß. Avanti, avanti – wir müssen heut' früh damit fertig werden!«
»Kleinigkeit für uns,« lachte Iris und folgte mit der stummgebliebenen Sigrid dem Vater in dessen schönes Zimmer, wo die Kiste schon geöffnet dastand. Der Graf warf Hut, Paletot und Handschuhe auf den nächsten Stuhl, rieb sich die Hände und trat dann an eines der geschnitzten Eichenpaneele des Täfelwerkes. Dort schob er von der hölzernen, teilweise vergoldeten Fruchtguirlande einen Pinienapfel zur Seite, der eine Feder enthüllte, an welcher der Graf nun drückte. Ein scharfes, schnappendes Geräusch war hörbar – dann wurde der Pinienapfel an seine Stelle zurückgeschoben und eine davon mäßig entfernte Haselnuß so tief nach innen gedrückt, daß sie eins wurde mit dem Getäfel, auf dem die Guirlande ruhte –, zugleich aber bewegte sich das Paneel in unsichtbaren Angeln und erwies sich als die Thür eines tiefen Wandschrankes mit Regalen, die herausnehmbar waren, d. h. durch Federn in die Seitenwände herabgelassen werden konnten und so Raum für reichlich zwei Personen schufen.
»Seht, Kinder, das nenne ich ein geschickt verschlossenes Geheimfach,« sagte der Graf höchst zufrieden. »Solch eine Arbeit war auch nur in Italien zur Zeit des Lorenzo möglich! Pinienapfel und Nuß, jedes für sich, öffnen dieses Versteck nicht, und entdeckte einer das Geheimnis der Nuß, so hat er immer noch nichts erreicht ohne den Pinienapfel und umgekehrt. Es ist großartig! Und dann seht diesen Raum! Wir wissen, daß die Verschwörung der Pazzi zum Sturze der Medicäer im Jahre 1478 in diesem Hause ihren Herd hatte – liegt da nicht die Vermutung nahe, daß die Mörder des Giuliano de'Medici, der dem Komplott allein zum Opfer fiel, hier ihren gefährlichen Briefwechsel mit ihren Mitwissern aufbewahrten? Und obgleich keine Beweise da sind, möchte ich wetten, daß die Handschrift des Girolamo Riario mit der des Raffaello Sanzoni-Riario hier drinnen geruht hat. Und für den Fall, daß den Verschwörern unwillkommener Besuch drohte, da genügten hier innen ein paar blitzschnell auszuführende Bewegungen – die Papiere fielen von den herabgleitenden Regalen auf den Boden und die beiden am meisten Verdächtigen verschwanden in diesem Raum, bis die Luft wieder rein war. Man kann sich die Scene vollständig ausmalen!«
»Wundervoll gruselig,« rief Iris mit großen Augen. »Nein, Papa, daß du diesen Palazzo wie für uns bereit fandest! Ist das nicht Glück? Für uns Altertümler ein Haus mit Verließen, Plätzen zum Einmauern überflüssiger Gönner, Geheimfächern und Gespenstern – Gespenstern sag' ich euch! Ubaldo hat gestern erst wieder um ein anderes Zimmer gebeten, weil's in dem seinen so umgeht! Und dabei giebt's Leute, denen thatsächlich ein modernes Haus mit hübsch ineinanderlaufenden Zimmern lieber ist.«
»O, auch da soll's doch oft passieren, daß sich eine Blaubartskammer vorfindet, meinte Sigrid.
»Ja, nach dem Ausspruch des englischen Dichters: » There is a skeleton in every House,« sagte Graf Erlenstein seufzend. »Aber nun flink, Kinder, laßt uns den Geheimschrank der Pazzi-Verschwörung mit meinen harmlosen Schätzen füllen – und sei vorsichtig beim Herausnehmen, Iris! Das Abstäuben und Zureichen wird Sigrid sicher genug besorgen!«
Mit dem größten Eifer begaben sich alle an die Arbeit, und wohlgeheftete Briefschaften, Manuskripte und eine Handschriften-Sammlung von hohem Wert wurden in dem Schrank wohl untergebracht. Aber wie das so geht, daß man beim Neueinräumen oft Schätze oder interessante Dinge entdeckt, die in ihrem alten Verwahrungsort von uns vergessen oder verräumt waren, und nun, neu ans Tageslicht befördert, plötzlich wieder unser Interesse erwecken, so fand der Graf auch hier ein Buch mit seltenen und merkwürdigen Alliance-Wappen, von ihm selbst nach den Quellen aufgerissen wieder, die er vor Jahren gesammelt und im Laufe der Zeit fast vergessen hatte. Er vertiefte sich daher sogleich so in das Buch, daß er das Einräumen vergaß und die Schwestern die ausgepackten Dinge auf den großen eichenen Tisch in der Mitte des Zimmers häuften, um die Kiste selbst wenigstens aus dem Raum zu schaffen.
Eben nahm Sigrid ein cylindrisches Etui von Pappdeckel hervor, dessen schadhafter Boden herausfiel und eine Pergamentrolle zu Boden gleiten ließ. Sigrid faltete sie im Aufheben auseinander und rief überrascht:
»Ah – der Stammbaum der Erlenstein! Wie interessant!«
»Wo stehen wir?« fragte Iris neugierig, indem sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um mit in das Blatt zu sehen, das Sigrid nun auf einem kleineren Tisch ausbreitete und die Generationen mit dem Finger abwärts verfolgte.
»Aber Papa, hier stehst du ja noch gar nicht als vermählt,« rief sie nach einer Pause. Erlaubst du, daß ich Mama und uns nachttage?«
»Ja, ja,« murmelte Graf Erlenstein, der gar nicht hingehört hatte, und Iris holte ein Schreibzeug vom Arbeitstisch am Fenster und reichte Sigrid die Feder, die nun, sich laut vorsagend, mit ihrer kleinen, runden und sauberen Handschrift folgende Daten eintrug: »Also – Graf Ludwig, geb. 13. März 1840, vermählt 22. Juli 1867 mit Anna Maria Ferdinande von Spittelberg, geb. 17. August 1845, Tochter des etc. etc. etc. † 19. September 1886. Kinder: Sigrid Maria Josepha und Iris Maria Josepha, beide geboren am 1. Mai 1869 zu Kairo. Woraus nach Pythagoras und Adam Riese erhellt, Iris, daß wir nächstens 19 Jahre alt sind!«
»Ja, die Last der Jahre droht uns zu erdrücken,« seufzte Iris, den Schelm in den Augen.
Inzwischen war Graf Erlenstein doch auf seine Töchter aufmerksam geworden und trat an den Tisch, an welchem Sigrid den Stammbaum ergänzt hatte. Sein schönes, edles Gesicht war blaß, und ein Zug wie von Schmerz lag um seinen Mund, so daß Iris ganz erschreckt ein: »Was fehlt dir, Papa?« hervorstieß.
»Nichts, nichts. Kleine,« war die leise, schmerzliche Antwort. »Der Name eurer Mutter – –«
»Ja, ja,« sagte Iris und schmiegte sich an den alten Herrn mit jener warmen, tiefgefühlten Sympathie, die von Herzen kommend, zu Herzen geht. Auch Sigrid wandte sich um und küßte ihres Vaters Hand – es war warm gefühlt und doch nicht so einnehmend wie die sonnige Art von Iris.
Sigrid beugte sich wieder über den Stammbaum und trocknete mit einem Löschblatt die noch feuchte Schrift. Plötzlich wandte sie sich um. »Papa, ich habe nicht gewußt, daß du eine Schwester hast – oder hattest,« sagte sie erstaunt, auf eine Eintragung neben dem Namen ihres Vaters deutend. » Marie, geb. 9. Oktober 1842.« Der schmerzliche Ausdruck in Graf Erlensteins Zügen wurde noch peinvoller – er seufzte tief, tief, daß es fast wie ein Stöhnen klang und drückte Iris fester an seine Brust.
»Ja,« sagte er müde. »Ich hatte eine Schwester.«
»Daß wir bis heut' nichts von ihr hörten – ist es nicht seltsam?« – fragte Sigrid, die das Gesicht ihres Vaters nicht sehen konnte. »Ich erinnere mich auch nicht, daß Mama je von ihr gesprochen hätte. Sie ist – – ist sie tot?« setzte sie zögernd hinzu.
»Ja,« erwiderte Graf Erlenstein so rauh, daß Sigrid erschrocken aufsprang.
»O Papa, wenn ich geahnt hätte, daß meine Frage dich so ergreifen würde –,« rief sie, mit Thränen in den Augen.
Graf Erlenstein löste seinen Arm von Iris' Schultern, küßte sie auf die Stirn und ging dann ein paarmal auf und nieder, indes seine Töchter bestürzt und stumm standen und ihm angstvoll mit den Augen folgten. Nach einer kurzen Pause trat er vor sie hin, ruhig und gefaßt.
»Kinder,« sagte er ernst, aber freundlich, »eure Mutter und ich waren übereingekommen, euch nicht eher von dieser, meiner – verstorbenen Schwester Mitteilung zu machen, ehe es nicht notwendig wurde. Ihre Existenz ist von euch in diesem Stammbaum entdeckt worden – was ich euch also darüber sagen kann, mag denn gesagt werden. Ich habe sie einst sehr geliebt – sie starb jung, in der Blüte ihrer Jahre und auf der Höhe ihrer Schönheit. Wenn ihr mich liebt, so sprecht aber niemals von ihr – es macht mir Schmerz –, und wenn Fremde achtlos oder mit Vorbedacht zu euch von ihr sprechen, so weigert euch kurz, von ihr zu reden. Eine traurige Geschichte ist's, die ihr Name in mir neu wachgerufen – doch das Grab deckt sie und dort mag sie ruhen. Gebt mir die Hand, daß ihr nicht fragen wollt über das ›Wie‹. Es würde den Blütenstaub von eurer Jugend und die Sonne aus eurem Leben nehmen, denn Wissenschaft ist nicht allzeit heilbringend. Versprecht ihr's mir?«
Ein etwas zögerndes »Ja« aus Sigrids Mund, ein lautes, freudiges »Ja« von Iris folgte dem väterlichen Wunsch und ein doppelter Handschlag, eine doppelte Umarmung besiegelte das Versprechen.
»Ich bin beruhigt,« sagte der Graf fest. »Ein Erlenstein hat noch nie sein Wort gebrochen. Ihr spracht dies ›Ja‹ zu eurem Heil, liebe Kinder! Iris,« fügte er im selben Atemzuge rauh, entsetzt den starren Blick auf das junge Mädchen heftend, hinzu, »Iris – was soll der Fleck – das Zeichen dort auf deiner Stirn – –?«
Erschrocken eilte Iris zu einem Spiegel – und wandte sich lächelnd zurück. »Ein wenig Blut, Papa,« sagte sie weich, beruhigend, und als der Graf blassen Antlitzes zurückwich, fügte sie fast weinend hinzu: »Ich habe mir den Finger an einem Nagel der Kiste dort verletzt und muß mit der kleinen Wunde die Stirn berührt haben!«
»Ja, ja,« sagte Graf Erlenstein, sich gewaltsam fassend. »Ihr seht, ich bin aufgeregt, nervös! – Es ist am besten, wir nehmen unsere Arbeit wieder auf.«
Langsam, schleppenden Schrittes ging er an seinen Schrank zurück, und lange war kein anderer Laut hörbar, als das Rascheln der Papiere, denn die Mädchen waren erschreckt und beschäftigt mit dem Erlebten, das so plötzlich, so unvermutet gekommen wie ein Gewitter über einen Alpensee.
Iris kam äußerlich zuerst über die drückende Schwüle dieses Schweigens hinüber – nicht, daß ihr junges Herz nicht schwer gewesen wäre, aber sie fühlte, so ging es nicht weiter, wenn es sie nicht ersticken sollte.
»Was alles in dieser Kiste ist,« begann sie leicht. »Papa, es ist ein regelrechtes Archiv! Doch nein, ich sehe Grund, das heißt, auf dem Boden hier noch diverse andere Dinge – Etuis, Behältnisse, wahrscheinlich vollgestopft mit Papieren. Hier ein flaches Etui mit weißem Leder bezogen und erhabenen Goldornamenten – o weh – da liegt's!« schrie sie auf und sah mit gefalteten Händen zu dem Grafen auf wie ein Kind, dem seine beste Puppe aus den Armen geglitten ist.
Es war schwer, ihrer herzigen, liebreizenden Art zu widerstehen, und der Graf nickte deshalb auch freundlich zu ihr herüber.
»Es ist auf den Teppich gefallen, und der ist weich,« sagte er beruhigend. »Heb's auf. Kleine!«
Iris bückte sich und nahm das Etui sorgsam auf. Doch der Fall auf den Teppich hatte genügt, das Schnappschloß aufspringen zu machen, und so sah sie denn den unverletzten Inhalt – ein Frauenbildnis en miniature gemalt auf Elfenbein unter Glas, im Rahmen von weißem Samt, ein blondes, wunderschönes Köpfchen, im lockigen Haar einen Kranz weißer Rosen, den klassischen, weißen Hals und die herrliche Büste hervortretend aus einem tief dekolletierten weißen Spitzenkleide.
»Papa, Papa, o wie wunder-, wunderschön,« jauchzte Iris entzückt auf, denn ihr feines Schönheitsgefühl war lebhaft angesprochen worden durch das Miniatur. »Und das herrliche gemalte Bild – ein Kunstwerk, Papa! Sieh nur, Sigrid! Entzückend, nicht? Ist's ein Porträt, Papa? Siehst du, das möcht' ich dir stehlen.«
»Hier wird nichts gestohlen,« erwiderte Graf Erlenstein freundlich und nahm Iris das Etui aus der Hand. »Ein Porträt? Wahrscheinlich,« fügte er hinzu, indem er das Etui in dem Schrank verschwinden ließ.
»Es sieht fast aus wie ein Porträt der Kaiserin Eugenie,« bemerkte Sigrid unbefangen.
»Du hast recht, Kind, es ist eine entfernte Ähnlichkeit,« gab der Graf zu.
»Nur das Haar schien mir zu hell,« fuhr Sigrid fort. »Es hatte, dünkt mich, mehr das Flachshaar, wie Iris.«
»Ja, Sigrid, du aber hast das richtige Eugenienblond!«
Die Kiste war jetzt leer, denn als letztes Stück hob Iris eine wohlverpackte Kassette heraus, die sie sorglich aus Papier- und Lederhüllen zu wickeln begann. Es war eine lange, schmale Kassette mit gewölbtem Deckel, wie eine Truhe, beschlagen mit schwarzem Samt, Silberbeschlägen und zwei Schlössern.
»Die Truhe hab' ich nie vorher bei dir gesehen, Papa,« sagte Sigrid, als sie dem Grafen den Kasten wohlabgebürstet überreichte. »Der schwarze Samt macht sie so düster.«
Schweigend hob der Graf den Kasten in den Schrank. Dann wandte er sich um und sah seine Töchter voll an.
»Diese schwarze Truhe ist das Eigentum von Iris,« sagte er feierlich. »Es ist ein Vermächtnis, das ich für sie aufzubewahren mich verpflichtet habe, bis – bis ich nicht mehr bin. Mein letzter Wille wird das Nähere darüber kund thun. Sigrid, du haftest mir, daß die Truhe in deiner Schwester Hände kommt!«
Stumm reichte das junge Mädchen dem Vater die Hand, Iris aber hatte das Gesicht auf ihren Arm sinken lassen und saß da wie versteint.
Zum Glück klopfte es – es war Ubaldo, der Sigrid in häuslichen Angelegenheiten herausrief.
Als sie das Zimmer verlassen hatte, trat Graf Erlenstein zu seiner Zwillingstochter heran und hob sanft ihren Kopf in die Höhe. »Mein süßes Kind,« sagte er unendlich liebevoll. »Es muß ja nicht gleich gestorben sein, wenn man auch vom Tod einmal spricht!«
»Nein, Papa,« sagte sie leise, fast mit Anstrengung. »Es ist auch nicht das – du weißt, ich würde mich zusammennehmen, um dir's nicht schwer zu machen. Aber es ist so sonderbar – als ich vorhin den Kasten dort in den Händen hatte, da kam es über mich wie – lach' mich nicht aus, Papa – wie ein kalter Schauer, der mich durchrieselte wie ein namenloses Entsetzen, und die Glieder sind mir so schwer geworden –«
Aber der Graf lachte nicht. Liebkosend strich er mit der Hand über den blonden Kopf, der sich wie todesmatt an ihn lehnte. Er fand auch keine Worte, ihre Empfindung zu erklären und zu widerlegen.
»Der Mensch ist oft unerklärlichen Gefühlen unterworfen, seelischen Eindrücken, möcht' ich sagen,« meinte er endlich schlicht und leise. »Fühlst du dich besser, mein Sonnenstrahl?«
»Ja, Papa, danke! Es ist vorbei, aber mir liegt's noch in den Gliedern wie nach einem bösen, schweren Traum – bitte, sag Sigrid nichts davon! Sie würde mich auslachen und das vertrüg' ich nicht – zum erstenmal nicht!«
»Es bleibt unter uns,« erwiderte der Graf einfach. »Doch was ich dir jetzt sagen möchte, soll auch kein drittes wissen, nicht einmal Sigrid.«
Er trat an den Geheimschrank zurück und nahm daraus einen wohlversiegelten Brief.
»Nimm dies, Kind, und verwahre es wohl, ungelesen bis nach meinem Tode,« sagte er ernst. »Du selbst bürgst mir dafür, daß diese Siegel nicht früher erbrochen werden – ich bedarf dazu keines Versprechens, keines Schwures, denn ich habe Vertrauen zu dir. Stecke den Brief zu dir, Kind?«
Iris gehorchte und verbarg mit bebenden Händen das Schreiben in der Tasche ihres Kleides. Ihr vor Erregung blasser Mund sprach kein Wort, aber ihre Augen sagten, was jener nicht auszusprechen vermochte, und der Graf verstand diese stumme Sprache wohl, denn er küßte dem jungen Mädchen als Antwort die blassen Wangen.
»Hier aber,« fuhr er dann fort, das weiße Etui mit dem Miniaturporträt dem Schrank entnehmend, »hier, dies Bild sei dein, weil es, dich so sehr entzückt hat. Aber es ist ein geheimer Schatz für dich, denn ich möchte nicht, daß Sigrid darum weiß, daß du ihn besitzest – es könnte sie verletzen, daß du es erhalten, nicht sie. Es könnte aber eine Zeit kommen, in der sie von dem Original dieses Bildes weniger liebreich zu denken geneigt sein möchte als du mit deinem warmen Herzen, darum schenke ich's dir. Es ist das Bild meiner unglücklichen Schwester.«
Ein leiser Schrei rang sich bei diesen Worten über Iris' Lippen, ein Schrei der Überraschung.
»Verbirg das Bild also wohl, meine Iris – es ist nicht für die Augen der Menschen bestimmt. Aber ich habe mich nicht entschließen können, es zu vernichten,« fuhr der Graf fort. »Ob's recht war, oder unrecht, ist schwer zu entscheiden. Und nun geh' hinauf mein Kind, eine Stunde des Alleinseins wird für dich gut sein. Du brauchst nicht zu reden – ich bin's ja so gewohnt, in deinem goldklaren Herzen zu lesen wie in einem Buch – zwischen uns beiden bedarf's keiner Worte!«
Und Iris ging. Wie ein Vogel war sie vor mehreren Stunden die Treppe hinabgeflogen, langsam schritt sie die majestätischen Stufen hinan, von denen es heißt, daß Michelangelo sie an Stelle der alten steilen Treppen genial dem Palast einfügte. Oben in ihrem Schlafzimmer schloß sie sich ein und schob auch leise den Riegel vor die Thür, welche zu Sigrids Zimmer führte und in dem sie den Schritt der Schwester zu hören glaubte. Dann öffnete sie einen starken, eichenen Kasten mit Schnitzwerk – ein Geschenk des Grafen an seine Töchter, nach eigener Angabe gearbeitet, zur Aufbewahrung ihrer Wertsachen: der wenigen, aber guten Schmuckgegenstände, die sie von der Mutter geerbt, und sonstiger gelegentlicher Geschenke von Wert. Der Kasten von Iris hatte einen doppelten Boden, ein Geheimfach, und in dieses that sie zunächst den versiegelten Brief des Vaters, der einen kleinen, harten Gegenstand enthielt. Dann nahm sie das weiße Etui aus der Tasche und betrachtete ihren Schatz, das holde Frauenbildnis im weißen Rosenkranz. Aber trotz aller Lieblichkeit des Ausdruckes schien das Bild ihr jetzt einen etwas herben Zug um den schönen Mund zu haben, einen Zug, der sie lebhaft an Sigrid erinnerte. Und nun geschah etwas Seltsames – dasselbe namenlose Entsetzen, derselbe kalte Schauer wie unten in des Grafen Zimmer durchrieselte sie mit dem Gefühl, als trüge sie Bleigewichte in den Gliedern – sie fühlte, es wurde ihr unerträglich, das schöne Bild weiter zu betrachten und doch mußte sie es ansehen, wie hypnotisiert von den veilchenblauen Augen auf dem Elfenbein, diesen Augen, die den ihrigen so glichen – – – da legte es sich wie ein dichter, grauer Schleier über ihr Denken, sie fühlte ihre Sinne schwinden, und das Etui entglitt ihren zitternden Händen. –
Das brachte sie zu sich. Tief, tief holte sie Atem, wie ein eben erst aus hypnotischem Schlaf Erwachter, und langsam sammelte sie ihre Gedanken, und badete die Stirn mit Kölnischem Wasser, bis sie's wieder vermochte, sich zu erinnern. Dazu half ihr am besten das Etui, das noch am Boden lag. Der Teppich, der hier den Marmorstuckboden bedeckte, war nicht so dick und weich wie unten, deshalb war auch der Fall ein härterer geworden, ohne zum Glück das Bild zu beschädigen, doch er hatte den dasselbe umgebenden Rahmen gelockert, und Iris entdeckte zu ihrer Überraschung, daß hinter dem Frauenbilde sich ein zweites, unendlich fein und zart und doch kräftig gemaltes Bild befand – das Porträt eines Mannes in schwarzem Rock und weißer Binde –, ein interessanter Kopf, mit melancholischem Ausdruck, welcher Wohl davon herrührte, daß sich die dichten, dunklen Brauen über der kräftigen, klassisch gebogenen Nase vereinten und den Augen einen schwermütigen Blick verliehen. Der Mund verriet vielleicht einen Mangel an Energie, aber er war wohlgeformt und auffallend schön zu nennen, und dieser Eindruck wurde durch den dunklen Bart auf der Oberlippe noch erhöht. Kurz, es war das Bild eines Aristokraten, voll vornehmer Ruhe und gewinnender Güte, so daß Iris sich nicht satt daran sehen konnte. Und wieder geschah etwas Seltsames – sie mußte weinen, weinen, sie wußte nicht warum. Und in diesen Thränen löste sich die Starrheit, die das junge Mädchen noch immer gefangen hielt, und sie fühlte wieder ihr altes, gewohntes Selbst in sich zurückkehren.
Das Etui verschloß sie auch in das Geheimfach ihres Kastens, dessen Schlüssel sie stets bei sich trug, und dann raffte sie sich auf und kleidete sich um für den Tag. Dabei kehrte allmählich der Glanz in ihre Augen und die Farbe in ihr reizendes Gesicht zurück. Eben hatte sie die Toilette beendet, als es leise an ihre Thür klopfte.
»Iris,« rief Sigrids Stimme draußen, »Iris, es ist Besuch unten!«
»Wer?«
»Der Cavaliere Spini und Boris Chrysopras.«
»Entschuldige mich unten, Sigrid, bitte! Ich bin noch nicht fertig. Willst du?«
»Gern,« war die Antwort. Und nach einer Pause tönte es wieder hinter der Thür: »Fürst Hochwald ist auch da?«
Und nun war es drinnen eine Weile still, dann klang es etwas unsicher zu Sigrid hinaus:
»Bitte, geh' voraus! Papa hat die Herren wohl empfangen? Ich komme gleich nach –«
Draußen vor der Thür hielt Sigrid sich an dem Klopfer fest, als müßte sie ohne diese Stütze fallen. Der herbe Zug um ihren Mund wurde noch herber, und ohne Antwort ging sie dann langsam und schwerfällig die Treppe hinab in den Empire-Salon, wo der Graf mit seinen Besuchern saß.
Iris aber steckte noch rasch ihre einfache silberne Hufeisen-Brosche an den hohen Stehkragen, der ihren schlanken Hals umschloß, zog aus einer Blumenvase eine schneeweiße Narzisse, die sie vor die Brust steckte, eilte dann hinab und betrat wenige Minuten nur nach Sigrid den Salon.
Als sie dort den Fürsten begrüßte und ihm die Hand gab, erglühten ihre Wangen – sie hätte es nicht um die Welt verhindern können, trotzdem sie dabei Sigrids Augen auf sich gerichtet fühlte. Aber des Fürsten respektvolle Herzlichkeit und gewinnende Freundlichkeit halfen ihr rasch über diese peinlichen Momente hinweg, in denen sie gegen ihren ehrlichen, festen Willen mehr verriet, als ihr lieb war. Doch was sie dabei tröstete, war ja, daß ihr Erröten ihm, dem Fürsten, vielleicht, nein, sicherlich nichts sagte, gar nichts, daß er es überhaupt gar nicht bemerkte, und wenn auch, es nur auf eine thörichte Verlegenheit schob – aber Sigrid –! O, hätte sie sich vor Sigrid verbergen können! Sie hatte bisher nie ein Geheimnis oder einen verborgenen Gedanken vor ihrer Schwester gehabt, aber hier schien's ihr, als endete das offene Vertrauen, und sie ward sich's bewußt, daß es Dinge gäbe, die der Mensch nur mit sich selbst bereden und beraten dürfe. Ihr im ersten Augenblick voreingenommenes Wesen fiel in diesem kleinen Kreise vielleicht niemand anders auf als Sigrid, die unablässig beobachtete, denn das Gespräch war allgemein und drehte sich zunächst um den Palazzo des Grafen und dann um die Florentiner Paläste im allgemeinen und besonderen.
»Das Rathaus, der jetzige Palazzo del Comune, hieß ja ehedem Palazzo Spini, wenigstens der dem Arno zugewendete Teil,« bemerkte der Graf. »War es das Stammhaus Ihrer Vorfahren, Cavaliere?«
»Er war's – sic transit gloria mundi,« erwiderte Spini mit einem Seufzer und einem Blick auf Sigrid. »Aber noch ist nicht alles verloren. Große Ländereien, die ehedem den Spinis gehörten, sind im Besitz eines alten Verwandten von mir, und ich habe die Aussicht dieses Marquisat zu erben.«
»Wo liegt es?« fragte der Fürst.
»In der Maremma,« war die kaltblütige und stolze Antwort.
»Um des Himmels willen!« rief Iris entsetzt. »Sie werden sich doch hoffentlich für dieses Danaergeschenk bedanken! Das heißt ja geradezu die Malaria erben.«
»Contessa, die Maremma ist ein Paradies an Schönheit und Vegetation,« erwiderte Spini mit leuchtenden Augen. »Die Malaria aber geht nur vom Juni bis Mitte September verheerend darüber hin und schadet denen nichts, die sie kennen!«
»Aber das Kennenlernen ist doch ein verzweifelt gefährliches Experiment,« sagte Sigrid.
»Man geht in dieser Zeit ans Meer,« verteidigte der Cavaliere mit einem bedeutungsvollen Blick auf Sigrid sein künftiges Erbe.
»Na, ich danke – scheußliche Gegend,« meinte Boris, innerlich wütend über Spinis Gegenwart. »Nicht wahr, Gräfin, Sie würden unser zwar kälteres, aber gesünderes Rußland vorziehen?«
»Ich bin sehr zufrieden mit der Stadt, in der ich bin, und habe keine Specialwünsche,« war Sigrids kühle, ablehnende Antwort.
»Nein, es ist wahr, du stehst ganz auf dem festen Boden der positiven Gegenwart,« meinte Iris neckend. »Denken Sie, Fürst, meine Schwester tadelt bitter die Leute, die in Poesie, Prosa und Gedanken irgend eine Sehnsucht in die Ferne haben. Sie hat ja insofern recht, als wir uns im schönsten Lande Europas befinden, dem Ziel der Sehnsucht von Künstlern und Laien – aber der Mensch sehnt sich doch einmal gern nach dem, was er nicht hat.«
»Und wohin würden Sie sich sehnen, Gräfin?« fragte Fürst Hochwald gespannt.
»Ich bin in Italien geboren und erzogen – ich habe es nie verlassen – aber ich bin trotzdem eine Deutsche,« war die feste Antwort. »Ja,« fuhr sie erglühend fort, »eine Deutsche im Herzen und im Namen, und das Ziel meiner Sehnsucht ist der deutsche Wald und die deutsche See!«
Der Graf lächelte leise vor sich hin.
»Du bist noch jung und kannst alles noch erreichen,« sagte er gütig.
»Sag' mal, Onkel, Hochwald liegt doch an der See, mitten unter Wäldern, was?« krähte Boris dazwischen. »Es ist doch eigentlich ein Skandal, daß ich noch niemals bei dir war.«
»Das läßt sich noch nachholen, Boris,« erwiderte der Fürst. »Ich hoffe sogar mit Bestimmtheit darauf, daß du in meinen Wäldern noch viel jagen wirst.«
»Nun natürlich, Onkel – kolossaler Jäger vor dem Herrn, sag' ich dir,« entgegnete Boris, indem er mit Genugthuung an seine Jagdequipierung dachte. »Dabei fällt mir ein,« fuhr er fort, »daß Sie, Gräfin Sigrid, und ich neulich mal eine kleine Meinungsverschiedenheit über ein Jagdobjekt hatten – Sie wissen noch, beim Diner bei der Fürstin Ukatschin, meiner Tante. Es wurde da solch ein Zeugs serviert mit Trüffeln, von dem ich behauptete, es sei von Schnepfen, und Sie behaupteten, es wäre von Bekassinen bereitet, was ja im Grunde dasselbe ist –«
»Und Sie wollen ein Jäger sein?« unterbrach ihn Sigrid lachend. »Das Salmi war trotzdem aber von Bekassinen.«
»Wir hielten beide so fest an unseren Behauptungen, daß wir wetteten; – der Preis der Wette war uns überlassen, zu bestimmen,« fuhr Boris fort. »Nun denn, Gräfin, ich habe meine Wette verloren, denn ich habe den Koch gefragt. Es waren wirklich Bekassinen.«
»Natürlich, lieber Herr von Chrysopras!« war die ironische Antwort.
»Und da hab' ich mir denn erlaubt, den Preis gleich zu erlegen –,« sagte Boris und zog ein längliches Etui hervor, welches er Sigrid überreichte. »Ein alter Fächer für Ihre Sammlung, Gräfin,« setzte er mit einem triumphierenden Blick auf den Cavaliere hinzu.
»Wie liebenswürdig!« erwiderte Sigrid sehr nachlässig und nicht ohne Schadenfreude, »aber leider ist es meine Schwester Iris, welche Fächer sammelt, nicht ich!«
Sie nahm Boris, der entsetzlich »paff« aussah, lachend das Etui aus der Hand. »Ich danke Ihnen trotzdem, Herr von Chrysopras,« sagte sie und reichte Iris den einfachen, weißen Pappkasten, ohne ihn auch nur geöffnet zu haben. »Hier hast du ihn, Schwester, für deine Sammlung – ich überlasse ihn dir gern, denn für mich haben nur neue Fächer Reiz und diese auch nur dann, wenn mir warm ist!«
Das war nun freilich eine sehr deutliche Ablehnung, aber sie hätte vielleicht milder gegeben werden können, wie es den anderen schien, vor allem aber dem armen Boris selbst, der wie ein begossener Pudel dasaß und nicht genau wußte, ob er lachen oder beleidigt das Feld räumen sollte. Nur um Spinis Lippen schwebte ein ganz eigenes Lächeln, das Boris zum Glück nicht sah. Iris nahm, ganz erstarrt über die abweisende Rede ihrer Schwester, das Etui entgegen und öffnete es hastig, in dem Gefühle, in irgend welcher Weise den harten Worten die Spitze zu nehmen. Sie wickelte also den Fächer aus dem Seidenpapier und stieß gleich danach in aufrichtigem Entzücken einen kleinen Schrei aus.
»Wie reizend, wie wunderschön,« rief sie, das Elfenbeingestell auseinanderfaltend, das deutliche Spuren des Alters und Gebrauches aufwies, denn die feingeschnitzten Stäbe waren stellenweise ausgebessert und die Vergoldung verwischt. Der Fächer selbst war von lichtblauer Seide, zwar teilweise vergilbt, aber doch noch unverletzt, und zeigte eine gut erhaltene, wunderbar duftige Gouachemalerei – eine Amorettenschar darstellend, der von Amor das Schießen auf ein großes Herz als Scheibe mit Pfeil und Bogen gelehrt wird. Die Malerei trug die Marke: »François Boucher« und außerdem das Monogramm: J. de P. mit der Marquiskrone – das Zeichen der Pompadour. »Nein, wirklich entzückend. Sieh nur, Papa!« setzte sie hinzu und zeigte dem Grafen den Fächer, dann reichte sie Boris Chrysopras ihre Hand. »Ich bin Ihnen durch den feierlichen Entsagungsakt meiner Schwester zu meinen Gunsten meinen herzlichsten Dank schuldig. Sie sehen, ich bin ganz begeistert und toll vor Freude über meinen Schatz!«
Boris machte ein sauersüßes Gesicht und murmelte etwas Unverständliches; – seine Situation war auch fatal genug, wenn man bedenkt, daß er sich für Sigrid in Unkosten gestürzt hatte und nun dafür den Dank seiner Korbspenderin erntete.
»So 'was kann auch nur mir passieren,« dachte er wutentbrannt. »Miß Fuxia Grant – Ihre Aktien steigen!«
Graf Erlenstein gab jetzt den Fächer weiter an den Cavaliere mit Worten höchster Anerkennung für das zerbrechliche Kunstwerk und einem Seitenblick auf Boris, verbunden mit einem leisen Kopfschütteln, das dem Leichtsinn des jungen Attaché galt, der für den Fächer sicher eine hohe Summe bezahlt hatte.
»Immerhin möchte es schwer sein, zu entscheiden, ob der Fächer ein Original von Boucher oder eine Kopie nach ihm ist,« meinte er.
»Soweit meine Kenntnisse reichen und mein Urteil mich nicht trügt, möchte ich ihn für ein Original halten,« sagte Spini nach eingehender Besichtigung des Fächers, indem er ihn dem Fürsten reichte, der, nachdem er den zerbrechlichen Gegenstand genau betrachtet hatte, ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.
»Warum lachen Sie, Durchlaucht?« rief Iris verwundert.
»Nun, ich freue mich über die raffinierte und bewundernswerte Täuschung,« erwiderte Fürst Hochwald ruhig.
»Täuschung?« wiederholten alle wie aus einem Munde.
»Ja, wie anders soll ich's nennen?« fragte der Fürst. »›Eine künstliche Antiquität‹ klingt ja vielleicht hübscher, bezeichnet aber die Sache nicht genügend; denn wenn ein imitierter Gegenstand unter vorsätzlicher Täuschung des Käufers verhandelt wird, so ist das in dürren Worten eine Fälschung. Ich setze nämlich voraus, Boris daß du den Fächer als ›echt‹ gekauft hast.«
»Natürlich, Onkel,« murrte Boris schlecht gelaunt. »Der Kerl, der Antiquitätenhändler schwor bei – –, ich weiß nicht was, daß der Fächer echt wäre und daß er dies aus Briefen von der Pompadour und Boucher beweisen könnte. Die Briefe hat er mir auch gezeigt – sahen kolossal antik aus!«
Und worauf begründen Sie Ihre Behauptung an eine Fälschung, Fürst?« fragte Spini mit etwas überlegenem Lächeln. »Sollten Sie vielleicht eine ›Kopie‹ meinen? Dann wäre ja jede Kopie eine Fälschung des Originals.«
»Der Fächer ist keine Kopie,« erwiderte der Befragte sehr bestimmt. »Als Kopie müßte er nach allem fast so alt sein, wie das Original. Dieser Fächer hier ist aber trotz seiner Stockflecken in Elfenbein und Seide kaum älter als ein Jahr.«
Ein allgemeines »Ah!« der Überraschung erscholl von aller Lippen.
»Und worauf stützen Sie dieses Urteil?« fragte Spini, sichtlich sehr mißtrauisch.
»Zunächst auf die Textur der Seide,« war die sehr sichere Antwort. »Im vorigen Jahrhundert – und aus diesem soll der Fächer doch stammen, gleichviel, ob er Original oder Kopie ist – im vorigen Jahrhundert also wob man anders als heute. Das läßt sich ja natürlich nur durch einen Vergleich mit einem Stück französischer Seidenweberei aus dem 18. Jahrhundert klar feststellen – ich bin meiner Sache aber doch sehr sicher.«
»Und dann – die Sache mit der Seide zugegeben – was ist dann noch Ihre Meinung?« sagte Spini kopfschüttelnd.
»Dann die Malerei selbst. Ich kenne die Zeichnung von Boucher, welche für diesen Fall als Vorlage gedient hat – aber dies nur nebenbei. Zeichnung, Farbengebung und Technik sind ja auf diesem Fächer meisterhaft, entzückend sogar. Die Farben selbst sind so diskret und ›verblichen‹ wie möglich angewendet, um den Eindruck einer jahrhundertalten Malerei zu machen, was auch vorzüglich gelungen ist. Aber des Teufels Fuß ist die Gouachefarbe. Sie war notwendig, ich gebe das zu, um die vorher künstlich mit Stockflecken präparierte Seide ohne Schaden für die Malerei zu verwerten, aber sie ist der Vogel, der die Geschicht' verrät – sehr Eingeweihten natürlich nur. Die Farbe ist nämlich noch zu frisch für 120 Jahre. Die durchsichtige Aquarellfarbe hätte hier bessere Dienste geleistet, die Täuschung selbst für Kenner vollständig zu machen – von der Seide abgesehen!«
»Sie sind ein gewiegter Altertumskenner, Fürst,« entgegnete Spini, den Fächer nochmals betrachtend. »Da hilft wohl nichts, als die Segel zu streichen, wenn auch nicht ohne leise Zweifel und Bedenken –«
»Die sind Ihnen unbenommen, Cavaliere. Ich gebe ja auch nur meine Ansicht zum besten.«
»O, da lohnte sich schon eine genauere Untersuchung,« meinte Graf Erlenstein. Er verließ das Zimmer und kam bald darauf mit einer Lupe und einem Stück bestickten Seidenstoffes zurück. »Das ist ein Teil von dem Brautkleide meiner Urgroßmutter,« erklärte er, »und seit mehr als 120 Jahren in der Familie. Lassen Sie uns also die Textur vergleichen, denn der Stoff stammt, laut einer Eintragung in dem Ausgabebuch des Bräutigams, der nach damaliger Sitte das Brautkleid zu schenken hatte, aus Frankreich.«
Das Resultat der Untersuchung war schlagend, denn die Lupe zeigte deutlich den Unterschied der Textur der Handweberei und des mechanischen Webestuhls, der erst nach Bouchers Tode erfunden wurde.
»Was kümmert's mich?« rief Iris vergnügt. »Der Fächer ist eine schöne und künstlerische Bereicherung meiner Sammlung, in deren Katalog er als: Kopie nach Boucher stehen soll – meinetwegen auch als ›Fälschung nach Boucher‹.«
»Herr von Chrysopras sieht aber so aus, als ob er den Antiquitätenhändler, der ihm diese künstliche Antike aufgeschwatzt hat, direkt auf dem Municipio anzeigen wollte,« meinte Sigrid spöttisch.
»Ja, das könnte mir gerade fehlen,« erwiderte Boris entsetzt. »Laufereien, Termine, was weiß ich, und dann kriegt der Kerl doch recht, denn daß der die Beweise seiner Unschuld nicht haarklein in der Tasche haben sollte, darauf kann einer Gift nehmen. Aber ich schlage vor, wir lassen endlich den vermaledeiten Fächer und reden von 'was anderem! Zum Beispiel von einer Partie in die Umgebung. Wollen wir nicht einen Ausflug machen?«
»Wir sind dabei,« erklärte Graf Erlenstein. »Nur für heut' möchte es dazu zu spät sein, wenigstens für eine größere Entfernung.
»Ich möchte so sehr gern die Villa Poggio a Cajano sehen, wo Bianca Capello mit ihrem Gemahl an dem höllischen Gastmahl starb, das sie dem Kardinal, ihrem Schwager bereitete,« rief Iris bittend.
»Ah – bei Prato,« meinte Spini. »Es gehen dahin mehrere Züge.«
»Heut' nicht – lassen Sie uns morgen fahren,« fiel der Graf ein. »Ich habe heut' Nachmittag zu schreiben.«
»Aber dann erlauben Sie doch, daß Sascha kommt, die Komtessen zum Spaziergang abzuholen,« sagte Boris, bei dem seine eben erlittene Niederlage schon zu verblassen begann. »Und ich darf mich wohl anschließen – so als – als – gewissermaßen als dame d'honneur, denn Mama kann nicht mit, sie muß heut' zu Tante Ukatschin.«
Man lachte, denn Boris brachte seine Rede drollig genug vor.
»Mein Nachmittag ist auch frei,« fiel Fürst Hochwald ein, mit einem Blick auf Iris, in deren Augen es wie Freude aufblitzte. »Vielleicht könnte ich dann das Ehrenamt des Onkels übernehmen –«
»Famos, Onkel!« rief Boris entzückt. Das schien ihm ja eine Gelegenheit wie keine, Sigrid mit vollen Segeln die Cour zu machen!
Fürst Hochwald lächelte, denn er begriff den Enthusiasmus seines Neffen vollkommen. Trotzdem aber hegte er Zweifel, ob der Cavaliere, der recht finster dreinsah, der kleinen Gesellschaft nicht durch Zufall begegnen und sich ihr anschließen würde. Dem Grafen schien die angebotene Begleitung des Fürsten indes sehr lieb zu sein, und er gab gerne die Erlaubnis zum Gange nach dem Giardino Boboli, wohin er vielleicht nachkommen wollte. Auch er forderte den Cavaliere nicht auf, mitzugehen, und war deshalb höchlich erstaunt, als Sigrid es plötzlich that. Die Wirkung davon war eine ganz unerwartete, denn das dunkle, aber doch blasse Gesicht Spinis färbte sich noch dunkler durch sein jäh zu Stirn und Wangen strömendes Blut, und aus seinen eigentümlichen, hellen Augen brach es wie ein Flammenstrahl des Triumphes. Er ergriff Sigrids Hand, küßte sie stumm und bemerkte es dabei gar nicht, daß die junge Dame erblaßte. Aber noch ein anderer war rot geworden und zwar aus Wut, das war der arme Boris Chrysopras, der jetzt genau ein Gesicht machte wie ein Lohgerber, dem die Felle weggeschwommen sind.
Man einigte sich noch rasch über die Stunde der Abholung zum Spaziergange, und dann verabschiedeten sich die Herren.
Als sie den Salon verlassen hatten, schickte Graf Erlenstein sich an, in sein Zimmer zurückzukehren; an der Thür wandte er sich aber nochmals um.
»Sigrid,« sagte er ernst, »es hat mich unangenehm berührt, daß du den Cavaliere zu eurem heutigen Spaziergange auffordertest. Warum plötzlich diese Ermutigung, nachdem du bisher mit so viel Takt gewußt hast, den wenig wünschenswerten Verehrer in angemessener Entfernung zu halten?«
Sigrid schwieg einen Augenblick.
»Ja, es war sehr unvorsichtig von mir, Papa,« entgegnete sie dann ruhig und fuhr heftiger fort: »Der Gedanke, diesen Spaziergang mit Boris Chrysopras machen zu müssen, war mir unerträglich!«
»Wieso mit Herrn Chrysopras?« fragte der Graf befremdet. »Sascha ist dabei und ebenso Fürst Hochwald –«
»O – Fürst Hochwald zählt für mich nicht mit,« rief Sigrid nicht ohne Schärfe, indem sie einen bezeichnenden Blick aus ihre Schwester warf. »Es war also ein Desperationscoup, Papa, den ich aber sofort bereute. Der Cavaliere wäre ein so anziehender Umgang – geistvoll, unterrichtet und etwas geheimnisvoll wie er ist, wenn er nur nicht diese entsetzliche Verehrung für mich hätte,« setzte sie seufzend hinzu. »Aber auch die ist noch erträglicher als die Courmacherei dieses unausstehlichen Boris, Papa, diese seit vierundzwanzig Stunden plötzlich ausgebrochene Courmacherei aus Trotz, weil Iris ihm einen Korb gegeben hat!«
Der Graf schüttelte lachend den Kopf.
»Kinder, ihr habt eine nette Sorte von Freiern,« sagte er nicht ohne Humor und verließ den Salon, gefolgt von einem hellen, lustigen Lachen der Gräfin Iris, die sich nun in ihr Zimmer zur Rechten des Salons begab und ihren Fächer in den für ihre Sammlung bestimmten Schrank legte.
Sigrid aber lachte nicht. Sie verfolgte einen Augenblick mit finsterem Gesicht und einem seltsamen, fast bösen Blick ihre Schwester, dann wandte sie sich kurz um und stieg in die unteren Regionen des Palastes hinab, wo die Köchin unter Entfaltung einer erstaunlichen Zungenfertigkeit gegenüber dem anderen Personal den Pranzo bereitete.
Als der Fächer geborgen war, huschte Iris hinüber in des Vaters Zimmer.
»Nun, was giebt's, Kleine?« fragte er freundlich, vom Schreibtisch aufsehend.
»Papa, denke nur, hinter dem schönen Bilde deiner – deiner armen Schwester befindet sich noch ein anderes, das Bild eines Herrn,« flüsterte sie ihm geheimnisvoll zu und legte ihren Arm um seinen Nacken.
»Wie hast du es entdeckt?« fragte Graf Erlenstein zurück, und Iris berichtete treulich, wie es gekommen. Da senkte der Graf den Kopf tief, tief auf die Brust.
»Schicksal,« murmelte er fast unhörbar. »Ob Sigrid wohl das gleiche fühlen würde wie dieses Kind? Und wenn nicht – wer wagte dann noch an der Fortdauer seelischer Kräfte zu zweifeln?«
»Papa, was hast du?« fragte Iris, welche die leisen Worte nicht verstand. »Wen stellt dieses Bild dar?«
»Den Gemahl meiner Schwester,« war die schlichte, aber wie mühsam gegebene Antwort. »Er ist tot wie sie. Beide verdorben und gestorben.«
»Wie traurig!« sagte Iris mit dem ganzen tiefen Mitgefühl ihrer jungen, für fremdes Leid noch so zugänglichen Seele, indem ihre süßen Veilchenaugen sich mit Thränen füllten. »Und darf ich auch den Namen dieses Mannes nie erfahren?« fragte sie nach einer Weile. »Er muß gut gewesen sein, Papa, jeder Zug in seinem lieben Gesicht spricht von Güte.«
»Er war's, Iris. Er war ein Ehrenmann, nicht energisch genug vielleicht, aber von hohem Ehrgefühl, ein wahrhaft vornehmer Charakter.«
»So sieht er aus. Ich habe sein Bild gleich liebgewonnen. Es ist darum nicht Neugierde, Papa, sondern Teilnahme, wenn ich frage, wer er gewesen.«
»Besser, du weißt's nicht, mein Töchterchen,« war die traurige Antwort. »Das eben ist ja die Ungerechtigkeit der Welt, daß sie einen guten und ehrlichen Namen, wenn er sich an eine lichtscheue That knüpft, auch für seine unschuldigen Träger zum Fluche macht. Was aber hast du, Kind der Sonne, mit den Nachtseiten des Lebens zu thun? Die Schatten kommen noch zeitig genug – laß mir wenigstens das Glück und die Aufgabe meines Lebens, sie lange genug fern von dir gehalten zu haben!«
Und Iris fragte nicht weiter. Sie küßte leise die tiefdurchfurchte Stirn ihres Vaters und verließ ihn, ungefragte Fragen auf den Lippen und die junge Seele beschwert mit einem vagen Gefühl von Unheil, dem aber ein ganz wunderbares, warmes Bewußtsein von Glück noch siegreich die Wage hielt. – –
*
Fürst Hochwald hatte nach dem Besuch bei Graf Erlenstein seinen Neffen absolut unzugänglich für jedes Gespräch gefunden, noch unzugänglicher aber für Vernunftgründe und den guten Rat, Sigrid Erlenstein lieber aufzugeben, nachdem sie ihm mit einer verblüffenden Deutlichkeit gezeigt, daß sie seinen Übergang mit fliegenden Fahnen von Iris zu ihr selbst eigentlich etwas übelgenommen hatte. Boris aber waffnete sich hiergegen mit der ganzen Zähigkeit seines ererbten Dickkopfes derer von Chrysopras, behauptete, er würde sich doch von Spini nicht ins Bockshorn jagen lassen und erklärte dann, er müßte heut' zur Kräftigung seiner Nerven allein speisen, worauf er sich langsam, den Hut tief im Genick, entfernte. Der Cavaliere hatte schon vor der Hausthür der »Casa Erlenstein« Abschied genommen.
Fürst Hochwald schlenderte also allein der Via Tornabuoni zu, um dort bei Doney zu speisen, und da es spät war, nahm er den direkten Weg durch die Via Porta Rossa, nach seiner Gewohnheit die Läden rechts und links musternd. Dabei fiel ihm der Laden eines Trödlers auf, der sein Schaufenster mit Antiquitäten angefüllt, seine Ladenthür aber mit den üblichen Trödelwaren garniert hatte – also einer jener klugen italienischen Händler, die den Traum ihres Lebens, das einträgliche Antiquitätengeschäft ohne Nebenhandel zu treiben, noch nicht erfüllt sehen und sich den stetigen Aufschwung dazu durch den fortgesetzten Trödelhandel ermöglichen. Dieser Händler, vor dessen Schaufenster Fürst Hochwald jetzt stand, hatte zwar keine der sonst üblichen Zwiebel- und Lauchguirlanden mehr neben seinen gebrauchten Kleidern, Uniformen und sonstigem Gelump zu verkaufen – er gehörte also schon zu der besseren Trödlerklasse, bei der oft neben dem schauderhaftesten Schund ganz wunderbare Perlen altitalienischen Kunstgewerbes zu haben sind. In dem Schaufenster standen alte Monstranzen, hingen verblichene Meßgewänder, lagen alte Spitzen, Dosen, Orden, Becher, Dolche, Fächer – oft sehr beschädigt, oft aber noch gut erhalten. Ein Rokokofächer mit einem gezierten Schäferpaar, auf vergilbtem Pergament gemalt, umgeben von reizenden Ornamenten, erregte des Fürsten Aufmerksamkeit und erinnerte ihn zugleich an die verunglückte Fächergabe des armen Boris. Ein Blick auf das Schild des Händlers aber sagte ihm zu seiner Überraschung, daß er sich an der Quelle des interessanten, so meisterhaft gefälschten Fächers befand – denn er hatte Boris um die Adresse seines Lieferanten gefragt – und der Wunsch, zu erfahren, ob der Händler gewußt, daß der Fächer imitiert war, stieg in ihm auf. Er betrat also den engen, dumpfigen, vollgestopften Laden und fand darin an einem Pult einen geschmeidigen Mann, dessen dunkle Augen eine ungewöhnliche Intelligenz verrieten.
» Commanda qualque roba, Signore?« Mit dieser unvermeidlichen Frage trat Signor Guidobaldini seinem neuen Kunden entgegen.
» Vorei vedere questo ventaglio,« erwiderte der Fürst, auf das Schaufenster deutend.
Der etwas demolierte Fächer war im nächsten Moment in seiner Hand, und er trat damit ans Licht, ihn genau zu besehen, doch vermochte er nichts zu entdecken, was hier auf eine Fälschung schließen lassen konnte.
»Der Fächer ist hübsch, doch nicht so hübsch wie der, welchen ein Freund von mir heut' früh bei Ihnen kaufte,« sagte er, sich umwendend.
»Ha, Signore meinen den von Boucher gemalten? Ja, das ist aber auch ein historischer Fächer!« war die mit verzücktem Augenaufschlag gegebene Erwiderung. »Freilich, dieser hier könnte von Watteau gelten, leider nur fehlt die Künstlermarke, und das nimmt ja viel von seinem Werte.«
»Dennoch behalte ich ihn.« Und der Fürst zahlte zwei Drittel des geforderten Preises, der immerhin noch anständig genug war. Als er das herausgegebene Geld einstrich, fragte er nur so nebenbei: »Woher haben Sie den Boucherschen Fächer bezogen?«
»Pariser Geschäftsverbindung, Signore,« war die prompte Antwort.
»Aha, französische Fälschung,« dachte der Fürst. Laut setzte er hinzu: »Ich hätte gern einen ähnlichen Fächer besessen. Wäre die Beschaffung eines solchen möglich?«
»Möglich schon, Signore, aber nicht sicher. Solche Kunstobjekte sind immerhin ein Glücksfall für den Händler – sie laufen nicht so gar oft in den Handel. Französische Fächer sind indes noch am leichtesten zu erlangen, denn die Revolutionen haben die Familienschätze herumgestreut wie Spreu im Winde.«
Fürst Hochwald wurde irre an dem Manne, der da alles ganz natürlich hervorbrachte – er schien also selbst der Betrogene zu sein.
»Wenn aber Signore wünschen, so will ich mir Mühe geben, einen schönen Fächer zu erlangen,« fuhr der Händler fort. »Signore mögen nach einer Woche vielleicht einmal vorsprechen!«
»Gut! Ich werde nachfragen,« erwiderte der Fürst.
»Sonst noch etwas gefällig, Signore? Eine schöne, alte, bemalte Kassette, vortrefflich erhalten, mit dem Wappen der Bianca Capello, kam erst heute in meine Hände. Un molto bellissimo prodotto d'arte. Darf ich's zeigen?«
Der Fürst bejahte, und der Händler eilte in ein Nebenzimmer des Ladens, wo man ihn den angeregten Gegenstand auspacken sah. Während er damit beschäftigt war, trat Hochwald an das Pult des Ladeninhabers und nahm von demselben einen Dolch, den er betrachtete, wertlos fand und deshalb wieder hinlegte. Dabei fiel sein Blick auf einen adressierten Brief, der postfertig dalag, und auf der Adresse desselben fiel ihm ein Namen ins Auge, der ihm bekannt schien – er las also die Adresse – nicht aus Neugier oder gar aus Indiskretion, sondern mehr unwillkürlich, wie es leicht geschieht, wenn man glaubt, einen bekannten Namen getroffen zu haben.
»Signore Cavaliere Spini, Borgo San Jacopo 30.«
Fürst Hochwald trat von dem Pulte zurück und an den Ladentisch. – War das der Spini seiner Bekanntschaft? Der Borgo San Jacopo lag ganz in seiner Nähe, er kannte die enge, schmutzige Gasse, welche den Ponte Vecchio mit der Via Maggio verband. –
Der Händler kam zurück mit der Kassette, die zwar wurmstichig war, aber gut erhalten, und die Malerei auf dem Deckel und den Seitenpaneelen zeigte eine tadellos schöne Zeichnung im besten Renaissancestil; das Wappen der Bianca Capello als Großherzogin – ein geteilter und oben gespaltener Schild mit den Palle, den Kugeln der Mediceer, dem rechten Querbalken und dem Capello, dem Hute, war oben auf dem Deckel angebracht, Schlösser und Griffe waren von teilweise vergoldetem Eisen. Der Fürst fand den Kasten schön, aber er zweifelte an seiner Echtheit – ein Einwurf, den der Händler sehr gleichmütig hinnahm, ohne sich nach der Italiener Art hoch und heilig deshalb zu verschwören. Eine Beglaubigung habe er freilich nicht für die Echtheit, meinte er, indes das Wappen sage mehr als ein Dokument. Das Ende vom Liede war, daß der Fürst den Kasten kaufte und ihn nach der Via Maggio an »Signore Hochwald« schlichtweg schicken ließ.
Dann ging er endlich zu seiner »Collazione« bei Doney, wobei er seinen Einkauf, den Fächer, genau betrachtete, ihn für echt Rokoko befand und ihn wieder zu sich steckte, mit der festen Absicht, ihn demnächst auch in den Besitz der holdesten Sammlerin gelangen zu lassen.
»Wie ein verliebter Fähnrich,« dachte er dabei in herber Selbstkritik, aber doch lächelnd und ganz glücklich in seiner guten Idee.
Nach eingenommenem Mahle schlenderte er heimwärts, und als er Ponte San Trinità hinter sich hatte, fiel ihm der Borgo San Jacopo ein, und der Gedanke, den Cavaliere aufzusuchen, kam ihm seit dem Besuch des Trödelladens wohl zum drittenmal. Er bog also links ab und suchte die Nummer dreißig – sie war bald gefunden – und betrat das Haus, eine nach Zwiebeln und Fritto betäubend riechende Spelunke mit finsteren, schlüpfrigen Stufen, die der Fürst heroisch hinaufkletterte, da ihn auf seine Frage ein altes Weib mit ungekämmtem Haar, das ein schreiendes Bambino wartete, hinaufgewiesen hatte nach den Mansarden. Oben unterm Dach wohnten viele Leute; sie hatten ihre Namen mit Kreide an die Thüre geschrieben. Wo also »Spini« in zierlicher Rundschrift stand, klopfte der Fürst – erst zweimal vergebens, dann meinte er ein undeutliches » Entrate« gehört zu haben, öffnete die Thür und trat in eine ziemlich große Mansarde, deren einziges Fenster, nach Norden gerichtet, wie ein Atelierfenster aussah. In dem ganzen Raume lagen Öl-, Pastell- und Wasserfarben, Pinsel, Malmittel und Paletten umher, standen Staffeleien und Gliederpuppen, und vor das Fenster war ein Zeichentisch gerückt, der mit Entwürfen bedeckt schien, daneben lagen Bleifedern, Reißzeug, Tusche und Pinsel.
Eine zweite Thür führte zu einem Nebenraum, aus dem jetzt Spinis Stimme scholl, scharf und schneidend.
» Che si fa qui? Aspetto un' momento!«
Fürst Hochwald setzte sich vor den Zeichentisch und wartete. Was er auf dem Tische liegen sah, zeigte eine Künstlerhand – das war schon in den zunächst bemerkbaren Zeichnungen alter Siegel, Münzen und Kunstgegenstände zu erkennen. Er nahm ein Blatt mit sehr sauber und peinlich ausgeführten Mediceer-Siegeln auf, um es zu betrachten, und dabei fiel sein Blick auf ein darunterliegendes Blatt, das er zunächst wie erstarrt anblickte – denn es war ein genauer, in Aquarell ausgeführter Entwurf zu dem Boucher-Fächer, den Boris heut' in das Erlensteinsche Haus gebracht hatte. Am Rande des Blattes war ein anderer Entwurf flüchtig in Tusche und sehr verkleinert nur wie eine Notiz angedeutet – das war Zug um Zug die Zeichnung des Fächers, den er, Hochwald, in der Tasche hatte, der ihn, den feinen Kenner selbst getäuscht! Der Fürst legte das aufgenommene Blatt wieder auf die Fächerentwürfe und stand dann auf, um vor eine der Staffeleien zu treten –: Spini durfte nicht ahnen, daß er hinter sein Geheimnis gekommen war, daß er ihn als den Verfertiger »echter« Antiquitäten und »echter« Bouchers entlarvt hatte. Wozu auch? Der Cavaliere lebte augenscheinlich von seiner Kunst, die ihm in diesen Bahnen sicher mehr einbrachte als auf dem geraden Wege des Künstlers. Schade nur um dieses große Talent, das, statt selbst zu schaffen, diese krummen Pfade der Kunstfälschung eingeschlagen hatte und dies alles vielleicht nur aus falsch verstandenem Standesgefühl, aus thörichtem Namens- und Adelsstolz. Wozu diesen anscheinend maßlosen Stolz so tief und tödlich verletzen? Was ging's ihn an, wovon Spini lebte? Von einer absichtlichen, wohlüberlegten Täuschung des Publikums? Vielleicht faßte er das selbst nicht so auf, weil er ja vielleicht nur im Auftrage jenes schlauen Trödlers in der Via Porta Rossa arbeitete und sich um das Weitere nicht kümmerte. Nein, Spinis Privatangelegenheiten gingen ihm nichts an – trotzdem auch er ja zu den Getäuschten gehörte, wie es ihm jetzt erst recht klar in die Augen sprang, denn auf der Staffelei stand der peinlich und sauber in Aquarell ausgeführte Entwurf zu der Kassette mit dem Wappen der Bianca Capello!
Wie gestochen trat Fürst Hochwald von dieser Staffelei zurück und zu der nächsten hin, auf der zu seiner Erleichterung nur eine treffliche Kopie der Madonna mit dem Stern des Beato Angelica aus dem Markuskloster stand. Und während er noch vor dieser Staffelei stand, trat Spini ein – und fuhr beim Anblick seines unerwarteten Gastes mit einem scharfen Zischlaut zurück, während sein Antlitz sich förmlich verzerrte. Fürst Hochwald schien das nicht zu bemerken.
»Ich komme. Ihnen meinen Besuch zu machen, Cavaliere,« sagte er, von der Staffelei zurücktretend, »und freue mich. Sie zu Haus getroffen zu haben.«
Aber Spini ergriff nicht die dargebotene Hand.
»Wo haben Sie mich aufgespürt, Fürst?« fragte er heiser.
»Ich habe wohl nicht recht verstanden,« erwiderte der Befragte kühl. »Ich sah Ihre Adresse auf dem Pult eines Antiquitätenhändlers in der Via Porta Rossa, und da ich vergessen hatte, Sie darum zu fragen, so benutzte ich diesen Zufall zu meinem Besuch –«
»Nun, und der Zweck dieser Drohung?« war Spinis Antwort, der wie ein Raubtier auf der Lauer mit funkelnden Augen dastand.
»Drohung?« wiederholte der Fürst erstaunt. »Cavaliere,« setzte er dann sehr beherrscht hinzu, »ich werde mir das Vergnügen eines Besuches bei Ihnen ein anderes Mal machen. Sie scheinen heut' nicht disponiert zu sein.«
Und damit ergriff er seinen Hut und wandte sich zur Thür zu – doch schon stand Spini neben ihm.
»Fürst, bleiben Sie, und verzeihen Sie mir – ich bin in der That heut' indisponiert,« sagte er hastig, doch sein Auge verriet noch den nicht besiegten Argwohn. »Und dann, Ihr Besuch in dieser elenden Kammer, dieser Zeugin meiner Armut – das unerträgliche Gefühl der Demütigung –«
»Cavaliere,« unterbrach ihn Hochwald ernst, »haben Sie wirklich von einem deutschen Edelmanne eine solch schlechte Meinung, daß Sie ihm zutrauen, der Umstand, daß Sie eine Mansarde bewohnen, könnte Sie in seinen Augen erniedrigen? Ich bin dazu erzogen worden, den Wert des Mannes nicht nach seinem Geldbeutel, sondern nach seinem Charakter zu schätzen und den Mann um so höher zu achten, der aus eigener Kraft auf der Oberfläche des Lebens bleibt.«
»Das sind schöne, sind herrliche Worte, Fürst,« erwiderte Spini traurig. »Aber hier denkt man nicht so. Der arme Edelmann ist hier nichts, er darf nicht zeigen, daß er arm ist. Und Sie verzeihen mir?«
»Aber, Cavaliere, das bedarf keiner Worte,« sagte Fürst Hochwald lächelnd, indem er den angebotenen Stuhl annahm. »Ich bin entzückt von den Arbeiten hier auf diesen Staffeleien; ich hatte nicht gewußt, daß Sie Künstler sind.«
»Es sind nicht meine Arbeiten,« erwiderte Spini herb. »Diese Wohnung gehört einem Freunde, der verreist ist und sie mir während der Dauer seiner Abwesenheit – zur Bewachung seiner Schätze – überlassen hat.«
Hochwald schwieg einen Augenblick betroffen – er wurde irre an diesem Manne.
»Und verkauft Ihr Freund seine Arbeiten?« fragte er dann.
»Er thut es,« war die wie mit Überwindung gegebene Antwort.
»Ah, das freut mich,« rief der Fürst und trat vor die Fiesolesche Madonna hin, »denn, Cavaliere, in diesem Falle möchte ich Sie bitten, mein Vermittler zu sein zum Ankäufe dieser Madonna della Stella. Ich sah selten eine bessere Kopie – sie ist geradezu genial. Wollen Sie mir dazu verhelfen?«
»Gern,« erwiderte Spini kurz und mühsam. »In einigen Tagen sollen Sie die Antwort haben!«
Die Unterhaltung drehte sich nun um die Florentiner Kunst im allgemeinen und wurde dadurch flüssiger. Dann, nach zehn Minuten stand der Fürst auf und empfahl sich mit einem » A rivederci«. Er stieg die Treppe hinab mit einem Gefühl der Verwirrung vor diesem Menschenrätsel, das er eben verlassen. Hatte er dem Cavaliere unrecht gethan mit dem Verdachte der Antiquitätenfabrikation? Hatte er überhaupt ein Recht, daran zu zweifeln, daß Spini dieses Atelier oben nicht das seinige nannte?
Unten im Hausflur stand noch das ungekämmte alte Weib mit dem Bambino auf dem Arm, das jetzt aber nicht mehr schrie, weil es einen für unsere Begriffe geradezu grauenerregenden Schnuller oder Zulp im Munde hatte.
» Buon' giorno, Signora,« sagte der Fürst stehenbleibend. »Das sind schöne, helle Mansarden droben. Die sind wohl immer von Malern bewohnt?«
Die Alte antwortete nur mit einem sehr ungnädigen »Ja«; doch der Fürst zog die Börse und schenkte dem Bambino eine knisternde, neue Lira-Banknote, wodurch sogleich Sonnenschein eintrat.
»Ja, ja, Signore, die schönen, hellen Mansarden oben! – Sind gottlob jetzt alle vermietet! O, es ist ein Elend, wenn sie leer stehen, ein himmelschreiendes Elend! Ein halbes Jahr lang hat die Mansarde leer gestanden, die der Signore Spini jetzt hat – die Madonna hat seine Schritte zu uns gelenkt!«
»Gewiß. Aber vor ihm war doch auch ein Maler darin, der jetzt verreist ist und wiederkommt, nicht?«
»O nein, Signore! In der Mansarde des Signore Spini hat drei Jahre lang eine Fächermalerin gewohnt, und die, oi me! Sie hat sich das Leben genommen, la poveretta! Und darum wollte niemand nachher hineinziehen. Aber dem Signore oben ist das egal, hat er gesagt, er glaubt nicht an umgehende, ruhelose Seelen. Schlimm, sehr schlimm für ihn, Signore, aber wir waren doch froh, wie er mit seinem Malerkrimskrams von Rom hier oben einzog – –«
Fürst Hochwald nickte der alten Hexe einen »Guten Tag« zu und ging heim, um eine Erfahrung reicher, die ihn mit Mitleid für das falsch verstandene Standesbewußtsein des Cavaliere erfüllte, dem er eine Dosis von Verachtung nicht vorenthalten konnte, trotzdem er sich sagte, daß die Verhältnisse hier Milderungsgründe erforderten. Vor allem durfte er mit keinem Zucken seiner Wimpern verraten, daß er an den »Malerfreund« Spinis nicht glaubte, denn wozu den Stolz eines Menschen verletzen, wenn keine Notwendigkeit dafür vorlag. Und was die Anfertigung der »Antiquitäten« anbetraf, so war das Spinis eigene Gewissenssache und daneben Sache des dummen Publikums, das sich davon täuschen ließ durch seine Unwissenheit. – –
Hochwald berührte unwillkürlich den »Rokoko«-Fächer in der Brusttasche seines Überziehers und lächelte – gehörte er doch auch unter das dumme Publikum Spinis, der selbst Kennern so geschickte und kühne Streiche zu spielen verstand. Nein, der Mann fing an, ihn zu interessieren, teils durch sein wirklich künstlerisches Können, teils durch seine ganze Existenz. Daheim in der Via Maggio fand er schon die »Kassette der Bianca Capello«. Nein, dieses Stück verriet selbst dem Wissenden keinen Anachronismus, denn das Holz war alt, durch Vergraben und grelles Sonnenlicht wohl geschwärzt, die Wurmlöcher diskret gebohrt oder mit Schrot hineingeschossen, die Beschläge und Schlösser nach guten, alten Vorbildern augenscheinlich gefertigt und die Farben mit Terpentin und Siccativ matt und antik aussehend gemacht, die Zeichnung im reinsten Geschmack des Cinquecento. – – –
»Schade um dieses Talent,« sagte der Fürst abermals und dachte dann während seiner Siesta weiter über dieses Problem nach.
Ein paar Stunden später, als es vom Campanile des Doms sechs Uhr schlug, traf er mit dem Cavaliere vor der Hausthüre des Grafen Erlenstein zusammen.
»Gute Nachricht, Fürst!« rief ihm Spini entgegen. »Mein Freund ist heut' angekommen – vor einer Stunde etwa – um seine Sachen nach Rom zu verpacken. Die Madonna della Stella steht zu Ihrer Verfügung.«
»Ah – das freut mich,« sagte Hochwald lebhaft, und da ihm der gespannt auf ihn gerichtete Blick des Cavaliere nicht entging, setzte er hinzu: »Wie schade, daß Ihr Freund Florenz verläßt.«
»Morgen schon,« erwiderte Spini. »Ich ziehe infolgedessen auch um. Der Borgo San Jacopo behagt mir nicht. Eine ruhige Wohnung in der Nähe der Porta al Prato habe ich schon in petto – etwas weit vom Verkehr –, aber das paßt mir. Karten, Aufträge und Sonstiges nimmt für mich der Oberkellner im Restaurant Rossini in der Via Condotta entgegen, da ich meine Bekannten so weit nicht zu mir bemühen darf.«
»Rossini, Via Condotta 12,« murmelte der Fürst und schrieb die Adresse in sein Notizbuch. »Und wie regele ich meine Schuld mit Ihrem Freunde?«
»Ja so – – o, am besten durch mich,« entgegnete Spini, seine Vermittlerrolle sehr natürlich spielend. Dabei nannte er einen Preis für die Kopie des Gemäldes, der das Maximalmaß nicht allzusehr überschritt.
Nun aber ist der Italiener aller Klassen das Feilschen und Handeln so gewöhnt, daß er von einem Käufer die glatte Zahlung des zuerst verlangten, meist geschraubten Preises gar nicht erwartet. Als der Fürst daher die geforderte Summe in einer wohlgeglätteten Banknote seinem Portefeuille entnahm und ohne ein Wort dem Cavaliere überreichte, wurde letzterer ordentlich rot.
»Ich hatte mir vorgenommen, meinem Freunde zu sagen, daß die Summe wohl doch zu hoch ist,« sagte er unsicher.
»Aber gar nicht,« erwiderte der Fürst. »Die Kopie ist meisterhaft und würde dem Beato Angelico selbst Bewunderung entlockt haben. Ich erwartete keine niedrigere Summe!«
Schweigend steckte Spini die Banknote zu sich, kritzelte auf eine seiner Visitenkarten » pour acquit für eine Kopie der Madonna della Stella von Signore Ferrante Rana« und reichte sie dem Fürsten.
»Es hätte dessen nicht bedurft,« entgegnete Hochwald, diese Quittung ohne zu zucken annehmend, um sie sogleich zu zerreißen. »Bitte, sagen Sie Ihrem Freunde meinen verbindlichen Dank für sein Entgegenkommen.«
Wieder malte sich auf dem dunkeln Gesichte Spinis etwas wie Scham oder Verlegenheit, aber wieder schwieg er und folgte dem Fürsten in den Palazzo, in dessen mit einer köstlich modellierten Cisterne geschmücktem Hofe die Schwestern Erlenstein mit den Geschwistern Chrysopras schon warteten. Boris strahlte, denn Sigrid war annähernd gnädig gewesen und trug sogar die von ihm dargebrachte Theerose im Knopfloch ihres Jacketts. Der Ausdruck strahlenden Glückes aber, der bei Spinis Ankunft das häßliche Gesicht Saschas verklärte, fiel dem Fürsten viel mehr auf. Und doch suchten die eigentümlichen, hellen Augen des Cavaliere nur Sigrids schöne, kühle Züge, die auf den leidenschaftlichen, stummen Appell dieser Augen so gar nichts zu erwidern hatten – und die arme Sascha senkte betrübt den Kopf.
Doch die Natur des Menschen neigt zum Egoismus, und da Gräfin Iris dem Fürsten jetzt die kleine behandschuhte Rechte zum Gruß bot und diesen Gruß dabei mit einem kindlich-reizenden, fast scheuen Aufblick ihrer wunderschönen Veilchenaugen begleitete, vergaß Hochwald die jungen Leiden seiner Nichte, um nur nichts von dem süßen Zauber dieser holden Mädchenblüte zu verlieren.
Die kleine Gesellschaft begab sich alsbald auf den beabsichtigten Spaziergang, dessen Ziel heut' der Giardino di Boboli war. Man wählte den kürzesten Weg zum Ponte alle Grazie, passierte den Fondaco San Niccolo und stieg die Via della Costa San Giorgio hinan zum Belvedere. Der herrliche Park des Palazzo Pitti war menschenleer, denn er war heut' dem großen Publikum nicht zugänglich; kein Tourist, mit rotem Bädeker oder braunem Gsell-Fels bewaffnet, machte die schattigen Laubgänge und Ufer der stillen Teiche unsicher, kein »Reizend!« oder »Nein, wie nett,« – kein » Very splendid, indeed« störte heut' den unvergleichlichen Genuß, den dieser herrliche Fleck Erde dem Auge bietet. Verstummt ist der Lärm der Großstadt, die uns majestätisch zu Füßen liegt mit ihren Kuppeln und Türmen, überragt von dem blauen, im Höhenduft verschwimmenden Zuge der Apenninen, getaucht in das Gold der westlich sich neigenden Sonne.
»Haben Sie auch bei diesem Anblick Sehnsucht nach der Nordsee, Gräfin Iris?« fragte Fürst Hochwald seine Nachbarin, die, gelehnt an die Galerie des Casino del Belvedere, wortlos hinausblickte auf das großartige Bild zu ihren Füßen.
»Wie eigen – ich dachte gerade an die Nordsee,« erwiderte sie überrascht. »Wahrscheinlich, weil man sich immer nach dem sehnt, was man nicht hat,« setzte sie mit allerliebster Weisheit hinzu.
»Oder was man nicht kennt,« vollendete der Fürst lächelnd.
»Oder was man nicht kennt,« wiederholte sie nachdenklich und fügte lebhafter hinzu: »Aber ich kenne Heines Nordseelieder – kenne sie auswendig, alle, alle! Ist das nicht Sehnsucht oder gar – Heimweh?«
»Vielleicht beides, Gräfin,« sagte Fürst Hochwald. »Auch ich habe sie oft gelesen und wieder gelesen, die Nordseelieder, in meiner Einsamkeit, wenn die graugrünen Wellen mir ihren Schaum fast bis vor die Füße warfen. Aber auswendig weiß ich nicht alle.«
»Natürlich nur die Ihnen liebsten, die Ihrer Nordsee so recht zum Klange und zur Stimmung paßten,« erwiderte Iris eifrig.
»Der Nordsee und mir, Gräfin.«
»O bitte, sagen Sie mir, welches Ihre Lieblinge sind!«
»›An die bretterne Schiffswand‹ – ›Es träumte mir von einer weiten Haide‹ – ›Der Sturm‹ –«
»O, die traurigen Lieder – sind Sie selbst denn gar so traurig?« fragte Iris, mit zwei großen, fragenden Kinderaugen zu ihm emporsehend. »Nein, meine Lieblinge unter den Nordseeliedern sind der ›Meeresgruß‹, ›Thalatta, Thalatta!‹ – Aber Sie – warum nur mögen Sie am liebsten, was wie Schiffbruch klingt?«
»Könnte ich nicht selbst Schiffbruch gelitten haben, Gräfin Iris?«
»Sie, Fürst?« – und wieder sahen ihn die großen Augen verwundert an. »Sie haben ja alles in der Welt, was nur ein Mensch begehrt! O, Sie und Schiffbruch!«
»Wird der von ›allem in der Welt, was nur ein Mensch begehrt‹ verhindert?« fragte er zurück. »Doch woher sollten Sie das wissen! Sie mit Ihrer Jugend und der Welt offen vor sich! Aber ich, ich bin ein alter Mann –«
»O, Fürst Hochwald –!« protestierte sie lachend.
»Ich bin ein alter Mann,« fuhr er, zu ihr herabsehend, fort, »doch freilich auch als solcher noch thörichten Träumen unterworfen. Und darum gilt mir als Krone aller Nordseelieder immer jenes ›An die bretterne Schiffswand‹, und wenn die Wellen nachts rauschen, dann rauschen sie mir immer die Worte daraus:
›Bethörter Geselle!
Dein Arm ist kurz und der Himmel ist weit,
Und die Sterne droben sind festgenagelt
Mit goldenen Nägeln,
Vergebliches Sehnen, vergebliches Seufzen,
Das beste wäre, du schliefest ein‹.«
Iris antwortete nicht, aber sie war ganz blaß geworden, und Thränen traten ihr in die Augen, sie senkte das blonde Köpfchen und schlug die Augen nieder, doch ein Erröten flog über ihr holdes Gesicht, und Fürst Hochwald sah dieses Erröten.
»Aber Iris, wir wollen weiter und warten auf dich,« sagte Sigrids Stimme hart und spröde am Ausgang zur Galerie. »Willst du bis Sonnenuntergang hier oben bleiben?«
»Dazu hätten wir zuletzt das Belvedere besuchen müssen, Gräfin,« erwiderte Fürst Hochwald, »der Mahnerin entgegengehend, die kühl und blaß und mit glitzerndem Blick in der Thür stand. »Doch auch jetzt schon ist es schön genug hier, um sich nur schwer zu trennen!«
»Und worüber sprachen wir angesichts dieses herrlichen Panoramas?« fragte Iris neckend mit zurückkehrender Schelmerei. »Du wirst's nicht glauben, Sigrid –: von der Nordsee und von Schiffbruch und von festgenagelten Sternen –«
»O, die Nordsee – dein altes Lied,« erwiderte Sigrid mit gleichgültigem Ton, den aber ein seltsames Lächeln begleitete. » Avanti, avanti, sonst wird's zu spät bis zu Vasca dell' Isolotto,« setzte sie fast heftig hinzu und begann die Treppe des Belvedere hinabzusteigen.
Man nahm den Weg nun vorbei an der Statue der als Dovizia, Überfluß, dargestellten Großherzogin Johanna von Österreich, Bianca Capellos unglücklicher Rivalin, an der drei Meister gearbeitet – und stieg die Treppe zur Fontana del Neptuno herab, wo Iris sogleich Freundschaft schloß mit den Schwänen, denen sie mitgenommene Brotkrumen streute. Als man dann weiterging, dem Prato dell Uccellare zu, hing Sigrid sich in Saschas Arm, und der stets wachsame Cavaliere trat an ihre Seite. Boris zog sich mit langem Gesicht zurück und wandte sich Iris zu, die neben dem Fürsten einherschritt und nicht umhin konnte, über die, wenig diplomatische Schlagfertigkeit verratende Physiognomie dieses russischen Diplomaten zu lachen.
»Er ist im Grunde doch ein guter Junge,« flüsterte ihr der Fürst zu.
Sie wurde sofort ernst.
»O, wenn Sie's sagen, Durchlaucht! – Es ist wohl auch unrecht, ihn immer und immer zu hänseln,« meinte sie reuig. »Aber er fordert den Spott geradezu heraus,« fügte sie mit dem alten Übermut hinzu.
Durch das Arrangement Sigrids – ob es nun absichtlich oder zufällig war – wurde das Gespräch allgemein. Boris Chrysopras lieferte eine drastische Beschreibung des römischen Turfs, auf dem er natürlich »scheußliches Pech« gehabt.
»Mit einem Trakehner Vollblut – 'n Gaul zum Küssen, Onkel! Und wer gewinnt den ersten Preis? So 'ne krummbeinige mongolikanische Himmelsziege; und der Jockey ritt wie 'n Kümmeltürke. Kolossal 'reingerasselt – es war, um den Mond als Käse auf 'n Butterbrot zu verzehren!«
»Wie gut, daß der Mond sich das nicht gefallen zu lassen braucht,« meinte Iris andächtig und suchte mit den Augen die bleiche Sichel, die schattenhaft am blauen, sonnendurchleuchteten Firmaments stand.
»Sie haben gut spotten, Gräfin,« erwiderte Boris vorwurfsvoll. »Sie spotten überhaupt immer, nur daß es von Ihnen nicht wehe thut wie von Ihrer Gräfin Schwester.«
»Aber Herr Chrysopras –«
»Ja, ja, 's ist wahr. Nee, bei den hohen Damen derer von Erlenstein scheine ich kein Glück zu haben!«
» Scheint's Ihnen nur, Herr Chrysopras?« neckte Iris. »Das heißt,« setzte sie schnell hinzu, »wir haben Sie alle sehr gern – Sie sind immer so nett und gefällig zu uns, daß es ja Undank wäre, wenn wir das nicht einsehen wollten! Also als Freund sind Sie uns wirklich lieb und wert, nur – –«
»Das haben Sie mir schon einmal gesagt, Gräfin Iris.«
»Nun, und Sigrid –?«
»O, Gräfin Sigrid hat's nicht so freundlich ausgedrückt!«
»Boris, du bist klassisch!« warf der Fürst lächelnd ein. »Ich an deiner Stelle nähme die dargebotene Freundschaft entschieden an.«
»Ja, reden Sie ihm Vernunft ein, Durchlaucht,« lachte Iris. »Das wäre ja schrecklich, wenn man jeden gleich heiraten müßte, wenn man's mit ihm nicht verderben will!«
Boris lachte mit, widerwillig zwar, aber er lachte doch, und vor seinem geistigen Auge stieg das schneidige Bild von Miss Fuxia Grant auf, lieblich umgeben von ihren Dollars. – –
Bei der anderen Gruppe trugen Sigrid und Sascha allein die Kosten der Unterhaltung, denn der Cavaliere war still und in sich gekehrt. Wozu hatte sie ihn aufgefordert, mitzugehen, wenn sie jede Gelegenheit, mit ihm allein zu sein, vermied? Aus Mitleid? Er, ein Spini, brauchte keines Menschen Mitleid, nicht einmal das der Geliebten. Mitleid, wo er um Liebe warb –? Es war, um rasend zu werden! Aber endlich stand er doch einmal allein an ihrer Seite, als sie ungeduldig vorausgeeilt war, während die anderen ihrer lachenden Schwester halfen, einen von ihr gewundenen Kranz von Gräsern dem Oceanus des Giovanni Bologna inmitten des Isolotto aufs bemooste Haupt zu werfen. Sigrid hatte sich niemals an »solch kindischem Thun«, wie sie's nannte, beteiligt, und wenn sie die übermütigen Einfälle von Iris auch mitunter belachte, so nahm sie doch niemals teil daran. Heut' aber machte das frohe Kinderlachen der Schwester sie geradezu nervös, und ungeduldig eilte sie voraus über die Brücke des Bassins. Da stand plötzlich der Cavaliere neben ihr.
»Ich habe Ihnen noch nicht danken können, Signorina,« sagte er leise.
»Danken? Mir? Ja, mein Gott, wofür denn?« erwiderte Sigrid, ohne sich umzuwenden, so daß er nur ihr klassisches Profil sah.
»Daß Sie mir erlaubten, mitzugehen, Contessa. Ich darf mir's doch so deuten, wie – wie ich's gern möchte?«
»Gewiß,« sagte Sigrid kühl. »Sie waren zugegen, als dieser schreckliche Spaziergang verabredet wurde, und Sie davon auszuschließen, wäre einfach unhöflich gewesen.«
»Bereuen Sie so schnell den ersten Moment der Güte gegen mich?« fragte Spini traurig.
»Bereuen? Gott behüte! Wir würden Sie morgen genau wieder so auffordern, wie heut',« entgegnete Sigrid trocken.
»Wir!« wiederholte Spini leise und eindringlich. »Was frage ich nach den anderen, wenn Ihr Mund schweigt? Warum verstoßen Sie mich Armen, Liebelosen, Einsamen so grausam?«
»Ach, Cavaliere, nicht melodramatisch werden, bitte!« erwiderte Sigrid abweisend. »Ich bin so unempfänglich dafür, so nüchtern, so unpoetisch. – Im übrigen üben Sie falsche Statistik. Ob und in welchem Sinne Sie arm sind, weiß ich nicht – einsam aber brauchten Sie nicht zu sein, da Sie ein liebendes Herz nur durch eine gnädige Handbewegung das Ihre nennen könnten – wenn Sie wollen, notabene. Oder sollten Sie wirklich noch nicht bemerkt haben, daß unsere liebe Sascha Chrysopras darauf brennt, samt ihrem Mammon Marchesa Spini in der Maremma zu werden?«
Der Cavaliere richtete sich hoch auf und sah blitzenden Auges auf die über das Gitter gelehnte schlanke Gestalt herab.
»Wer giebt Ihnen ein Recht über mich zu spotten?« zischte er zornig. »Ich etwa, durch meine unsinnige, unselige Leidenschaft für Sie? Durch mein Werben um Ihre Liebe? Spotten Sie über andere Dinge, Contessina! Ich verbiete Ihnen, Ihren Mut an jenen zu kühlen!«
»O, Sie verbieten mir etwas!« fragte Sigrid kühl und ruhig, indem sie sich umwendete und den Cavaliere mit ihren kalten Blicken maß. »Und mit welchem Rechte verbieten Sie mir, wenn ich fragen darf?«
»Mit dem Rechte der Heiligkeit meiner Gefühle,« war die unbewegte, prompte Antwort. »Sie können meine Gefühle ablehnen, zurückweisen, mit Füßen treten – o ja! Aber darüber zu spotten haben Sie kein Recht!«
»Ah – danke für die Belehrung,« entgegnete Sigrid gleichgültig.
Doch das reizte ihn fast bis zur Besinnungslosigkeit. »Wer weiß,« sagte er, dicht an sie herantretend, »wer weiß, ob der Marchese Spini nicht noch einmal mitsamt seiner Maremma heiß begehrt werden wird von der stolzen, hochmütigen, eiseskalten Contessa Sigrid Erlenstein,« sagte er heiser. »Ja, begehrt, ersehnt, erfleht von der Verlassenen, Heimatlosen – Verachteten. O, zucken Sie nicht mit den Achseln über dieses Wort – ich bin manchmal so etwas wie ein Hellseher.«
»Sehr interessant!« sagte Sigrid mit jenem konventionellen Ton, als hätte er ihr ein höchst gleichgültiges physikalisches Experiment erklärt.
»Und wenn Sie sich mit der ganzen Eiseskälte Ihrer Heimat wappnen – Sie werden dennoch mein, mein!« rief Spini leise, aber mit erschreckender Deutlichkeit.
»Bei uns zu Lande gehören dazu zwei,« entgegnete Sigrid mit gut erkünstelter Ruhe, trotzdem sie ganz blaß geworden war bei Spinis letzten Worten.
»Zwei – sehr richtig, zwei!« nickte der Cavaliere mit überlegenem Triumph. »Zwei!« wiederholte er. »Nämlich ich – und Sie!«
Noch ehe Sigrid antworten konnte, kamen die anderen über die Brücke, voran Iris mit hellem Lachen und harmlosem Übermut.
»Es ist geschehen!« rief sie schon von weitem. »Oceanus ist jetzt bekränzt und sieht wundervoll aus – wie ein echter, rechter Jubel-Meergreis. Schau nur mal hin, Sigrid!«
Aber die wendete nicht einmal den Kopf.
»Es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Die Sonne ist untergegangen,« sagte sie hart.
»Schon? Ach, wie schade!« rief Iris naiv und sah sich nach der Stelle um, wo ein golden leuchtendes Purpurrot den vollendeten Lauf der Tageskönigin bezeichnete.
»Nun, du kannst ja noch bleiben. Ich gehe nach Haus,« war Sigrids unfreundliche Antwort. Doch Iris lachte hell auf.
»Nein, bist du komisch,« jubelte sie. »Denken Sie nur, meine Herrschaften, diese selbe Sigrid, die mich bis vor vierundzwanzig Stunden verhätschelt, verzogen und verwöhnt, von der ich nie ein hartes oder böses Wort gehört – sie versucht's seit vierundzwanzig Stunden, mich zu beißen. Moralisch natürlich! Und das soll man glauben und für bare Münze nehmen!«
Man lächelte über diesen drolligen Erguß – nur Sigrid zuckte mit den Achseln und begegnete den eigentümlich forschend auf sie gerichteten Augen Spinis mit einem eiseskalten und doch drohenden Blicke. Sie beteiligte sich beim Heimwege nur sehr karg an dem allgemeinen Gespräch und nahm an der Thür des Palazzo kurzen Abschied, während Iris noch auf der Schwelle eine Masse Dinge zu plaudern hatte und allen in der Zerstreuung zweimal die Hand gab. Mit dem Zuruf: »Auf morgen denn!« – da die Partie nach der Villa Poggio a Cajano mit den Chrysopras' verabredet worden war – trennte man sich endlich, und während Iris singend die Treppe hinaufflog, um dem Grafen über ihren Spaziergang zu berichten, folgte Sigrid langsam und war den Abend über schweigsam und mißlaunig. Iris machte ein paar ihrer harmlos heiteren Neckversuche, doch als Sigrid sie dabei durch einen flammenden Blick zurechtwies, eilte sie zu der Schwester und umarmte sie herzlich, trotzdem Sigrid sich mit ganz unmotivierter Heftigkeit dagegen wehrte.
Als dann der Graf und seine Töchter zur Ruhe gegangen waren, schlüpfte Iris im Frisiermantel, die Aschenbrödelfüßchen in kleinen, roten Saffianpantöffelchen, in das Zimmer ihrer Schwester, die mit finsterem Blick vor ihrer Toilette saß und nicht daran zu denken schien, ihr aufgelöstes Goldhaar zu bürsten. »Soll ich helfen?« fragte Iris und hatte auch schon die Bürste genommen zu dem kleinen Liebesdienst, den die Schwestern einander gern erwiesen. »Armes Ding,« plauderte sie, während die leuchtenden Haarsträhne durch ihre geschickten und zarten Finger glitten, »arme Herzens-Sigi – wie blaß du bist! Du hast gewiß gräßliche Kopfschmerzen, und ich dummes Mädel hab's nicht gleich gemerkt.«
Und sich vorbeugend, küßte sie Sigrids weiße Wange.
Die aber stieß sie fast wild von sich.
»Ich habe keine Kopfschmerzen!« sagte sie hart.
»Nein?« fragte Iris erstaunt. »Ja, was hast du sonst? Du wirst doch nicht etwa böse sein – auf mich böse?« – Und sie lachte über diese bloße Idee.
»Ja denn, ich bin böse, auf dich böse,« sagte Sigrid mit schwerem Atem.
»Nein!« wiederholte Iris ganz entsetzt. »Was hab' ich denn verbrochen?«
Mit einer heftigen Gebärde sprang Sigrid empor und schlug ihrer Schwester die Elfenbeinbürste aus der Hand.
»Was du verbrochen hast?« zischte sie mit überquellender Bitterkeit. »Schamlos, entwürdigend hast du dich betragen! Du, eine Erlenstein! O pfui!«
»Sigrid, hast du Fieber?« fragte Iris nach einigen Minuten wortlosen Entsetzens sehr sanft. Aber das entfachte nur noch mehr den Zorn der anderen.
»Schamlos, sage ich!« wiederholte sie außer sich, mit sprühendem Blick. »Oder wie soll ich's nennen, wenn du dem Manne, dessen Heimat und Besitztum am Strande der Nordsee liegt, von deiner verschrobenen Sehnsucht nach derselben vorschwärmst?«
Iris sah mit großen, fragenden Augen die Schwester unverwandt an – dann schüttelte sie den Kopf.
»Das verstehe ich nicht,« sagte sie schlicht. Doch Sigrid achtete nicht darauf.
»Und das alles binnen vierundzwanzig Stunden,« fuhr sie aufstöhnend fort. »Du bist ja schlimmer wie jene Amerikanerin, die es doch offen ausspricht, daß sie nach Europa gekommen ist, um durch ihr Geld einen vornehmen Gatten zu erringen. Und du? Mit gänzlicher Nichtachtung jeder weiblichen Würde angelst du durch ekelhaftes Schwärmen über seine Heimat nach dem ersten reichen und uns ebenbürtigen Manne, der dir in den Weg tritt.«
Iris' reizendes Gesichtchen war um einen Schein blässer geworden, aber sie bewahrte vollkommen ihre Sanftmut.
»Du bist krank, Sigrid,« sagte sie freundlich und mitleidsvoll. »Ruhe dich aus, Liebe. Gute Nacht!« – Nach diesen Worten ging sie zurück in ihre Stube. Doch auf der Schwelle der Thür wurde sie von Sigrid zurückgehalten, die ihr nachgestürzt war und sie heftig bei den Schultern packte.
»Ja, geh', geh' geh', daß ich dich nicht mehr sehe,« schrie sie gellend, »geh', Heuchlerin, geh'! Und du willst eine Erlenstein sein! Wenn's nicht Sünde wäre, würde ich sagen, du seiest uns untergeschoben worden – ein Wechselbalg, eine Schande unseres Hauses! Geh' – geh' – ich hasse dich!«
Bleich und zitternd huschte Iris in ihr Zimmer und machte die Thür leis hinter sich zu. Sollte sie gehen und den Vater davon unterrichten, daß Sigrid krank war, krank sein mußte? Oder sollte sie auf eigene Verantwortung nach dem Arzte schicken? Schließlich entschied sie sich, keines von beiden zu thun – Sigrids Aufregung mußte sich ja legen über Nacht. – – –
Und ohne Groll, nur vom tiefsten Mitleid erfüllt für die seltsam veränderte Schwester, ging sie dann zur Ruhe und schlief bald ein, umgaukelt von süßen Träumen, zu denen die Nordsee ihre fremde, nie gehörte und doch so vertraute Weise rauschte: »Thalatta! Thalatta – –.«
Und ihr träumte, sie tauche die Hand in die vom Glanz der Abendsonne rotleuchtenden Fluten – aber das Wasser brannte heiß, o so glühend heiß auf der Hand, als sei es flüssiges Erz – »Thalatta! Thalatta –« murmelte sie im Schlaf und suchte die Hand zu trocknen. Und dabei wachte sie auf – was war das? Klopfenden Herzens mußte sie sich erst besinnen, wo sie war, mußte sie erst völlig wach werden, aber was sie anfangs im Traume zu schauen gewähnt, es blieb in Wirklichkeit bestehen in dem matten, rötlichen Schein der Nachtlampe – Sigrid, die neben ihrem Bette kniete und ihre heißen Thränen auf die Hand der Schwester rinnen ließ!
»O Sigrid – Sigrid!« murmelte Iris noch ganz traumbefangen.
»Verzeih' mir. Liebste, Beste!« schluchzte Sigrid. »Ich bin so schlecht gegen dich gewesen, so ungerecht! Kannst du mir verzeihen?«
Nun war Iris ganz munter und schlang den freigebliebenen Arm um den Hals ihrer Schwester.
»Ich dir verzeihen! Aber davon ist doch gar nicht die Rede! Du bist krank und nervös, mein Schwesterchen, und da legt man doch nicht jedes Wort auf die Goldwage! Geh' schlafen, Sigrid – das lange Wachen wird dich so angreifen. Oder soll ich kommen und dir helfen?«
»Du bist viel, viel besser als ich,« stöhnte Sigrid. »Ich bin ein Ungeheuer, eine unnatürliche Schwester! Hilf mir, rette mich, denn der Böse selbst hält mich gepackt in seinen Krallen und reißt mir alles aus dem Herzen, was Gutes darin geruht. Neid, Haß und Rache und schreckliche andere Gefühle keimen drin und werden wachsen und reifen, wenn du mir nicht hilfst, du Gute und Reine.«
»Sigrid, Sigrid, rede nicht so wild,« bat Iris sanft. »Warum solltest du mit einem Mal so schlecht werden? Es ist ja nichts geschehen, was dich verletzen oder reizen konnte. Geh' zur Ruhe, Liebe, und laß deine Nerven ruhig werden – willst du? Gern will ich ja auch bei dir wachen, wenn dir's lieb ist.«
»Nein, o nein!« erwiderte Sigrid, sich erhebend und die Augen trocknend. »Ich will's versuchen, zu schlafen. Nein, es ist nichts geschehen, was mich verletzen konnte – du hast recht. Ich war eine Thörin, und du mußt mich auslachen.«
»Ich lachen, wenn du leidest? O Sigrid?« war die liebreiche Entgegnung.
Sigrid küßte Iris mit überströmenden Augen, aber dann stand sie sinnend still mit schwer arbeitender Brust. »Liebt er dich?« fragte sie endlich leise und stockend.
»Sigrid –!«
»Liebt er dich?« wiederholte sie lauter, gebieterisch.
»Wie könnt' ich das glauben,« antwortete Iris nach einer kleinen Pause mit leiser Stimme. »Er, ein Mann auf der Höhe des Lebens, voll Geist und Kraft – ich ein junges, dummes Ding, das eben den ersten Flug gewagt – nein, Sigrid, so eitel und so überhebend bin ich nicht!«
»Aber du liebst ihn?« fragte Sigrid mit schwerem Atem.
Iris antwortete nicht. Sie lehnte sich zurück in ihre Kissen und schloß die Augen.
»Liebst du ihn?« wiederholte Sigrid leise, aber drohend wie vorher.
»Geh' zur Ruh', Schwesterherz,« bat Iris freundlich. »Es giebt Fragen, auf die man nicht antworten muß, nicht wahr? Fragen, die man auch besser nicht fragt, Sigrid!«
Die ließ die Arme schwer an ihrem Körper herabsinken. »Verzeih,« sagte sie dumpf. »Und nun – gute Nacht.« – Und sie verließ langsam und schleppenden Schrittes das Zimmer und machte die Thür leise und vorsichtig hinter sich zu. Drinnen in ihrem Zimmer aber stand sie still mit wildgerungenen Händen, und dann schüttelte sie die Faust in der Richtung, wo Iris schlummerte.
»Jetzt hasse ich dich wieder,« knirschte sie, »nimm dich vor mir in acht!«
Und sie warf sich auf ihr Bett, raufte ihr Haar und stöhnte, bis der Tag durch die Jalousien schimmerte und ein unruhiger, unerquicklicher Schlaf ihr die übernächtigen Augen schloß.
*
Am anderen Tage zur Mittagszeit fand sich eine Gesellschaft zu Wagen vor der Porta al Prato auf der Piazza Vittorio Emanuele ziemlich pünktlich zusammen, es waren dies Graf Erlenstein mit seinen beiden Töchtern, Madame Chrysopras mit Boris und Sascha, Fürst Hochwald, der Cavaliere Spini und die Fürstin Ukatschin geb. Chrysopras, des seligen Generals Schwester, welche mit einer Gesellschafterin ständig in Florenz lebte und es heut' übernommen hatte, Miß Fuxia Grant zu chaperonnieren, obgleich diese unabhängige junge Dame gar nicht die Notwendigkeit einer Ehrendame für sich einsah.
Miß Fuxia Grant, die mit einem Kurier und einer Kammerjungfer allein reiste, war sehr erstaunt, als man ihr klar machte, daß sie einer älteren Ehrendame bedürfe. Trotzdem sie nun zwar zu jeder annehmbaren Konzession bereit war – gegen die Ehrendame wehrte sie sich mit einer lobenswerten Energie, indem sie erklärte, gegen solche gemietete Theatermütter eine unüberwindliche Abneigung zu haben. Auch gegen den mildernden Titel: Gesellschafterin machte sie ruhig, aber entschieden Front, denn sie könnte sich ganz allein unterhalten, erklärte sie, und hätte sich in ihrer eigenen Gesellschaft noch nie gelangweilt. Da nun dieser Versuch zu einer höheren europäischen Kultur rücksichtslos an dem Yankeeschädel der holden Fuxia abprallte, so machten Madame Chrysopras und deren Schwägerin, die Fürstin Ukatschin, sich abwechselnd aus eigener Machtvollkommenheit zur Ehrendame dieser jungen »Wilden«. Denn da beide Damen sie zu ihrer Schwiegertochter respektive Nichte ausersehen hatten, so wünschten sie auch, daß sie sich europäisch korrekt betrüge. »Miß I reckon aus ›N'York‹« merkte natürlich die Absicht, ohne verstimmt zu werden, und lachte sich nur ins Fäustchen über die verlorene Liebesmüh. Boris Chrysopras mit seinen vornehmen Verbindungen und seiner Diplomatencarriere wäre ihr gar nicht einmal so unannehmbar erschienen – aber sie stellte ihn vorläufig nur in die Reserve ihrer Anbeterarmee für den Fall, daß kein Herzog, Fürst oder Prinz sich finden sollte, seinen alten Namen mit ihren Dollars neu zu vergolden und sie zum reizendsten Mitglied der »oberen Zehntausend« zu machen. Und da er also in der »Reserve« stand und noch nicht a. D. war, so ließ sie sich die Bemutterung der beiden Damen ruhig gefallen, ohne auch nur im mindesten ihre Ansichten und Lebensweise zu ändern. An der Seite der Fürstin Ukatschin langte sie zur bestimmten Zeit, d. h. etwas nachher, vor Porta al Prato an, schon von weitem begrüßt von Madame Chrysopras, die ihren Spitzenschirm schwenkte, daß die Pferde dadurch scheu wurden.
»Nun, changez les places,« rief sie, unbekümmert um das sich versammelnde Publikum, das die »Inglesi« staunend angaffte. »Na, wir werden doch nicht so weiterfahren, als ob wir alleine wären! Da wäre ja gar kein Scherz bei der Sache! Sind alle Picknickkörbe da? Ja? Bon! Sascha, halt' dich gerade! Graf Erlenstein, Sie fahren mit meiner Schwägerin und mir – unser Landauer ist so bequem! Mein Bruder chaperonniert Ihre beiden Töchter – Sascha, du mit unserer süßen Miß Grant, beschützt vom Cavaliere und Boris im letzten Wagen. Voilà!«
Triumphierend über ihre strategischen Talente kletterte Madame Chrysopras zu ihrer Schwägerin, einer wohlkonservierten Dame mit schneeweißem Haar, das ihre Häßlichkeit beinahe verklärte, in den Wagen und räumte dem Grafen völlig den breiten und bequemen Rücksitz ein. Die anderen ordneten sich nach der ausgegebenen Order – Miß Grant lächelnd und achselzuckend, aber in bester Laune, Sascha strahlend. Spinis dunkles Gesicht zeigte keine Bewegung, Boris aber, in einem weißen Flanellanzug mit schottischem Seidenfutter, war ganz aus dem Häuschen und sprang wie ein Zinshahn um den Wagen der Erlensteinschen jungen Damen herum.
»Nein, diese Arrangements von Mama sind rein zum Tollwerden,« flüsterte er dem Fürsten zu. »Mich mit dieser Miß und Sascha zusammenzusperren. Lächerlich! Was soll ich mit Sascha? Die hab' ich doch alle Tage! Warum konnte nicht Sigrid Erlenstein mit in dem Wagen sitzen?«
»Nun, deine Mutter wollte dir jedenfalls das unangenehme Gefühl des – bewußten grauen Freundes zwischen den beiden Heubündeln ersparen,« flüsterte Hochwald lachend zurück.
»Kommen Sie nun endlich, Herr Chrysopras,« rief Miß Fuxia Grant lachend, »oder fürchten Sie sich etwa vor mir?«
»Wer würde das Feuer Ihrer schönen Augen nicht fürchten?« erwiderte Boris prompt, indem er auf den Wagen zueilte und seinen Platz einnahm.
Auch noch anderen war das von Frau Chrysopras getroffene Arrangement peinlich und unwillkommen – nämlich den beiden Erlensteins. Iris litt noch unter dem Eindruck der durchlebten Scene in der letzten Nacht. Sie scheute sich vor Sigrids beobachtendem Blick, bangte vor einer Wiederholung des ihr noch rätselhaften Ausbruches und fand daher ihre Harmlosigkeit dem Fürsten gegenüber nicht so recht wieder. Letzterer hingegen bemerkte wohl ihre Befangenheit, er sah den Zug von leiser Furcht in ihrem weichen Kinderantlitz ausgeprägt und fragte sich vergebens nach dem Grund. Der tiefe und lange Blick, mit dem er sie während der Fahrt einmal stumm befragte, machte sie im jähen Wechsel erröten und erblassen und trieb ihr eine heiße Thräne ins Auge. – –
Sigrid hingegen war lebhaft und angeregt, fieberhaft beinahe, und sprach fortwährend, trotzdem die dunkeln Ränder um ihre Augen und die Fieberröte auf ihren Wangen die durchwachte Nacht verrieten. Sie fesselte den Fürsten unaufhörlich durch Fragen und Ansichten über Florenz und seine Geschichte.
Fürst Hochwald ging ruhig auf ihre Ideen ein, beantwortete ihre Fragen und widersprach ihren etwas herben Auffassungen und Ansichten, je nachdem – alles mit der Höflichkeit und Ruhe des Kavaliers, die freilich in nichts eine wärmere Anteilnahme an der schönen Fragerin verriet, während sein Blick oft genug auf Iris abschweifte und ihre erschrockenen Kinderaugen suchte. – Im anderen Wagen hatte Boris Chrysopras sich fast mit seinem Schicksal ausgesöhnt, denn Miß Grant hatte seinen Beistand beim Ankauf von Wagenpferden erbeten. Die Wahl wurde ihr schwer zwischen zwei irischen Halbblutfüchsen und einem neunzölligen Orloff-Traber, Rappe, und daher wollte sie bei Boris Rat einholen – eine sehr anmutige Koketterie, denn sie hatte sich längst für den Rappen entschieden und verstand sich auf den Wert eines Pferdes besser als selbst Boris, der Sportsmann, sie, die auf ihres Vaters Farm ungesattelt geritten hatte! Das wußte nun Boris freilich nicht, daher schmeichelte ihm Miß Fuxias Bitte. Er versenkte sich mit seinem holden Gegenüber in eine höchst fesselnde Auseinandersetzung über den Vorzug des half-bred gegen das full-bred bei Wagenpferden, und daher hatte Sascha auch die Gesellschaft des Cavaliere ganz für sich. Sie sprachen beide über Kunst und Sascha über ihren Wunsch, ganz der Kunst zu leben, im besonderen, und so verging auch diesem Paar trotz der verschiedenen inneren Gefühle die Fahrt angenehm genug, denn der Cavaliere war wohl unterrichtet und Saschas Wissen nicht gering; nicht weil sie darin einem Wunsche ihrer Mutter folgte, die von der Ansicht ausging, daß Mädchen nur das zu lernen brauchten, was die Mode gerade erforderte, sondern weil sie einem inneren Drange ihres scharfen Verstandes folgte, indem sie ihn rastlos weiter bildete.
Trotz alledem war wohl jedes erleichtert, als die Wagen die Hängebrücke über den Ombrone passierten und dann am Eingange zum Park der berühmten Villa Poggio a Cajano hielten, für den Fürst Hochwald sich einen ausgedehnten Permesso verschafft hatte. Man suchte nun zunächst den Kustode der Villa auf, der den Herrschaften einen der Pavillons im Park öffnete, damit sie dort ihr Picknick abhalten konnten. Die Damen deckten die Tafel mit allem Mitgenommenen verlockend genug, und dann »lunchte« man, wobei die gute Laune das Oberwasser bekam und die kleine Gesellschaft sehr heiter wurde – Miß Fuxia Grant beinahe ausgelassen sogar, denn sie hatte sich ohne weiteres neben den Fürsten gesetzt und suchte ihn durch ihre Unterhaltung, durch das Feuer ihrer Augen und durch jedes irgend angängige Mittel und Mittelchen der Koketterie in ihren Bannkreis zu ziehen. Hochwald gestand später lachend, er sei sich in diesem Kreuzfeuer vorgekommen wie Mephisto, als er der immer deutlicher werdenden Frau Marthe Schwertlein zu wehren hatte, damit sie nicht gleich das Aufgebot in der Kirche bestelle.
Die alte Fürstin Ukatschin war am Ende denn doch ein wenig ungehalten über ihren Schützling, wurde aber von Madame Chrysopras überstimmt.
»Unsinn, Tatiana,« raunte sie ihr zu. »Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen – na, und diese kleine schneidige Person hat's doch von vornherein gesagt, daß sie nach Europa gekommen ist, um sich zu verheiraten. Boris wird ihr das Kokettieren schon anstreichen, wenn sie erst seine Frau ist.«
»Ja, wenn!« murmelte die Ukatschin, der auch daran lag, daß Boris eine reiche Frau nahm. Warum, wußte ihr Geldbeutel am besten! Aber sie hatte noch einen feinen Trumpf zu seinen Gunsten in der Hand, den sie immer aufgespart, aber jetzt auszuspielen für gut hielt. Und als man nach beendeter Mahlzeit sich in den Stühlen zu kurzer Siesta zurücklehnte, während die Herren eine Cigarre anzündeten, da vertraute die Fürstin der aufhorchenden Amerikanerin an, daß sie die letzte des Namens Ukatschin sei und alle Hoffnung hätte, Namen und Titel auf Boris durch einen kaiserlichen Ukas übertragen zu sehen. »Freilich,« setzte sie seufzend hinzu, »freilich, das Vermögen fließt nach meinem Tode an eine Stiftung, und Boris erhält nur meine eigene Mitgift, die mit dem Titel in keinem Verhältnis steht. Aber ein Mensch von den Fähigkeiten meines Neffen muß auch dieses Hindernis besiegen.«
Der letzteren Rede Sinn war freilich dunkel genug, doch nicht für die hellsehende Tochter der Yankees. Sie notierte das Gehörte in ihrem Gedächtnis, und dann fragte sie bedächtig! »Und sind Sie dieses kaiserlichen Ukas ganz sicher, Fürstin?«
»Doch, ja, das heißt – Boris hat Revenuen bis zu einer bestimmten Höhe nachzuweisen – also die Zinsen von mindestens 500 000 Rubeln,« erwiderte die Ukatschin vertraulich.
»Lumperei,« war alles, was Miß Grant achselzuckend darauf erwiderte. Dann überlegte sie. Eine russische Fürstin würde sie schon werden wollen, lieber aber noch eine englische Herzogin oder eine deutsche, landsässige Fürstin – das war gediegener. Immerhin aber stiegen Boris' Aktien über pari.
Die Cigarren waren zu Ende, Miß Grant hatte zu den eigentümlich schwirrenden Klängen eines von ihr mitgenommenen Banjo, jener Negermandoline, ein paar ihrer Negrosongs zum besten gegeben – und indem man den Leuten aus der Villa das Einpacken der Picknickkörbe überließ, ging's hinaus in den herrlichsten aller italienischen Parks zu Füßen des letzten Hügels des nordöstlich sich abdachenden Monte Albano – in jenen Park, darin Lorenzo der Prächtige gewandelt und seine berühmte »Ambra« gedichtet hatte. Da die Gesellschaft die Neigung zeigte, sich zu teilen, gab man als Parole eine bestimmte Stunde zu Füßen der Villa aus, und dann schwirrte alles auseinander.
Miß Grant hatte sich an Iris Erlensteins Arm gehängt und rief sowohl Hochwald als auch Boris an ihre Seite, denn da sie durchaus keine historischen Erinnerungen aufzufrischen gedachte, so versuchte sie's wenigstens mit der viel schöneren » and far more interesting« Gegenwart. Fürst Hochwald aber hütete sich wohl, interesting zu sein, und überließ diese schöne gesellige Tugend seinem Neffen, und so kam es, daß sich Miß Fuxia bald mehr an den letzteren wendete und, mit diesem vorausschlendernd, Hochwald mit Iris sich folgen ließ. Man befand sich jetzt in einer Art von Labyrinth, wo schmale, schattige Gänge sich rechts und links abzweigten, und als das vordere Paar plötzlich hinter einer dichten und hohen Taxushecke verschwand, da flog über Iris' längst schon mehr und mehr aufgeheiterte Züge das alte, heitere Schelmenlächeln.
»Jetzt hätt' ich Lust, durchzubrennen,« flüsterte sie, stehenbleibend, und als Hochwald sie fragend ansah, erklärte sie: »Um allein die Villa zu sehen – allein! Verstehen Sie den Genuß, Durchlaucht? Nicht gefolgt von einem, sein Pensum ableiernden Lakaien, nicht anhören zu müssen, wenn Madame Chrysopras die Möbel für Gerümpel und die Gemälde für verräucherte Schmierereien erklärt, Miß Grant neue Möbel für bequemer und schöner hält, und kein Mensch eine Ahnung hat von dem Geist der Mediceergröße, der dort umgeht, umgehen muß. Ich hab's ja gar nicht gewußt, daß ich mit meiner Idee, die Villa Poggia zu besuchen, in solch ein Wespennest stechen würde,« schloß sie mit drolligem Ärger.
»Nun, Gräfin, ich will's Ihnen gestehen – auch ich habe schon an Flucht gedacht,« erwiderte Hochwald lächelnd über ihren Eifer. »Denken Sie sich in mir einen Einsiedler, der plötzlich in eine Gesellschaft gerät, von der er sich seit zwanzig Jahren ferngehalten hat! Auch mir sind solche Massenbesuche von Schlössern der Inbegriff alles Entsetzlichen. Wie wär's, wenn wir beide, Sie und ich, auf heimlichen Pfaden flüchteten und die Villa besichtigten, ehe die anderen kommen!«
»Wundervoll!« jauchzte Iris auf. »Das giebt ja einen köstlichen Spaß. Aber,« setzte sie dann stockend hinzu, »aber was wird Sigrid sagen?«
»Das werden wir ja später hören,« erwiderte Hochwald beinahe übermütig. »Kommen Sie, Gräfin, lassen Sie sich entführen!«
»Von Herzen gern,« lachte sie, und mit raschen Schritten bogen sie in eine schmale Allee ein, welche direkt gegen die Südseite der Villa führte. »Jetzt fang' ich erst an, mich auf das Schloß zu freuen, auf diesen Lieblingssitz des Lorenzo, des Cosimo und seiner armen Eleonore, der Bianca Capello –! Und kein Lakai wird mit uns gehen?«
»Das will ich schon verhindern,« versprach Hochwald. »Es giebt noch Fälle, wo der ›Fürst‹ einem gute Dienste thut und als ›Sesam‹ praktisch verwendet werden kann.«
Heiter plaudernd eilten sie weiter, um nur keine Zeit zu verlieren, doch meinte Hochwald, daß die Augen seiner liebreizenden Begleiterin öfter mit dem vorherigen Ausdruck der Angst zur Seite schweiften, indes verlor dieser Blick sich mehr und mehr, als sie weiterschritten, denn der natürliche Zauber von Hochwalds Wesen übte seinen unwiderstehlichen Einfluß auf Iris' sonnige Natur nicht umsonst, und was es auch von Wolken und Wölkchen geben mochte in ihrer jungen Seele – sie flohen dahin in ihr Dunkel, aus dem sie gekommen, und sie konnte sich ohne Rückhalt wie ein Kind freuen an ihrer verstohlenen Expedition.
Wie's Fürst Hochwald versprochen, so geschah es; der Zauber seines Titels auf dem vorgezeigten Permesso, verbunden mit dem nötigen fürstlichen »mancio« öffneten ihm und Iris die Pforten zu diesem Paradiese, und allein schritt er mit ihr durch die großartigen Räume. Sie sprachen von nichts anderem als von jenen dahingegangenen Tagen, in denen die Mediceer hier Hof gehalten zur Sommerszeit, von Kaiser Karls V. Besuch und jenem furchtbaren Mahl, das Bianca Capello ihrem Schwager und Todfeinde, dem Kardinal und späteren Großherzoge hier bereitet haben soll, diesem Mahl, dem der eigene Gatte, der sie auf den Thron gehoben, zum Opfer fiel. Auch das Gemach, in welchem sie selbst, nun alles verloren, den Rest der todbringenden, kandierten Früchte verzehrte und starb, besuchten sie und standen neben dem kostbaren Bette der schönen Venetianerin – dann aber mußte Andrea del Sartos Darstellung der Tributpflichtigen mit seinem Farbenzauber die düsteren Erinnerungen verwischen helfen. Und als sie dann vor dem Wandgemälde des Franciabigio, »der Triumph Ciceros« standen, und Iris die Frage stellte: »Aber das ist ja auch eine Huldigung für Cosimo I., denn Cicero trägt seine Züge,« – da erwiderte Hochwald ganz unvermittelt:
»Warum sahen Sie heut' während der Fahrt so leidend, fast verstört aus, Gräfin?«
»Sigrid war heut' Nacht krank und sprach so wirr – wohl im Fieber – und das hat mich erschreckt,« entgegnete Iris nach einer Pause leise, ohne den Blick von dem Gemälde zu wenden.
»Und was hat Gräfin Sigrid gesagt?« forschte der Fürst mit so liebevollem Interesse, wie wenn man mit einem Kinde spricht, und der warme Herzenston trieb dem gequälten – zum erstenmal in ihrem Leben gequälten jungen Mädchen die Thränen in die Augen. Aber sie antwortete nicht, sondern schüttelte nur mit dem Köpfchen.
»Ich sehe, es hat Sie sehr erschüttert – nicht verstimmt, sondern wirklich ergriffen,« fuhr Hochwald im gleichen Tone fort. »War es denn gar so schlimm? Darf ich's wirklich nicht wissen?«
»Besser nicht,« murmelte sie abgewendet.
»Ich möchte aber so gern Ihren Kummer teilen,« beharrte er auf seiner Frage. »Geteilter Schmerz ist halber Schmerz – und dann, ich kann Sie nicht leiden sehen. Sie nicht!«
»Nein?« fragte sie unter Thränen und sah zu ihm auf mit einem strahlenden, glücklichen Lächeln.
Da ergriff Hochwald ihre kleine, schlanke Hand und sah ihr tief ins Auge.
»Könnten Sie Vertrauen zu mir haben, Gräfin?« sagte er weich.
»O ja!« erwiderte sie ohne Zögern. »Ihnen könnt' ich alles sagen, alles! Ich hatte Vertrauen zu Ihnen in dem Moment, als Sie vorgestern Abend in Saschas Atelier traten. Der Cavaliere würde es den verwandten Magnetismus der Seelen nennen, nicht wahr?«
»Wie's genannt wird, bleibt sich gleich, Gräfin – glücklich, sehr glücklich macht's auf jeden Fall,« entgegnete der Fürst warm, indem er immer noch die kleine Hand in der seinen hielt. »Und darum kann ich Sie auch nicht leiden sehen. Sie hatten so erschreckte Augen, wie wenn Sie etwas Niegehörtes, Ungeheures immer noch in sich nachklingen fühlten – war's nicht so?«
»O, wie gut Sie das wissen!« rief Iris überrascht. »Ja, ich hab's so ganz allein verwinden müssen – Papa wollt' ich's nicht sagen, denn ich wollte ihn nicht bekümmern, und am Ende hat Sigrid doch recht –«
Sie sah fragend auf zu ihm, doch er schüttelte mit dem Kopf.
»Wie kann etwas richtig sein, was Sie so aus dem Gleichgewicht bringen konnte,« meinte er so liebreich, daß es Iris von neuem die Thränen in die Augen trieb. »Vielleicht, wenn Sie mir's vertrauten, könnte ich Ihnen raten. Aber es ist wohl eine zu kühne Bitte?«
Sie kämpfte einen Augenblick mit sich – dann sah sie auf zu ihm, ernsthaft, aber mit dem ganzen Unschuldszauber ihrer reinen Seele in den klaren blauen Augen.
»Ich werd' es Ihnen sagen, ja,« sprach sie leise. »Sie sind ja der beste Richter dafür. Sigrid warf mir vor, ich hätte mich aufdringlich und – unweiblich betragen, indem ich zu Ihnen über meine Nordsee-Sehnsucht sprach. Ist's Ihnen auch so erschienen? Wenn ja – dann verzeihen Sie mir – es geschah bei Gott nicht in der Absicht – deren Sigrid mich zieh – – o, nun machen Sie solch ein ernstes, fast finsteres Gesicht – Sigrid hat also recht!«
»Nein, Sigrid hat unrecht!« erwiderte Hochwald empört. »Sind Sie denn darum behütet und gepflegt worden im Elternhause wie eine fremde, köstliche Blume, damit die eigene Schwester den Blütenstaub von Ihrer reinen Kinderseele streift? Gottlob – es war nur ein grausamer, aber mißglückter Versuch, der verletzt, aber nicht geschadet hat. Iris, Sie, die holde, reine Blume unweiblich – oder war's gar ein härteres Wort? Gott im Himmel, ist's möglich!« rief er außer sich, als Iris sich errötend abwendete.
»Nein, nein!« sagte sie bittend. »Sie hat's ja nicht so schlimm gemeint, sie war krank, überreizt – sie ist ja sonst so lieb und gut zu mir. Ich hätte es Ihnen doch nicht sagen sollen –?!«
»Bereuen Sie schon Ihr Vertrauen zu mir?«
»Nur, weil es Sie gegen Sigrid aufgebracht hat. Das wollte ich nicht!« war die sanfte Antwort.
Hochwald durchschritt ein paarmal den Saal, ohne zu sprechen. Dann blieb er vor Iris stehen.
»Darum also wollten Sie vorhin nicht mit mir hierher gehen,« begann er. »Und trotzdem es Ihrer Schwester also gelungen ist, Ihnen die Harmlosigkeit und Unbefangenheit zu rauben, trotzdem behaupten Sie, sie hätte es nicht so gemeint? Gleichviel – ich will Ihnen den Glauben an die Schwester nicht trüben. Nur eine Frage erlauben Sie mir: scheine ich Ihnen nicht hinreichend alt, um Sie beschützen zu können?«
»Warum reden Sie nur immer von Ihrem Alter?« fragte sie zurück, mit einem Versuch ihres lustigen Lachens.
»Aber ich bin alt – so alt, daß ich Ihr Vater sein könnte. Daher das Vertrauen, das ich Ihnen erwecke,« erwiderte Hochwald mit merkwürdiger Spannung im Ton und im Blick. Iris aber schüttelte mit dem Kopfe.
»Ich habe schon viele alte Herren kennen gelernt, zu denen ich ihres Alters wegen sicher kein Vertrauen gehegt hätte,« erwiderte sie lächelnd.
»Und Ihr Vertrauen zu mir – woher stammt es?«
»Ich weiß es nicht,« sagte sie einfach. »Es muß wohl aus dem Herzen kommen.«
»Aus dem Herzen,« wiederholte er tief bewegt. »Iris, glauben Sie, daß dieses selbe Herz, Ihr junges, reines, unberührtes Mädchenherz diesen alten Mann, mich auch lieben könnte? Ich meine nicht mit der vertrauenden Kindesliebe, sondern mit der großen, heiligen, unbedingten und schrankenlosen Liebe der Braut –«
Er schwieg in tiefster, mächtigster Bewegung, denn sie war jäh erblaßt und stand vor ihm mit großen, erschrockenen Augen und gefalteten Händen wie erstarrt – – –
Und er nahm sachte ihre beiden Hände in die seinen und beugte sich tief herab zu ihr – –
»Iris, ich liebe dich von ganzem Herzen,« sagte er schlicht und darum so überzeugend.
»Aber ist's denn möglich?« stammelte sie mit stockendem Atem. »Ich träume wohl nur – – Sie lieben mich, Sie, der mir wie ein Sonnengott erschienen ist – mich, mich armes, dummes Mädchen, das nicht wert ist, von einem Manne, wie Sie es sind, beachtet zu werden! O – so müssen Sie nicht mit mir scherzen!«
Da nahm er sie sanft und liebevoll in seine Arme und küßte ihren blassen Mund.
»Hab' Dank für dieses unbewußte, süßeste Liebesbekenntnis,« sagte er leise. »Und so ist's denn wahr, – du willst mein werden, du, der junge knospende Frühling und ich, der beginnende Herbst? Liebst du mich so sehr, um die zwischen uns liegenden Jahre siegreich zu überbrücken?«
»Ich weiß nichts von Jahren – ich weiß nur, daß ich Sie lieben muß oder – sterben,« erwiderte sie leise, wie erlöschend.
»Iris, meine süße Braut –«
Und wortlos, denn das Glück macht stumm, wenn es so allgewaltig kommt, stand sie an seine Brust gelehnt in dem weiten, stillen Raum, durch dessen offene Fenster der Frühling mit Sonnenschein und Blütenduft eindrang, der frische, herzhafte toskanische Frühling mit seinem fast herben Hauch, als wäre er eins mit dem nordischen Balder.
Und es waren Augenblicke reinster Seligkeit für diese Herzen, die sich so schnell, so allgewaltig gefunden durch jenes süße Muß, durch die Wunderkraft jener Liebe, die stärker ist als der Tod.
Wie Blitz und Schlag, so war's über Iris und den Fürsten Hochwald gekommen – letzterem bewußt und klar wie das Sonnenlicht vom ersten Moment an, für Iris unbewußt, wie ein süßes Rätsel, dessen Lösung sie nicht fand. Erst Sigrids rauhe Hand hatte ihr in letzter Nacht den Schleier von der Seele gerissen mit der Frage: »Liebst du ihn?« und in den stillen, einsamen Stunden der Nacht war es ihr klar geworden, was sie seit vierundzwanzig Stunden nur mit einem so seltenen, wunderbaren Glücksgefühl erfüllte.
Und nun war's Wirklichkeit geworden – sie war seine Braut! Es schwindelte ihr, daß sie die Augen schließen mußte, so überwältigend war ihr die Gewißheit, daß er sie liebte, und enger umschloß sie seinen Arm, als fürchtete er, sie entschwinden zu sehen, wie einen schönen Traum von Glück und Liebe – oder als müsse er es halten und schirmen, dieses neue, junge Glück. – – –
Ein helles Gelächter unter den Fenstern schreckte beide aus ihrer kurzen Seligkeit empor – es war ihre Gesellschaft, die sich unten versammelte zum Rundgang durch die Villa.
»Laß uns heut' noch Fremde scheinen, mein Liebling,« sagte der Fürst, die Elfengestalt seiner Braut freigebend. »Morgen komme ich, mir die Braut von deinem Vater zu erbitten. Fühlst du dich ruhig genug, um den anderen unbefangen zu begegnen?«
Sie lächelte mit ganz verklärtem Gesicht zu ihm empor. »O, es ist so ruhig, so friedlich in mir,« sagte sie innig. »Das macht, weil ich so unendlich glücklich geworden bin durch dich.«
Da küßte er ihre reine Stirn mit einer Ehrfurcht, als berührten seine Lippen eine Reliquie. Dann aber trat er rasch an eines der Fenster und beugte sich hinaus.
»Wenn die Herrschaften auf Gräfin Iris und mich warten sollten – wir sind schon oben!« rief er herab.
»Das ist gegen die Verabredung!« lachte Miß Fuxia. »Separieren gilt nicht!«
»Gut, wir nehmen's zurück,« erwiderte Hochwald, »und versprechen als Buße, all unsere im voraus errungenen Kenntnisse im Dienste der Herrschaften zu verwerten!«
Sigrid war bei den ersten Worten des Fürsten wie gestochen zurückgefahren, und sie war auch nun die erste, die beim Öffnen des Portals die Villa betrat und nach oben eilte, ohne auf den Führer zu warten. Sie fand Iris mit dem Fürsten vor dem Fresko des Franciabigo und stahl sich leise hinter beide, so leise, daß man ihren Schritt auf dem Estrich nicht hörte.
»Der Cicero ist in der That das Porträt Cosimos. Es war damals Sitte unter den Mächtigen dieser Welt, sich im Vergleich auf die Antike huldigen zu lassen,« – war alles, was sie den Fürsten sagen hörte, und schon wandte sich Iris um – ruhig, heiter und mit wunderbar verklärten Augen.
»War das nicht ein guter Gedanke, statt Miß Fuxias Weisheit zu hören, die Villa recht con amore zu sehen?« fragte sie freundlich.
»Ein sehr guter Gedanke,« erwiderte Sigrid forschend. »Wer hat ihn zuerst gehabt?«
»Eigentlich Gräfin Iris, die mir aus der Seele sprach, indem sie klagte, diese historische Stätte mit interesselosen Menschen durchhetzen zu müssen,« erklärte der Fürst, »und da dies, wie gesagt, ganz meine Ansicht war, so schlug ich eine rasche Flucht vor, und dieser Gedanke hat sich uns köstlich belohnt. Wir haben die ganze Villa gesehen.«
Sigrid nickte mechanisch – o, wäre sie zur Stelle gewesen! Aber Iris war so ruhig, schien so unbewegt – das thörichte Kind würde sich sicher verraten, wenn etwas vorgefallen wäre –! Denn davon ahnte Sigrid Erlenstein nichts, daß Glück auch Ruhe und Sicherheit verleiht.
Die anderen kamen jetzt nach, und nun begann einer jener Gesellschafts-Rundgänge durch die Villa, unter Schwatzen und flüchtigem Besehen, wie er einem geradezu zur Folter werden kann, wenn man gern die besuchte Stätte mit Interesse betrachten will. Nur wenn in alten Schlössern der umgehende Geist an die Reihe kommt, wird die Aufmerksamkeit etwas allgemeiner, um dann den verschiedenen Skeptikern zu Witzeleien Anlaß zu bieten. Der vordem vom Fürsten verbetene Cicerone hatte sich's, in der Hoffnung auf mehr Trinkgeld, nicht nehmen lassen, in der Gesellschaft zu erscheinen. Er berichtete mit einer behaglichen Breite von den rastlos wandernden Geistern des Großherzogs Francesco I. und der Bianca Capello, die den Weg von dem kleinen Speisesaal bis in ihr Schlafgemach Nacht für Nacht zurücklege und von vielen Augenzeugen gesehen und nach ihrem Bilde von Broncinos' Meisterhand erkannt worden sei mit ihrem rotgoldnen Haar, ihrem weißen Gesicht mit dem kleinen Munde und den Grübchen in den Wangen, und ihren großen, braunen Augen – eine gefährliche, unselige, verderbliche Schönheit!
»Wenn unsereins doch mal so 'n schönes Gespenst sehen könnte,« meinte Boris Chrysopras.
»Diese Sehnsucht nach schönen weiblichen Geistern ist ja etwas ganz Neues an Ihnen,« neckte Miß Fuxia kokett.
»Seit wann genügt Ihnen die Schönheit in sterblicher Hülle nicht mehr?«
»Ich möchte wissen, wo bei Bianca Capello die Wahrheit aufhört und die Dichtung anfängt,« warf Sascha ein. »War sie wirklich eine Verbrecherin oder nur eine Ehrgeizige?«
»Sie war beides, gnädiges Fräulein, erwiderte Spini. »Inwieweit sie schuldig ist am Tode ihrer Nebenbuhlerin, der Großherzogin Giovanna d'Austria und deren Sohn, entzieht sich dem Forscher – daß sie den unglücklichen Bonaventuri beseitigte, dem Großherzoge einen Sohn untergeschoben und ihrem Todfeinde, dem Kardinal, der sie durchschaute, hier in Poggio jene vergiftete Orange reichte, die der eigene Gatte verzehrte – das scheinen doch historisch erhärtete Thatsachen zu sein. Wenn Sie wünschen, bringe ich Ihnen einmal das Resultat meiner archivarischen Forschungen über die Großherzogin Bianca Capello – sie sind hochinteressant!«
»Wollen Sie eine Geschichte der Venetianerin schreiben, Cavaliere?« fragte Gras Erlenstein mit Interesse.
»Ja und nein, Herr Graf,« entgegnete der Cavaliere. »Ich sammle nämlich Material zu einem Werke: ›Der Dämon im Weib‹ – ein Vorwurf, der mich sehr fesselt und ständig beschäftigt. Zur Illustration meiner Betrachtungen sammle ich Beispiele, berühmte und unberühmte Verbrecherinnen aller Länder und habe dazu eingehende Archiv- und Aktenstudien gemacht. Ich hoffe, mein Werk wird einst einen wichtigen Beitrag liefern zu den Studien der Psychologie.«
»Hu, welch grausiges Thema,« sagte Iris zusammenschauernd wie vor einem eisigen Winde. »Und diese unheimlichen Forschungen in den Untiefen des Herzens und der Seele machen Ihnen wirklich Freude?«
»Die Tiefen und Ebenen des menschlichen Herzens sind es, woraus man Weisheit schöpft, Gräfin,« erwiderte Spini ernst.
Sigrid zuckte mit den Achseln.
»Es muß auch solche Käuze geben,« murmelte sie.
»Ja, es ist zweifellos, daß das Unheimliche gerade die größte Anziehungskraft ausübt,« meinte Graf Erlenstein seufzend.
»Die Beispiele aus Ihrer schönen Heimat, der bella Italia, werden Ihnen allein mehrere Bände füllen,« rief Sigrid. »Die Liste dieser weiblichen Ungeheuer, Ihrer Landsmänninnen, hat Ihnen wohl die Idee zu diesem Werke gegeben?«
»Höchst wahrscheinlich,« entgegnete Spini sehr ruhig auf diesen kleinen Ausfall – einer von den vielen, mit welchen Sigrid ihn reizen oder ärgern wollte.
»Oder war's Lucrezia Borgia allein, der Sie die Anregung verdanken?« fragte sie etwas spöttisch und ihrerseits durch seine Ruhe gereizt weiter.
»Lucrezia Borgia war, als sie in Rom lebte, eine große Sünderin – eine Verbrecherin war sie nie,« sagte der Cavaliere. »Das wertvolle Werk Ihres Landsmannes Gregorovius hat das aktenmäßig festgestellt. Leider hat aber Victor Hugos Schauerdrama und Donizettis Oper mehr Gläubige gemacht als das Werk des großen deutschen Gelehrten.«
»Und werden Sie uns Deutsche auch mit Beispielen in Ihrem Werk beehren?«
»Gewiß – sonst wäre es ja unvollkommen. Der Dämon im Weibe hat die deutschen Frauen nicht verschont. Da fand ich zufällig vor Wochen eine alte, sehr alte, vergilbte Zeitung bei einem deutschen Maler – sie lag auf dem Boden einer alten Bücherkiste, als Hülle für ein Buch, und da ich ein Zeitungstiger bin, erbat ich sie mir. In diesem Blatte – fünfzehn Jahre oder gar zwanzig mag es alt sein, fand ich den Anfang einer Schwurgerichtsverhandlung gegen eine vornehme junge Frau, die anscheinend ohne jeden Grund, denn sie war als eine glückliche Gattin und Mutter geschildert, ihren Gemahl erschossen hatte. Sie leugnete die That mit einer Ruhe, einer Kälte und einem Cynismus, der für ein so junges Geschöpf erschreckend ist, aber es scheint, daß die Zeugenaussagen vernichtend waren.«
»Und wie hieß diese – Dame?« fragte Graf Erlenstein nach einer Pause mit leicht bebender Stimme.
»O – ich weiß nicht mehr recht – ich habe den Namen vergessen,« erwiderte der Cavaliere, ganz Feuer und Flamme für sein Thema. »Aber dieser Dämon im Weibe, der sich ihrer Seele so ganz rätselhaft und grundlos – scheinbar wenigstens – bemächtigt, hat mein ganzes Interesse wachgerufen. Ich habe einen Antiquar beauftragt, mir die fehlenden Nummern der Zeitung über diesen Fall zu verschaffen, und will daraus studieren und kombinieren. Auch drängt es mich, zu wissen, ob und wie diese Frau bestraft wurde, oder ob der Lauf der Verhandlung entlastende Momente gebracht hat. Der Name – fast hätte ich ihn gehabt – deutsche Namen machen mir immer noch Schwierigkeiten – so etwas wie Stein – Stein –, – nein, Berg – Re – Corbomonte! Ich hatte mir den Namen übersetzt, um ihn besser zu verstehen – Ravensburg oder -berg!«
»Darf ich etwas zur Eile mahnen, meine Herrschaften,« krähte Madame Chrysopras, der Spinis Elaborat längst schon langweilig geworden war. »Wir wollen uns doch nicht das Fieber holen auf dem Heimwege, was nach Sonnenuntergang hier auf den Wiesen sehr leicht möglich ist. Also avanti, avanti!« Und Graf Erlensteins Arm nehmend, schritt sie mit diesem voran.
»Es macht mich immer ganz elend, solche Geschichten zu hören,« rief Iris nachfolgend. »Warum soll denn auch nur Weisheit aus den Nachtseiten des Menschenherzens zu schöpfen sein? Ich lobe mir die Weisheit, die von den Höhen des Lebens aus dem Lichte stammt!«
Fürst Hochwald, der den Cavaliere bisher mit einem seltsam gespannten Blick und einem fast peinvollen Zug des Schmerzes im Antlitz beobachtet hatte, wandte sich nun mit einem matten Lächeln zu der holden Sprecherin.
»Und doch müssen gerade diese Sonnenkinder so oft in die Nachtseiten des Lebens tauchen,« sagte er traurig. »Gott behüte dich davor, mein Liebling,« flüsterte er ihr zu.
Sigrid hatte alles gesehen und zermarterte sich den Kopf um die Lösung dieses Rätsels. Warum der gespannte Blick des Fürsten auf den Cavaliere? Warum der Zug von Schmerz auf seinem offenen Gesicht? Und was hatte er Iris zuzuflüstern?
»Ich wollte, ich wäre zu Hause,« stöhnte sie, ihren schmerzenden Kopf senkend. Und dann kam ihr ein Licht –: Der Fürst hatte gesehen, daß Iris an der Erzählung Spinis keinen Geschmack fand, und er hatte darum angstvoll ausgesehen, um ihr etwas Unangenehmes zu sparen. Ja, so war's gewiß – o, unerträglich!
Doch auch dieser Tag neigte sich, wie seine Vorgänger sich geneigt hatten, und die Sonne sank, ehe die Gesellschaft wieder am Parkeingang stand, wo die Wagen längst ihrer warteten. Hier wollte Madame Chrysopras wieder das vorige Arrangement wie auf dem Herwege einführen, da man aber direkt, das heißt ein jeder bei sich vorfahren wollte und man auf der Piazza Cavour erst hätte wieder umsteigen müssen, so stieß sie auf Widerspruch, drang aber darauf, daß Boris zu der Fürstin und Miß Grant in den Wagen stieg, da sie ja den Fürsten und den Cavaliere hatte. Im innersten Innern ihres Herzens hatte es Madame Chrysopras nicht ungern gesehen, wenn der Cavaliere sich etwas für Saschas Vermögen erwärmt hätte. »Besser solch lumpiger Lazzaroni als gar keiner,« dachte sie mehr praktisch als zärtlich.
Es wurde nach Sonnenuntergang kalt – kalt und rasch dunkel, soweit man die opalartige Abenddämmerung des toskanischen Frühjahrs mit dunkel bezeichnen darf. Der jähe Wechsel der Temperatur aber war nicht so zu fürchten als die weißen, gespenstischen Nebel, die aus den Wiesen aufquollen und phantastisch hin und her schwebten wie ein Geisterheer. Und während in den Wagen der Madame Chrysopras und der Fürstin Ukatschin das Gespräch munter weitergeführt wurde und kaum eine Pause erlitt, war es bei den Erlensteins ganz still. Der Graf saß sinnend und in sich gekehrt da – Sigrid stützte ihren schmerzenden Kopf gegen das Kissen des Landauers und beiden gegenüber saß Iris, froh, daß sie ihren seligen Träumen nachhängen durfte, in denen sie erst so recht zum Bewußtsein ihres jungen Glückes kam, das ihr reizendes Gesicht zu geradezu engelgleicher Schönheit verklärte.
Daheim angelangt, zog sich Graf Erlenstein sogleich in sein Zimmer zurück, da er sehr müde sei, und erbat sich einen leichten Imbiß. Sigrid stieg, ohne etwas zu sich zu nehmen, sofort in ihr Schlafzimmer hinauf, und Iris verträumte noch allein ein paar Stunden in ihrem behaglichen Mädchenstübchen. Dann ging auch sie nach oben – leise, ganz leise, um Sigrid nicht zu wecken – doch wie erschrak sie, als sie die Schwester in ihrem eigenen Zimmer fand, blaß und mit demselben finstern, fast haßerfüllten Blick, wie in der vorigen Nacht. »Endlich!« sagte sie aufstehend. »Ich fürchtete schon, du würdest gar nicht schlafen gehen.«
»Und ich glaubte dich längst schlafend.«
Sigrid hob die Hand, wie um jedes fernere Wort abzuschneiden, und trat dicht vor Iris hin, so dicht, daß ihr mühsamer Atem ihr Antlitz streifte.
»Hast du mir nichts zu sagen?« fragte sie leise, lauernd.
Aber Iris dachte schaudernd der vorigen Nacht.
»Nichts,« sagte sie zitternd.
Da drehte Sigrid sich kurz um und ging ohne »gute Nacht« in ihr Zimmer. Iris aber schob leise den Riegel vor die Verbindungsthür, schloß die andere Thür, die in den Korridor führte, und sank dann erst aufatmend und wie befreit von einer unbestimmten, aber schrecklichen Furcht in ihr Bett. – –
Am anderen Morgen kam eine Botschaft von Sascha, welche die beiden Erlensteinschen Mädchen zu einem Gange ins San Marcokloster aufforderte, die Fresken des Beato Angelico zu sehen. Boris sei mit Miß Grant zum Pferdekauf – fügte das Briefchen vorsorglich hinzu. Iris bat indes, zu Hause bleiben zu dürfen, da der Kopf sie schmerze – in Wahrheit aber wäre sie heut' nicht imstande gewesen, die Meisterwerke des frommen Mönches unbefangen zu bewundern, heut', wo in wenigen Stunden ihr Schicksal sich entscheiden sollte! Sigrid folgte der Aufforderung Saschas, trotzdem die Kunst der alten Florentiner wenig Verständnis bei ihr fand. Vielleicht auch reizte sie der von ihr der Schwester verschwiegene Zusatz von Saschas Postkriptum: »– hoffe aber, daß Onkel Hochwald uns begleiten wird.« – Als sie nach zehn Uhr das Haus verließ, um zur Villa Chrysopras zu fahren, nahm Iris ihre Geige und ging damit nach oben, um mit ihrem Spiel den Vater nicht zu stören.
Während sie den Bogen über die Saiten gleiten ließ, legte sich das Klopfen ihres Herzens, und es wurde wieder ruhig, ganz ruhig in ihr. Der Bogen folgte wie immer willig ihren Träumen und Gedanken und gab ihnen Ausdruck in goldklaren Tönen, in süßen, schlichten, keuschen Weisen – dem Widerspiel ihrer reinen Seele, ihres eben erwachten jungen Herzens. Und diese laute, beredte, aber nur ihr verständliche Zwiesprache täuschte sie über die Zeit hinweg, daß sie es gar nicht merkte, wie die sonst in diesen Fällen so flügelschwere auf den Tonwellen dahinglitt. Was sollte sie auch um die Entscheidung bangen? Kam nicht der herrlichste Mann um sie zu werben? Mußte es den Vater nicht stolz machen, wenn sein kleines Töchterchen, sein Sonnenschein von ihm, von ihm begehrt wurde?
Sie lächelte glückselig bei dieser wundersamen Gewißheit, und ihre Geige jauchzte einen förmlichen Siegesmarsch.
Da wurde die Thür geöffnet und Sigrid trat ein.
»Wie, schon zurück?« fragte Iris erstaunt.
»Es ist ein Uhr,« erwiderte Sigrid trocken.
»Ein Uhr!« Iris strich mit der Hand über die Stirn – so hatte sie sich verträumt mit ihrer geliebten Musik?
»Ich hörte unten, Fürst Hochwald sei hier gewesen,« bemerkte Sigrid leicht, und Iris' erstaunte Augen über diese Nachricht sagten ihr überzeugender, als es Ubaldo schon gethan, daß sie den Besuch nicht gesehen, nichts von ihm gewußt.
Verwirrt und befremdet legte Iris ihre Geige in den Kasten und strich ihr Haar zurück; – er war hier gewesen und der Vater hatte sie nicht holen lassen?
Während des nun folgenden »Pranzo« war Graf Erlenstein still und in sich gekehrt und blieb es auch, als er später mit seinen Töchtern spazieren ging. Nur schien es der aufmerksamen Sigrid, als hefte er den Blick oft voll unendlichen Mitleids auf Iris, deren etwas blasses Gesicht und thränenschwere Augen eine solche außergewöhnliche väterliche Zärtlichkeit immerhin noch nicht zu rechtfertigen schienen. Aber weder Sigrid noch ihre Schwester, noch auch der Graf selbst thaten eine Frage – es schwebte wie Sturmwolken über dem kleinen Familienkreis, und keines von den dreien wußte, ob sie vorüberziehen oder losbrechen würden. Und so verstrich der Tag – verstrich eine lange, bange Nacht. – –
Sigrid hatte recht berichtet – Fürst Hochwald hatte sich gegen zwölf Uhr beim Grafen Erlenstein melden lassen, und dieser hatte den ihm lieben und verehrten Landsmann herzlich empfangen und die Rede auf den gestrigen Ausflug gebracht. Aber Hochwald hatte das Gespräch nicht aufgenommen.
»Herr Graf,« begann er, »mich führt heut' eine ernste Angelegenheit zu Ihnen – eine so ernste, daß davon das Glück meines Lebens abhängt.«
»Sie spannen mich aufs höchste, lieber Hochwald,« erwiderte der Graf erstaunt, indem er dem Gaste einen Sessel in die Fensternische rückte, in welcher er selbst lesend gesessen. Aber der Fürst nahm nicht Platz, sondern blieb, die Hand auf die Lehne des Stuhles gestützt, neben demselben stehen.
»Herr Graf, ich gebe mir die Ehre, Sie um die Hand Ihrer Tochter, der Gräfin Iris zu bitten,« sagte er feierlich – sichtlich tief bewegt.
Graf Erlenstein sah seinen Gast einen Moment wortlos an, dann sank er im Stuhle zurück und bedeckte das Antlitz mit beiden Händen, und es wurde so still im Zimmer, daß das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims wie Hammerschläge klang.
»Herr Graf, wie soll ich mir dies entsetzliche Schweigen deuten?« unterbrach der Fürst mit gepreßter Stimme die unerträglich werdende, beklemmende, Unheil verkündende Stille. Da ließ Graf Erlenstein die Hände von seinem Gesicht gleiten, dessen Züge tiefsten Seelenschmerz ausprägten, und trocknete mit zitternder Hand die kalten Schweißperlen von der Stirn.
»Ich preise Iris glücklich, daß sie Ihr Herz gewonnen,« sagte er endlich mühsam. »Aber ehe ich mich des Glückes dieses geliebten Kindes freuen darf, bin ich mit meiner Ehre verpflichtet, Ihnen ein Geständnis zu machen, das ich wiederum Ihrer Ehre als ein tiefes Geheimnis anvertrauen muß – –«
Fürst Hochwald nickte zustimmend, dazu bedurfte es keiner Worte. Aber warum wurde die Atmosphäre dieses Raumes plötzlich so schwer, so erstickend, warum brauste es plötzlich vor seinen Ohren und flimmerte es rot vor seinen Augen wie Blut? – –
»Iris ist nicht meine Tochter,« klang Graf Erlensteins Stimme gedämpft herüber.
»Nicht Ihre Tochter?« wiederholte Hochwald mechanisch.
»Nicht meine Tochter dem Fleische nach, aber doch mein Kind im Geiste und im Herzen,« fuhr Graf Erlenstein noch leiser fort. »Wünschen Sie zu wissen, wer sie ist?«
»Ja. Es ist mein gutes Recht,« war die mühsame Antwort.
»Iris ist die Tochter meiner Schwester Marie von Ravensberg.«
Da faßte die Hand Fürst Hochwalds die Lehne des Stuhles so krampfhaft, daß dieser umschlug, und dann preßte er einen Moment die Hand vor die Augen, als schwindelte ihm, und er lehnte sich gegen die Wand, blaß, hohläugig, gealtert um zehn Jahre. – –
Beide Männer schwiegen lange Zeit. Schließlich ergriff der Graf zuerst das Wort.
»Wir hatten das Kind – Marie Rose Iris – gleich zu uns genommen, als – als seine Mutter das Haus verließ,« begann er leise, wie in Erinnerung verloren; »und weil wir den Jammer nicht ausdenken konnten, dem das arme Wesen in der Welt ausgesetzt war, wenn es für alle sichtbar das Kainszeichen trug, so wagte ich einen Appell an des Königs Gnade. Mit dem vollen Einverständnis des allergnädigsten Herrn vollzogen wir den frommen Betrug, der ein junges Menschenleben vor Elend und Bitternissen bewahren soll – wir sprengten den Tod der kleinen, überzarten Marie Rose von Ravensberg aus und ließen sie unter ihrem dritten Taufnamen Iris auferstehen, als den Zwilling unseres einzigen Kindes Sigrid. Unser zurückgezogenes Leben in Kairo machte die Sache einfach genug – dort galt sie als unsere Älteste – an der italienischen Küste, wo wir dann jahrelang in tiefster Einsamkeit lebten, schmolz die Älteste mit der Jüngsten zum Zwillingspaar zusammen. Sie wissen es beide nicht anders, sie haben unsere Liebe redlich geteilt. Und so ist Iris denn erblüht im Sonnenschein, fern von dem furchtbaren Schatten ihres Ursprungs, und mein einzig Gebet ist täglich, daß sie nie erfahren möchte, wessen Kind sie ist. Dem Manne aber, der ihre Hand begehrt, der mir ein Bürge scheint für ihr Glück, bin ich's mit meiner Ehre verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.«
Fürst Hochwald neigte zustimmend das Haupt.
»Verzeihen Sie mir,« sagte er gewaltsam gefaßt, »der Schlag kam so plötzlich, so unvorbereitet – Gott allein weiß, wo er uns Starke der Erde treffen und zu Boden schmettern kann.«
»Ein nur zu wahres Wort,« erwiderte der Graf ernst. »Und,« setzte er zögernd hinzu, »und weiß Iris –?«
»Seit gestern – in der Villa Poggio,« antwortete Hochwald aufstöhnend. »Sie versprach, mein Dasein zu teilen, mein Sonnenschein zu werden –«
Er brach kurz ab.
»Arme, kleine Iris,« sagte Graf Erlenstein leise. »Arme, im Erblühen zum Verwelken verurteilte Menschenblüte! Sie wird ja vielleicht nicht gleich daran sterben, aber verwinden wird sie's nie. Sie ist so tiefinnerlich angelegt, wie – wie ihr Vater. Arme, kleine Iris!«
Fürst Hochwald erhob beide Hände, wie um diese peinigenden Worte nicht mehr hören zu müssen.
»Lassen Sie mich gehen, Graf, es allein zu verwinden,« bat er. »Ich bedarf der Sammlung –«
»Ja, gehen Sie,« erwiderte Erlenstein aufstehend. »Es nützt ja doch nichts, darüber zu reden. Iris wird es eben tragen müssen –«
Hochwald entfernte sich nach einem kurzen Händedruck und ließ den Grafen allein zurück mit seinen schmerzlichen Gedanken.
»In dem hab' ich mich auch getäuscht,« dachte er bitter, dem Fürsten nachblickend. »Ich hatte ihn für stärker gehalten, für vorurteilsfreier – für fester in seinen Gefühlen. Aber anderseits – habe ich denn ein Recht, all das für mein armes Sonnenscheinchen zu verlangen, darf ich denn überhaupt zu denken wagen, daß ein Mann, ein Edelmann, seiner Ahnentafel mit den tadellosen Wappenschilden den vom Henker gebrandmarkten Schild und den Namen mit dem Kainszeichen einfügen würde? Nein, ich bin ungerecht gegen diesen Mann, vor dessen Augen sich die Vererbungstheorie als ein schwarzes Gespenst aufrichtete, das er für seine Nachkommen nicht beschwören kann und darf. Arme, kleine Iris! Was sage ich ihr, wenn sie fragt –?« – –
Graf Erlenstein hatte dem Fürsten Hochwald in der That unrecht gethan. Nicht der Name Ravensberg, nicht die Vererbungstheorie hatten ihn für den Augenblick zu Boden geschmettert – Gedanken, Erinnerungen ganz anderer Art waren es, die furchtbarer, schmerzhafter an ihm nagten als der Geier an dem gefesselten Prometheus. Allein sein, allein, fort aus dem Geräusch der Großstadt – das war zunächst sein Streben. Aber wohin? Wo ist man allein? Da fiel ihm das Franziskanerkloster auf der Höhe in Fiesole ein – in seinen Hain verirrte sich selten ein Fremder. Er nahm einen Wagen und ließ sich hinaus fahren, ohne etwas von der Aussicht ins Thal, auf Berg und Stadt zu sehen, die der vielgewundene Weg dem Auge darbietet, und war froh, als der Wagen die Terrasse erreicht hatte und nun hielt. Dem Kutscher befahl Fürst Hochwald, auszuspannen und auf ihn zu warten; dann eilte er die Höhe hinan und atmete erst auf, als die Klosterpforte sich vor ihm öffnete und der Bruder Pförtner ihn mit freundlichem Lächeln einließ.
Der Tag war warm, im Lorbeer- und Cypressenhain aber war es kühl, und der Hauch tiefster Melancholie, der über ihm ruhte, that ihm Wohl und packte doch wieder seine Seele mit namenlosem Schmerz. Auf seinem Lieblingsplatz zu Füßen des Kreuzes sank er nieder und preßte das Antlitz in den moosigen Grund, um nicht laut aufzuschreien.
»Das nicht – nicht das!« stöhnte er. »O mein Gott, wie konntest du das geschehen lassen! War es nicht genug mit diesen zwanzig langen Jahren, muß ich's jetzt erst büßen, wo die Lichtgestalt dieses Kindes in mein Leben tritt, wo ein neues Leben sich mir lockend zeigt und ein namenloses Glück? Ist Menschenthun und Menschenbuße so sehr Spreu im Winde, so Stückwerk vor dem Allmächtigen, daß er da treffen muß, wo es am tiefsten schmerzt, am langsamsten und bittersten abtötet?« – Und fast erliegend unter den Schmerzen seiner Seele, klammerte er sich mit der Rechten an den Stamm des Kreuzes und preßte die Linke gegen die schmerzende Stirn.
»Es ist alles eitel – auch der Schmerz,« sagte da eine tiefe, ruhige Stimme hinter ihm. Es war der Superior des Klosters, der, im Haine sein Brevier betend, seinen unbekannten Gast beobachtet hatte. Der Angeredete stand auf und nickte ernst.
»Ich weiß, er endet mit dem Tode,« sagte er. »Aber bis dahin« –
»Bis dahin legen wir ihn als ein Opfer zu den Füßen des Kreuzes nieder,« entgegnete der Superior mild. »Wir sind zum Schmerze geboren, und für die meisten Menschen ist er notwendig, um durch ihn ihre Seele zu Gott zu führen und zur Erkenntnis Gottes. Hingegen ist es wahr, daß für andere das Glück dazu notwendig ist, denn sie finden in ihm den Weg zur Allgüte. Doch das Glück kann nur wenigen zum Heile gereichen.«
»Warum?« fragte Hochwald heftig. »Wenn wir glücklich sind, sollen wir Gott dankbar dafür sein – es ist also eine Gottesgabe, das Glück. Wie aber kann es das sein, wenn es nur wenigen zum Heile gereicht?«
Da trat der Superior einige Schritte beiseite und pflückte den Stengel einer Pflanze ab.
»Seht, mein Freund,« sagte er, »dies ist das Kraut des Stechapfels, der ein furchtbares, verheerendes Gift enthält. Und doch hat Gott auch diese Pflanze wachsen lasten, denn in der Hand des Arztes des Geprüften, des Wissenden wird es zum Heilmittel. Versteht Ihr den Vergleich?«
»Doch, mein Vater, und ich danke Ihnen dafür,« erwiderte der Fürst müde und gebrochen. Leider hat der Vergleich mit dem Glück keinen Bezug mehr auf mich, und eines Tages werde ich doch erscheinen und Sie um eine Ihrer leeren Zellen bitten.«
»Die Zelle könnt Ihr jederzeit haben,« sagte der Superior ruhig. »Aber dennoch – seid Ihr auch sicher, daß Euer Schmerz von Bestand ist? Nichts ist trügerischer als Schmerz und Freude, nichts ist flüchtiger als sie.«
Hochwald senkte den Kopf und dachte nach – nicht über die Beständigkeit seines tiefen Unglücks, denn dieses hatte sich ihm verbunden für dieses Leben, sondern es war ihm plötzlich der Gedanke gekommen, sich diesem schlichten Franziskaner mit den klugen, milden Augen anzuvertrauen. »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, mein Vater,« sagte er dann kurz entschlossen. »Habt Ihr Zeit, mich zu hören?«
Der Superior heftete seinen klugen Blick durchdringend auf seinen, wie ihm dünkte, recht seltsamen Gast.
» Ihre Geschichte, mein Sohn?« fragte er langsam.
»Sei es, meine,« erwiderte der Fürst nach einer Pause. »Es sind zwanzig Jahre her, daß ich mit jemand darüber gesprochen habe – im Beichtstuhle, Herr Superior – aber der Zweifel ist geblieben, das ist ein Stachel im Herzen, der nimmer ruhen will, und heut', heut' ist er so frisch wie am ersten Tage.«
»Wollen wir in die Kirche gehen?« fragte der Franziskaner zögernd.
»Nein,« antwortete Hochwald. »Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich im Beichtstuhle freigesprochen wurde, trotzdem ich nichts beschönigte, keine Falte meines Herzens undurchforscht gelassen habe.«
»Das Menschenherz ist trügerisch, mein Sohn. Es sucht und findet stets etwas, seine Fehler zu beschönigen.«
»Ich habe nichts beschönigt – im Gegenteil, ich habe schwärzer gemalt, als es war. Und nicht in diesem Sinne habe ich den Zweifel genährt zwanzig lange Jahre hindurch – mein Herz war damals zu sehr erschüttert, um unaufrichtig zu sein. Wollen Sie mich hören?«
Statt aller Antwort setzte sich der Superior auf die Rasenbank zu Füßen des Kreuzes.
»Ich höre,« sagte er einfach.
Und Hochwald erzählte, was er allein getragen seit so langer Zeit. Als er geendet, atmete er erleichtert auf – das hatte ihm wohlgethan. Der Superior hatte ihn mit keiner Silbe unterbrochen, doch als sein Gast geendet, da erhob er sich und trat, den Blick voll und bis in die Seele dringend, vor den Fürsten hin und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Können Sie beim Kreuze schwören, mein Sohn, daß Ihre Gedanken rein, Ihre Worte absichtslos waren?«
Hochwald trat einen Schritt näher und legte die Rechte wie zum Schwur auf den Stamm des Kreuzes, vor dem sie standen.
»Ich schwöre es beim Kreuze,« sagte er feierlich.
Und der Superior legte wieder die Hand auf die Schulter seines Gastes, und in seinen Augen glänzte es feucht.
So geh' hinab, mein Sohn,« sagte er mild, »geh' hinab, zurück in die Welt, wo dein Platz ist, und führe das liebliche Kind heim in dein Haus und singe Gott ein Halleluja, der es so gefügt, daß die schönste und herrlichste Sühne dir erwuchs in der Zeit deiner Buße!«
Lange noch weilte Hochwald oben im Klostergarten unter Cypressen und Lorbeeren im ernsten Gespräch mit dem Superior, und als er endlich zurückfuhr, da betrat er Florenz als ein Mann, der den Zweifel bekämpft und überwunden hat.
Trotzdem aber suchte er das Erlensteinsche Haus heut' nicht mehr auf, denn nach den seelischen Erschütterungen dieses Tages bedurfte er der Ruhe, um sein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen. Und dazu half ihm am besten der Gedanke an sein Glück. Wie pries er seinen Entschluß, sich dem Superior droben anvertraut zu haben – wie schlagend und wunderbar versöhnend hatte ihm der ergraute, weltfremde und doch so tief in die Seele blickende Mönch bewiesen, daß seine Zweifel Seifenblasen waren, die vor den Wahrheiten der Religion zergingen und zerflossen, und nun dünkte es ihm fast wunderbar, daß er es je anders als in diesem Lichte betrachtet.
Über Nacht kam dann ein großer Frieden über ihn, eine Ruhe, um die er so lange gerungen und die er doch nicht gefunden hatte. Als er am anderen Morgen, so zeitig, als es der gute Ton nur eben gestattete, am Erlensteinschen Palazzo die Glocke zog und dem anmeldenden Diener auf dem Fuße folgte, standen der Graf und seine beiden Töchter – denn so müssen wir sie doch wohl auch ferner nennen – schon angekleidet zum Ausgehen im Korridor, und die förmliche Meldung Ubaldos: » II principe tedesco« verhallte ungehört, da die hohe Gestalt Hochwalds gleichzeitig vor ihnen stand.
»Grüß Gott, lieber Fürst, wollen wir nicht in mein Zimmer treten?« fragte Graf Erlenstein, auf den das Erscheinen Hochwalds mächtig, weil gänzlich unerwartet, gewirkt. Aber Hochwald hörte nicht – sein Auge ruhte auf Iris, welche bleich, mit großen Augen und klopfendem Herzen am Treppengeländer lehnte, als müsse sie mit einer Ohnmacht ringen. Da trat er zu ihr heran, nahm sie in seine Arme und lehnte ihr blasses Köpfchen sanft an seine Brust, wie man ein krankes Vögelchen bettet, und so trat er mit ihr vor den Grafen hin:
»Darf ich sie behalten? Wollen Sie mir Iris geben?« fragte er mit dem nur ihm eigenen, warmen und liebenswürdigen Ton.
Graf Erlenstein sah ihm tief, tief in die Augen, in diese offenen, ehrlichen Augen, die den tiefsten Grund seiner Seele wiederzuspiegeln schienen.
»Marcell, Sohn meines Herzens – mach' sie glücklich, glücklich,« sagte er tiefbewegt.
Und nun traten sie wirklich zurück in des Grafen Zimmer, in welchem sich Hochwald aufatmend umsah. »Wie anders heut' als gestern,« dachte er, nach der Fensternische blickend, in welcher er gestern den Schlag empfangen, den er für den härtesten des Schicksals gehalten. Und nun hatte sich ihm auch der in Segen verkehrt!
Nachdem er Iris freigegeben, hatte diese sich wortlos an die Brust dessen geschmiegt, der ein Vater für sie gewesen, solange sie lebte, den sie als Vater liebte.
»Ist es sehr, sehr undankbar von mir, daß ich ihn so lieb habe und dich verlassen will?« flüsterte sie ihm unter Thränen des Glückes zu.
Graf Erlenstein strich ihr liebkosend über das lichte Blondhaar, von dem sie den Hut wieder abgenommen. »Du folgst dem Naturgesetz und einer urewigen Bestimmung, mein Sonnenscheinchen,« sagte er weich. »Es macht mich ja so glücklich, weil du die beste Wahl getroffen, weil du selbst so glücklich bist!«
Da umklammerte Iris noch einmal stürmisch den Hals des Grafen und küßte seine herabgeneigte Wange, und dann flog sie auf Sigrid zu, die stumm und steif neben der Thür stand wie ein Automat, den jemand vergessen hat aufzuziehen.
»O Sigrid, ich bin so überselig,« sagte sie leise, indem sie die Schwester umarmte, »und darum sei mir nicht böse, daß ich nicht früher gesprochen, dir nichts anvertraut habe. Denn siehst du, ich hätte es nicht über die Lippen gebracht, solange es nicht mein Geheimnis allein war!«
»Ich gratuliere,« erwiderte Sigrid laut und maschinenhaft. »Ich gratuliere,« wiederholte sie, dem Fürsten die Hand reichend, durch deren Handschuh man die eisige Kälte derselben verspüren konnte. Und zum drittenmal sagte sie: »Ich gratuliere,« indem sie die Wange ihres Vaters küßte, der sie herzlich umarmte.
»Nun bleiben wir allein, Sigrid – es wird sich kaum das Wirtschaften lohnen,« scherzte er, »allein, bis auch du dem guten Beispiel deiner Schwester folgst!«
Aber Sigrid sagte nur noch einmal: »Ich gratuliere,« mit derselben automatenhaften, ausdruckslosen Stimme, und dann verließ sie das Zimmer – ruhig, langsam, beinahe lächelnd. – – –
»Papa, Sigrid ist gewiß krank,« rief Iris beunruhigt. »Sie ist schon seit mehreren Tagen so sonderbar – wie sie niemals war!«
»O Iris, auch du warst so blaß wie ich kam,« meinte Hochwald; aber eine rosige Röte, die sich über ihr reizendes Gesicht ergoß, behauptete jetzt siegreich das Gegenteil.
»Das machte, weil ich zwei Nächte lang so ängstlich geträumt hatte, und weil – weil ich doch wußte, daß du gestern hier warst und wieder fortgegangen bist,« gestand sie stockend. »Und Papa sah mich immer so mitleidsvoll, so traurig fast an – und – und da glaubte ich mein Glück wäre dahin und du kämst nicht mehr wieder! Aber ich war zu feig, um eine Frage zu thun, aus Furcht, daß es wahr sein könnte.«
Da wechselte Hochwald mit dem Grafen einen Blick, der bei letzterem deutlich sagte: »Gottlob, daß sie nicht gefragt – was hätte ich antworten sollen –?« und dann verließ auch er das Zimmer, um den Verlobten den ersten Austausch ihres Glückes unter vier Augen zu gönnen.
Sigrid aber war die Treppe hinabgestiegen und auf die Straße getreten – sie hatte keine Absicht, irgend ein Ziel zu verfolgen, sie mußte nur hinaus, denn die Steinmauern des alten Verschwörerpalastes schienen auf sie herabstürzen zu wollen. In die Via del Proconsolo einbiegend, ging sie äußerst langsam, fast feierlichen Schrittes weiter, bis sie vor dem Bargello stand, an dessen Portal eben ein Wagen vorfuhr. Hatte da nicht jemand »Sigrid« gerufen? Um Gottes willen, jetzt keine Bekannte sehen – jetzt nicht! Die Thür zur Kirche der Badia, dem Bargello gegenüber, stand offen – – ein paar hastige, schnelle Schritte, sie schloß sich hinter ihr, und Sigrid stand in der alten Klosterkirche, noch ganz atemlos und nicht wissend, wohin sich zu wenden. Am Hochaltar wurde eben die letzte, stille Spätmesse an diesem Morgen gelesen, und nur wenige, hie und da zerstreute Andächtige knieten vor ihren Strohstühlen. Durch die Luft schwebte es noch schwer duftend vom Weihrauch, und die Sonne schien hell durch die gemalten Scheiben – da sah Sigrid zur Linken eine Kapelle geöffnet, die leer schien – dorthin schritt sie leise, und da sie sich wirklich hier allein fand, sank sie auf einen geschnitzten Betstuhl in einer halbdunkeln Ecke nieder und legte die glühende Stirn auf ihre Hände. – –
Über ihr auf dem Altarbilde lächelte die lieblichste Madonna des Filippino Lippi auf den verzückten St. Bernhard herab, dem sie als eine himmlische Vision erscheint – Sigrid sah nichts von dem bewunderten, vier Jahrhunderte alten Meisterwerk, dem Stolz der Badia, sie spürte nichts von dem Gottesfrieden, der hier schwebte und webte, sie hörte auch nicht das Glöcklein des Ministranten vor dem Hochaltar, das zum Sanctus läutete – sie spürte nur das Pochen in ihren Schläfen und den stockenden Schlag ihres Herzens, und statt andächtig sich zu sammeln, tanzten ihre Gedanken einen wilden, rasenden, unheiligen Reigen. – –
Sie fühlte plötzlich, wie ihre Gedanken zurückwichen, wie ihre Glieder schwerer wurden und eine seltsame Willenlosigkeit über sie kam. Es war ihr, als müßte sie ihre fliehenden Gedanken haschen und zurückhalten, aber die wichen immer weiter, weiter, in eine unabsehbare Ferne – da raffte sie ihre letzte Willenskraft zusammen und hob den Kopf, um – mit ihren Augen dem starr auf sie gerichteten Blick des Cavaliere Spini zu begegnen, der in der Thür zur Kapelle stand und auf sie hinschaute.
Die Kapelle schien sich im tollen Reigen um sie herumzudrehen – sie streckte die Arme aus, wie um sich zu halten – vergebens – sie fühlte sich sinken – aber noch ehe sie den Boden berührte, hatte der Cavaliere sie aufgefangen und ließ sie an einem Fläschchen mit englischem Salz riechen. Das brachte sie im Moment zu sich, aber noch ganz bebend kauerte sie auf dem Kniebrett ihres Betstuhles nieder, das Gesicht verstört, den Blick seltsam wirr geradeaus gerichtet.
»Sie sind ein gutes Medium für hypnotische Experimente, aber Sie haben auch viel Willenskraft,« sagte Spini nach einer Weile flüsternd. »Ich hatte nicht einmal gewollt, daß Sie aufsehen sollten – nein, fürchten Sie nichts,« setzte er hinzu, als Sigrid eine entsetzte Bewegung machte, »ich wiederhole das Experiment nicht.«
Wieder war alles still, und Sigrids Atem ging schwer; – da lehnte der Cavaliere sich an den Betschemel an und beugte sich tiefet herab zu ihr.
»Warum sind Sie in eine Kirche gegangen, wenn Sie aus dem Brevier des Teufels beten wollen?« flüsterte er ihr zu, und obgleich sie zusammenzuckte, sah sie doch nicht auf – was las dieser entsetzliche unheimliche Mensch in ihren Gedanken? Und dennoch konnte sie einer immer heftigeren Versuchung nicht widerstehen – hier, hier hatte sie vielleicht das Mittel gefunden, um – –
Sie erhob sich mühsam und kniete wieder auf dem Betstuhl nieder, so daß das Ohr Spinis dicht an ihrem Munde war, da er immer noch auf der anderen Seite an dem Pulte lehnte.
»Meine Schwester hat sich vorhin verlobt – mit dem Fürsten Hochwald,« flüsterte sie.
»Ah – eine edle, eine gute Verbindung zweier alter Häuser,« erwiderte Spini ebenso. »Das wird immer seltener in der Welt!«
»Diese Verbindung darf nicht stattfinden – ich will es nicht!« – stieß Sigrid sprühenden Blickes heraus.
»Warum?« war die kühle Frage des Cavaliere darauf.
»Weil – weil –.« Der Atem stockte ihr so, daß sie nicht weiter sprechen konnte.
»Sie brauchen mir das Warum nicht zu sagen, ich weiß es,« sagte Spini dicht an ihrem Ohre sehr ruhig. »Gestern noch hätte die Erkenntnis, daß Sie, Sigrid, den Fürsten Hochwald lieben, mich wahnsinnig gemacht – heut' nicht mehr. Nicht mehr nach dieser Nachricht. Ich fühle ja mit Ihnen, wie es thut, wenn man liebt und keine Gegenliebe findet, – aber –«
Er vollendete nicht, denn wieder blickte Sigrid auf zu ihm mit eigen glitzernden Augen.
»Wenn Sie mich wirklich lieben, wie Sie sagen, so verhindern Sie diese Heirat,« flüsterte sie mit heißem Atem.
Er fuhr zurück, daß er nun neben dem Pulte stand.
»Wenn Sie mich wirklich lieben!« wiederholte er langsam für sich. »O, über den Dämon im Weibe, der zweier Menschen Lebensglück zertrümmern will, weil sie nicht des einen Erwählte ist! Wir leben aber nicht mehr in Cinquecento, dem Zeitalter der Erbschaftspulver und der Aqua Toffana! Wie soll ich denn diese Heirat verhindern? Kenne ich ein Ehehindernis?«
»Suchen Sie eines,« flüsterte Sigrid.
»Das Leben Ihrer Schwester liegt Tag für Tag offen vor Ihnen – dort werden Sie wohl vergebens suchen! Nun, und der Fürst sieht nicht aus, als ob er ein Skelett im Hause hätte,« erwiderte Spini ebenso leise. »Was dann?«
»Dann? Was weiß ich –? Helfen Sie mir, helfen Sie mir diese Heirat verhindern um jeden Preis!« hauchte Sigrid schwer atmend.
»Um jeden Preis!« wiederholte er wieder mit eigentümlicher Betonung. »Sehr verbunden, Signorina! Bin ich ein Bravo?«
Bei diesem Worte fuhr sie auf, zitternd, bleich, entsetzt. »Ein Bravo –?!« stammelte sie.
»Nun ja! Was scheuen Sie den Ausdruck, wenn Sie doch die Meinung haben?« fragte Spini kühl. »Ein Bravo erhielt Geld für seine – Arbeit. Was soll ich erhalten?«
Sigrid kniete wieder hin und barg das Antlitz in den Händen – es schwindelte ihr – – was hatte sie gesagt? Mehr noch, was hatte sie gedacht, daß dieser Mensch dort es ihr von der Stirne las?
»Was versprechen Sie mir, wenn ich thue, was Sie wollen, wenn ich diese Heirat verhindere?« fragte Spini dicht an ihrem Ohre nach einer Pause.
Da erhob sie den Kopf und sah scheu um sich.
»Ich habe kein Geld – nur die Juwelen meiner Mutter –« begann sie, aber er sah sie so flammenden Blickes an, daß sie sogleich verstummte.
»Weib,« sagte er heiser, »es giebt Dinge, die auch die Geliebte seines Herzens keinem Manne sagen darf! Bin ich Ihnen wirklich nur der Bravo, der die schmutzige Arbeit für Sie thun soll und dem Sie dafür Ihre elenden paar Juwelen hinwerfen? O still! Und hätten Sie die Schätze der Semiramis – ich würde Sie auch elend nennen! Doch nein – das war nicht Ihre Meinung, und Sie haben sich nur gescheut, das rechte Wort auszusprechen, mir den rechten Preis zu nennen, und dessenwillen ich Ihnen das Licht der Sonne oder die Finsternis des Grabes herbeischaffen würde – der Preis Ihrer Hand, Sigrid?«
»Nein – nein – nein!« ächzte sie entsetzt und so laut, daß ein paar Beter im Schiff der Kirche sich verwundert umsahen. Spini richtete sich hoch auf und nahm seinen Hut von dem steinernen Sims herab.
»Nein – dreimal nein!« zischte er ganz blaß und sprühenden Blickes auf sie herab. »Nun, so wünsche ich Ihnen Glück, Contessina! Vielleicht – finden Sie noch ein zweifelhaftes Individuum, das Ihren Wunsch erfüllt – für Geld. Ich danke Ihnen für Ihre gute Meinung und wünsche Ihnen eine gesegnete Andacht. Buon 'giorno, madama!«
Und damit glitt er leise, wie er gekommen, aus der Kapellenthür. Sigrid sprang auf und machte ein paar Schritte vorwärts, um ihn zurückzuhalten – dann sank sie aber kraftlos in die Kniee.
»Ich kann's nicht,« stöhnte sie. »Das wäre ja nur Rache, gemeine niedrige Rache! Ich will mich nicht rächen was hätte ich davon? Hätt' ich Isoldens Liebestrank – doch nein, es war ein Todestrank, den sie ihm reichen wollte und den die weichherzige Brangäne mit dem Liebestranke tauschte – – und neben Tristan stand keine Iris. Und Iris ist meine Schwester. Kann man seine Schwester hassen. O Gott, mein Gott, wohin verirre ich mich – hilf du mir in dieser Herzensnot, hilf mir vor mir selber, vor meinen Gedanken, vor meinen Wünschen – – kann sie dafür, daß sie sein Herz gewann und nicht ich? Hilf mir, mein Gott, hilf mir, daß der Böse nicht den Sieg gewinnt –«
Und so betete, lästerte, weinte und flehte sie, bis endlich die tiefe Stille ringsum sie mahnte, daß es Zeit sei, heimzukehren. Sie nahm ihre ganze moralische Kraft zusammen, um ruhig zu scheinen, und es gelang ihr, denn sie war keine von denen, auf deren Antlitz man jede seelische Regung liest. Als sie dann durch die Kirche schritt, in der die Mittagsstille brütete, und hinaustrat auf die Straße, da sahen ihre regelmäßigen, immer etwas kalten Züge so kühl und ruhig aus, als hätte nie ein Sturm in ihrer Seele getobt und dieselbe aufgewühlt bis zum Grunde.
Und doch, trotz aller äußeren Ruhe stürmte es weiter in ihr – kein Gewittersturm, der die Luft reinigt und erfrischt, kein Orkan, der biegend oder brechend über Land und Wasser braust, das war ein Sturm, der vernichten muß, sei es, was es sei. – –
Als sie nach wenigen Minuten den Palazzo wieder betrat, flog Iris die Treppe herab ihr entgegen – strahlendes Glück in den süßen dunkeln Veilchenaugen, und den Widerschein ihrer inneren Seligkeit im liebreizenden Antlitz.
»Sigrid, Sigrid! Wo bist du gewesen? Ich habe mich so sehr um dich geängstigt!« rief sie der Schwester entgegen.
»Ich hatte Kopfweh und bin spazieren gegangen,« erwiderte Sigrid herb, trotzdem sie zu lächeln versuchte.
»Ach, du Arme!« sagte Iris und drückte ihre rosige Wange gegen die erbleichende ihrer Schwester. Und dann küßt sie zärtlich diese Wange und flüsterte: »Nicht wahr, Sigrid, es ist alles zwischen uns wie früher, wie noch vor wenig Tagen, wo du noch so viel Geduld, so viel Liebe für mich hattest! Ja?«
Heiße Thränen schossen in Sigrids Augen bei diesen herzlichen Worten, und stumm küßte sie Iris' Stirn und drückte das blonde Köpfchen gegen ihre Brust.
»Hab' Nachsicht mit nur und Mitleid, du Gute, Sanfte,« bat sie leise. »Ich bin krank – krank, und weiß oft nicht, was ich rede – –«
»Still, Sigrid, still! Ich mache dir ja keine Vorwürfe und will dich gewiß schonen und pflegen mit aller Liebe,« erwiderte Iris herzlich. Und wieder küßte Sigrid ihre reizende Schwester aus vollem Herzen – der Dämon war gewichen, und sie fühlte nur, daß sie Liebe fand und der Genossin ihres jungen Lebens Liebe spenden durfte. Doch die Gegenwart zerstörte mit dem nächsten Worte schon jede gute Regung, jedes weichere Gefühl.
»So – jetzt bist du wieder meine liebe, alte Sigrid,« rief Iris fröhlich, »die Sigrid, deren Rat und Hilfe ich so nötig brauche. Komm,« – und sie stieg, die Schwester umfassend, mit dieser die Treppe hinan. »Denke dir, während du fort warst, sind wir, das heißt Papa, Marcell und ich, zu Madame Chrysopras gefahren, damit ich ihr als Schwägerin vorgestellt werde. Ist das nicht drollig, daß ›der süße Boris‹ und Sascha mich jetzt Tante nennen? Aber sie waren alle so reizend nett und herzlich zu mir – wirklich! Und nun denke dir, Madame Chrysopras – oder Olga, wie ich sie jetzt nennen muß – sie hielt eine lange, sehr drollige Rede über den Nachteil eines langen Brautstandes – das sei ein zweifelhafter Genuß für das Brautpaar und dessen Umgebung, und Marcell meinte, er hätte überhaupt keine Zeit zum Warten – – aber was ist dir, Sigrid? Bist du wieder krank?«
»Nichts, nichts! Es ist schon wieder vorbei.«
»Du Arme! Ja, und Papa fügte sich und erklärte sich überstimmt, und so wurde unsere Hochzeit auf den ersten Mai festgesetzt. Unsere Hochzeit, denke nur, Sigrid! Und Madame Chrysopras, Olga meine ich, wird meinen Trousseau besorgen – da ist sie ganz in ihrem ff – das heißt Leibwäsche und Toilette, alles andere ist ja auf Hochwald aufgespeichert, Marcell sagt, massenhaft. Nur einige Silbergeräte mit meinem Wappen bringe ich mit in den Silberschatz des Majorats, das ist so Sitte in der Familie – – aber am ersten Mai, Sigrid! Wenige Wochen noch, und ich bin eine Frau, seine Frau! Mir ist's immer noch, als träumte ich und müßte erwachen und – – kann es denn wirklich sein, Sigrid, kann er, der reiche, herrliche Mann, der die Wahl hatte unter den Besten, Schönsten, kann er mich gewählt haben, deine arme kleine Iris mit ihren vielen, vielen Fehlern, ihren zahllosen Unvollkommenheiten? Ist's möglich, ist's wahr und kein Traum?«
Sie waren während dieses Geplauders hinaufgelangt in ihre Mädchenzimmer, und dort stand Iris vor ihrer Schwester mit ihren vor innerer Bewegung feucht gewordenen Augen, mit gefalteten Händen und den demütigen Worten auf den Lippen – und wieder schmolz Sigrids Herz, und wieder drückte sie einen Kuß auf Iris' Wange.
»Er hätte keine Bessere wählen können als dich,« sagte sie gerührt.
Aber als Iris gegangen war, da wich auch der gute Geist wieder von ihr.
»Judas! Judas!« stöhnte sie mit gerungenen Händen. »Ich habe mit einem dreifachen Kusse dreimal meine Schwester verraten! Nein, er konnte keine Bessere wählen, als sie, und doch, und doch, nicht ihn kann ich hassen, nicht ihn –«
*
Das waren nun bewegte, geschäftige Wochen, die der Verlobung des Fürsten Marcell Hochwald mit der Gräfin Iris Erlenstein folgten, bewegt und geschäftig, wie eben nur ein so kurzer Brautstand verlaufen kann, während man an tausend Dinge zu denken hat. Dies besorgte nun freilich Madame Chrysopras unter Sigrids Beihilfe allein – sie beriet, prüfte und wählte wie eine wirkliche Brautmutter nur kann – ja, sie reiste sogar selbst nach Hochwald, um dort alles zum Empfange der jungen Frau zu rüsten, denn weiter als bis in die Heimat sollte die Hochzeitsreise nicht gehen. Sehr befriedigt von dem Resultat ihrer Inspektion von Schloß, Silber-, Wäsche-, Porzellan- und Gläserkammern kehrte Madame Chrysopras nach Florenz zurück und nahm ihre dortige Thätigkeit wieder auf.
Für das Brautpaar selbst verstrichen diese Florentiner Frühlingswochen wie ein schöner Traum. Der Aufenthalt in der schönen Fremde gab ihren Bewegungen weit mehr Freiheit, als wenn sie in Deutschland gewesen wären, und wenn sie in des Grafen oder Saschas Gesellschaft die Kunstschätze der Blumenstadt bewunderten oder die Gegend durchstreiften in ganzen Tagespartien, so waren dies Stunden höchsten geistigen Genusses, Stunden reinen, ungetrübten Beisammenseins, wo Geist und Herz reiche Nahrung fanden und ihre Seelen auf ungezählten Brücken gemeinsamer Interessen sich trafen und ineinanderflossen.
Sigrid war selten bei diesen Ausflügen beteiligt. Sie sah und fühlte nur zu wohl die geistige Verwandtschaft, die Iris mit ihrem Verlobten verband, und sie fühlte sich selbst dabei wie durch eine hohe Mauer von beiden getrennt. Geistig nicht arm, in vielem sogar reich, fehlte ihr doch die warme Begeisterung, die Iris für alle geistigen Interessen hatte. Und doch hatte auch Sigrid mit Fleiß an ihrer geistigen Bildung gearbeitet, immer überflügelt von der warmherzigen Begeisterung, mit der Iris vorwärtseilte. Marthas Fleiß – Marias Glut. Darin eben lag der Unterschied, die himmelweite Kluft.
Mit Spini hatte Sigrid kein Wort mehr über jene Scene in der Kirche der Badia gewechselt. Er sprach nach wie vor im Erlensteinschen Hause vor und wurde höflich empfangen, ohne irgendwie ermutigt zu werden in seiner Verehrung Sigrids; auch in der Villa Chrysopras traf er oft mit dem Grafen und seinen Töchtern zusammen, widmete sich jedoch dort mehr der strahlenden, armen Sascha, welche übrigens Iris' Porträt im Brautkranze und Schleier, duftig und zart wie ein Gedicht, heimlich als Hochzeitsgabe für ihren Onkel malte.
»Eine rechte Kunst, wenn man mit Liebe malt,« pflegte sie freudestrahlend zu sagen, wenn Spini, den sie eingeweiht hatte in ihre »Überraschung«, ihr Werk lobte, aus Überzeugung lobte. Da Iris natürlich jeden Morgen mindestens eine Stunde »sitzen« mußte, so war Fürst Hochwald sich über die Natur der Überraschung nicht sehr im unklaren, nur das Wie, die Ausführung blieb ihm als solche vorbehalten.
Graf Erlenstein sonnte sich sichtlich im Glücke des Kindes, das er zu seinem eigenen gemacht, von dem er selbst nicht mehr empfand, daß es sein eigen Fleisch und Blut nicht war. Wenn er trotzdem stiller ward als ehedem, so war das nicht der Egoismus der bevorstehenden Trennung von seinem »Sonnenschein« – er fühlte sich vielmehr leidend und gestand dies auch Sigrid, die ihn oft bis spät in die Nacht schreibend fand und ihn bat, sich zu schonen.
»Wer weiß, ob mir noch Zeit bleibt. Ich habe manches zu ordnen!« hatte er mehrmals gesagt.
Schließlich verging die Zeit wie im Fluge, und der Florentiner Frühling erreichte den Höhepunkt seiner Schönheit. Es war am Vorabend des ersten Mai und um die Dämmerzeit. Iris und Sigrid saßen im Zimmer der letzteren, beide nachdenklich und wenig redend; die junge Braut in der feierlichen, gehobenen Stimmung, die so wohl zum Vorabende ihres Ehrentages paßte – Sigrid müde, traurig und schweren Herzens, in dem sie vergeblich, wenn auch ehrlich kämpfte mit den Dämonen der Eifersucht, des Neides und Hasses, die ihre wilden, lauten Stimmen um so höher erhoben, je näher die Stunde rückte, in welcher Marcell Hochwald und Iris verbunden werden sollten fürs Leben. Ubaldo hatte geräuschlos die Lampe auf einen Seitentisch gestellt und die Jalousien herabgelassen. Iris saß auf einem niederen Sessel, die schlanken Hände nach rückwärts unter dem Kopf verschränkt und träumte mit weit offenen Augen von Myrten, Weihrauch und Brautliedern, vom Meere, das ihre neue Heimat umspülte und von ihm, der sie so überselig gemacht. – –
Sigrid saß in der Sofaecke und sah geradeaus, und da die Lampe sie blendete, stand sie auf und breitete einen roten Schleier über die Glocke, der das Zimmer alsbald in ein rosa Dämmerlicht hüllte und das weiße Kleid von Iris wie mit Abendröte überhauchte. Es war ein liebliches Bild, und Sigrid mußte gleich daran denken, wie es ihn entzücken würde, wenn er bald eintreten wird, und –
Mit einem Ruck riß sie den roten Schleier wieder von der Lampe, warf ihn in ein Schubfach und suchte in demselben herum, bis sie einen grünen Schleier fand, den sie nun über die Lampenglocke breitete. Das Licht that ihren Augen wohl; es glich dem Mondschein, so mild war es, so gedämpft und magisch – und ihre Augen suchten wieder Iris, deren Kleid jetzt grünlich beleuchtet war wie ihr Gesicht, und wenn ihre offenen Augen nicht gewesen wären, man hätte sie können für tot halten, so sehr nahm das grüne Licht die Lebensfarbe von ihrem zarten und doch so lebensfrischen Gesicht.
Tot! Wenn sie wirklich tot wäre, heute stürbe, am Vorabend ihrer Hochzeit –! Sigrids Herz stockte bei diesem Gedanken, und neben der Lampe stehend, mußte sie unverwandt hinsehen auf das ihr zugewendete zarte Profil von Iris, das sich an dem dunkeln Blau des Sessels wie aus Alabaster geschnitten abhob. Tot –! Was würde Marcell Hochwald sagen, was thun, wenn er heut' Abend käme und seine Braut tot fände? O, sein Schmerz würde ihr Sigrid, die Seele zerfleischen, aber ihre Sympathie würde ihn stützen, ihn trösten, und am Ende würde sein Herz sich der schönen Trösterin zuneigen, vielleicht vorerst nur, um mit ihr von der Verklärten zu sprechen, und dann – wer weiß! dann auch in Liebe –
Drüben im Sessel seufzte Iris tief, tief und ließ die Arme herabsinken und den Kopf rückwärts auf die Lehne des Sessels gleiten – die Augenlider sanken ihr herab und schlossen fast ganz diese veilchenblauen Augen, in die er immer so entzückt hineinsah, als könnte er sich nicht satt daran sehen – –
Aus Sigrids lichtblauen Augen, die eher den Vergleich mit Türkisen als mit dem sanften Vergißmeinnicht herausforderten, schoß ein fast roter Blitz hinüber auf das stille blasse Gesicht im Lehnsessel, und dieser Blitz schien zu erstarren und zu fixieren.
Iris machte eine Handbewegung, wie um etwas von sich abzuwehren, aber ihre Hand sank schwer und willenlos herab, die Lider schlossen sich, und ihre Züge nahmen eine eigentümliche Bewegungslosigkeit an – –
Mit angehaltenem Atem, den Oberkörper vorgebeugt, stand Sigrid da und sah unverwandten Blickes hinüber – – konnte ein Wunsch, eine Idee schon töten? War Iris tot? Sie lag im Sessel, ohne sich zu regen, kein Atemzug war hörbar, alles still, still wie der Tod –! Oder täuschte nur das grünliche Licht – –? Langsam, lautlos, wie gebannt schritt Sigrid vor, bis sie neben der regungslosen weißen Gestalt stand. Die weißen Rosen, die Iris heut' an die Brust gesteckt hatte, dufteten schwül und stark, kein Atemzug bewegte ihre Brust, und war's nur der grüne Lampenschleier, oder lag auf den stillen, sanften Zügen wirklich jene Farbe des Todes? – –
Entsetzen faßte Sigrid – wie, wenn ihre sündhaften, mörderischen Gedanken Erhörung gefunden hätten? Sie wollte Iris' Namen rufen, aber die Zunge versagte ihr, sie wollte die Stirn der Schwester berühren, aber sie vermochte nicht einen Finger zu rühren. Da klopfte es diskret an die Thür – Gott, o Gott, wenn Marcell Hochwald jetzt schon käme –! Schleppenden Schrittes trat Sigrid hinweg von dem Sessel – wie sollte sie ihm entgegentreten, wie sich vor ihm verbergen? Aber es war nicht Marcell Hochwald – es war der Cavaliere Spini, der jetzt, nachdem er noch einmal geklopft, die Thür öffnete.
»Verzeihen Sie, meine Damen,« sagte er eintretend. »Der Graf, bei dem ich mich melden ließ, schickte mich hierher – er wollte mir bald folgen –«
Noch ehe er ausreden konnte, stand Sigrid schon neben ihm, blaß, verstört, mit irrem Blick.
»Sehen Sie, dort – Iris!« flüsterte sie. »Ist sie tot?«
Spini warf einen prüfenden Blick auf Sigrid, die mit ihren starren, kalten Händen wild seinen Arm umklammerte, und trat, sie mit sich ziehend, neben den Sessel hin, in welchem Iris mehr lag als saß.
»Was ist mit ihr geschehen?« fragte er, sich über sie beugend.
»Nichts. Ich habe sie angesehen, und dabei ließ sie die Arme sinken und schloß die Augen –«
»Angesehen! Nur angesehen, ohne etwas zu denken, ohne etwas zu wollen?« fragte der Cavaliere langsam.
Sigrid fuhr zurück wie getroffen.
»Wie kann man es verhindern, zu denken?« fragte sie heiser zurück.
»Und in diesen unvermeidlichen Gedanken, was haben Sie gewollt?« fuhr er mit scharfer Betonung fort und wieder stellte Sigrid eine andere Frage dagegen:
»Ist sie tot?«
Spini heftete einen seltsam forschenden Blick auf Sigrid und fuhr mit der rechten Hand leicht über Iris' Stirn. »Nein,« sagte er, ruhig, »sie ist nicht tot. Dazu reicht der menschliche Wille zum Glück nicht hin.«
»Wie können Sie wagen –,« fuhr Sigrid auf; aber ehe sie vollendet, senkte sie den Blick vor den voll auf sie gerichteten Augen des Cavaliere, und mit gänzlich verändertem Tone fügte sie hinzu: »Schläft sie?«
»Ja, sie schläft – aber einen künstlichen, unbewußten Schlaf,« erwiderte Spini. »Sie haben Ihre Schwester hypnotisiert, Gräfin – sie ist willenlos, ein bloßes Werkzeug. Warum nützen sie das nicht aus?«
»Hypnotisiert!« wiederholte Sigrid, wie aus einem Traum erwachend. »Ich hatte gar nicht gewußt, daß ich das in meiner Gewalt habe! Wie soll ich es ausnutzen? Soll ich Iris Kunststücke machen lassen? O, das ist unwürdig!«
»Es giebt noch anderes –«
»Ihr etwas zu befehlen, im wachen Zustande zu thun, als ob es aus ihrem eigenen Willen entspränge –? Herr des Himmels, führen Sie mich nicht in Versuchung,« stöhnte Sigrid.
Spini lächelte seltsam.
»Ist der Dämon in Ihnen so stark, daß er eine Versuchung, eine Falle in jedem absichtslosen Worte findet?« fragte er. »Woran denken Sie? An ein Verbrechen? Und ich Ihr Berater, Ihr Mitwisser dazu? Sonderbare Logik! Ich meinte anders! Sie wollten ja so gern einen wunden Punkt in Fürst Hochwalds Vergangenheit wissen – nun, dies wäre doch die beste Gelegenheit, durch dieses Medium zu erfahren, ob überhaupt auch nur ein Schatten den Charakter jenes Mannes trübt. Legen Sie einen Gegenstand in die Hand Ihrer Schwester, der dem Fürsten gehört hat oder von ihm stammt. Und dann fragen Sie, vorausgesetzt, daß –«
Er stockte, doch Sigrid achtete nicht darauf. Ihr Blick irrte im Zimmer umher und blieb schließlich an Iris' linkem Handgelenk hängen, das ein dickes, schlichtes, goldenes Kettenarmband umschloß, von welchem ein goldener St. Georgsthaler herabhing. Diese Münze hatte Fürst Hochwald an der Uhrkette getragen und für Iris an ein Armband hängen lassen, da sie einmal den Wunsch geäußert, einen Georgsthaler zu besitzen. Sigrid kettete das Armband von dem Handgelenk ihrer Schwester los, legte die Münze in ihre Linke und dann die herabhängende Rechte darüber. Dann blickte sie mit fieberhaft erwartungsvollen Augen zu Spini auf.
»Und nun?«
»Nun fragen Sie!«
»Ich weiß nicht, wie ich's anfangen soll,« sagte sie unsicher. »Fragen Sie, bitte!«
Wieder lächelte er sein eigentümliches Lächeln.
»Wie Sie befehlen,« sagte er indes. Dann machte er mit beiden Händen streichende Bewegungen in der Nähe von Iris' Stirn und Schläfen. »Sehen Sie!« befahl er ihr dann mit großer Sicherheit.
»Ich sehe,« sagte Iris mit jener fremdklingenden Stimme, die immer ein Resultat jener Experimente ist.
»Sagen Sie, wen Sie sehen.«
Iris bewegte den Kopf unruhig hin und her, dann lächelte sie.
»Marcell!« rief sie ganz glücklich.
»Wo ist er? Allein?«
»Er steht in einem Blumenladen,« fuhr Iris fort. »O, er wählt Blumen für mich! Die Verkäuferin zeigt ihm Kamelien – er schüttelt mit dem Kopfe. Nun bringt sie weiße Rosen – nicht weiße Rosen! Er wendet sich von ihnen ab und sagt – o Gott, ich kann nicht verstehen, was er sagt!«
»Hören Sie aufmerksam zu – was sagt er?« befahl Spini.
»Ich kann nicht,« stammelte Iris.
»Doch. Sie müssen! Was sagt er?«
»Er sprach es leise vor sich hin. ›Um alles in der Welt keine weißen Rosen für Iris. Die weißen Rosen von Ravensberg!‹«
»Weiter!«
»Er scheint bewegt – die Verkäuferin holt andere Blumen, weiße Orchideen! Er kauft sie – für mich! Schnell fort mit den weißen Rosen, damit ich seine Blumen gleich anstecken kann, wenn er kommt!«
Sigrid zog den Diamantpfeil, mit dem Iris immer ihre Blumen feststeckte, heraus und legte ihn auf ein Tischchen in eine Schale und das Rosenbouquet in die Hände der Schwester zu der Münze.
»Weiter! Was sehen Sie jetzt?« befahl Spini.
»Er läßt die Blumen in Seidenpapier hüllen und geht mit ihnen fort. Ich sehe ihn durch die Straßen gehen. Er sieht nach der Uhr – er geht weiter.«
»Ist er allein?«
»Sind Sie dessen sicher? Sehen Sie genau hin!«
»Es ist so finster – er steht jetzt im Schatten des Campanile am Dom obendrein.«
»Geben Sie sich Mühe. Ich will es! Ich befehle es Ihnen! Ist er allein?«
»Ja. Er nestelt an dem Papier der Blumen – halt! Ein Schatten steht hinter ihm. Aber nicht sein Schatten – ein halb zerflossener Schatten, ein – ich sehe nichts mehr!«
»Sie sollen aber sehen. Ich will es!« rief Spini, indem er wieder seine streichenden Bewegungen über die Schläfen der Schlafenden machte, die sich unruhig hin und her bewegte.
»Es ist kein Schatten mehr, nur ein zerfließendes Gebild von Nebeln – ah! Der Mond tritt hinter den Häusern vor, ich sehe,« murmelte Iris. »Marcell steckt die Nadel fest in das Papier, er sieht den Schatten nicht. Aber der Mond scheint durch und durch, ich sehe ihn – es ist eine Frau!«
»Ah!« machte Sigrid unwillkürlich, aber Spini hob warnend den Finger.
»Wie sieht die Frau aus? Was thut sie?« fragte er.
»Sie trägt ein dunkles Kleid und einen weißen Spitzenschleier über dem Kopf und in der Hand – seltsam, in den Händen hält sie ihre langen, blonden Haare – der Mond scheint darauf, und sie sehen aus wie Sonnengold, so fein, so lang. O, ich sehe, unter dem Schleier sind ihre Haare abgeschnitten und um den Hals hat sie einen schmalen roten Streifen wie ein Band. Es ist aber kein Band. Es tropft daraus und fällt auf die weißen Rosen, die sie an der Brust trägt. Drei weiße Moosrosen. Aber sie leuchten schon ganz purpurn – – ist das Blut?« schloß sie leise zusammenschaudernd.
»Weiter!« befahl jetzt Sigrid, und »Weiter!« sagte auch der Cavaliere.
»Die Frau lächelt,« begann Iris wieder, aber sehr leise und müde. »Sie lächelt, und – o! ich bin es selber!« schloß sie lauter, wie überrascht, und überraschter noch sahen Sigrid und Spini sich an.
»Weiter!« befahl letzterer, sichtlich gespannt.
»Nein, es ist Sigrid,« fuhr Iris fort. »Wir beide sind es – und wieder nein! Es ist die Frau im weißen Rosenkranze in dem weißen Etui, das Papa mir gab –«
Der Cavaliere sah fragend nach Sigrid hinüber, die aber zuckte mit den Achseln.
»Phantasien!« sagte sie enttäuscht. »Iris, ich, ein Porträt –! Enden wir!«
»Noch eins lassen Sie mich fragen. ›Was thut der Schatten der Frau?‹«
»Er neigt sich zu Marcell und spricht – ich sehe die Lippen sich bewegen –«
»Hören Sie die Worte!«
»Ich kann nicht –«
»Sie müssen. Ich will es!«
Iris' Antlitz nahm den Ausdruck angespanntester Aufmerksamkeit an.
»Es ist zu leise,« murmelte sie.
»Hören Sie! Sie sollen hören.«
»Ich höre. Der Schatten sagt: ›Die weißen Rosen sind jetzt rot – sie sind gesühnt‹. Ah – jetzt zerfließt der Schatten. – er ist fort!«
»Hat der Fürst ihn bemerkt?«
»Nein.«
»Hat er die Worte gehört?«
»Ich weiß nicht. Nein, er hat sie nicht gehört. Er geht jetzt weiter, ganz im Mondlicht –«
»Ist er allein?«
»Ja!«
»Sie sehen keinen anderen Schatten neben ihm?«
»Keinen.«
»Sehen Sie genau hin!«
»Ich sehe nichts, keinen Schatten. Er biegt jetzt vom Domplatz in die Via del Proconsolo – schon ist er am Palazzo von Finito – gleich ist er hier –!«
»Um Gottes willen,« fiel Sigrid ein.
»Wachen Sie auf!« befahl Spini mit einigen raschen Handbewegungen, und Iris schlug sofort die Augen auf.
»Hab' ich geschlafen?« fragte sie, verwundert um sich blickend.
»Doch – eine ganze Weile lang,« erwiderte Sigrid, ihrer Schwester das Armband wieder um das linke Handgelenk legend, und als Iris sie fragend ansah, sagte sie schnell: »Das Schloß war aufgesprungen; ich mache es nur wieder fest!«
»Danke!« sagte sie freundlich. »O, da ist ja auch der Cavaliere! Ich habe Sie ja gar nicht hereinkommen sehen, Signore! Guten Abend! Nein, und warum hab' ich denn meine Rosen abgelegt?«
»Die Nadel liegt hier, meinte Sigrid, auf den Diamantpfeil deutend, und indem sie ging, den grünen Schleier der Lampe mit einem von zartrosa Farbe zu vertauschen, setzte sie hinzu: »Du hast Wohl Blumen von Marcell erwartet?«
»Das muß ich aber rein im Traume gethan haben,« lachte Iris, die Hand nach der Nadel ausstreckend. »Ich habe keinen Schimmer davon – ah!« unterbrach sie sich mit einem Freudenschrei, denn Ubaldo riß eben die Thür zum Korridor auf und schrie strahlenden Gesichtes mit Stentorstimme: » Sua Altezza il Principe Marcello,« – eine Manier des Anmeldens, die ihm kein Gott und kein Befehl abgewöhnen konnte. In der linken Hand die Rosen, die Rechte ausgestreckt zum Gruße, so eilte Iris ihrem Verlobten entgegen, ein glückseliges Lächeln auf den Lippen und in den Augen eine Welt von Liebe – Sigrid und Spini aber wechselten unwillkürlich einen Blick, denn Fürst Hochwald trug beim Eintreten in der Hand einen kleinen, als Brustbouquet gebundenen Strauß weißer Orchideen: – –
Über diesen wunderbaren Beweis des Hellsehens im Hypnotismus vergaßen sie ganz, ihr Medium zu beobachten, denn Iris war die kurze Strecke bis zur Thür mit merkwürdig schwankenden Schritten gegangen, dort aber ergriff sie die Hand Hochwalds wie jemand, den schwindelt und der eine Stütze sucht – sie schloß die Augen und wäre zu Boden gefallen, hätten die starken Arme ihres Verlobten sie nicht umfaßt und aufgehalten.
Sigrid holte, heftig erschrocken, eine Flasche kölnischen Wassers, mit dem sie Iris' Schläfen, Stirn und Hände einrieb, und als sie dann noch das kräftige Aroma dieses köstlichen Erfrischungsmittels eingeatmet hatte, schien sie völlig wieder erholt und nahm nur widerstrebend wieder Platz.
»Ich bin aber so munter wie ein Fisch im Wasser,« versicherte sie lachend. »Sigrid behauptet nämlich, ich hätte vorhin geschlafen, was natürlich eine Verleumdung ist! Aber meine Glieder waren mir so merkwürdig schwer, als hätte ich Gewichte daran hängen, und im Kopf war mir so – so dumm, wie dem guten alten Wagner im Faust, als ihm das berühmte Mühlrad darin herumging. Jetzt aber ist's wieder ganz klar bei mir im Oberstübchen.«
Hochwald mußte unwillkürlich lächeln, aber er schüttelte doch noch mit dem Kopfe. Wie kam Iris, seine frische, jugendkräftige Iris zu solch einem Anfalle?
Ohne weiter zu forschen, ergriff er den Orchideenstrauß, den er beiseite gelegt, und reichte ihn seiner Braut zum »Polterabend«, wie er scherzend meinte.
»O, die wundervollen Blumen – wie weiße Schmetterlinge,« rief Iris entzückt, und dem Fürsten die Rosen reichend, die sie immer noch in der Linken hielt, sagte sie mit ihrem süßesten Lächeln, ihrem innigsten Blick: »Nimm dafür meine weißen Rosen, Marcell – weiß ist heut' Abend und morgen ja auch deine Farbe!«
Der Fürst beugte sich herab, die weißen Hände zu küssen, die ihm die köstlichen Blüten reichten, und tiefer beugte er sich herab als nötig war, um den Zug des Schmerzes zu verbergen, der sein offenes, männlichschönes Gesicht dabei verzog. Er war kein abergläubischer Mensch, aber er kannte in großen Umrissen die Sage der weißen Rosen von Ravensberg, die einmal am Kamin zur Dämmerstunde erzählt worden war, und die verhängnisvollen Blumen in Iris' Händen am Vorabend ihrer Hochzeit zu sehen, zog ihm trotzdem und alledem das Herz zusammen.
»Weiße Rosen sind eigentlich keine Brautgabe,« meinte Spini obendrein.
»Aberglauben!« sagte Sigrid achselzuckend.
»Natürlich,« bestätigte Iris. »Aber es ist wirklich merkwürdig, wie alle Welt – außer dir, Marcell, sich gegen meine Vorliebe für weiße Rosen verschworen hat. Mama durften nie welche vor die Augen kommen, ohne daß sie förmlich davor zurückbebte – Papa hat sie sich entschieden verbeten, und nun krächzt auch noch der Cavaliere seinen Text darüber her!«
»Aber Iris, wenn dein Vater weiße Rosen nicht sehen mag,« sagte Hochwald mit leisem Vorwurf, »wäre es da nicht besser, wir thäten diese beiseite?«
»Nein, Marcell, und du glaubst wirklich, ich wollte meinen guten, lieben Vater heut' noch mit etwas ärgern, was er nicht mag?« fragte Iris halb ernst, halb lachend. »Seht ihr denn nicht alle, daß es keine weißen Rosen sind? ›Maidenblush‹, nannte sie der Gärtner, und bei Tage ist ihr Kelch wirklich so rosig, wie –«
»Wie deine Wange,« vollendete Hochwald, eine der Rosen gegen das zarte Inkarnat auf dem Gesichte seiner Braut haltend. »Aber im Ernst, Iris, sie sehen weißen Rosen ähnlicher als gefärbten, und darum wollen wir sie vor deinem Vater lieber verbergen, wenn er sie doch nun einmal nicht mag, nicht wahr?«
Iris protestierte zwar lebhaft gegen die hier herrschende Farbenblindheit, aber sie fügte sich damit doch der Bitte Hochwalds, der die Rosen in Seidenpapier verpackte und so für sich zum Mitnehmen beiseite legte.
Gleich darauf erschien Graf Erlenstein, heiter und behaglich aussehend, und sehr bald nach ihm huschte es rätselhaft und geheimnisvoll durch den Korridor, die Thüren zum Salon wurden geöffnet, und das Brautpaar ließ sich auf einer Art von Thron nieder, neben dem Madame Chrysopras schon Platz genommen hatte. Hierauf erschien Sascha im Kostüm als Italiens berühmte Pastellmalerin Rosalba Carriera und überreichte die Skizze zu ihrem Gemälde: Iris im Brautkranze. Dann kam Boris in russischer Nationaltracht, sich und die Seinen der allergnädigsten jungen Tante empfehlend und sein und der Generalin Hochzeitsgeschenk, einen massiv silbernen Samowar mit Theegläsern in kaukasischen, durchbrochenen Silberbechern, und eine silberne Theebüchse auf silberner Platte überreichend – alles in jenen reichen, byzantinischen Formen, die der russischen Silberschmiede ureigene Specialität sind.
Die nächste Figur, die nun eintrat, war niemand anders als Miß Fuxia Grant, geradezu blendend schön, wenn auch etwas gewagt als Fortuna kostümiert, mit einem goldenen Füllhorn voll der herrlichsten Blumen. Sie sagte halb englisch, halb deutsch ein launiges Gedicht und überreichte ihr Füllhorn, das an seinem gebogenen Ende ein ganz schlichtes, aber höchst kostbares porte bonheur trug, dessen vier Reihen in den vier Edelsteinen Jaspis, Rubin, Jacinth und Smaragd das Akrostichon des Namens Iris bildeten – eine sinnige Gabe, die Fürst Hochwald, um die Geberin zu ehren, sogleich um das Handgelenk seiner Braut legte. – Und wieder ging die Thür auf, und die alte Fürstin Ukatschin erschien als Ahnfrau, der Braut die Fürstenkrone in Form einer kostbaren Brosche überreichend, und nochmals kam Sascha, diesmals als Hausgeist von Hochwald und legte als solcher im Auftrage des Bräutigams der holden Braut einen Maroquinkasten zu Füßen, der in sechs fächerförmig sich öffnenden Etagen einen wahrhaft fürstlichen Schmuck von Diamanten als Morgengabe enthielt, einen bis ins Detail reichhaltigen Schmuck, in Diadem, Collier, Corsage, Armbändern, Agraffen und Bouquets bestehend, deren künstlerisch schöne Zeichnung das Symbol der Braut, die Lilienform der Iris, und das Heroldszeichen und Kleinod der Hochwald den Eichenbruch, umschlungen von graziös bewegten Schleifen wiederholte.
Iris war wie geblendet von dieser königlichen Gabe, in deren Ausführung sie vor allem die liebende Hand des Gebers herausfühlte und damit diesem auch des Gebens rechte und echte Befriedigung gab. Es kommt ja auf das Verstandenwerden im Leben immer und vor allem an! Iris, die ihren strahlenden Schatz, an dem sie sich wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum freute, von allen gern bewundern ließ, schloß den Kasten fast beschämt, als Sigrid später davorstand und seinen Inhalt, wie es schien, fast verächtlich mit dem Blick überflog, in welchem der sehr aufmerksame Cavaliere indes Zorn und Neid herausgelesen haben wollte. Jedenfalls hatte sie vorher der Schwester den Brautkranz auf dem weißen Atlaskissen mit so bewegten Worten überreicht, daß sie einen so schroffen Übergang fast undenkbar machten – aber wer ermißt die Tiefen eines Herzens, das mit den Bitternissen der Eifersucht gefüllt ist bis zum Rande?
Der Abend verlief in dem kleinen Kreise heiter und angeregt; Madame Chrysopras ließ nach deutscher Sitte die Unverheirateten um den Brautkranz tanzen, das heißt mit verbundenen Augen um ein kleines, rasch aus Myrtenzweigen hergestelltes Kränzlein haschen, das von den drei Mädchen Miß Grant und von den drei Heiratskandidaten, zu denen Graf Erlenstein nolens volens gerechnet wurde, Boris Chrysopras erhielt – ein Zufall, der etwas nach dem deus ex machina schmeckte, von Miß Fuxia aber mit errötender Koketterie und von Boris mit einem schuldbewußten Seitenblick auf Sigrid aufgenommen wurde.
Der arme Boris! Seit er täglich mit Miß Fuxia ausfuhr, begann Sigrids Bild in seinem Herzen, das der stets veränderlichen und leicht bewegten Meeresfläche glich, zu verblassen. Vor mehr als einer Woche schon hatte er dem Fürsten gelegentlich eines Frühstücks bei Doney gestanden, daß mattrotes Haar bei einer schönen Frau eigentlich immer sein Ideal gewesen sei. Trotzdem war er bei Miß Fuxia nicht weiter gekommen als vorher, denn diese Meisterin in der Koketterie wußte immer das entscheidende Wort zu umschiffen. Thatsache war, daß ihr gegenwärtig ein römischer Prinz den Hof machte und sie Boris nicht eher erhören wollte, ehe der bewußte Ukas nicht schwarz auf weiß bewies, daß er dazu berufen war, den Stamm der Ukatschin mit dem seinigen unter der Fürstenkrone weiterzuführen. Nun aber war die alte Fürstin nicht umsonst des seligen Chrysopras gut rechnende und vorsichtige Schwester – sie wollte den entscheidenden Schritt in Petersburg nicht eher persönlich durchsetzen, solange ihrem Gesuch der notwendige Goldgrund fehlte, und so stand vorläufig der römische Prinz noch als trennendes Glied zwischen den Parteien.
Als man sich am Vorabend zum ersten Mai trennte, fiel es niemand auf, daß der Fürst bis zuletzt blieb. Er half, als mitgefeierter, die Honneurs des Hauses machen und sagte den Mitgliedern desselben als letzter »Gute Nacht«, worauf der Graf selbst die junge Braut zum letztenmal in ihr Mädchenstübchen führte, dem sein eigenes Schlafzimmer gegenüber lag. Als Hochwald Sigrid gute Nacht wünschte, sagte er zugleich leise: »Auf ein Wort,« und öffnete die Thür zu Sigrids Zimmer, in das diese überrascht und klopfenden Herzens eintrat. Aber Hochwald ließ sie nicht lange im unklaren. Nicht unfreundlich, aber scharf und ernst sagte er, vor ihr stehend:
»Sigrid, was war das vorhin mit Iris?«
»Was?« stammelte sie, heftig erschrocken.
»Dieser Ohnmachtsanfall, als ich kam. Sie sagte, sie müßte wohl geschlafen haben – wie ist das möglich in deiner und Spinis Gegenwart. Ich wünsche klar in dieser wunderbaren Sache zu sehen!«
Hochwald fühlte wenig Sympathie für seine Schwägerin, daher war wohl auch sein Blick strenger, sein Ton befehlender, als sein gütiges Herz es sonst zugelassen hätte; als aber Sigrid schwieg und den Kopf senkte, kam noch die Sorge um Iris dazu, so daß er seine Frage schärfer wiederholte.
»Ich überlege nur, ob du mir glauben würdest, wenn ich dir sage, wie es kam,« sagte sie bitter.
»Glauben? Seit wann hätte ich Grund, an der Wahrheit deiner Aussagen zu zweifeln?« fragte er kühl.
»Nun denn,« begann Sigrid, »ich war mit Iris allein, sie saß in dem niedrigen Sessel, und ich verschleierte die Lampe. Dabei mußte ich sie ansehen, eine ganze Weile lang – ich weiß selbst nicht warum. Sie schien einzuschlafen – und dann kam der Cavaliere und sagte mir, ich hätte sie unwissentlich hypnotisiert – o, siehst du nun, daß du mir nicht glaubst?« schloß sie heftig.
»Nur das Wort ›unwissentlich‹,« entgegnete Hochwald ruhig, aber mit schwer umwölkter Stirn. »Doch gleichviel. Und dann?«
»Dann?« stammelte Sigrid, »dann hat der Cavaliere ihr befohlen, aufzuwachen.«
»Ist das die Wahrheit?« fragte der Fürst mit sichtlicher Überwindung.
»Ja.«
»Ihr habt sie nicht, zufällig oder im Scherz – du siehst, ich bin geneigt, Brücken zu bauen – Dinge suchen und verrichten, hellsehen lassen?« fuhr Hochwald fort.
Sigrid richtete sich hochmütig auf.
»Ich brauche keine Brücken,« sagte sie mit feindlichem Blick. Wir haben in der That einige Fragen an sie gerichtet – zum Beispiel, wo du dich befindest, und sie sah dich ohne Zögern in dem Blumenladen den Orchideenstrauß wählen. Im übrigen waren ihre Reden ziemlich verworren – sie sprach von Schatten, von einer Frau, die sie abwechselnd für sich selbst, für mich und für ein altes Porträt in Papas Besitz hielt, und dann erwähnte sie mehrmals die weißen Rosen von Ravensberg. Was ist es damit? Ich hörte niemals davon sprechen.«
»Eine Legende,« erwiderte Fürst Hochwald, der aufmerksam zugehört hatte. Dann schritt er nachdenklich ein paarmal auf und ab, gefolgt von Sigrids brennenden Augen.
»Hat meine Erklärung dir genügt?« fragte sie endlich.
»Gewiß.« – Er blieb wieder vor ihr stehen und legte die Rechte auf ihre Schulter, eine Berührung, unter der sie zusammenzuckte und das Blut aus ihren Wangen weichen fühlte. Aber sie hielt die Augen fest auf ihn gerichtet.
»Sigrid,« sagte er ernst und mild mit jenem nur ihm eigenen, zu Herzen gehenden Ton. »Sigrid, ich werde von morgen an den Titel eines Bruders für dich führen, und meine reinste und beste Absicht ist es, dir ein guter Bruder zu sein mit Rat und That. Aber es hat jeder seine schwache Seite, wie man so sagt, trotzdem ich sie gerade für meine stärkste halte – Iris! Ich würde in dieser Beziehung kein Maß kennen, wenn diese Seite in mir gereizt würde. Ich warne dich also davor und verbiete dir ein für allemal, irgend welche hypnotische Experimente mit Iris vorzunehmen, noch zu dulden, daß andere es thun. Ich gehöre nicht zu den Leuten mit leeren Worten, ein einziges Übertreten dieses Verbotes – Verbotes, sage ich – und wir beide sind geschiedene Leute für immer. Ich hoffe, du hast mich verstanden.«
Sigrid nickte wortlos – sie fürchtete, schreien zu müssen, wenn sie den Mund öffnete.
»Ich lebe gern in Freundschaft mit der Welt,« schloß Hochwald freundlich, »und ein Zerwürfnis mit dir, die meiner Frau stets eine liebevolle Schwester war, würde mich am tiefsten schmerzen. Aber es wäre unvermeidlich. Also respektiere meine Bitte –«
»Dein Verbot!«
»Mein Verbot – und laß uns Freunde bleiben. Gute Nacht, Sigrid!«
»Gute Nacht –!«
*
Daß Hochwald nach all dem Seltsamen, das er gehört, nicht zu früh den Schlaf fand, darf nicht wundernehmen. Er hatte sich dem tierischen Magnetismus gegenüber stets ungläubig verhalten und den modernen Ausführungen des Hypnotismus als ein Mann ohne Erfahrung gegenübergestanden. Was er heut' über Iris' hypnotischen Zustand gehört, machte ihn ratlos und verwirrt. Erstens: welcher starke Wille hatte sie in den hypnotischen Schlaf versetzt? Der Sigrids, das hatte diese selbst zugestanden. Aber man hypnotisiert niemanden »zufällig« – darin also hatte Sigrid die Wahrheit umgangen. Und dann die Wirkung! Hier zweifelte Hochwald nicht an Sigrids Bericht, denn er gedachte eines düsteren Regentages, als er nachmittags in dem Mädchenzimmer seiner Braut saß und deren »Schätze« besichtigte – die Fächersammlung, die er durch manch wertvolles Stück bereichert hatte seitdem, und ihre anderen Sachen und Sächelchen, Sèvresfigürchen, Alt-Meißner und Dresdner Gruppen, winzige chinesische Theekännchen.
Graf Erlenstein saß am Kaminfeuer, doch das Wetter war schwül und schläfrig, und der Regen prasselte in schweren Tropfen an die Fensterscheiben, und das Buch war ihm aus der Hand geglitten und er schlief – –
Sigrid hatte sich längst fortgestohlen – sie haßte dieses Beisammensein mit dem Brautpaar, das nun so gut wie allein war. Da hatte Iris dem Verlobten das weiße Maroquinetui gezeigt mit den beiden Miniaturporträts und ihn 'gebeten, sie nicht auszulachen, als sie ihm gestand, welch seltsam lähmendes Gefühl sie stets beschleiche, wenn sie das Porträt der Dame im weißen Rosenkranz betrachte.
»Gerade, als müßte mir Unheil kommen von dieser schönen Fee, und sie ist doch tot, wie Papa sagt,« schloß sie.
Hochwald war nur mit der größten moralischen Anstrengung Herr seiner Bewegung beim Anblick des weißen Maroquinetuis geworden. Vor seiner Erinnerung war eine Scene zur Dämmerstunde am Kamin lebendig geworden, als derselbe Mund, den Meisterhand hier auf das Elfenbein gezaubert, die Sage von den weißen Rosen von Ravensberg erzählt und die Geschichte dieses Maroquinetuis dazu – – – o, es giebt Tage in unserem Leben, wo jedes Wort, das in ihrem Laufe gesprochen wurde, in unserer Seele eingegraben steht wie in ein erzenes Monument.
Iris' lächelnde Frage, ob die Fee mit den weißen Rosen auch ihn bezaubert hätte, hatte ihn aufgeschreckt, und leidenschaftlich wie nie zuvor hatte er das lichte, blonde Haupt seiner Braut an die Brust gedrückt, als müßte er sie vor etwas Ungenanntem schützen.
Und nun – was er heut' Abend gehört, war nur ein Glied mehr zu der Kette, die unsichtbar und unerklärt von der alles durchdringenden Wissenschaft die Seele des Menschen mit einer Region verknüpft, in die noch kein Lebender gedrungen. Hochwald erinnerte sich, einst, nachdem er einigen hypnotischen Suggestions-Experimenten beigewohnt, einen Arzt über Wesen und Berechtigung des Hypnotismus befragt zu haben. Dieser, ein sehr klar denkender Mann, hatte seinen unbedingten Glauben an den Hypnotismus ohne Vorbehalt zugegeben, aber hinzugefügt, daß die Wissenschaft sich vorläufig noch ablehnend dagegen verhalte, weil die geheimnisvollen Kräfte desselben noch nicht einmal erkannt, geschweige denn erforscht seien. Die frühere Annahme, daß der tierische Magnetismus auf Irrtümern und Täuschungen beruhe, sei längst fallengelassen worden, denn für den Arzt und den Juristen sei der Hypnotismus die Wissenschaft der Zukunft. Die längst erkannten, jetzt noch für uns geheimnisvollen Kräfte seien durch die Betrügereien und Charlatanerien eines Cagliostro, eines St. Germain und ihrer Nachfolger in Verruf geraten und von der Wissenschaft in Acht und Bann gethan worden – eine Ansicht, die freilich jetzt von Autoritäten als falsch und voreilig zurückgenommen und bekämpft würde.
»Wenn nun,« sagte sich Hochwald, »äußere Dinge genügten, um einen Kontakt zwischen Iris und der – Vergangenheit zu vermitteln, wie würde dann die Wirkung sein, wenn sie in direkte Berührung mit derselben kommen würde?«
Eine ungelöste, nicht zu lösende Frage, deren Beantwortung im Schoße der Zukunft verborgen ruhte.
Aber noch ein anderes als diese Meditationen drängte sich Hochwald auf beim Nachdenken über die Ereignisse des Abends – Sigrid. Sie war ihm – nun, direkt unsympathisch war vielleicht zu stark ausgedrückt, aber er mochte sie nicht, und wenn er ihr regelmäßig schönes, vom ersten Jugendschmelz überhauchtes Gesicht sah, hatte er immer die Empfindung, als ringelte sich eine Schlange über seinen Weg – das einzige Tier, das ihm einen unbesiegbaren Widerwillen einflößte. Er hatte sich oft selbst und mit Erfolg über diese Abneigung gegen Sigrid Erlenstein gescholten und sich bemüht, auf einen geschwisterlichen Fuß zu kommen, allein der etwas steinerne Blick ihrer lichtblauen, hellumrahmten Augen hatte ihn immer wieder an den Blick der Schlange erinnert, und er war froh, daß sie sich ihm stets gleichmäßig kühl, zurückhaltend, fast feindlich oft, gegenüberstellte. »Ein ständiger Gast auf Hochwald soll sie mir nicht werden,« dachte er noch im Einschlafen.
Der erste Mai kam glorreich heraufgezogen, ein echter Frühlingstag mit Sonnenschein, mit einer sanften, kaum merklichen, kühlenden Brise von den Apenninen her, mit Rosenduft und blauem Himmel – ein echter, rechter Hochzeitstag. Die Erlenstein waren bei ihrem Umzug nach Florenz zu Or San-Michele eingepfarrt worden, und hier in diesem großartigen, gotischen, eigenartig-erhabenen Baudenkmal, vor dem berühmten Tabernakel des Andrea Orcagna mit seinem wunderthätigen Madonnenbild, vor diesem herrlichsten Kunstdenkmal, über das fünfhundert Jahre dahingegangen sind wie ebensoviel Tage, kniete, als die Glocken zum Angelus verhallt waren, die lieblichste junge Braut im Kranz und Schleier, das unschuldreine Herz bewegt und geschwellt von dem tiefen, heiligen Ernst dieser Stunde, die den Wendepunkt im Leben zweier Menschen bezeichnet.
Das doppelte »Ja« war verhallt, der heiligste Schwur, den menschliche Lippen sprechen können, war verklungen, und das neuvermählte Paar kniete auf den Altarstufen zum kurzen, innigen Gebet, zu einem lautlosen, weihevollen Gelöbnis. Der Weihrauch kräuselte duftend empor und stieg hinan, sich mit dem Mittagssonnenschein zu mischen, der heiter und wie ein Gruß des Himmels selbst durch die gemalten Scheiben strahlte und das im mystischen Dunkel liegende rechte Schiff der Kirche zu lichter Dämmerung verklärte. Sanfte, träumerische Orgeltöne durchfluteten den Raum, den Rosen- und Orangenblütenduft durchzog – und sonst war alles still, denn die Trauzeugen wagten nicht, die stille Andacht der Neuvermählten zu stören und standen still abwartend neben ihren Stühlen – ein kleiner, ganz kleiner Kreis, nur bestehend aus dem Vater der Braut und der Schwester des Bräutigams, den beiden Brautjungfern Sigrid und Sascha und als deren Führer Boris und der Cavaliere Spini – sonst niemand.
Wie eine weiße Taube kniete Iris vor dem Heiligenschrein des Orcagna, die wunderschönen, veilchenblauen Augen in seliger, frommer Selbstvergessenheit emporgerichtet zu der wunderthätigen Madonna, die mild herabzulächeln schien, und so innig, so tief war ihre Andacht, daß es Hochwald schwer wurde, sie durch ein leisgeflüstertes: »Iris, meine süße Frau,« in die Wirklichkeit zurückzurufen, in welche sie indes lächelnd und willig zurückkehrte.
Daheim im alten Palazzo wartete schon mit einer märchenhaften Blumenfülle der kleine Kreis, der die Hochzeitstafel vervollständigen sollte – kostbare Stoffe fegten in langen Schleppen über den Estrich, Brillanten funkelten und blitzten im Mittagssonnenlicht, und mitten darin stand am Arme ihres Gatten die Fürstin Iris Hochwald und nahm die Glückwünsche entgegen, die ihr mit ungeteilter Herzlichkeit entgegengebracht wurden.
Die Frühstückstafel verlief unter heiteren und ernsten Reden fröhlich für die Gäste, wie immer – und wie immer auch als kleine Prüfung für das Brautpaar, denn sich in Rede und Gedicht anfeiern zu lassen, ob ernsthaft oder scherzend, ist immer eine Prüfung. Endlich, endlich winkte Madame Chrysopras, die in violettem Goldbrokat mit Zobelbesatz majestätisch genug als »Brautmutter« fungierte, der jungen Frau, und diese erhob sich, um droben in ihrer Schlafstube das Brautgewand mit dem Reisekleide zu vertauschen. Zugleich auch stand der Graf auf, um seinen Schwiegersohn in sein Ankleidezimmer zum Wechseln des Anzuges zu führen.
»Ihr findet mich dann in meinem Bau,« sagte er. »Nicht um Abschied zu nehmen – ich nehme niemals Abschied, sondern um mein Sonnenscheinchen vor ihrer Abreise allein und ohne fremde Zeugen zu segnen!« –
*
Mehr als ein Jahr war vergangen, und im Parke von Schloß Hochwald blühten die Rosen in märchenhafter Pracht, säuselten die Blätter und Zweige der Eichen, Blutbuchen und Föhren in der warmen Sommerbrise, die über die Nordsee kam mit köstlich erfrischendem Hauch. Ein Jahr und drei Monate – im Maß der Ewigkeit ein Körnchen nur, und doch, wie reich, wie unvergeßlich herrlich für die zwei glücklichen Menschen auf diesem schönen Fleck Erde voll von der Poesie des nordischen Gestades.
Fünfzehn Monate ungetrübten Glückes waren für Marcell und Iris Hochwald vergangen, flüchtig wie ein schöner Traum, trotzdem sie das einsame Hochwald nicht ein einziges Mal verlassen hatten, selbst dann nicht, als die Herbst- und Frühlingsstürme ihnen die Wellen der Nordsee bis hoch an das graue Schieferdach des Schlosses geworfen.
Wenige Wochen nach ihrem Hochzeitstage war der Graf von Erlenstein heimgegangen, nun er das Kind seines Herzens wohlgeborgen vor den Stürmen des Lebens an der Seite des geliebten Mannes wußte, gerade als hätte er nur das noch erleben wollen. Iris war mit ihrem Gatten wieder nach Florenz geeilt und dort geblieben, bis man den Grafen zu San Miniato beigesetzt hatte. Madame Chrysopras bot Sigrid auf Veranlassung ihres Bruders eine Heimat in ihrem Hause, wenigstens vorläufig an, und Sigrid, die ihren Vater so heiß betrauerte, als es ihr kühles Empfinden gestattete, und sich im ersten, heiligen Schmerze wieder in alter Liebe mit Iris vereinte, nahm dies Anerbieten gern an und versprach ihren Besuch auf Hochwald für später. Es folgte nun noch die Erbschaftsregulierung resp. Verlesung des Testamentes, das zur allgemeinen Überraschung ein reicheres Erbe aufwies, als man vermutet hatte.
»Papa hat immer nur die Zinsen eines Vermögens in der Höhe meines Erbteiles verbraucht, ich habe ja so oft für ihn die Berechnungen gemacht,« erklärte Sigrid mehr als einmal ganz erstaunt. Sie war ja immer noch keine reiche Erbin im heutigen Sinne des Wortes, aber sie konnte doch standesgemäß sorgenlos leben mit dem, was sie ererbt, ohne sich nicht allzu extravagante Wünsche versagen zu müssen.
Iris' Erbteil war indes bedeutend, ja mehr als um das Doppelte höher, »infolge des Vermächtnisses einer Pate«, wie das Testament erklärte; diese selbe ungenannte Pate hatte Iris auch ihren Schmuck, bestehend in sehr schönen Perlen und anderen Juwelen, hinterlassen, weshalb Sigrid den Schmuck ihrer verstorbenen Mutter ungeteilt allein erhielt – eine Bestimmung, die Madame Chrysopras für merkwürdig und parteiisch erklärte, von Iris aber als ganz gerecht und natürlich verteidigt wurde, welche Ansicht Fürst Hochwald kräftig unterstützte. Iris erhielt ferner die verschlossene, mit schwarzem Samt bezogene Truhe als ein weiteres Vermächtnis der ungenannten Pate – die Schlüssel dazu ruhten in dem versiegelten Schreiben, das der Graf ihr selbst noch eingehändigt, um es nach seinem Tode zu öffnen. Fürst Hochwald hatte einen gleichfalls versiegelten Brief des Grafen aus dem Nachlasse erhalten mit der Aufschrift: »Für den Fürsten Marcell Hochwald, meinen Schwiegersohn. Nur von ihm allein zu lesen.« – Sigrid vermutete, daß in diesem Briefe Aufklärungen über die überraschenden Vermögensverhältnisse ständen, vielleicht auch der Name von Iris' rätselhafter Pate. Sie ließ sich dazu hinreißen, ihren Schwager zu befragen, erhielt aber von diesem in höflichster Form nur den Bescheid, daß er keine Autorität von dem Heimgegangenen erhalten habe, über den Inhalt des Briefes zu sprechen – eine Zurückweisung, die Sigrid mit heftigen Selbstvorwürfen über ihre Neugierde erfüllte. – Die schwarze Truhe und den versiegelten Brief mit dem Schlüssel dazu erbat sich Marcell Hochwald aber von seiner Gemahlin, bis ihr Schmerz ruhiger geworden sei, und sie überließ ihm beides willig genug, denn der Inhalt der Truhe reizte sie nicht, sie mußte immer an das Grausen denken, das sie empfunden, als sie den düstern Kasten zuerst gesehen hatte.
Als dann alles rasch und glatt geordnet, Sigrid in die Villa Chrysopras übergesiedelt und der alte Palazzo am Borgo degli Albizzi geschlossen und dem Verwalter übergeben worden war, reisten Hochwalds wieder von Florenz ab, und Iris hielt in schwarzen Krepp gehüllt ihren zweiten Einzug in die neue Heimat.
Die Trauer verbot ja zunächst jede Geselligkeit – das gab eine gute Zeit zu innigem Zusammenleben, zum Durchstreifen des Landes und der Wälder zu Pferd, zu Fuß und zu Wagen, zu köstlichen Segelfahrten auf der weißen, goldverzierten Jacht »Iris« mit einer Lilie am Bug als Wahrzeichen – alles das war ja neu und voll von niegeahnten Wundern für Iris, die ihr junges Leben nur im Süden Italiens zugebracht und wohl das Tyrrhenische, das Adriatische und das Mittelmeer, nicht aber den Norden, geschweige denn den mit Buchen- und Eichenwäldern gekrönten Strand der Nordsee kannte. Der Sommer ging hin wie im Traum, und der Winter brachte neue Freuden in den Kunst- und Bücherschätzen des Schlosses, aber auch manch eine Stunde bangen Herzklopfens für Iris, wenn die Stürme das Schloß umtobten, wenn die Brandung brüllte und donnerte und die Wogen ihren Gischt turmhoch spritzten.
Und dann thaute der tiefe, tiefe Schnee im Park und in den Wäldern, ein blaues Veilchenwunder löste die Schneeglöckchen ab in ihren Heroldsrufen des kommenden Frühlings – im Boudoir der jungen Fürstin duftete es jetzt von zahllosen Maiglöckchen, Veilchen und Narzissen, und als die Kirschblüten aufbrachen und der Rotdorn zu blühen begann – es war just, wie dem Tage zu Ehren, am ersten Mai, da wurde dem Stamme des Fürsten von Hochwald ein Erbprinz geboren, blond und blauäugig wie seine Mutter, und von dem alten, würdigen Schloßkaplan sogleich auf den Namen Siegfried getauft.
Die Glocken der Schloßkapelle und der Dorfkirche läuteten das frohe Ereignis jubelnd hinaus in die sonnige Luft, und von der Düne donnerte das Strandgeschütz fünfzigmal über die spiegelglatte See. Die junge Mutter lag selig lächelnd in ihren weißen Kissen, betend und Träume spinnend für das Kind, vor dessen spitzenumhülltem Bettchen der Fürst stand mit vor Glück übervoll geschwelltem Herzen. – –
Nun war's Juli geworden und die Rosen blühten wie im Märchengarten Rosalindens, es versprach ein köstlicher Sommer zu werden.
Früh am Morgen hatte Iris im Kinderzimmer die blauseidnen, spitzenbedeckten Vorhänge am Bettchen des schlafenden Siegfried fester zugezogen und die Fenstervorhänge dichter geschlossen, damit die Morgensonne den kleinen Schläfer nicht vorzeitig wecke, hatte der jungen, kräftigen Fischersfrau, deren Mann im zeitigen Frühjahr gestrandet und ertrunken war und die nun als Amme des kleinen Prinzen im Schloß eine Heimat gefunden, noch einige Anweisungen gegeben – und war dann, leis eine Weise singend, wie sie's früher schon gern gethan, hinabgeeilt in die große, eichengetäfelte Halle, von deren kassettierter Holzdecke Schiffsmodelle und Seeungetüme herabhingen zwischen mächtigen schmiedeeisernen Lichterkronen und Schiffsflaggen – eine Halle, die an eines nordischen Seekönigs Burg erinnerte mit ihren altersschwarzen, seltsam geschnitzten und mit Runenschrift verzierten Kaminen, in denen an kühlen Frühlingstagen oft mächtige Scheite glühten – mit ihren massiven, eichenen Tischen und Sesseln, ihren Bärenfellen, Waffen, Rüstungen, Hirsch- und Elchgeweihen – ein Raum, den zu sehen schon mancher Archäologe herbeigereist war.
Die Gestalt von Iris in dem weichen Morgenkleide von weißer Wolle, ihr lieblicher Kopf mit den blauen Augen und dem lichten Flachshaar schien wie bestimmt für diesen Raum – sie hätte nur eines der mächtigen Trinkhörner vom Kredenztische zu heben brauchen, um die Täuschung zu vollenden, als ob Königin Dagmar dem heimkehrenden Gatten, Waldemar dem Dänenhelden, den Frühtrunk kredenzen wollte. Iris aber ließ die Hörner an ihrem Platze und eilte hinaus auf die Seeterrasse, da sie dort den Fürsten Marcell zu finden hoffte. Aber er war nicht da – sie nickte ihrem geliebten Meere, das im Sommermorgen-Sonnenglanz so feierlich dalag wie ein harmlos schlafendes Kind, einen Gruß zu:
»Groß ist das Meer und der Himmel,
Doch größer ist mein Herz,
Und schöner als Perlen und Sterne
Leuchtet und strahlt meine Liebe.« –
Dann verließ sie die Terrasse, durchschritt die Halle abermals und die links liegende Bibliothek, im Erdgeschoß nach dem Park, in zwei Stock Höhe der Meerseite zu, und fand den Fürsten am Schreibtische in seinem Arbeitszimmer neben der Bibliothek – einem geräumigen, behaglichen Gemache mit bequemen Sesseln und Möbeln. Die auch hier getäfelten Wände schmückten Jagd- und Pferdebilder und eine Kollektion von seltenen Rehgehörnen, ferner einige Familienporträts, und dem die Mitte des Zimmers einnehmenden sogenannten Diplomatenschreibtisch gegenüber stand Saschas wunderschönes Pastellporträt von Iris im Brautschmucke.
Marcell Hochwald saß über einen Forstbericht gebeugt, als Iris neben ihn trat und seinen Hals mit ihren Armen umschlang.
»Ah, guten Morgen und willkommen, Sonnenscheinchen,« sagte er, mit glücklichem Lächeln aufblickend. »Komm, setze dich mit deinem Frühstück zu mir, bis ich diesen Bericht gelesen habe. Dann wollen wir die Posttasche öffnen, und dann muß ich hinaus nach der Oberförsterei und du kannst mich begleiten!« –
»O, Marcell, wie herrlich,« jubelte Iris wie ein Kind, dem man ein, Vergnügen verspricht, und da ihr auch schon ein Diener folgte, um zu wissen, wo Durchlaucht das Frühstück nehmen werden, so stand der leicht transportable Theetisch mit seinen wohlbesetzten Etageren bald neben dem Schreibtisch, und Iris bereitete am sprudelnden und zischenden Samowar den Thee. Während des Frühstücks schloß Hochwald die Posttasche auf und ordnete die darin befindlichen, für den Schloßbezirk bestimmten Briefe.
»Zwei fürs Rentamt, einen für den Kaplan, einen an die Beschließerin – nun, das ist heut' ein magerer Tag,« meinte er. »Doch nein, hier ist noch einer an mich – ein wahres Manuskript von Olga, und wie ein Wiedehopf nach Juchten riechend. Der Kuckuck hole diese modernen Parfüms! O, Iris, du bist fertig mit deinem Thee – lies du mir die Epistel vor, das heißt, wenn deine Nase weniger empfindlich ist.«
Iris nahm lachend den Brief mit dem riesenhaften farbigen Monogramm in russischen Lettern entgegen und schnitt das Couvert auf.
»Ich wette, Boris riecht jetzt auch auf zehn Schritte nach Juchten,« meinte sie, den Brief entfaltend. Und dann las sie wie folgt:
» Mon cher Marcell! Da ist sie wieder heraus aus der Feder, die französische Anrede, wegen der du mich voriges Jahr in Florenz so oft ›dienstlich gerissen‹ hast. Aber was willst du von einer Kosmopolitin, bei der die babylonische Sprachenverwirrung eigentlich doch ganz natürlich ist? Deutsche von Geburt, der Verheiratung nach Russin, in Italien, Frankreich und England zumeist lebend – ich bin ja ein lebendiges Beispiel internationaler Nationalität. Doch um zur Sache zu kommen –: Du und deine Frau, ihr habt jetzt genug tête-à-têtes gehabt, und ich finde, daß Se. Durchlaucht der Erbprinz alt genug sind, um Damenbesuch empfangen zu können. Also wir kommen, Sigrid, Sascha und ich, als drei gute Feen an Siegfrieds Wiege zu stehen, das heißt wenn er eine hat. Moderne Kinder werden ja nicht mehr gewiegt, was für den Verstand sehr vorteilhaft, für bequeme Wärterinnen aber sehr unbequem sein soll. Sobald du auf die Zeilen telegraphierst: › Bienvenu‹ oder › Welcome‹ oder › Benvenuto‹, dann packen wir und erscheinen als drei Grazien auf Hochwald. Ich sehne mich schon so sehr, das liebe alte Schloß wiederzusehen – nach 22 Jahren zum erstenmal wieder, denn den kurzen Aufenthalt dort im vorigen Jahre zur Vorbereitung von Iris' Empfang kann ich doch nicht als Besuch rechnen. Außerdem war die See in diesen Tagen stark bewegt und ich hatte nachts, wenn ich schlief, so schreckliche Träume – –
Also wir kommen, und freuen uns darauf, das kann ich wenigstens für mich behaupten und für Sascha auch, die dich und Iris ganz närrisch liebt und für die See schwärmt. Ob Sigrid sich freut, kann ich nicht sagen – sie ist so schrecklich zurückhaltend und kühl in ihren Kundgebungen – aber eigentlich ist's doch anzunehmen. Ich weiß nicht, ob du Sigrid zu ihrem Vorteil verändert finden wirst. Sie hat das Herbe in ihrem Wesen fast ganz abgestreift und ist aus einem jungen Mädchen eine Salondame geworden, der die Herren zu Füßen liegen, was sie aber gar nicht zu sehen scheint. Scheint, sage ich, denn diese Blondinen mit den kalten Vergißmeinnichtaugen sind oft stille Wasser, die ja nach dem Sprichwort tief sein sollen. Sie hat ja große Gesellschaften in diesem Winter nicht besucht, aber ich hatte doch nach Neujahr wieder meine ›Abende‹, bei denen sie erschien und in ihren schwarzen Tüll- und Spitzenkleidern sehr schön und so unnahbar aussah wie die Königin der Nacht in der Zauberflöte. Du wirst sie vielleicht etwas blasiert finden, wenn ich diesen Ausdruck anwenden darf, denn anderseits spricht sie viel und mit Entschiedenheit – kurz, sie hat sich verändert. Ich höre, sie hat auf Iris' und deine Briefe in diesen fünfviertel Jahren nur zweimal geantwortet. ›Was soll ich denn schreiben?‹ – hat sie mir in ihrer kühlen Weise geantwortet. ›Was Iris interessiert, verstehe ich zu mangelhaft, und Gefühlsduseleien hinzukritzeln – Dieu m'en préserve!‹ – Ich muß gestehen, daß ich sie nach dieser Antwort gern ein bißchen geschüttelt hätte – à la mode d'Allemagne, you know! Sascha kommt noch am besten mit ihr aus – nicht, daß sie und ich uns nicht vertrügen, Gott behüte, aber ich habe neben ihr immer das Gefühl, als ob – ja, wie soll ich's nur gleich ausdrücken – als ob ich einen Gletscher neben mir hätte, schön, kalt und unnahbar. Kurz, ein Noli me tangere. Aber solche Naturen machen mich nervös!
Doch nun von etwas anderem. Vor acht Tagen hat also, wie du weißt, in der russischen Kapelle der Villa Demidoff die Vermählung von Boris mit Fuxia Grant stattgefunden. Alles verlief sehr prächtig und würdevoll. Als Vertreter der Familie der Braut war niemand da, da sie Gott sei Dank ja leider Waise und ein einziges Kind ist, aber sie hatte ein paar hier anwesende, resp. auf der Durchreise begriffene amerikanische Freundinnen als bridesmaids, die in weißen Spitzen und rosa Atlas erschienen mit Riesen-Gainsborough-Hüten, was fremdartig, aber hübsch aussah. Fuxia sah wundervoll aus, ihre Toilette war einer Kaiserbraut würdig an Kostbarkeit. Die Kronen wurden während der Trauung von zwei jungen vornehmen Russen, Boris' Freunden, über den Köpfen des Brautpaares gehalten. Kurz, die Hochzeit war ein unbestreitbarer Erfolg! Nach dem Frühstück reiste das junge Paar nach Rom ab, wo Fuxia dem Corps diplomatique und bei Hofe vorgestellt werden soll – ich aber erhole mich von den Strapazen, denn wenn auch Tatiana Ukatschin Brautmutter spielte, so lag doch alles auf mir, alles! Zwar, ihren Trousseau hat Fuxia in Paris machen lassen – die Zaritza kann ihrer Tochter keinen reicheren, kostbarerern bestellen und schenken. Aber es war doch recht anstrengend, Fuxia bei aller Welt einzuführen und vorzustellen – enfin, ihr ein wenig europäisches savoir vivre nach dem Kodex der upper ten thousand beizubringen. Sie ist manchmal so schrecklich taktlos und – ungewöhnlich, weißt du! Jetzt gilt's ja noch für originell, aber später – nun ich hoffe, es schleift sich ab, und Boris' guter Einfluß wird ihr die Yankee-Manieren schon abgewöhnen. Doch was ich eigentlich sagen wollte – Boris wollte euch seine junge Frau gern vorstellen und wird mit ihr, mit eurer Erlaubnis, gleichzeitig mit uns in Hochwald eintreffen. Die Reise bis zu euch wollen sie als ihren weddingtrip betrachten – was sie dann für Pläne haben, hängt davon ab, ob Boris nach Petersburg zurückberufen wird oder in Rom bleibt.
Und nun noch eine Neuigkeit: Der Cavaliere Spini hat richtig sein Marquisat geerbt in der Maremma! Aber ich glaube, das ist ein Titel ohne Mittel, doch ist er gestern nach Rom gereist, da die Regierung das Land ankaufen will. Man sagt, viel wird er für den elenden Malariasumpf nicht bekommen, aber er will wenigstens den an der Besitzung hängenden Titel herausbekommen bei dem Verkauf. Weißt du was, Marcell? Du könntest ihn eigentlich auch nach Hochwald einladen! Die arme Sascha hat nun einmal diese stille Neigung – über den Geschmack läßt sich nicht streiten – und am Ende hält er doch noch um sie an. Den Titel wird er schon noch herausschlagen, und wenn er auch sonst nicht viel hat, mit Saschas Vermögen können sie sehr bequem leben, und dann – häßliche Mädchen haben nun einmal wenig Chancen und die arme Sascha gleicht ja leider nur zu sehr dem guten, seligen Chrysopras! Die Idee mit Spinis Einladung stammt übrigens nicht von mir – Sigrid hat mir die Sache plausibel gemacht, und ich finde, sie hat recht. Also wirst du ihn einladen, Marcell? Ja? Es wäre reizend von dir, und um die Wahrheit zu gestehen, ich habe Spini schon in deinem Namen eingeladen, aber diese Italiener sind stolzer als ein spanischer Hidalgo, selbst wenn sie arm sind wie die Kirchenmäuse, und ohne eine specielle Einladung von dir selbst käme er nicht – – Also! Bitte! – –
Doch nun zum Schluß, der kurz sein soll. Mit vielen Grüßen von Sigrid und Sascha an Iris und dich, verbleibe ich toujours deine treue Schwester
Olga Chrysopras.
P. S. Einen Kuß à son Altesse le Prince héréditaire.
P. S. Nr. 2. Iris schreibt vielleicht an Fuxia eine Zeile wegen ihres Hinkommens nach Hochwald, ja?
P. S. Nr. 3. Spinis Adresse ist: Marchese Spini della Prescaja nella Maremma, Rom, Albergo Costanzi.
P. S. Nr. 4. Fuxias Adresse ist: A Madame la Princesse d'Ukatschin-Chrysopras, Rome Hôtel de l'Europe, Piazza di Spagna.«
Iris ließ nach Verlesung des letzten Postskriptums die veilchengeschmückten, juchtenduftenden Bogen mit der langgezogenen, eleganten Schrift in den Schoß sinken und sah ihren Gatten an.
»Es ist merkwürdig, welches Talent Olga hat, Unruhe zu stiften,« sagte er nach einer Weile seufzend. »Ich fühle mich jetzt schon gehetzt. Doch es ist nicht zu ändern – schreiben wir ein ›Willkommen‹ nach Florenz. Du übernimmst doch die ›Fürstin Fuxia‹, Iris? Und ich den Cavaliere – o, Olga, warum hast du mir den noch angethan! Wir werden die Ahnenbilder verhängen müssen, Schatz, sonst erleben wir Unerhörtes, wenn sie sehen, wie in diesem feudalen Dynastensitz das amerikanische und italienische Abenteurertum einzieht!«
»Nein, Iris, ich weiß, du kennst mich, und du weißt auch, daß ich den Menschen nach seiner Bildung und nicht nach seiner Geburt schätze. Aber neben der Bildung des Geistes muß auch die des Herzens Hand in Hand gehen, denn was nützt mir ein nach außen gefirnißter Mensch, dessen Charakter nicht ganz tadellos ist. Und das fürcht' ich sehr bei diesen beiden uns aufgenötigten Gästen. Doch du siehst so nachdenklich drein, mein Liebling!«
»Der Brief hier giebt mir zu denken, Marcell,« erwiderte Iris. »Da ist zunächst der Satz über Sigrid, über ihr verändertes Wesen!«
»Sigrid ist – doch nein,« unterbrach sich der Fürst. »Du weißt, Sigrid ist mir nicht sympathisch, aber das darf mich nicht verleiten, ungerecht gegen sie zu sein.«
»Aber sie ist mir ein Rätsel, Marcell,« rief Iris kopfschüttelnd. »Denke dir ein Wesen, das bis zu dem Momente, wo du in unser Leben tratest, nur Liebe, Fürsorge und Gedanken hatte für Papa und mich, das mich verhätschelte, verwöhnte und verzog. Und nun plötzlich dieser Umschwung. Wie soll ich das verstehen?«
»Vielleicht löst sie uns selbst noch einmal dieses Rätsel,« erwiderte Hochwald, der von der Lösung wohl nicht weit entfernt war, seine Ideen darüber Iris aber nicht mitteilen mochte. »Der Mensch ist Wandlungen so leicht zugänglich und muß eine Sturm- und Drangperiode seines Lebens wohl einmal durchkämpfen. Vielleicht ist Sigrid gerade in dieser Epoche, die oft einen Wendepunkt bezeichnet. Viele überwinden es rasch oder toben es aus – andere brauchen Zeit, um mit sich selbst fertig zu werden und die Gärung in ihrer Seele zu klären. Es ist wohl am besten, man überläßt Charaktere wie Sigrid sich selbst, bis sie das Bedürfnis fühlen, in ihre alten Kreise zurückzutreten. Was nun Olgas Brief betrifft, so giebt er allerdings zu denken – nächst Sigrid über den Fall Boris-Fuxia.«
»Ja,« sagte Iris lebhaft. »Olgas Worte über ihre Schwiegertochter klingen gereizt, findest du nicht auch?«
»Zweifellos, Kleine!« gab der Fürst zu. »Nun, wir werden ja sehen, was faul ist in diesem Staate Dänemark. Hoffentlich etwas, was sich in Ordnung bringen läßt – es thäte mir sonst leid um Boris, dem eine recht energische, aber liebevolle Frau not thut. Was die Energie anbelangt, nun, an der fehlt es der ›Miß I reckon aus N'York‹ nicht. Sie hat mit löblicher Konsequenz ihren Willen durchgesetzt. Eine Fürstin zu werden, war ja von vornherein ihre Absicht, wie sie einst die Gnade hatte, mir auseinanderzusetzen.«
Iris nickte und nahm den Brief wieder auf.
»Es ist noch ein dritter Punkt hier, der mir zu denken giebt,« sagte sie. »Ich meine den Cavaliere, oder eigentlich Sigrids Vorschlag, ihn hierherzubringen. Das ist auch eine Wandlung, Marcell, denn Sigrid hat ihn nie leiden mögen.«
»Aber Olga schreibt ja den Grund –: Sascha!« warf der Fürst ein, doch Iris schüttelte ungläubig den Kopf.
»Signore Spini hat sich von dem Tage an, da wir ihn in Rom kennen lernten, wie ein Schatten an Sigrid geheftet,« sagte sie nachdenklich. »Sie hat ihn niemals ermutigt, im Gegenteil, aber ich hab's ihm angesehen, daß er nicht nachließ, sondern jäh seinem Ziele zustrebte. Es ist ihm nie im Traume eingefallen, sich um Saschas Liebe zu bemühen, und ich wette, er thut es heut' so wenig wie damals. Warum also will sie mit ihm hier zusammenkommen? Ich bin keine nervöse Person, Marcell, aber ich muß gestehen, daß der Gedanke an dieses ›Warum?‹ mich nervös machen könnte!«
Fürst Hochwald zündete sich sehr gelassen eine Cigarre an.
»Durch Olgas freundliche Vermittelung kann ich jetzt wohl kaum anders, als ihn einladen,« meinte er. »Wenn aber Sigrid meint, hier Katze und Maus mit ihm spielen zu können, so irrt sie – dies ist mein Haus und ich bin Herr darin. Also sei ganz ruhig, Liebling! Das schlimmste ist, daß unsere schöne Ruhe nun geopfert ist; freilich, über kurz oder lang hätten wir uns ja doch der Welt einmal zeigen müssen, aber was sie immer bieten mag, so schön wie diese fünfzehn Monate des Alleinseins mit dir wird uns niemals mehr eine Zeit sein, weil wir sie mit anderen teilen müssen!«
»O, Marcell –!«
Iris glitt von ihrem Sessel herab und legte knieend ihren Kopf an ihres Gatten Brust und sah auf zu ihm aus feuchtschimmernden süßen, blauen Kinderaugen.
»Marcell, ist es denn wahr, hab' ich dir denn genügt und hast du nichts vermißt in meiner Gesellschaft allein?« fragte sie zaghaft.
Da nahm er ihr blondes Köpfchen in beide Hände und küßte ihre reine Stirn.
»Wie kannst du von Genügen und Vermissen sprechen, mein Liebling, da ich doch durch dich erst den Mittelpunkt, den Anfang und das Ziel des Daseins gefunden habe. Ich müßte dich weit eher fragen, ob dir der graue nordische Himmel genügt und dieser enge Fleck Erde?«
»Du lieber, guter, alter, närrischer Marcell,« lachte sie unter Thränen auf zu ihm. »Ja, Italien ist schön, und andere Länder mögen noch schöner sein, aber der schönste Fleck Erde fürs Herz ist doch die Heimat, und meine Heimat ist Hochwald. Erst gestern, als du fortgeritten warst und ich allein zu Haus war, da ist mir's so recht mit Macht durchs Gemüt gezogen, wie Hochwald mir so alles ist mit dir und mit Siegfried. Da raunten und flüsterten die Eichen und Buchen in der leichten Sommerbrise das hohe Lied von der Heimat über meinem Haupte, und wie die Flut kam und mit ihrem süßen träumerischen ›Thalatta! Thalatta!‹ an der Terrasse heraufstieg, da fühlte ich's, wie sie mich nicht mehr loslassen würde, wie mein Herz mit jeder Welle verkettet ist, die sich an diesem Strande bricht!«
Fürst Hochwald strich sanft mit der Hand über ihr lichtes Blondhaar und über ihre glühende Wange.
»Das macht mich ja so glücklich, daß du meine Heimat liebst,« sagte er schlicht. »Hier hab' ich meine Kindheit zugebracht, hier zwanzig einsame Jahre meines Lebens, als ich wähnte, ich hätte kein Recht mehr an die Freuden der Welt.«
»Das war ein langer Wahn, Marcell!« erwiderte Iris ernst und immer noch vor ihm knieend.
»Es war dir vorbehalten, mich davon zu heilen,« entgegnete er nicht ohne äußere Bewegung.
»Und doch hast du mir noch nie gesagt, worin dein Wahn bestanden hat,« setzte sie mit fragendem Blick hinzu.
»Er ward begraben, als du mein wurdest – lassen wir ihn ruhen –,« sprach er mit tiefem Ernst und großer Güte. Und Iris verstand ihn sofort mit dem Takt der wahren Liebe.
»Er ruhe, ruhe für immer,« sagte sie leise. »Und es möchte mir vorbehalten sein, zu vermögen, daß er niemals wieder auferstehe.«
»Wie könnte er! Vor meinem Sonnenschein müssen alle Schatten weichen,« erwiderte Hochwald herzlich. »Höchstens, daß mir im Traum noch hin und wieder eine halbdunkle Erinnerung aufsteigt an jene Zeit, sonst ist alles jetzt für mich klar und licht – durch dich, Iris! Doch ich träume im ganzen selten genug – es war niemals eine Gewohnheit von mir, wie bei Olga, die uns immer lange Geschichten von ihren Träumen zu erzählen wußte. Schrieb sie nicht in diesem Briefe, sie hätte im vorigen Jahre hier ›schreckliche‹ Träume gehabt?«
»Ja, Marcell! Aber Olga spricht gern in Hyperbeln.«
Fürst Hochwald strich immer noch liebkosend über Iris' blondes, seidenweiches, wie Schwanendaunen lockeres und weiches Flachshaar.
»Träumst du auch mitunter, Iris?« fragte er nach einer Pause.
»O ja,« erwiderte sie lächelnd, »allerlei dummes Zeug natürlich.«
»Erschreckt hat dich aber ein Traum noch niemals?«
»Nein, erschreckt wäre zu viel gesagt,« meinte sie nachdenklich. »Es ist nämlich – aber du mußt mich nicht auslachen, Marcell!«
»Niemals, Iris.«
»Es ist nämlich komisch,« fuhr sie fort, »daß ich so oft dasselbe träume, das heißt erst hier in Hochwald. Anfänglich wachte ich immer herzklopfend auf, wenn der Traum vorüber war, jetzt aber schreckt er mich nicht mehr, trotzdem er oft wiederkommt, und zwar genau so wie beim erstenmal –«
»Ganz natürlich, Iris. Du denkst daran und die Fiktion wiederholt sich in deinem von der ruhenden Willenskraft unkontrollierten Gehirn. Wäre der Traum jedesmal verschieden, so müßten andere Eindrücke, andere Faktoren mitspielen.«
»Aber ich habe noch niemals beim Schlafengehen, selten nur am Tage, an den Traum gedacht,« rief Iris lebhaft.
»Du mußt ihn mir erzählen, Liebling!«
»Gern. Also mir träumt dann, daß ich irgendwo gehe, stehe oder sitze – und der Ort, wo es geschieht, macht immer den einzigen Unterschied aus, ohne den Traum selbst zu verändern. Ich sehe mich zeichnen, sticken, geigen, spazieren gehen oder sonst etwas thun – kurz, es steht dann plötzlich, aber ohne mich zu erschrecken, eine Dame vor mir im sehr schlichten, schwarzen Kleide, ein weißes, dreieckiges Spitzentuch so über dem Kopfe, daß der mittlere Zipfel ihr über die Stirn fällt. Wem sie gleicht, kann ich nicht genau sagen, aber ich denke, mir selbst – oder Sigrid, oder dem Bilde im weißen Maroquinetui, das Papa mir gab, weißt du's, Marcell?«
»Nun, und fragte dieser gespannt.
»Und in den Händen hält sie ihre eigenen, abgeschnittenen blonden Haare und ein kleines Sträußchen weißer Moosrosen, mit dem sie auf einen roten Streifen um ihren Hals deutet. Und mit dem Sträußchen winkt sie mir auch, und ich folge ihr sofort, denn sie sieht mich freundlich an und ist sehr schön – trotzdem sie mir gleicht,« unterbrach sich Iris, schelmisch zu ihrem Gatten aufblickend.
»Erst den Traum, dann die Komplimente,« sagte dieser neckend, aber mit einer gewissen Überwindung.
»Ja, also meine Dame mit den weißen Rosen geht vor mir her bis auf die Seeterrasse und deutet dort auf eine der Schießscharten im alten Schloßflügel, dem westlichen, weißt du. Und durch diese Schießscharte sehe ich dann ein ganz schwaches rotes Licht schimmern, und wenn ich es gesehen habe, winkt sie mir wieder und führt mich durch das Schloß, ich meine immer in den alten Teil, durch lange, niedere Gänge und über enge, steile Wendeltreppen, die wahrscheinlich hier gar nicht existieren, bis in einen etwas breiteren Gang, wo alte Schränke stehen und allerlei Gerümpel liegt. Und vor solch einem alten, kastenartigen Schrank macht sie dann Halt, sieht mich an und ist dann fort, und ich wache in diesem Augenblick zum Glück immer auf, denn ich würde mich allein ja gar nicht mehr zurückfinden. Aber so oft bin ich im Traume schon diesen Weg gegangen, daß ich von dem Gerümpel in dem breiten Gange, der fast wie eine Wachtstube aussieht, schon jeden zerbrochenen Schemel kenne,« schloß sie lächelnd.
»Und hast du dich bei Tage niemals auf die Entdeckungsreise dahin aufgemacht?« fragte Hochwald seltsam gespannt.
»Ich werde mich in acht nehmen,« lachte Iris, aufspringend. »Neugierde war nie mein Fehler. So, nun hast du meinen Traum, der nichts Unheimliches oder Schreckliches hat, den ich trotzdem aber nicht gern träume. Und nun, wenn wir zur Oberförsterei wollen, wird's Zeit für uns zum Aufbruch. Umgekleidet bin ich in zehn Minuten, denn die Briefe an Olga, Fuxia und Spini haben wohl Zeit bis nachher, nicht wahr? Doch noch eine Frage: reiten oder fahren wir?«
»Ich denke, wir reiten, Iris!«
»O charmant! Also auf Wiedersehen!«
Und hinaus flog sie, die weiße schlanke Lichtgestalt, und Hochwald hörte ihre helle Stimme noch durch die Halle trällern. – –
»Also doch,« sagte er, am Schreibtisch stehend, verloren in tiefes Sinnen. »Also doch! Aber ich gebe nicht nach – ihr junges Leben soll und darf dieser Schatten nicht trüben und vergiften und es vielleicht in den Staub treten für immer. Und solange ich da bin, über ihr zu wachen, solange werde ich auch für ihre Ruhe und für den Frieden ihrer Seele kämpfen.«
*
Kaum eine Woche nach jenem Julimorgen auf Hochwald, an einem schönen, sonnenlichtgetränkten Nachmittage fuhren vor dem Schloßportale, in welchem Marcell und Iris Hochwald zur Begrüßung standen, zwei Equipagen vor, in denen Madame Chrysopras mit Sascha und Sigrid, sowie der neugefürstete Boris mit seiner Gemahlin von der Bahnstation abgeholt worden waren. Das gab ein lautes, fröhliches Begrüßen, ein Umarmen, ein Fragen – denn die Familie Chrysopras war trotz aller Oberflächlichkeit doch warmherzig und voll Familiensinnes, Sascha strahlte förmlich vor Freude, bei den von ihr so sehr geliebten Menschen sein zu dürfen, und Boris versicherte im großartigsten Slang, den sein wahrhaft verblüffendes Reisekostüm lebhaft illustrierte, daß er sich »scheußlich« auf diesen Besuch gefreut habe. Fürstin Fuxia Ukatschin-Chrysopras geborene Miß Grant, die sich so leicht nicht von etwas imponieren ließ, kam aus ihren: » O, very splendid, very grand, indeed,« gar nicht heraus – die Arme hatte eben einen Jahrhunderte alten, in einer Familie gebliebenen Edelmannslandsitz noch nicht gesehen und hatte nun doch die vage Idee, daß solch ein ererbtes Heim mehr wert sei als alle modernen Millionärssitze in der neuen Welt zusammen.
Und Sigrid? Sigrid war lebhaft, lachte, scherzte, fragte, staunte über klein Siegfrieds rosige Fäustchen und blaue Augen – sie hatte Iris beim Ankommen auch umarmt und dem Fürsten mit einem Scherz die Hand gedrückt, aber Madame Chrysopras hatte recht in ihrem Briefe: sie war verändert. Sie, die Ruhige, Zurückhaltende, ergriff jetzt überall das Wort, nahm jedes Wortgefecht auf; – Iris hatte am ersten Abende ein gewisses Gefühl der Betäubung in Sigrids Gesellschaft – ein Gefühl der Betäubung, in das sich etwas wie Ärger mischte und schmerzlichste Enttäuschung. Was in aller Welt konnte Sigrid ihr so entfremdet haben? Aber sie würde sie gehörig ins Gebet nehmen, sie mußte beichten – und dann, dann mußte der Schatten weichen!
Während Iris mehr ihre Schwester beobachtete, betrachtete Marcell Hochwald das junge Ehepaar und verglich im Geiste seine eigenen mit diesen Flitterwochen. Er konnte sich beim besten Willen nicht zugestehen, daß er auch nur für eine Stunde lang solch ein Hampelmann in der Hand seiner Frau gewesen wäre wie der gute Boris, der sich in einer unausgesetzten Hetzjagd um die ausgesprochenen und unausgesprochenen Wünsche seiner Frau befand und wie ein Zinshahn zwischen ihr und den von ihr mit Blick und Wort begehrten Dingen herumsprang. Der Vergleich, welchen der Fürst zwischen Fuxia und Iris anstellte, fiel daher nicht sehr vorteilhaft für erstere aus.
Madame Chrysopras fühlte sich von der Eisenbahnfahrt und der Hitze in den Coupes sehr angegriffen.
»Macht, was ihr wollt, ich gehe schlafen,« erklärte sie nach dem Souper mit gewohnter Energie. »Morgen ist auch noch ein Tag. Apropos, wann kommt denn der Cavaliere?«
»Übermorgen,« erwiderte Hochwald etwas kurz und konnte sich's nicht versagen, hinzuzusetzen: »Nachdem du ihn so höflich eingeladen, Olga!«
Madame Chrysopras machte ihre halbschlafenden Augen noch einmal weit auf, sah erst nach der Gruppe am anderen Ende des Salons hinunter, in der Sascha sich befand, dann auf Sigrid, die in einem Kasten mit Photographien kramte, und zuletzt auf ihren Bruder.
»Ja, ist dir denn sein Besuch nicht recht, Marcell?« fragte sie erstaunt.
»Recht?« fragte er zurück. »Liebe Olga, wenn er dir auch als Schwiegersohn wünschenswert ist –« er brach ab.
»So braucht er dir doch immer noch nicht als Gast wünschenswert zu sein,« vollendete Madame Chrysopras. »Das wolltest du doch sagen, wie? Ja, aber, liebes Herz, warum hast du denn das nicht gleich geschrieben? Wir haben ihn in Florenz als täglichen Gast!« sie zuckte mit den Achseln.
»Aber Olga, du schreibst, daß die Einladung auf Sigrids Vorschlag geschehen,« erwiderte Hochwald lachend und ohne Schärfe. »Wär's da nicht eine maßlose Unhöflichkeit gegen den Mann gewesen, ihm nicht umgehend die Einladung zu schicken, auf die er nach deiner Angabe schon wartete?«
»Natürlich!« gab Madame Chrysopras zu. »Es war mir eigentlich nie aufgefallen, daß Spini dir unangenehm war!«
»Nein, das ist auch nicht der Fall, liebe Olga,« sagte der Fürst wie vorher, ohne Schärfe. »Aber offen gesagt – es lag mir nicht viel daran, ihn bei uns zu haben; man ist niemals unter sich, und Iris mag ihn, glaub' ich, auch nicht sonderlich gern. Er ist ein gewandter Mensch, vielseitig gebildet, das ist wahr, aber doch stark auf der Grenze des Abenteurertums. Frauen sehen darin nicht so tief wie wir Männer, weil wir mehr Gelegenheit haben, hinter die Coulissen zu blicken, und ich habe Spini leider etwas tief in die seinigen geschaut – unfreiwillig zwar, aber der Blick hat mir genügt. Doch es ist nun nicht mehr zu ändern, daß er kommt, also machen wir gute Miene zum bösen Spiel!«
»Thun wir das,« erwiderte Madame Chrysopras. »Aber es thut mir leid, dir einen unwillkommenen Gast aufgedrängt zu haben, Marcell! Ich wäre auch wirklich nie auf diesen Gedanken verfallen, wenn Sigrid mir nicht so klar gemacht hätte, daß dieser Besuch eine Chance für Sascha sei, wie sie sich nicht wieder biete. Und da Sascha nun leider einmal äußerlich so sehr ihrem seligen Vater ähnlich ist – –«
»Ja, Sigrid ist rührend in ihrer Freundschaft,« unterbrach Hochwald das alte Klagelied seiner Schwester über die Häßlichkeit des seligen Chrysopras so ironisch, als seine Herzensgüte es überhaupt erlaubte.
»Sigrid aber kramte weiter unter ihren Photographien, lächelnd und ohne sich in das dicht neben ihr stattfindende Gespräch zu mischen – sie ließ Madame Chrysopras sich erst zurückziehen, und als Hochwald dann in den Salon zurückkehrte, rief sie ihn mit einer Frage über eines der Bilder an ihre Seite.
»Ich wollte Tante Olga vorhin nicht widersprechen,« sagte sie dann etwas unvermittelt, »aber du kennst sie ja besser als ich und weißt, wie sie ein halb im Scherz und halb ohne jede Bedeutung gesprochenes Wort oft gleich mit Energie und Enthusiasmus aufgreift. Das ist also meine ganze Schuld an der Einladung des Cavaliere.«
»O, lassen wir doch dieses Thema – es ist erledigt, wirklich,« erwiderte Hochwald ohne Rückhalt. »Er kommt – und damit ist jede weitere Erörterung ohne Zweck und soll uns den Frieden nicht stören.«
»Ja, aber wenn du so starke Gründe gegen ihn hast –,« meinte Sigrid, ihrem Schwager voll und prüfend ins Antlitz sehend.
»Nun, vielleicht ist über diese auch zu streiten.«
»Streiten wir,« sagte sie lachend. »Also heraus damit, Herr Schwager!«
»Heraus? Womit?«
»Nun, mit deinen Gründen gegen den Cavaliere – Pardon, den Marchese Spini.«
Fürst Hochwald stand wieder von dem Sessel auf, in den er sich gesetzt.
»Pardon auch meinerseits, Sigrid,« sagte er, »ich habe das Geheimnis Spinis bisher respektiert und werde es jetzt nicht preisgeben, wo er als mein Gast unter mein Dach kommt! Du begreifst das, nicht wahr?«
»Es kommt darauf an,« erwiderte sie, zurückgebogenen Kopfes, mit jener Dosis von Widerspruchsgeist, der hübsche junge Damen manchmal sehr pikant macht. »Es kommt immer auf das ›Wie‹ an, Marcell! Erstens, das Wort Geheimnis an und für sich ist schon so wundervoll provozierend –«
»Warum?« unterbrach er sie. »Wenn du zum Beispiel falsche Zähne hast oder falsche Haare, ohne daß es ein Mensch merkt, so ist das dein Geheimnis, das aber für mich absolut nichts Provozierendes hat.«
»Falsche Zähne und Haare sind aber auch nichts Ehrenrühriges, Düsteres oder Gemeingefährliches!« behauptete sie, Hochwald immer scharf ansehend.
»Ja, wer hat dir denn gesagt, daß Spinis Geheimnis eines dieser Prädikate verdient?« fragte er etwas kühl.
»Nun, du selbst durch deine Geheimnisthuerei,« erwiderte sie keck.
»So?« sagte er sehr ruhig. »Nun, dann hast du entweder mehr herausgehört, als ich gesagt habe, oder ich habe mich sehr unvorsichtig ausgedrückt. Das ist zwar in solchen Angelegenheiten, die eines Menschen heikle Seite berühren, sonst nicht mein Fehler, aber mir eine Warnung zur Vorsicht –«
»Ja, ja,« rief Sigrid, hell auflachend. »Wie singt Basilio im Barbier von Sevilla? Die Verleumdung, sie ist ein Lüftchen –«
»Das Citat stimmt nicht, Sigrid,« unterbrach sie der Fürst, der die Geduld zu verlieren begann. »Ich habe Spini durchaus nicht verleumdet – das ist ein Geschäft, das ich bisher immer neidlos den Klatschbasen überlassen habe. Außerdem habe ich gar kein Interesse daran, ihm zu schaden!«
»Das thust du aber, wenn du nicht sagst, um was es sich handelt,« rief Sigrid mit Halsstarrigkeit.
»In wessen Augen? In den deinen?« fragte er scharf. »Oder in denen meiner Schwester? Bei letzterer habe ich wohl das Recht, sie aufmerksam zu machen, aber da dir der Cavaliere seine Anbetung zu Füßen legt und nicht meiner Nichte, so ist wohl das offene Wort, daß mir ein anderer Schwager lieber wäre, auch kaum müßig angewendet!«
»Ah,« sagte Sigrid ernst werdend, »jetzt tritt unser Gespräch in eine ganz andere Phase. Gesetzt also, ich wollte Spini meine Hand reichen –«
»So würde ich kraft meines Amtes als dein Vormund die dir zugedachte Ehre ablehnen,« vollendete Hochwald. »Aber du wirst nächstes Jahr mündig und bist dann deine eigene Herrin.«
»Ja, die Wartezeit würde keine lange sein,« meinte Sigrid ironisch, aber durchaus ruhig. »Meinst du aber nicht, daß ich erfahren müßte, warum Signore Spini dir nicht als Schwager, oder präciser ausgedrückt, mir als Gatte nicht annehmbar ist?!« –
Hochwald antwortete nicht gleich.
»Sprichst du pro domo oder nur gesetzten Falles?« fragte er dann.
» Chi lo sa?« machte sie lächelnd.
»So! Wenn du also damit ausdrücken willst, daß der Cavaliere in der That unter dem Vorwande der armen Sascha von dir hierhergebracht worden ist, um sich mit dir zu verloben, so schreibst du ihm bester morgen, daß die Luft hier ungesund ist. Die Posttasche wird um 10 Uhr geholt.«
Nun lachte Sigrid hell auf – sehr lustig, aber ein kundigeres Ohr hätte es doch als ein Theaterlachen erkannt, so sehr es auch »erster Klasse« war.
»Wenn ich mich mit dem Cavaliere hätte verheiraten wollen, so hätte ich das schon vor zwei Jahren in Rom haben können,« sagte sie höchst belustigt.
»Deines Vaters Einwilligung vorausgesetzt,« war Hochwalds trockene Antwort, über die sie nur noch ärger lachte.
»Vielleicht hat Papa das Geheimnis des Cavaliere nicht gekannt,« meinte sie neckend, doch der Fürst zuckte hierzu nur mit den Achseln; da die anderen jetzt herantraten, hatte das Gespräch sowieso ein Ende.
Man trennte sich bald darauf auch für die Nacht; da es aber noch nicht spät war, so begleitete Iris ihre Schwester auf deren Zimmer, das sie mit jenen tausend Dingen ausgestattet hatte, an die eben nur die Liebe denkt zur Freude und Bequemlichkeit des Gastes.
»Komm, Schatz, heut' bürste ich wieder einmal dein Haar wie in den alten Zeiten,« sagte sie herzlich, und bald saß Sigrid im weißen Pudermantel vor dem Spiegel, das goldene Haar lang aufgelöst, hinter sich Iris mit der Elfenbeinbürste.
»Wer mir das an meiner Wiege gesungen hätte, daß eine Fürstin dereinst Kammerjungferndienste bei mir versehen würde,« sagte sie lachend, aber Iris hörte doch das Herbe im Scherze heraus.
Sie schlang ihre beiden Arme um den Hals der Schwester und küßte leis deren zarte Wange.
»Nicht wahr, Sigrid, jetzt steht nichts mehr zwischen dir und mir?« fragte sie herzlich.
»Was sollte denn zwischen uns stehen?« erwiderte Sigrid nachlässig, aber ihren Kopf aus den weichen Armen befreiend.
»Wenn ich das wüßte – ein namenloses Etwas, das mich oft recht elend gemacht hat,« antwortete die junge Frau. »Ich habe mich oft gefragt, ob ich's verschuldet haben könnte, aber ich weiß nicht darauf zu antworten –«
»Du sprichst in Rätseln, Iris,« unterbrach sie Sigrid ohne Lachen, aber auch ohne Herzlichkeit im Ton.
»Nun, wir wollen das Vergangene ruhen lassen,« sagte die Fürstin warm. »Aber sei versichert, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Daß ich dich nicht in meine Gefühle für Marcell gleich einweihte? Sigrid, das hättest du im gleichen Falle auch nicht über die Lippen gebracht.«
»Rätsel, Iris, Rätsel!« rief Sigrid mit forcierter Lustigkeit. »Sag' mir lieber, was du und Marcell gegen Spini habt?«
»O – wohl nichts besonderes,« meinte Iris zerstreut.
»Doch – Marcell that aber, als wenn's etwas Besonderes wäre,« verfolgte Sigrid ihr Thema.
»Dann wird Marcell auch seine Gründe haben, Sigrid. Ich kenne sie nicht!«
»Ach, bitte, dann frag' ihn und erzähle mir's, ja? Bitte, bitte! Ich möchte zu gern eine Kandare für meinen Courmacher haben, weißt du – das gäbe einen famosen Ulk!«
»Pfui, Sigrid! Wie kannst du einen Menschen, der es offenbar ernstlich mit seiner Zuneigung meint, so grausam quälen, da es dir doch nicht einfällt, ihn zu heiraten,« sagte Iris mit sanftem Vorwurf.
»Da er Sascha heiraten soll, bleibt's ja in der Familie,« war die frivole Erwiderung. Iris stieg das Blut höher in die Wangen, aber sie schwieg und bürstete sorgsam das lange goldene Haar, das mit seinen Spitzen fast den Boden berührte. Nach einer Weile begann sie wieder, mit der alten Herzlichkeit zu reden.
»Ich bin nämlich mit meinen Vorwürfen noch nicht fertig,« sagte sie, »obgleich »Vorwürfe‹ wohl nicht das rechte Wort ist. Ich meine, deine Verstimmung gegen mich muß doch sehr, sehr tief gewesen sein, daß du mir nicht einmal geschrieben hast in dieser ganzen langen Zeit!«
»Nicht geschrieben?« rief Sigrid entsetzt. »Ich habe dir zum Geburtstag, zu Neujahr und zum Baby gratuliert! Das ist mehr, als ich in meiner Schreibfaulheit von mir selbst erwartet habe.«
»O, Sigrid, sagte Iris sanft, »nennst du die paar konventionellen Phrasen, die ich von dir erhalten habe, Briefe? Aber ich habe mich nicht davon abschrecken lassen, sondern geglaubt, durch doppelten eigenen Eifer dich zu besiegen. Es war umsonst.«
Sigrid, die bisher geradeaus in den Spiegel geblickt, schlug jetzt die Augen nieder.
»Ich kann keine Briefe schreiben,« sagte sie unsicher. »Alles, was dabei über den gewöhnlichen Bericht hinausgeht, alles, was das eigene Empfinden berührt, sieht auf dem Papiere so schrecklich steif und gedrechselt und lächerlich aus. Ich bringe es nicht über mich.«
Iris schwieg. Sie legte die Bürste auf den Toilettentisch, flocht das schimmernde Goldhaar der Schwester ein und strich noch einmal leicht mit der Hand darüber. Dann sagte sie:
»Wir wollen auch darüber nicht rechten, Sigrid. Ich hatte nur gemeint, es müßte dir wohlthun, mit mir, wenn auch nur durch die Feder, von dem lieben Toten reden zu können, der uns so plötzlich entrissen wurde – von unserem Vater. Ich zweifle nicht an Olgas und Saschas Teilnahme für uns, aber sie haben ihn doch nicht so gekannt wie wir, sie können die Tiefe unserer Trauer um ihn nicht ermessen. Ich meine, dieses Thema hätte dich beredt machen müssen.«
Sigrid stand auf und reichte Iris die Hand – sie schien bewegt.
»Ich bin keine der Aussprache bedürftige Natur, du weißt es. Ich verarbeite alles allein in mir – Trauer, Schmerz und Freude. Das habe ich von unserer Mutter, nur, daß diese Verschlossenheit bei ihr niemand verletzte, sondern wie eine zarte Rücksicht auf andere wirkte. Ich bin eben anders geschaffen – herb, hart. Und doch hab' ich auch ein Herz, aber ein Herz, das nach Rache schreit, wenn es getreten wird –.« Sie hielt ein, erschrocken darüber, daß sie schon so viel gesagt, was ihr Inneres verraten konnte. Sie senkte das Auge vor Iris' klarem Blick und fuhr dann fort: »Ich habe es sogar sehr vermißt, mit dir nicht über mancherlei reden zu können, was Papa betraf.«
»Nicht wahr? O, das wollen wir aber jetzt nachholen,« rief die warmherzige junge Frau lebhaft aus. »Jeder einzelne Zug seines lieben, gütigen Herzens kommt in der Erinnerung so schön zurück und verklärt sein Bild in unserem Gedächtnis. Du hast recht, das läßt sich schwer beschreiben!«
»Ja,« sagte Sigrid zögernd. »Das meinte ich eigentlich aber nicht. Ich sagte dir ja schon, ich tauge nichts für den wechselseitigen Austausch von Gefühlen. Es hat mich aber schon oft danach verlangt, mit dir über das zu sprechen, was mir immer noch unklar, ja rätselhaft ist. Ich meine Papas Testament, sein Nachlaß vielmehr.«
»O,« erwiderte Iris, bitter enttäuscht, »ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht.«
»Natürlich nicht – das sind äußere Dinge, um die Maria sich nicht kümmert, die aber in Marthas Ressort schlagen,« war die bittere, fast höhnische Erwiderung.
Iris unterdrückte mit großer Selbstbeherrschung ein herbes Wort, das sich sehr gegen ihren Willen auf ihre Lippen drängte. Aber die Sanftmut und Freundlichkeit ihres Herzens siegte wie immer.
»Gute Nacht,« sagte sie statt aller Antwort.
»Es ist ja noch nicht spät, meinte Sigrid mit einem Blick auf die Uhr, die allerdings erst wenige Minuten über die zehnte Stunde zeigte. »Komm, steige herab aus deinen Wolkenhöhen und schwatze mit mir sterblichem, an der Erde klebendem Wurm.«
Und sie zog Iris neben sich auf ein Sofa nieder, und die junge Frau blieb, wenn auch widerwillig, denn Sigrids Scherze klangen ihrem Ohre nicht wohl. Und Sigrid merkte das.
»Siehst du, Kind, du bist jetzt in einer Lebensstellung, wo die materiellen Dinge der Welt dir ganz aus den Augen gerückt sind,« beeilte sie sich zu sagen. »Das sollte also kein Vorwurf sein. Doch, wovon ich reden wollte – ja, Papas Nachlaß. Wenn du einmal darüber nachdenken willst, so wird dir auch rätselhaft sein, wie Papa solch eine Summe hinterlassen konnte. Wir haben immer von den Zinsen eines Drittels derselben gelebt. Warum? Du kannst das natürlich ebensowenig wissen wie ich – vielleicht aber hat Papa in seinem nachgelassenen Briefe an Marcell darüber Klarheit gegeben –?«
»Ich weiß es nicht,« entgegnete Iris. »Marcell hat mir nie etwas von dem Inhalt des Briefes gesagt.«
»Ah – ich dachte, zwischen Eheleuten gäbe es keine Geheimnisse,« sagte Sigrid leicht.
»Nein, die giebt es nicht. Aber wo der Wille eines Heimgegangenen Schweigen geboten hat, wird niemand plaudern,« erwiderte Iris ernst.
»Schweigen – warum Schweigen?« wiederholte Sigrid nachdenklich. »Gleichviel. Das zweite Rätsel ist die ungenannte Pate, welche dich zur Erbin von Geld, Schmuck und einem verschlossenen Kasten gemacht hat. Apropos, was hast du darin gefunden?«
»Ich habe noch nicht nachgesehen.«
»Was?« Sigrid sprang auf. »Willst du damit sagen, daß du den Kasten thatsächlich noch nicht aufgemacht hast? Nein? Nun, das zeugt freilich von so wenig Neugierde, daß man's fast Teilnahmlosigkeit nennen möchte. Oder hat Papas hinterlassener Brief an dich dir gesagt, was sich in dem Kasten befindet?«
»Ich habe auch den Brief noch nicht gelesen, Sigrid! Marcell bat mich damals, damit zu warten, bis der erste Schmerz vorüber sei, und ich gab ihm den Brief zur Aufbewahrung. Marcell meinte, der Brief enthielte nichts Persönliches, vielleicht kaum ein paar Worte, die sich auf den Kasten und den Schlüssel bezögen.«
Sigrid kreuzte die Arme und sah mit einem unbeschreiblich spöttischen Lächeln auf Iris herab.
»Merkwürdig, daß Charaktere, wie der deinige, solch harte, fühllose Seiten haben können,« sagte sie schneidend. »Hätte mein Vater mir eine Zeile hinterlassen, Gott weiß worüber, mit einem letzten Gruße an mich – auf alle Fälle – ich, die Phantasielose, die praktische Martha, ich hätte gedürstet nach diesen Zeilen, hätte sie als eine Reliquie gehalten und mich in ihrem Besitze weit weniger als eine Waise gefühlt. Aber freilich – bei mir ›meint‹ ja auch kein Marcell irgend etwas! Du bist so reich an Liebe und Glück, daß die letzten Worte des Vaters in seiner Todesahnung für dich wertlos geworden sind –.«
Iris war sehr bleich geworden. Jetzt stand auch sie auf und schnitt mit einem Blicke der Schwester das Wort ab.
»Schweig!« gebot sie ohne Zorn, ohne Schärfe, aber mit einer Überlegenheit des Herzens, die Sigrid sofort verstummen machte. »Du hast kein Recht, nicht das geringste, so zu sprechen. Marcell weiß, daß ich gegen diesen unseligen Kasten eine vielleicht sehr thörichte Abneigung habe. Ich weiß auch nicht warum, aber man kann ja nichts gegen solche Dinge. Gute Nacht!«
Und sie ging jetzt wirklich, ohne daß Sigrid versucht hätte, sie zurückzuhalten.
»Es hat getroffen,« murmelte diese, als die Thür sich hinter der jungen Frau geschlossen. »Gleichviel – ich muß hinter das Geheimnis dieser unbekannten Pate kommen. Und was meinen treuen Verehrer, den Herrn Marquis in der Maremma anbelangt, so wird er mir helfen – er wird!«
Iris war aus dem Zimmer ihrer Schwester erst in das Kinderzimmer gegangen, dem kleinen Siegfried einen Gutenachtkuß zu geben, und ging dann in ihr Ankleidezimmer, einen großen, schönen Raum mit Rokokoeinrichtung, wo auf dem spitzenbekleideten Toilettentische das schönste Necessaire in mattem Golde und Emaille ausgebreitet lag. In diesem behaglichen, kostbar ausgestatteten Raum fand sie den Fürsten lesend vor – er hatte auf sie gewartet. Ein Lächeln, wie ein Sonnenstrahl durch Regengewölk, ward ihm zum Gruße, aber das Auge der Liebe sah doch gleich, daß Iris ihr Gleichgewicht verloren hatte.
»Wo fehlt's, mein Liebling?« fragte er, ehe Iris gesprochen hatte.
Sie sah ihn überrascht an.
»Wie gut du in mir lesen kannst,« sagte sie mit naiver Freude. »Jetzt, an deiner Seite, fehlt's nirgends mehr, vorher aber hatte ich so ein rebellisches Gefühl, solch Empfinden, als ob meine Geduld und meine Fähigkeit, Sigrids Besuch und Nähe zu ertragen, heut' schon zu Ende wären. Das war schlecht und boshaft von mir, denn ich muß schuld sein an ihrer Veränderung, wenn auch unwissentlich. Nein – ach, wozu wiederholen, was sie gesagt hat. Zuletzt warf sie mir Lieblosigkeit und Mangel an Pietät vor, weil ich Papas Brief noch nicht gelesen – du weißt, der den Schlüssel zu der schwarzen Trübe enthält. Sie mag recht haben, gewiß, aber dennoch hat's mich empört und mich zornig gemacht, während ich Mitleid mit ihr haben sollte. Doch das bessere Gefühl, das Mitleid und die Geduld werden siegen, Marcell – nicht wahr, das traust du mir zu?«
»Ich traue dir jeden schönen und edeln Charakterzug zu, Iris. Es wäre auch schlimm, wenn mein Glaube in dich und dein schönes Herz auch nur die leiseste Schwankung erlitte. Doch was Sigrid betrifft – nein. Lieb, ich will nicht hart sein gegen sie und ungerecht. Sie ist deine – deine Schwester. Vielleicht thust du aber gut, intimere Gespräche mit ihr zu meiden, solange sie sich in dieser geistigen Verfassung befindet.«
»Das will ich, Marcell. Und wenn sie fragt, warum ich ihr ausweiche, will ich ihr die volle Wahrheit sagen.«
»Das wäre das beste, denn Gewitter reinigen die Luft. Und was den Brief deines Vaters betrifft –«
»Ich werde ihn morgen lesen – nicht heut'.«
Fürst Hochwald erhob sich und ging ein paarmal sinnend auf und ab. Dann blieb er vor Iris stehen mit einem Ausdruck unendlicher Liebe im Blick.
»Du sollst den Brief lesen, wenn du es für deine Pflicht hältst,« sagte er gütig. »Und was er auch enthalten mag – ich bin bei dir, es tragen zu helfen!«
»Du meinst also, Marcell, er könnte eine Unglücksbotschaft enthalten, irgend etwas Schreckliches, Furchtbares?« fragte sie mit angsterfülltem Blick.
»Nein, das glaube ich nicht,« sagte er, sie an sich ziehend. »Aber vielleicht giebt er dir Rätsel auf, die zu raten du dich versucht fühlen möchtest. Und es ist nicht immer heilsam und glückbringend, des Lebens Rätsel zu durchdringen.«
*
Am nächsten Morgen, nachdem sie im Arbeitszimmer des Fürsten gemeinsam unter vier Augen das Frühstück genommen hatten, übergab Hochwald seiner jungen Frau den Brief des Grafen Erlenstein, den er bisher für sie verwahrt hatte. Doch während sie ihn noch zögernd in der Hand hielt, wurde der Fürst abgerufen und mußte sich zur Erledigung wichtiger Geschäfte in das Rentamt begeben.
Eine Weile, nachdem er gegangen, saß Iris unentschlossen und unbehaglich in dem Arbeitszimmer mit dem unerbrochenen Briefe, dann erhob sie sich und trat in die anstoßende Bibliothek: einen großen, oblongen Raum mit gemalten Fenstern und kassettiertem Tonnengewölbe, die Wände bis obenhin mit Bücherregalen bestellt, um die in der Hälfte der Wandhöhe eine eichene, geschnitzte Galerie lief, zu der man auf einer Wendeltreppe gelangte. Vor den Thüren hingen köstliche alte Gobelins als Portieren – Himmels- und Erdglobusse standen in der Mitte des Raumes, den ein mächtiger Lesetisch, mit grünem Maroquin bezogen, einnahm, sowie etwa ein Dutzend bequemer, grüner Maroquin-Sessel, die gleichfalls einer längst entschwundenen Zeit angehörten.
Iris legte den Brief auf den Tisch, öffnete eines der mit Wappen und Ornamenten bemalten Fenster, daß die köstliche Sommermorgenluft mit einem ganzen Strom von Rosenduft hereindrang – und dann trat sie an eines der verschlossenen und mit kostbaren Teppichen verhängten Bücherregale, das die Handschriften auf Papyrus und Pergament, die Schätze des Majorats an alten Bibeln und Missalen enthielt, die lange vor Erfindung von Gutenbergs Kunst geduldige Mönche abgeschrieben und mit kunstreichen Initialen und Miniaturen verziert hatten. Aber nicht nach solch einem Denkmal alter christlicher Kunst suchte Iris – sie zog aus einer dunkeln Ecke dieser Schatzkammer der Hochwälder Bibliothek jene Truhe hervor, die, ein noch unberührtes Vermächtnis, ihr Eigentum war, ohne daß sie sich des Besitzes erfreut hätte.
Sie stellte den Kasten auf den Tisch und setzte sich dann in einen der Sessel davor hin, den Blick auf den länglichen Kasten geheftet, dessen schwarzer Samtbezug und alter, kunstreicher Beschlag von Silber ihm etwas von einem Paradesarge verlieh. Und wie sie so dasaß, fühlte Iris wieder jenes Gefühl der Lähmung durch ihren Körper kriechen, das sie schon einmal empfunden. Es kam von den Füßen an ihr herauf und machte sie unfähig, ein Glied zu rühren, und ihr Herz schlug dazu in unregelmäßigen Schlägen so laut gegen ihre Brust, daß sie auf jenes seltsame Hämmern lauschen mußte, als könnte es ihr etwas offenbaren und erzählen. Das Fühlen, Hören, Sehen und Denken erstarrte allmählich in ihr, nur das Herz schlug fort, laut, rätselhaft. – –
Das leise Aufgehen der Thür rüttelte sie nicht aus dieser moralischen Lähmung auf – es verhallte ungehört und bedeutungslos vor dem seltsamen Klopfen des Herzens, das wie ein gefangener Vogel gegen seinen Käfig schlug. Als Sigrid, welche in die Bibliothek getreten war, um die neuesten Zeitungen dort zu lesen, Iris so sitzen sah, regungslos, aber mit offenen Augen vor der schwarzen Truhe, die schon so sehr ihre Neugierde erregt hatte, trat sie neben ihre Schwester hin und legte den Arm um den Nacken der jungen Frau.
»Bist du noch böse auf mich?« fragte sie leise. »Sei gut, Iris, denn ich weiß nicht, was ich rede, weil ich manchmal so unglücklich bin!«
Iris schreckte auf aus ihrer Erstarrung, aber nur halb, und Sigrids Bitte um Vergebung klang ziemlich bedeutungslos an ihr Ohr.
»O ja,« sagte sie mechanisch und wie erschöpft. »Wir sind ja Schwestern. Nein, ich bin nicht mehr böse. Nur außer mir war ich, denn ich habe doch Papa so geliebt.«
»Ich weiß es,« erwiderte Sigrid, den Blick auf die Truhe und den daneben liegenden Brief heftend. »Du willst ihn lesen? Oder thatest du's schon?« fragte sie darauf deutend.
Statt aller Antwort nahm Iris den Brief in die Hand und griff nach einem der auf dem Tisch liegenden Falzbeine, mit dem sie den Umschlag langsam aufschnitt, ohne die Siegel zu verletzen. Dabei fiel zunächst ein kleiner, in Seidenpapier gewickelter Gegenstand heraus, den Sigrid vom Teppich aufhob und aufwickelte.
»Ah,« sagte sie, einen kunstvoll gearbeiteten Doppelschlüssel zeigend, »das also ist die Springwurz für dieses Geheimnis in schwarzem Samt. Soll ich's öffnen?«
Iris nickte nur – sie hätte weder sprechen noch widersprechen können, denn sie fühlte die schreckliche Willenslosigkeit wieder über sich kommen. Sigrid nahm die stumme Zustimmung nur für eine natürliche Bewegung und beeilte sich, Gebrauch davon zu machen. Nach ein paar vergeblichen Proben öffnet der Doppelschlüssel die beiden kleinen Schlösser der Truhe. Mit einem feierlichen »Sesam, öffne dich,« schlug Sigrid den Deckel zurück und enthüllte unter einer Schicht weißen Papiers einen zweiten Behälter, dem die Truhe nur als äußere Hülle diente – eine sehr schlichte, längliche, hohe und schmale Schachtel von Pappe, beklebt mit dunkler Ledertapete und umkreuzt von schwarzen Seidenbändern, die den losen Deckel festhielten.
Das Iris kein Zeichen machte, kein Wort sagte, das ihr Einhalt geboten hätte, so nahm Sigrid die Pappschachtel aus der Truhe und stellte sie auf den Tisch.
»Soll ich die Bänder lösen?« fragte sie, und Iris nickte wieder wie ein Automat, den Blick starr auf die Schachtel geheftet, die Hände mit dem offenen Briefe in dem Schoße, als könnte sie dieselben mit keiner Willensmacht regen und bewegen. Und ihr Herz schlug und schlug seinen unregelmäßigen Takt und hüllte ihre Gedanken in einen dichten, grauen Schleier – sonst hätte es ihr auffallen müssen, wie Sigrid ganz des Briefes zu vergessen schien, nun eines Rätsels Lösung so nahe war, eines Rätsels, dem sie oft nachgegrübelt bis zur Unerträglichkeit. Sie löste die schwarzen Bänder und schlug den Deckel zurück und enthüllte vier sauber in weißes Seidenpapier gewickelte Pakete von verschiedener Größe. Obenauf lag ein kleines Päckchen in rauhem, starkem Papier, mit Bindfaden verschnürt und mit einem großen Siegel verschlossen, dessen Abdruck durch einen warmen Metallstift oder Stab verwischt zu sein schien. Sigrid durchschnitt den Bindfaden mit einer Papierschere und schälte die äußere Hülle los, die sie in die Tasche steckte, ohne daß Iris etwas davon zu sehen schien. Die nächste Papierhülle enthielt, wenige, aber kostbare Schmucksachen – eine Brosche, bestehend aus drei in Kleeblattform gefaßten, echten grauen Perlen von besonderer Größe, ferner mehrere ganz dünne Armspangen von mattem Golde, nach etruskischem Muster gearbeitet, ein Medaillon von glatter schwarzer Emaille an einer federleichten Kette von Jett und zum Schluß vier Ringe für sehr schlanke Finger berechnet: ein Trauring mit der eingravierten Inschrift: F. Frh. v. R. 17. Juni 1867; und drei kostbare Diamantringe in verschiedenen Formen, deren einer mit einem länglichen, wundervollen Türkis geschmückt war und die Inschrift trug: F. Frh. v. R. 15. März 1866 – ein Verlobungsring.
»Wie gemacht für deine Finger – mir wären sie zu eng,« sagte Sigrid, die Ringe auf den Tisch legend und das Medaillon öffnend. Es enthielt das Miniaturbildnis eines Kindes, dessen Köpfchen mit großen weitgeöffneten blauen Augen in spitzenbesetzten Kissen lag – also ein sehr kleines, dem Stechbettchen noch nicht entwachsenes Baby, so alt wie der kleine Siegfried droben, dessen Porträt es ganz gut hätte sein können. Diese Idee rüttelte Iris etwas auf aus ihrer Lethargie – sie wollte nach dem Medaillon langen, aber die Hände versagten ihr den Dienst.
Sigrid hob nun das nächste Päckchen aus dem Kasten und entnahm dem nur lose umgehüllten weichen Papier eine Fülle zusammengewundenes, abgeschnittenes blondes Frauenhaar von einer Weichheit und jener seltenen, silberglänzenden Flachsfarbe wie die Haare von Iris – Haare, die von Sigrids Händen sorgsam gelöst lang wie ein Schleier herabhingen – köstliches, märchenhaftes Frauenhaar, sanft gewellt und seidenweich wie das Haar der Frau Holle, das sie im Herbst um die letzten Rosen spinnt – –
»Wie Marienfäden,« sagte die sonst so wenig in poetischen Vergleichen bewanderte Sigrid und legte die langen, lichten Strähne auf den Tisch, und wieder nickte Iris.
Das nächste Paket, das Sigrid herausnahm und entfaltete, enthielt ein dreieckiges Tuch von weißen, echten spanischen Spitzen, wie Damen es über dem Kopfe tragen, wenn sie in Gesellschaft oder ins Theater fahren. Nur war das wertvolle Tuch mit dem schönen Arabeskenmuster teilweise mit einer bräunlichen Flüssigkeit getränkt, die den einen langen Zipfel ganz färbte und das Tuch wertlos machte.
»Wie in Blut getaucht,« sagte Sigrid schaudernd und legte das zarte, seidene Spitzengewebe beiseite.
»Wie in Blut getaucht,« wiederholte Iris mechanisch.
Das letzte Päckchen, das Sigrid aus dem Kasten nahm, war nur klein. Es enthielt drei welke Rosen, zusammengebunden zum Sträußchen, die derselbe bräunliche Farbenton überzog, wie ihn die Flecke auf dem Spitzentuche zeigten. Weiter enthielt der Kasten nichts.
Sigrid legte die welken Rosen auf die Tischplatte nieder – die Sache hatte sie enttäuscht. Kein Papier, kein Brief, kein Name – nur diese paar Gegenstände, diese Frauenhaare – und keine Andeutung darüber, wem sie gehört haben mochten. Im ganzen ein sonderbares Vermächtnis, das durch seine Unerklärlichkeit auch an Interesse verlor. Warum kein Name? Aber vielleicht gab der Brief des Grafen Erlenstein, den Iris noch in der Hand hielt, Aufklärung über diese wunderbare Erbschaft? Wahrscheinlich wohl! Diese Reflexion leitete Sigrids Blick zum erstenmal auf ihre Schwester, und jetzt erst bemerkte sie deren seltsame Starrheit im Blick, deren Regungslosigkeit –
Und nun kam eine Versuchung über Sigrid. Wie, wenn sie diese Hinneigung zu einem seelisch paralytischen Zustand benützte und, wie damals in Florenz, ihre Macht, zu hypnotisieren, erprobte! Iris würde dann wieder auf die ihr vorgelegten Fragen antworten und den Zusammenhang der auf dem Tische ausgebreiteten Gegenstände erklären können. Aber freilich, wenn Marcell davon erführe – sie hatte ihm ja doch versprochen – – Gott bewahre, gar nichts hatte sie ihm versprochen! Er hatte ihr mit seinem Zorne gedroht, weiter nichts. Was brauchte er davon zu erfahren? Er war sicherlich jetzt ausgeritten.
Und Sigrid erlag der Versuchung. Sie heftete den Blick ihrer großen, kalten Augen auf Iris, diese Augen, deren helle Umrahmung den Blick noch kälter, fast drohend erscheinen ließ. Iris fühlte die Augen auf sich gerichtet – mühsam erhob sie den eigenen Blick zu dem der Schwester empor, und nun, da die zwei Paar Augen sich kreuzten, konzentrierte Sigrid ihre ganze Willenskraft auf den Wunsch, Iris in einen hypnotischen Schlaf zu versetzen. Die zunehmende Starrheit der Züge der jungen Frau belehrte Sigrid, daß ihr Wunsch erreicht sei, und da sie sich der Handbewegungen, welche der Cavaliere angewendet, nicht genau erinnerte, so sagte sie laut und befehlend und den Blick fest in das blasse Antlitz vor sich bohrend: »Schlafe!«
Da lehnte Iris das Haupt rückwärts gegen die Lehne des Sessels und die Augenlider fielen ihr schwer herab.
»Schläfst du?« fragte Sigrid.
»Ich schlafe,« war die mit leicht veränderter Stimme gegebene Antwort. Aber dies genügte Sigrid nicht. Sie zog eine Stecknadel aus ihrem Kleide und stach damit leicht Iris in die Hand.
»Fühlst du das?«
»Ja. Eine Nadel.«
»Du sollst nichts fühlen, gar nichts. Ich verbiete es dir. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
»Nun stach Sigrid von neuem, diesmal aber so stark, daß ein roter Blutstropfen auf Iris' weiße Haut trat.
»Fühlst du etwas?«
»Nein,« war die lächelnde Erwiderung, und in der That hatte Iris bei dem schmerzhaften Stich nicht gezuckt.
»So sage mir den Inhalt des Briefes, den du in der Hand hältst,« befahl Sigrid.
Auf dem lieblichen Gesichte der jungen Frau malte sich jetzt deutlich die Anstrengung, deren ihr Geist sich unter dem fremden Willen unterwerfen mußte. Sie bewegte den Kopf unruhig hin und her, ihre Brauen zogen sich schmerzlich zusammen, ihre Farbe wurde noch bleicher.
»Ich kann nicht,« murmelte sie.
»Du mußt,« befahl Sigrid hart. »Lies!«
Wieder begann das schmerzliche Mienenspiel, dann aber begann Iris den Brief, den ihr physisches Auge noch nicht gesehen, langsam und deutlich herzusagen: »Diese Zeilen, mein liebes Kind, sollen nur den Schlüssel zu der schwarzen Samttruhe umschließen, welche dir nach meinem Heimgange als dein Eigentum übergeben werden wird. Ihr Inhalt ist ein Vermächtnis, das ich gern vor meinem Tode zerstört hätte, da es hoffentlich für dich immer bedeutungslos bleiben wird. Aber ich habe mich zu solch einem eigenmächtigen Schritt nicht für berechtigt gehalten. Ich gebe dir, meine Iris, den Rat eines Vaters und Freundes, den Inhalt der schwarzen Truhe zu vernichten, bevor du ihn gesehen. Er würde dich zunächst enttäuschen, dann aber befremden, und da er, wie gesagt, wahrscheinlich stets bedeutungslos für dich bleiben wird, so ist es besser, du siehst die Dinge darin nicht.
Gottes reichster Segen über dich, meine Iris.
Ludwig Graf von Erlenstein.
Rom, im November 1885.« – – – – – – –
Sigrid stand, nachdem Iris geendet, einen Moment sinnend da. Dann nahm sie den Brief aus den Händen der jungen Frau, zog den vierfach gefalteten Bogen aus dem Umschlag und las den Inhalt. Derselbe stimmte Wort für Wort mit dem überein, was Iris eben hergesagt, und diese für Uneingeweihte fast unglaubliche, ganz märchenhafte Thatsache überwältigte Sigrid auch für den Moment so, daß etwas wie ein Gefühl von Furcht sie überschlich und ihr die Zähne zusammenschlugen vor Erregung. Aber sie war trotzdem nicht die Natur, sich von dem Übernatürlichen beherrschen zu lassen – in ihr lag es, dasselbe rücksichtslos für sich auszunutzen. Sie steckte deshalb den Brief zurück in den Umschlag, legte ihn auf den Tisch und ergriff zunächst das Medaillon, das darauf lag.
»Wessen Bildnis ist dieses?« fragte sie, nachdem sie die Kapsel in Iris' Hand gelegt.
»Mein eigenes!« rief diese mit naiver Freude zu Sigrids Überraschung.
»Wem hat das Bild gehört?« fragte sie weiter. Da wich das Lächeln von Iris' Zügen, und sie bewegte unruhig den Kopf hin und her.
»Es ist so dunkel, ich kann nicht sehen,« stöhnte sie.
»Du sollst sehen! Wem gehörte dieses Bild?«
Peinlicher, schmerzlicher wurde der Kampf in den Zügen der jungen Frau, sie stöhnte wie in unerträglicher Qual, aber Sigrid hatte kein Erbarmen.
»Sieh!« befahl sie hart.
»Ich sehe,« murmelte Iris matt. »Das Bild gehört der Frau mit den blonden Haaren!«
»Wie heißt die Frau?«
»Ich weiß es nicht!«
»Besinne dich! Ich will den Namen wissen!«
Ein Laut wie ein Todesröcheln brach über den blassen Mund von Iris.
»Ich kenne den Namen nicht –,« ächzte sie.
Sigrid überlegte. Sie mußte mehr wissen –! Richtig, die Haare! Sie legte die flachsblonden Strähne über Iris' Hände.
»Ihre Haare! Es sind ihre Haare!« flüsterte sie.
»Ihr Name! Du sollst ihren Namen sagen.«
»Ich kann nicht!« stöhnte Iris. »Sie schüttelt mit dem Kopfe – sie steht vor mir – ich soll den Namen nicht wissen. Erbarmen! Mitleid! Es ist unerträglich!«
Sigrid nahm unwillkürlich die Haare vom Schoße ihrer Schwester und legte statt deren die welken Rosen in ihre Hände.
»Rot! Rot!« schrie diese auf. »Rot von seinem und ihrem Blut! Die weißen Rosen sind gesühnt – gesühnt –«
Mit schwer arbeitender Brust hielt sie ein, und Sigrid nahm nun auch das Spitzentuch und legte es statt der Rosen über Iris' Hände. Da begann die junge Frau wie in Konvulsionen zu zucken, ihr Atem ging schwerer und schwerer, die Brust begann zu röcheln – – –
»Sprich! Wem gehörte dies Tuch?« fragte Sigrid blaß, aber entschlossen.
»Ihr! Sie trug es auf dem letzten Gange,« kam es erlöschend von Iris' Lippen.
»Wer trug es? Der Name! Ich will den Namen wissen!«
»Ja, ja, ja! Ich komme!« ächzte Iris und öffnete ihre Augen mit dem starren, blicklosen Blick, und dann stand sie auf, mit den Fingern krampfhaft das Tuch umfassend – sie machte zwei, drei Schritte seitwärts der Thür entgegen – – da glitten Tuch und Medaillon aus ihren Händen und mit einem dumpfen Schrei brach sie auf dem Boden zusammen.
Nun ergriff Sigrid eine ungeheure Angst. Nach dem ersten Moment des Entsetzens kniete sie neben der Bewußtlosen nieder, hob ihren Kopf hinauf, daß er in ihrem Schoß lag und rief ihren Namen: »Iris! Iris.«
»Ich höre!« kam es leise von deren Lippen.
»Wach' auf! Erwache! Erwache! Erwache! Ich will es!« rief Sigrid mit vor Angst wild klopfendem Herzen. Aber sie mußte es noch zehn-, fünfzehn-, zwanzigmal rufen, in wachsender Angst und Agonie, die ihren Willen schwächte, ehe Iris einen tiefen Atemzug that und langsam die Augen öffnete. Und gerade in diesem Augenblick tönten von außen her schnelle, energische Schritte und der Fürst trat in die Bibliothek.
»Großer Gott,« schrie er auf,« was ist hier geschehen?«
»Sie ist ohnmächtig geworden!« erwiderte Sigrid, thränenlos schluchzend vor innerer Erregung von der eben ausgestandenen Angst und in neuer, wilder Furcht vor der Möglichkeit, ja der Wahrscheinlichkeit, daß ihr Schwager die Wahrheit entdecken würde.
»Marcell!« kam es leise, wie ein Hauch über Iris' blasse Lippen. Ohne ein ferneres Wort zu verlieren, nahm der Fürst vorsichtig die dahingestreckte Gestalt in seine Arme, hob sie empor, als wäre sie ein Kind und trug sie in sein Arbeitszimmer, wo er sie auf das Sofa legte, neben ihr niederkniete, ihre Stirn mit Kölnischem Wasser netzte und das blasse, süße Antlitz küssend ihr tausend Liebesnamen gab.
»Was war mir nur?« fragte Iris verwundert und richtete sich halb auf. »Mein Kopf schwirrt noch,« meinte sie lächelnd, »und es braust mir vor den Ohren. Bin ich denn hingefallen?«
Hochwald stützte den Kopf, der sich wie bei einer welken Lilie zur Seite neigte, mit Kissen und bat Sigrid kurz, ein Glas schweren Weines zu holen. Doch Sigrid stand leichenblaß, mit strömenden Thränen zu Füßen des Sofas, als wollte sie selbst ohnmächtig werden, und das erfüllte Marcell mit Mitleid, und er ging das Glas Wein selbst holen, um vorläufig das Haus nicht zu alarmieren.
»Arme Sigrid! Hab' ich dich so erschreckt!« murmelte Iris matt, aber mit aufrichtiger, liebevoller Teilnahme.
Hochwald kam in fliegender Eile mit einem Glase Sherry zurück, das Iris halb leerte und sehr bald damit ihre Kräfte wiederfand, so daß sie sich ganz aufrichtete und lachend erklärte, wieder Walzer tanzen zu können. Davon wollte nun der Fürst freilich nichts wissen. Er zog seine Frau neben sich auf das Sofa nieder und legte ihren Kopf an seine Brust.
»Erst wird gefolgt und dann getanzt,« gebot er heiter, und dann sich zu Sigrid wendend, über deren regungsloses, blasses Gesicht die Thränen noch immer stürzten, meinte er freundlich: »Nun setz' dich hierher zu uns und beruhige dich. Du siehst, Iris scheint sich ganz zu erholen! Erzähle uns, wie alles gekommen!«
Sigrid ließ sich in den nächsten Sessel fallen – die Kniee brachen ihr, sie hätte nicht länger stehen können. Den Kopf in ihre beiden Hände stützend, verharrte sie einen Moment schweigend, dann begann sie mit eintöniger Stimme:
»Ich traf Iris in der Bibliothek vor der schwarzen Truhe mit dem Briefe ihres Vaters, aus dem der Schlüssel zur Erde fiel, als ich sie von rückwärts umarmte. Ich hob den Schlüssel auf und fragte, ob ich den Kasten aufschließen sollte, und that es auch, als sie ›Ja‹ sagte. Auf Iris' Geheiß habe ich den Kasten auch ausgepackt – Schmucksachen, Haare, ein Spitzentuch und welke Rosen waren darin. Als ich alles auf den Tisch gelegt, wandte ich mich nach Iris um und sah diese mit starren Augen, wie geistesabwesend im Sessel sitzen. Dies erschreckte mich derart, daß ich sie laut anrief, worauf sie wie eine Schlafwandlerin aufstand, ein paar Schritte that und dann zusammenbrach. Ich kniete neben ihr nieder, hob ihren Kopf in meinen Schoß – da öffnete sie die Augen – und im selben Moment kamst du herein, Marcell!«
Sie schwieg und trocknete die rinnenden Thränen von ihren Wangen – die Lüge hatte den warmen Quell versiegen gemacht.
»Ja, so war es,« nickte Iris wie fröstelnd. »Ich weiß, daß ich den Brief lesen wollte, und da kam es über mich, wie damals in Florenz, weißt du, Marcell, so schrecklich lähmend und furchtbar –! O, jetzt erinnere ich mich auch, daß Sigrid mich herausriß aus dieser Erstarrung, und daß ich dann ein Bild sah – Siegfrieds Bild! Es lag in dem Kasten!«
»Das wäre ja Hexerei, Liebling!« lächelte der Fürst ungläubig.
»Der Kasten enthielt in der That ein Medaillon mit dem Bild eines Kindes, blond und blauäugig – Siegfried wirklich etwas ähnlich,« bestätigte Sigrid.
»Und der Brief?« fragte Hochwald mit angstvoller Spannung.
»Ich habe ihn noch nicht gelesen,« sagte Iris mit der Überzeugung der Wahrheit, vor der Sigrid unwillkürlich die Augen niederschlug.
»O über euch Evastöchter,« rief Hochwald nicht ohne einen leisen Vorwurf. »War eure Neugierde auf die verborgenen Schätze des Kastens so groß, daß ihr sie sehen mußtet, ehe der Brief eures Vaters euch die nötigen Aufschlüsse darüber gab?!«
»Ja, Marcell, du hast recht,« fiel Iris ein, mit ihrem geraden und feinen Sinn für Recht und Unrecht und Wahrheit. »Und ich gebe dir mein Wort, es wäre nicht geschehen, wenn nicht jenes entsetzliche Gefühl über mich kam, das alles richtige Denken in mir lähmte. Und was Sigrid betrifft, so konnte sie gar nicht wissen, ob ich den Brief gelesen oder nicht!«
Sigrid schlug bei dieser nach Iris' Sinne gerechten Rechtfertigung abermals die Augen nieder.
»Nein, ich konnte das nicht wissen,« wiederholte sie mechanisch. Dann erhob sie sich. »Ich möchte in mein Zimmer gehen,« sagte sie leise.
»Ja, geh', Liebe, und erhole dich! Ich werde dir Wein heraufschicken und einen Bissen zur Erfrischung!« erwiderte Iris herzlich, indem sie aufstand und die eiskalte Hand der Schwester drückte. Und Sigrid ging.
Nach etwa zwei Stunden klopfte es an ihre Thür, und Fürst Hochwald trat ein in ihr hübsches Zimmer, wo sie, ein Buch in der Hand, in der Balkonthür saß.
»Ich komme, dir zu sagen, daß Iris sich vollständig wieder erholt hat,« begann er freundlich. »Wir haben eben mit den anderen eine Jachtpartie für heut' Nachmittag verabredet. Meine Schwester erinnert sich aus ihrer Jugend einer Segelfahrt nach einer der kleinen Inseln, wo man den Thee in einer Art von heiligem Haine trank, und so wollen wir's heut' ihr zuliebe thun. Du bist doch seefest?«
»Vollkommen. Es wird sehr hübsch werden,« meinte Sigrid.
»Ich hoffe es, das Wetter ist herrlich, die See spiegelglatt und doch mit einer frischen südwestlichen Brise. Die Seeluft wird dir und Iris wohlthun und eure Nerven stärken. Wie geht es dir?«
»O, ich danke, gut,« stammelte Sigrid. »Es war ja auch nur der Schreck und die Angst, als Iris zusammenbrach –«
»Ich weiß,« unterbrach sie Hochwald gütig. »Nun, wir haben zunächst deines Vaters Brief gelesen – derselbe empfiehlt die Vernichtung der in dem Kasten enthaltenen Gegenstände, und ich habe die Erfüllung dieses Wunsches für Iris übernommen. Doch was ist dir?« unterbrach er sich, als Sigrid einen Moment mit dem Taschentuch ihr Gesicht verhüllte.
»Nichts,« sagte sie matt. »Nur die Hitze – ich hätte die Balkonthür nicht in der Sonnenzeit öffnen sollen.«
»Nein, du vermeidest das besser,« pflichtete der Fürst bei und fuhr dann fort: »Die Vernichtung der Juwelen glaubt Iris unterlassen zu dürfen und hat mit ihrem stets richtigen Takt den Wunsch geäußert, Brosche, Armbänder und Ringe zu einem Werke der Barmherzigkeit zu verwenden. Ich konnte ihr in diesem schönen Sinne nur beipflichten. Doch alles dies ist es nicht, weshalb ich zu dir kam, Sigrid! Es geschah in dem Gefühl, dir in meinen Gedanken heut' unrecht gethan zu haben.«
»Du –? Mir unrecht?« fragte Sigrid verwirrt.
»Ja. Ich hatte dich vorhin im Verdacht, Iris wieder hypnotisiert zu haben – ein schmählicher Verdacht, und wie deine Sorge um Iris und deine Thränen gesagt haben, auch ein unwürdiger. Nun ist es aber meine Überzeugung, daß es niemand erniedrigt, sondern allemal ehrt, ein Unrecht zu bekennen, und darum kam ich zu dir, um dir zu sagen, daß der gegen dich gehegte Verdacht mir herzlich leid thut. Mehr noch. Die von dir an den Tag gelegte Angst und Sorge um Iris hat mir auch das häßliche Gefühl genommen, als liebtest du deine Schwester weniger als früher. Es liegt nicht in deiner Natur, deine Gefühle auszudrücken, und damit müssen wir rechnen. Also – unsere gute Schwester für immer!« Und mit wahrhafter Herzlichkeit drückte Hochwald Sigrids eiskalte Hand und beugte sich herab, ihre Stirn zu küssen. Da kam es wie ein Schwindel über sie – sie wankte und der Fürst mußte sie halten. Und dann sah sie auf zu ihm mit einem Ausdruck unaussprechlichen Wehes in den sonst so kalten Augen.
»Hab' Mitleid mit mir und Geduld,« sagte sie leise, »ich bin so einsam und liebelos –«
»Niemals bei uns,« erwiderte Hochwald herzlich und beugte sich herab und küßte ihren Mund zur Bestätigung – wie ein Bruder seine Schwester küßt. Dann geleitete er sie zurück an ihren Sessel, nickte ihr zu und ging weiter.
Als sein Schritt verhallt war, flog Sigrid gegen die Thür, verriegelte sie von innen und warf sich dann mit einem dumpfen Schrei zu Boden, wo sie wie vom Blitze gefällt liegen blieb, das Antlitz bedeckt mit den Händen, den Körper zuckend in konvulsivischen Schluchzen. Erst das Tamtam, das unten in der Halle zum erstenmal ertönte, schreckte sie empor; sie raffte sich auf und wankte mehr als sie ging vor ihren Ankleidespiegel, der ihr blasses, verzerrtes Gesicht mit schrecklicher Deutlichkeit zurückwarf.
»So also sieht eine Lügnerin, eine Meineidige, eine Betrügerin aus,« sagte sie, ihrem Spiegelbilde zunickend. »Ja, nennen wir's nur immerhin beim rechten Namen, wir sind ja allein, Sigrid Erlenstein! Gelogen hast du unten – gelogen aus purer Feigheit und Nichtswürdigkeit! Meineidig bist du, weil du gegen seinen Wunsch gehandelt, der dir heilig sein mußte, als hättest du darauf einen Eid geleistet, und betrogen hast du ihn, weil du seine edle Entschuldigung angenommen, ihn um seinen Kuß betrogen hast! Ach –!«
Sie senkte den Kopf, und schwere Thränentropfen rieselten auf ihre gerungenen Hände nieder, Thränen, die keinen heiligen Quell entströmten, wenn auch aus keinen, so trüben wie die Thränen, die unten zwei edle und der Verstellung unfähige Herzen gerührt und versöhnt und die doch nur aus Neid und Eifersucht und ohnmächtiger Wut über das Glück der ihr am nächsten stehenden Menschen geflossen waren. Und Sigrid dachte jener Thränen und schüttelte die jetzigen zornig aus den Augen.
»Was nützt's, daß er mich geküßt! Es macht mich nur noch elender!« murmelte sie, ihr Haar auflösend. »Ich muß fort von hier – ich ertrage es nicht, sie in Glück und Glanz zu sehen! Was konnte er mich nicht lieben, mich, deren Herz ihm gehört vom ersten Moment an, da ich ihn sah. Wenn er mich geliebt hätte, wäre ich gut geworden und großmütig und – – nein, ich werde hier bleiben!« schrie sie auf, indem sie sich vor die Stirn schlug. »Thörin, die ich war mit meinem unverhohlenen Haß, meiner Bitterkeit auf dem Präsentierteller für jedermann, Thörin, dreifache Thörin! Jetzt weiß ich's, wie ich's anfangen muß! Er selbst hat mir's gesagt und mir mit seinem Kusse selbst die Binde von den Augen gerissen. Was wollte ich denn so erreichen? Nichts, als daß sie mich schleunigst loszuwerden versucht hätten. So aber – –! Wer weiß, Sigrid Erlenstein, ob du nicht noch triumphieren wirst – –! Und morgen kommt der Cavaliere!« –
*
Eine halbe Stunde später nahm Sigrid, blaß zwar, aber sonst gefaßt und heiter, an dem gemeinschaftlichen Gabelfrühstück teil, herzlich gegrüßt von Iris, die in ihrer sorglos fröhlichen Weise sich anklagte, ihre Schwester so erschreckt zu haben.
»Ich muß mich nett benommen haben,« lachte sie, »daß du selbst fast ohnmächtig darüber geworden bist. Geschah aber sehr gegen meinen Willen, das kannst du glauben. Also mit Marcell hast du oben einen ewigen Bund geschlossen mit diversen Küssen? Ist recht so, das heißt, solange ich nicht eifersüchtig werde,« setzte sie neckend hinzu und mit jener Sicherheit, die das unbedingte Vertrauen der Liebe verleiht.
Sigrid wollte der leichte Ton nicht sogleich gelingen, und da sie einsah, daß die Maske in diesem Falle nur zur Fratze werden konnte, so hielt sie sich vorläufig weise zurück. Etwa eine Stunde nach dem Gabelfrühstück war die Jacht klar zum Segeln, und die kleine Gesellschaft ging an Bord der »Iris«. Es war ein köstlicher Nachmittag – klar. Warm und doch durch eine leichte Brise erfrischt, der Himmel blau, das Wasser von jenem unergründlichen Grünlichgrau, wie es eben nur die Nordsee hat, und in diesen: Wasser, auf dieser kaum leicht sich kräuselnden Fläche badete sich die nordische Sonne in ihrer ganzen Glorie und schuf darauf ein wechselndes, reizvolles Bild.
»Was giebt es Schöneres, Erhabeneres als unsere Nordsee?« rief Iris der Fürstin Fuxia zu, die mit Madame Chrysopras, Sigrid und Sascha zusammen unter einem gestreiften Zelte saß.
» Very splendid, indeed mit diesem Hintergründe,« sagte Fuxia mit einem sehnsuchtsvollen Blicke auf das weiße Schloß am Meere.
»Ja, es ist einzig schön, nicht wahr?« – nickte Iris mit naiver Freude. »Sie müssen sich auch am Meere ansiedeln, liebe Fuxia, ein Schloß bauen so recht nach Ihren Träumen. Nur nicht stilvoll, denn das ertötet die Behaglichkeit.«
»Was nützt mir ein neues Haus?« fragte Madame Ukatschin-Chrysopras verächtlich. »Ich habe früher nur für neue Häuser geschwärmt und die alten Eulennester und Spinnwebenwinkel genannt. Aber seitdem ich Hochwald kenne – sie seufzte leise.
»Des Hauses Herrin bedankt sich für das Kompliment,« erwiderte Iris heiter, mit einer graziösen Verbeugung.
»Ja, Hochwald ist ein prächtiges, altes Haus,« sagte Fuxia. »Ich fange an, die alten Häuser zu lieben.«
»Zu viel Ehre für mich selbst,« sagte Fürst Hochwald lachend. »Sie haben mich doch gemeint, Fuxia?«
Sie lachte, daß man ihre weißen Zähne sah.
»Wie werde ich mich unterstehen, meinen Onkel ein altes Haus zu nennen,« meinte sie heiter, die Hände hinter dem Kopf, darauf ein schwarzer Matrosenhut mit flatterndem Scharlachbande keck genug saß, verschränkend. »Mein Onkel!« wiederholte sie, »ist das nicht drollig? Als ich Sie zuerst sah – war's nicht bei Madame Chrysopras? – hätten Sie sicher doch nicht gedacht, daß ich Ihre Nichte werden würde.«
»Verschlungen sind des Schicksals Pfade,« erwiderte Fürst Hochwald mit Pathos.
»Damals meinte ich Sie selbst zu heiraten,« fuhr Fuxia mit verblüffender Offenheit fort. »Aber Sie haben mir nicht einmal die Cour gemacht!«
»Schlechter Geschmack, Fuxia – aber Boris hat die Ehre der Familie in dieser Beziehung zum Glück gerettet,« erwiderte der Fürst lachend.
»Ist sie nicht höchst chic?« krähte Boris, seine Frau betrachtend. »Die Zusammenstellung deines roten Haares, Fuxia, mit Scharlach ist einfach großartig. Schade, daß kein Künstler dich bewundern kann!«
»Worths Idee,« sagte Fuxia, einen Blick auf ihr creme-weißes Tuchkostüm mit kurzem Rock und Matrosenbluse werfend, deren scharlachroter Kragen die Weiße ihres Halses allerdings noch mehr hervorhob. »Ich war erst entsetzt über diese Idee, aber der große Mann lächelte nur verächtlich und hielt einen roten Zeuglappen gegen mein Haar. Der Effekt war überraschend. Man muß eben auch etwas wagen, selbst wenn die hergebrachten Ideen dadurch gestürzt werden.«
»Ja, Worth ist ein großer Mann,« meinte Madame Chrysopras schläfrig. Sie war mit der Siesta nach dem reichlich genossenen Frühstück noch nicht fertig, und das leichte Schwanken der Jacht ersetzte ihr vollständig die Wirkung eines amerikanischen Wiegestuhls, der sie nach dem Essen immer zu einem leichten Schläfchen aufnahm. »Sascha, sitz' gerade,« ermannte sie ihre Lebensgeister noch einmal, dann fiel ihr die halbangerauchte russische Cigarette aus der Hand, sie lehnte den Kopf zurück in ihren bequemen Bambusstuhl, und Gott Morpheus nahm sie in seine langen Arme.
Sascha hob die Cigarette auf und warf sie über Bord. Dann holte sie ihr Skizzenbuch und öffnete es.
»Still gesessen, Onkel, ja?« bat sie, dem Fürsten freundlich zunickend, der, Iris an seiner Seite, gern auf den Wunsch seiner Nichte einging, welche mit schnellen, sicheren Strichen eine Porträtskizze Hochwalds entwarf.
Langsam glitt die Jacht dahin auf der stillen See, die Küste weiter und weiter hinter sich lastend. Nordwestlich gerichtet durchschnitt der Kiel die glitzernde Flut, Inseln tauchten auf, kleine sandige Eilande mit spärlicher oder gar keiner Vegetation, wo die Möwen nisteten und nur die Fischer anlegten beim Fischfang. Dann, weiter hinaus kam ein Eiland in Sicht, dessen Ufer jäh herabstürzende Kreidefelsen bildeten, über die es herüberragte wie Baumkronen, Laubholz und dunkle Föhren.
»Da liegt unser Ziel,« sagte Iris, in die Ferne deutend, und der Fürst gab das Kommando zu einem nördlicheren Kurs.
»Das sieht aus wie Wald,« meinte Sigrid, die durch ein Fernrohr geschaut.
»Das ist Wald – eigentlich nur ein Hain, der Größe der Insel entsprechend,« erwiderte Hochwald. »In alten Zeiten war's ein heiliger Hain, dem Balder geweiht – vermutlich, weil dort der Frühling durch die geschützte Lage des Haines zeitiger kam als an den Küsten. Übrigens ein Eiland von ganz eigenem, melancholischem Reiz.«
»Melancholisch? Dann wundert's mich nur, daß Madame Chrysopras Gefallen daran gefunden hat!« rief Fuxia erstaunt.
Bei der Nennung ihres Namens schlug die Genannte die Augen auf, blinzelte, lächelte, gähnte, nahm aus ihrer Kleidertasche eine silberne Bonbonniere und naschte ein Fruchtbonbon.
»Nein,« sagte sie mitten in diesem Genuß mit der völlig wiederkehrenden Lebhaftigkeit ihrer Natur, »nein, wie reizend ist doch solch eine Jachtpartie! Die herrliche Seeluft – Sascha, sitz' gerade! – man fühlt sich um zehn Jahre jünger. Nur zehrt sie auch schrecklich – Kinder, ich hab' Hunger!«
»In einer Viertelstunde ankern wir, Olga,« tröstete der Fürst.
»Also in längstens einer Stunde giebt's Thee,« berechnete Madame Chrysopras und nahm daraufhin noch eine kandierte Erdbeere zu sich.
In der That lief die Jacht kurz darauf in eine kleine Bucht an der Südseite des Eilandes ein. Die Segel wurden gerefft, der Anker ausgeworfen, die Schiffstreppe angelegt und das Boot herabgelassen, denn die Bucht war zu seicht, eine bloße Watte, und man mußte per Boot ans Land.
»Ah, meine alte Balder-Insel!« sagte Madame Chrysopras gerührt. Man kam überein, daß Iris mit Fuxia und Sigrid, sowie die mitgenommenen Diener, welche die Ingredienzien zu einem solennen Fünfuhrthee mit sich führten, zuerst hinübergerudert werden sollten, um die Vorbereitungen zu treffen und den Platz zu wählen, da sie das Eiland natürlich gut kannten. Die kräftigen Arme der Matrosen brachten diese »Eclaireurs« der Partie binnen zehn Minuten an das hier ganz flache, sandige Gestade, und mit dem Rufe: »Kommt, ich weiß ein reizendes, köstliches Plätzchen,« eilte Iris voran, schnell eingeholt von Sigrid und Fuxia, die sie nur um die Ecke des hier bis ans Ufer sich erstreckenden Eichenhaines zu einem wirklich unendlich malerischen Plätzchen führte, wo uralte, knorrige Eichen ihre Zweige zu einem Dach verstrickten, unter dem ein geheimnisvolles, grüngoldiges Dunkel herrschte, während eine Lichtung wie eine riesenhafte Münsterpforte einen Ausblick gewährte auf das hier jäh abfallende romantische Ufer mit seinen Felsenblöcken, seinen wie von Kyklopenhänden umhergeschleuderten Findlingen, seiner schäumenden, tosenden Brandung, die ihren Gischt hoch in die Höhe warf, daß er im Sonnenschein aussah wie hell geschliffene Diamanten, die eine Wasserfrau im übermütigen Spiele emporschleudert.
»Hier laßt uns Hütten bauen und den Thee trinken,« rief Iris heiter, indem sie auf eine der mächtigsten Eichen deutete, unter deren Zweigen sich jenes weiche, lichte, graugrüne, silberschimmernde Moos ausbreitete, das dem Norden eigen ist.
»Ah, ja! Splendid, quite splendid!« bewunderte Fuxia, der Eiche zueilend. »Aber da liegt schon etwas im Moose,« flüsterte sie, zurückfahrend.
»Was denn? Eine Boa constrictor?« fragte Sigrid lachend.
»Jedenfalls eine Personifizierung des Schlafes,« lachte Fuxia, und die drei schönen jugendlichen Gestalten traten vorsichtig näher. Richtig, da lag »etwas« schlafend im Moose, und zwar ein junger Mann, im eleganten Touristenanzug, den schönen ausdrucksvollen Kopf mit dem dunkeln, kurzgehaltenen welligen Haar auf die rückwärts gebogenen Arme gestützt. Neben ihm lag ein Buch, aber es standen auf dem aufgeschlagenen Blatte merkwürdigerweise keine landschaftlichen Aufnahmen, sondern Noten.
»Die Frist ist um, und abermals verstrichen
Sind sieben Jahr. – Voll Überdruß wirft mich
Das Meer ans Land … Ha, stolzer Ocean!
In kurzer Frist sollst du mich wieder tragen!«
las Iris. »Der fliegende Holländer!« sagte sie mit geheimnisvollem Flüstern.
»Gott bewahre! Siegfried – Parzifal! Ja, Parzifal, der reine Thor!« raunte Fuxia, auf das schöne, jugendliche, bronzefarbene Gesicht herabdeutend.
»Nichts als eine Boa constrictor, die hier Siesta hält,« lachte Sigrid leise, angesteckt von dem Übermut der anderen.
»Siesta hält – wiederholte Iris, »um nachher vielleicht den armen Tamino mit erneuter Wut zu verfolgen.«
»Töten wir den greulichen Wurm,« schlug Sigrid vor. »Wir sind zwar nicht die drei schwarzen Damen aus der Zauberflöte, sondern dafür weißgekleidet. Die Farbe thut aber nichts zur Sache!«
»Also aufgepaßt!« rief Iris in hellem Übermut, indem sie ihren Schirm wie einen Speer erhob. Fuxia und Sigrid thaten dasselbe, indem sie neben Iris in eine Reihe neben den Schläfer traten, um dessen Mund es verräterisch zuckte. »Eins, zwei, drei,« kommandierte sie, und die drei hellen Stimmen setzten in das erste berühmte Terzett der drei schwarzen Damen ein, indem sie ihre Schirmspitzen dem Fremdling auf die Brust setzten:
»Stirb durch uns, du Ungeheuer –«
Da schlug der Schläfer die Augen auf – zwei tiefdunkle, lachende, große, gefährliche Augen – –
»Ungeheuer ist gut,« sagte er, ohne die Lage zu verändern. »Aber der Sopran sang zu tief.«
Ein höchst übermütiges Lachterzett unterbrach das klassische des guten Wolfgang Amadeus – was braucht man sich auf einem einsamen Eilande in der Nordsee zu genieren!
»Ich bin nicht kitzlich,« versicherte der Fremde mitlachend, da die drei Sonnenschirmspitzen sich bei dem Heiterkeitsausbruch fester auf seine graue Touristenbluse aufsetzten. Sofort wurden die gefährlichen Waffen zurückgezogen und Fuxia sang ein Solo.
»Unselig holder Mann,
Hör'! Was ich dich muß fragen!
Den Namen sag' mir an!
Woher die Fahrt? Wie deine Art?«
sang sie musikalisch richtig mit ihrer kleinen, aber sympathischen Stimme.
Überrascht richtete sich der Fremde nun zu einer sitzenden Stellung auf und sang als Antwort ein anderes Bruchstück aus dem Lohengrin mit zauberhaft schöner, weicher und doch mächtiger, dunkel wie ein Baryton klingender Tenorstimme:
»Nun hört, wie ich verbotne Frage lohne!
Vom Gral ward ich zu euch daher gesandt:
Mein Vater Parzifal trägt seine Krone,
Sein Ritter ich – bin Lohengrin genannt.«
Fuxia stieß einen leisen Schrei aus, als diese wunderbare Stimme einsetzte.
»Die Stimme kenn' ich doch!« rief sie atemlos vor Entzücken, und lachend sprang der Fremde nun vollends in die Höhe.
»Bitte,« sagte er, sich tadellos verbeugend, »wenn man von drei Grazien angesungen wird, dann muß man sich doch mindestens revanchieren. Ich fange an, dieses Eiland, auf das ich heut' schon wie ein Rohrsperling geschimpft habe, höchst anziehend zu finden.«
»Weil die Kultur es in Gestalt eines Picknicks beleckt?« fragte Iris lachend, indem sie auf den Diener zeigte, der eben den Spiritus unter einem kupfernen Feldtheekessel entzündete.
»Halten Ihro Gnaden, das gnädige Fräulein Dryade mich für so materialistisch?« fragte der Fremde mit einem bewundernden Blick auf Iris' zarte, mädchenhafte Gestalt.
»Jedenfalls für hungrig,« gab sie lächelnd zurück.
»Ich danke Ihnen für diese gute Meinung,« rief er mit komischer Innigkeit. »O, es thut wohl, von einer fühlenden Seele verstanden zu werden, nachdem man eben erst mit einer Siesta haltenden, vollgefressenen Boa constrictor verglichen worden ist.« – Dabei sah er Sigrid an.
»Was?« rief diese empört, »Sie haben gar nicht geschlafen?«
»Aber, meine Gnädigste, versetzen Sie sich in die Lage Ihres unterthänigsten Knechtes,« sagte der Fremde demütig. »Ich liege hier im Moos, hungernd und über mein Geschick hadernd, das mich in diese Mausefalle gelockt, zu welcher als gebratener Speck die Gesellschaft eines Menschen diente, der Geist mit einer unwiderstehlichen Komik vereint – ein Köder, der sich als irrig erwies, gleichviel aus welchen Gründen. Da sehe ich Sie, meine Damen, um die Ecke biegen – eine Vision in Weiß und drei Nuancen Blond. Was sollte ich thun – ich, im beschmutzten Touristenkostüm, ein ganz unsalonfähiger Mensch, ein Erdenwurm, der die Augen schließen muß, wenn ihm die Sonne hereinscheint. Und nun gar noch drei Sonnen –«
»Sind Sie Ihres Zeichens Konzertredner?« unterbrach ihn Sigrid etwas spöttisch.
»Leider nein,« sagte der Fremde seufzend. »Versetzen Sie sich gnädigst nochmals in meine Lage! Muß ein Mensch nicht eloquent werden, wenn sich ihm auf solch einer vertrackten Insel plötzlich Menschen zeigen? Das heißt, ich nehme an, daß die Damen mir nicht nur erschienen sind, um in Nebel zu zerfließen,« setzte er mit einer unwiderstehlich-drolligen Liebenswürdigkeit hinzu.
»Das wäre im Hinblick auf diesen sich entfaltenden Fünfuhrthee geradezu grausam,« meinte Fürstin Iris lächelnd, eine große Blechdose voll delikater Sandwiches auspackend.
»Wo hab' ich Sie nur singen hören?« fragte Fuxia lebhaft. »Helfen Sie mir suchen, please – because I know your powerful and sweet voice!«
Doch ehe der Fremde antworten konnte, verkündete Hochwalds Stimme, der mit Sascha und Boris eben die Waldecke betrat, daß die Partie vollzählig sei, zugleich aber hatten die drei Damen unter der Eiche noch eine andere Überraschung. Aus dem Dickicht trat nämlich ein kleiner, dicker, ältlicher Herr mit einem kurzgehaltenen Backenbart, der Mund und Kinn frei ließ und nach Art einer sogenannten Holzhauerfraise auch den gleichfalls sogenannten Kehlbraten umhüllte. Hinter der Brille blitzten ein paar kluge Äugelein vergnüglich in die Welt und auf die Eitelkeit der Menschen, denn der Anzug des kleinen Herrn war durchaus nicht elegant, wenn auch solide, sein großer weißer Pflanzerhut hing ihm an einem Sturmbande auf dem Rücken, und die mächtige Glatze trocknete und rieb er sich im Gehen mit einem gelbseidenen Taschentuche. Kaum aber sah der kleine, dicke, ältliche Herr die ihm entgegentretende Gruppe, als er sich auch schon mit dem Ausrufe: »I nee, da brat' mer doch gleich eener 'n Storch – in einen für den Zuschauer überwältigenden Galopp setzte und den Fürsten Hochwald um den Hals fiel.
»Professor, Freund! Wo kommen Sie denn hierher?« fragte Hochwald überrascht, sobald er wieder Luft hatte.
»Nu, wo werd' ich denn herkommen?« strahlte der Kleine selig im reinsten Sächsisch. »Auf 'ner Ferienreise bin ich seit zwee Tagen und will da 'mal so nebenbei den Norden abgrasen. Das Ding, die Insel hier, hat mich schon längst gelockt – mein Boot liegt fünf Minuten von hier. Aber nu, mein liebster Hochwald, stellen Se mich, bitte, Ihrer Gesellschaft vor und nehmen Se meine Toilette nicht übel!«
»Mein lieber Freund, der Professor der Geschichte Dr. August Glauchau aus Leipzig,« stellte Hochwald vor. »Wir trafen uns vor vier Jahren auf den Trümmern Karthagos und zogen zusammen den Nil entlang. Es war eine lange Reise, aber schön und unvergeßlich, durch Sie, liebster Professor!«
»Hören Sie, schmeicheln steht nicht auf dem Programm,« drohte der kleine Herr mit ganz glücklichem Gesicht. »Schön und unvergeßlich war die Reise durch Sie, mein bester Hochwald. Ja, glauben Sie denn, man trifft allemal, wenn man die Nase raussteckt in die Welt, einen Menschen, der einen versteht und dem's mit der Archäologie so ernst ist wie Ihnen? Nu nee! Sehen Sie, hier dieser junge Mann war mein Schüler, das heißt in der Geschichte und der Archäologie – na, er hat sich ja auch 'n paar ganz nette alte Lappen, Waffen und Möbel gesammelt – aber Tiefe, Verständnis für etwas, was sozusagen nach nischt aussieht und für'n Salon unbrauchbar ist – nicht für'n Sechser. Gestern hab' ich'n getroffen; riesig gefreut hat er sich, bummeln woll' er auch, und da's 'was Neues war, hat er sich angeboten, als mein Famulus mitzuziehen. Ja, sonst was! Das Rudern hat ihm noch Spaß gemacht, und dann hat er erklärt, 's Blut stieg' ihm in'n Schädel, wenn er in der Hitze auf der Erde 'rumrassaunen sollte. Und das will mein Schüler sein!« schloß der alte Herr seine Philippika gegen den armen Sünder, der lachend Zeichen der Reue in den Redestrom einflocht.
»Aber liebster Professor, Sie müssen eben mit den Unvollkommenheiten der menschlichen Natur rechnen,« sagte er, zu Worte kommend.
»Junger Mann,« erwiderte der Professor und Träger eines berühmten Namens mit komischer Würde, »junger Mann, Sie reden, wie Sie's verstehen und das ist nicht weit her, trotzdem Sie mein Schüler gewesen sind. Aber das kommt vom Umsatteln. Veranlagung, schöne Kenntnisse – alles in den Wind geschlagen. Sie brauchen nicht zu lächeln! 's mag ja richtig sein, daß Sie berühmter sind als ich, aber ich gönne Ihnen die paar Lorbeeren von Herzen! Meine Wirtin in Leipzig verwendet sie zu Ragoutsaucen!«
Alle lachten, am meisten aber der Gemaßregelte, und der Professor mit.
»Nein, dem Jungen kann man nicht böse sein,« sagte er. »Hat er sich schon vorgestellt? Nein? Aha, den Inkognitus gespielt! Nu nee, runter mit der Maske, denn wie Sie ihn hier sehen, meine Damen, ist er der ›vielgenannte Sänger und wohlgewandte Rattenfänger‹, und ›in keinem Städtchen kommt er an, wo er's nicht mancher angethan‹. Zu deutsch heißt das, er ist der Kammersänger unzähliger und unaussprechlicher Potentaten, Herr Hans Kreuzwendedich aus dem Winkel.«
»Was, Sie sind Hans aus dem Winkel?« schrie Fuxia auf, »der größte Wagnersänger der Gegenwart –?«
»Ein hoffnungsvoller Patriciersohn vom Rhein!« sagte der Professor vorwurfsvoll, »ein Bismarck in der Entwicklung. Aber das alte Haus aus dem Winkel, das mit flüssigem Rheingold handelt seit Menschengedenken, konnte sich's schon mal anthun, einen Jungen Diplomaten werden zu lassen. Gymnasium, Universität – er rassaunte's Ihnen nur so ab – Geschichte hörte er bei mir und Altertumskunde so nebenbei noch. Kommt da aber eines Tages so'n verrückter Musikant nach Leipzig, hört'n singen – na, 's Resultat haben Sie faustdick hier, meine Herrschaften! Adje, Bismarck, adje römisches Recht, Geschichte u. s. w. – – Der Rest ist –: Der reine Thor!«
»Ich freue mich herzlich. Sie rennen zu lernen, Herr aus dem Winkel,« sagte Hochwald, dem Sänger die Hand reichend, und sich zu dem Professor zurückwendend, fuhr er fort: »Die Herren sind natürlich meine Gäste. Sie, Professorchen, lasse ich nämlich für's erste nicht mehr los, und Herr aus dem Winkel wird mitgefangen und mitgehangen. Zunächst aber ein Bekenntnis – ich bin verheiratet!«
»Nee, was man alles für Enttäuschungen beim Menschen erlebt!« rief der kleine dicke Herr ehrlich entsetzt. »Kein größerer Ehefeind am Nil als Sie sozusagen – das ging ja noch über meine Ehescheu! Und nun verheiratet! Na, ich gratuliere von Herzen – 's muß jeder wissen, was er thut, und Sie sind doch nachgerade erwachsen. Ist Ihre werte Frau Gemahlin hier?«
»Ja,« antwortete Hochwald, und dabei kam ihm ein närrischer Gedanke. Er führte den Professor vor die zusammenstehende Gruppe der Damen und sagte feierlich: »Eine von denen ist's! Nun, sagen Sie mir, welche?«
Der Professor wischte sich seine Brillengläser mit dem gelben Taschentuche ab und blinkerte höchst vergnügt mit den Augen.
»Hören Sie, Sie machen mich da sozusagen zum Paris,« sagte er humoristisch. »Die Apfelgeschichte ist dazumal höchst ungemütlich verlaufen, weil der gute Junge, der Paris, nicht auf den klugen Gedanken gekommen ist, den Apfel zu teilen. Mein Fall ist hier nun noch viel kritischer, denn eine kann's doch nur sein, also 's Teilen würde mir nicht mal was nützen. Sie darf ich doch wohl von der engeren Wahl ausnehmen, meine Gnädigste,« wandte er sich an Madame Chrysopras.
»Warum?« sagte diese, auf den Scherz eingehend. »Bin ich Ihnen etwa zu alt? Sie wären mir gerade der rechte Paris, der Juno, die Göttermutter, als zu alt aus der Schönheitskonkurrenz herausrobbert.«
»Ei, du Donnerwetter, da scheine ich ja in e recht nettes Wespennest gestochen zu haben,« rief der Professor so verblüfft, daß alles in ein heiteres Lachen ausbrach. Doch Madame Chrysopras versicherte nun, daß sie als Schwester Hochwalds von selbst aus der Reihe der Grazien trete, und der kleine Gelehrte, dem die Sache Spaß machte, begann nun seine Prüfung.
» Well – bin ich's?« fragte Fuxia mit dem ganzen Siegesbewußtsein ihrer Nationalität vortretend.
Professor Glauchau sah sie lange prüfend an.
»Nein,« sagte er nach einer Weile, »Sie sind's nicht!«
»Warum nicht? Ich bitte um Gründe!«
»Ha, ha! Ja, hören Sie, mein schönes Fräuleinchen – der Hochwald, den ich kenne – er müßte sich gerade fürchterlich in seinen Ansichten geändert haben, aber der war dazumal am Nil ein großer Freund von Gemälden und von der Kunst. Nur von der Kunst in der Natur, was der Franzose so corriger la nature nennt und der Soldat das Lederzeug weißen – nein, davon hat er nichts gehalten. Und darum möcht' ich sagen. Sie sind's nicht!«
Fuxia verstand als Ausländerin nur halb, was der gute Professor in seinem Sächsisch dozierte, und Boris auch nur die andere Hälfte, aber sie begriff, daß es sich wohl um die wohlverteilte Schicht von Puder handeln müsse, die auf ihrem Gesichte lag. »Well,« sagte sie, »ich glaube. Sie sind nicht sehr höflich.«
»Mein schönstes Fräuleinchen, Sie haben meine Gründe hören wollen, ich glaube nicht, daß man sie euphemistischer ausdrücken kann,« erwiderte der Professor mit strahlendem Gesichte. »Um nun wieder fortzufahren in meinem Geschäft,« wandte er sich an die ihm zunächst stehende Sascha, »Sie sind wohl nicht von hier?«
»Kalmückenblut, gemischt mit echtem Germanenblut – Resultat: Russin!« erwiderte Sascha heiter. »Professor, gehen Sie weiter – die Gründe erlasse ich Ihnen, warum ich Ihres Freundes Frau nicht bin.«
»Aber mein gutes allerherzigstes Fräuleinchen,« begann Dr. Glauchau etwas verlegen.
Aber sie unterbrach ihn lachend. »Ich nenne mich mit Stolz eine Malerin und weiß sehr gut, was schön ist, und mein lieber Onkel Hochwald weiß es auch,« rief sie mit so viel Gutmütigkeit, mit feinem Takt den Kernpunkt umgehend, daß der kleine Professor sich unwillkürlich herabbeugte, die schöne Hand der Häßlichen zu küssen.
Iris aber trat rasch, Sigrid am Arme, vor den Gelehrten hin. »Nun zur engeren Wahl,« sagte sie mit ihrem reizenden Lächeln, »wir sind zwei Schwestern, wählen Sie aber die Rechte, denn eine von uns beiden muß es jetzt sein.«
»Nu soll mir aber doch einer sagen, was nordisches Blut ist,« rief Dr. Glauchau mit der Bewunderung des Kenners. »Blondes Haar, rosige Farben wie die schönste Pfirsichblüte, blaue Augen – ja, ja, nee, nee! Nu eben! Und was nun die Wahl anbetrifft, hier is se sozusagen schon bedeutend erschwerter. Nein, eigentlich gar nicht! Denn mein Herze hat für meinen Hochwald schon entschieden – so liebe klare Veilchenaugen, wo's ganze liebe Herze rausguckt, das ist seine Wahl! Kommen Sie an mein Vaterherze, Kindchen – ich muß Ihnen einen Kuß geben!«
Und der Professor zog unter allgemeinem Jubel Iris ohne weitere Ceremonien an seine Brust und applizierte ihr einen Kuß, dem man den Genuß förmlich anhörte.
Inzwischen war das mitgenommene Wasser im Kessel zum Kochen gekommen und der Thee bereitet, und der so unerwartet erweiterte Kreis lagerte sich um die alte Eiche, wo Iris ihres Hausfrauenamtes waltete, trank den duftigen, kräftigen Trank und plauderte so heiter und ungezwungen, wie man eigentlich nur im Freien, unter grünen Bäumen plaudern kann.
Fürst Hochwald verfolgte nun zunächst sein Ziel, den berühmten Archäologen zu einem längeren Aufenthalte in seinem Hause zu bestimmen, ein Wunsch, den Iris sogleich unterstützte, obgleich der Professor die Einladung nicht annehmen wollte.
»Sie können aber gar nicht an einem Hause vorbeigehen, Herr Doktor, das baulich so interessant ist und eine so unerschöpfliche Fundgrube an alten Möbeln, Sammlungen, Gemälden und Kunstobjekten darstellt,« meinte Iris, dem Professor ein Sandwich mit getrüffelter Schnepfenpastete aussuchend, wie es öfter schon von ihm bevorzugt worden war. »Davon haben wir auch noch mehr zu Hause,« fügte sie neckend hinzu.
»Hören Sie, Sie sind ein Engelchen,« sagte der Professor gerührt, indem er die sechste Tasse Thee austrank und sie zu neuer Füllung an Iris gab. »Ihr altes Haus voller Kunstobjekte könnte mich ja auch höllisch reizen, aber, mein lieber Hochwald, ich will mal ehrlich reden. Sehen Sie – ich hab' mich während der Ferien auf die Socken gemacht, um ein paar Lungen voll frischer Luft zu schnappen –«
»Das können Sie bei uns vortrefflich,« unterbrach ihn Hochwald. »Erstens genießen unsere Gäste persönliche Freiheit; zweitens sind wir auf dem Lande, wo von der einen Seite die Seeluft, von der anderen der Ozon des Waldes jedem Luftbedürfnis entspricht; drittens aber können Sie von uns aus täglich Ausflüge zu Wasser und zu Lande machen an Orte, die archäologisch noch verhältnismäßig wenig ausgebeutet sind, und viertens werden Sie für Regentage im Hause selbst auf Monate interessanten Stoff finden.«
»Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie auf dem Lande wohnen, mein bester Hochwald,« sagte der Professor nachdenklich. »Da wäre ich wirklich fast so unbescheiden, ja zu sagen. Darf ich fragen, wo Ihr Haus liegt?«
Hochwald beschrieb die Lage und gebrauchte dabei einmal den Ausdruck »mein Schloß«.
»Hören Sie,« meinte der kleine Gelehrte, »nach Ihrer Beschreibung muß das ja 'n fürstlicher Besitz sein! Aus Ihren Worten am Nil nahm ich eigentlich an, daß Sie in Berlin wohnen. Wie heißt denn Ihr Gut?«
»Hochwald, lieber Professor.«
»Hm! Hm! Ich hab' schon gehört von so 'ner Art Märchenschloß an der See, wo sich die Tizians mit'n Raphaels stoßen – das Schloß aber gehört einem der Erzämtler, einem Fürsten Hochwald.«
»Es stimmt schon, Professorchen, denn es giebt nur einen Fürsten dieses Namens – Ihren Verehrer vom Nil.«
Dem Gelehrten fiel thatsächlich das schöne Schnepfen-Sandwich aus der Hand und natürlich auf die bestrichene Seite ins Moos.
»Das Gesetz der Schwere,« sagte Iris lachend und suchte nach einem Ersatze.
»Und Sie, Sie sind der Fürst von Hochwald? Mit Ihnen hab' ich so wenig Ceremonien gemacht, und Ihre wunderschöne Frau Gemahlin, Durchlaucht, habe ich geküßt? Nee, hören Sie, das war nicht schön von Ihnen!«
»Professor, wo bleibt da die Logik?« lachte Hochwald. »Wie kann von mir nicht schön sein, was Sie thun? Als wir uns vorstellten, sagten Sie: mein Name ist Glauchau und ich sagte: mein Name ist Hochwald. Den Fürsten laß ich auf Reisen immer zu Hause. Na, darum keine Feindschaft, hoffe ich. Also die Sache ist entschieden. Sie verbringen Ihre Ferien als mein Gast, aber unter der Bedingung, daß ich Hochwald für Sie bleibe, schlichtweg!«
Der kleine Gelehrte warf einen scheuen Seitenblick auf seinen »Freund vom Nil« und einen noch viel scheueren auf die mühsam ihre Heiterkeit verbergende Iris.
»Ja,« sagte er nach einer Weile, »es ist eigentlich ganz gegen meine Prinzipien, den Fürstenknecht zu spielen. Mein Buckel ist nämlich ein wenig sehr steif –«
Nun lachte aber Iris hell hinaus.
»Herr Professor, Sie sind unser Mann,« rief sie lustig. »Mein Mann und ich, wir teilen nämlich ganz, sowohl Ihre Ansicht, als auch Ihre Steifheit des Rückgrates. Und dann, sehen Sie, sind wir ja gottlob keine Regierenden, sondern einfache Edelleute, die vielleicht etwas höher an den Stufen des Thrones rangieren als andere, aber – es muß ja auch solche Käuze geben, sagt Goethe!«
»Sehr richtig, meine allerschönste und gnädigste Frau Durchlaucht,« erwiderte der Professor immer noch etwas steif. »Aber es ist nun mal so –: ich bin ein Leipz'ger Bürgersohn und aufgewachsen in einem – na, nennen wir's Vorurteil gegen den Adel. Ich bin kein Socialdemokrat, nein, weiß Gott nicht, das bin ich nicht, aber ich gehöre zu den Leuten, die gegen die veraltete und unzeitgemäße Einrichtung und gegen das dauernde Fortbestehen des Adels überhaupt Front machen. Der Adel ist –«
»Aber Herr Professor,« unterbrach ihn Iris freundlich und mit der ganzen gewinnenden Liebenswürdigkeit ihres Wesens. »Wir kennen ja die Schlagworte gegen den Adel zur Genüge. Verrottete Vorurteile, Aristokratie, die sich auf dem Lotterbette der Traditionen faul wälzt, und in dieser Art wohl noch ein paar Dutzend mehr. Meinen Sie aber nicht, daß man, ohne seine Prinzipien zu schädigen, trotzdem mit dieser verpönten Kaste verkehren kann, die, fürs erste wenigstens, doch nicht aus dem socialen Leben zu schaffen ist? Oder glauben Sie nicht, daß die gottlob größere Mehrheit des Adels es ebenso ernst nimmt mit ihren Pflichten als jede andere Kaste? Giebt es denn nur beim Adel verkommene Subjekte, niedrige Gesinnungen und lockere Sitten? – Hat nicht jede Herde ihre schwarzen Schafe?«
Der Professor nickte freundlich.
»Bravo, Frau Fürstin, Sie sind ein beredter Anwalt,« sagte er mit merkwürdig sanftem Tonfall; denn Jugend und Schönheit plädierten bei dem alten, schönheitsfrohen Gelehrten fast noch eindringlicher als Worte.
»Meine Frau versteht es immer, eine von ihr vertretene Sache zu führen, und wenn sie sich zum Anwalt dafür macht, muß es eine gute Sache sein,« meinte Hochwald, indem er seinen Blick von unsäglichem Glück auf Iris ruhen ließ. »Aber auch ich trete für diese Sache, trete für den Adel ein, dessen Fahne ich gern hochhalten möchte für alle Zeiten als ein Wahrzeichen für seine Pflichten. Trotzdem möchte auch ich eine zeitgemäße Reform des Adels haben und zwar im Sinne der englischen Adelsordnung. Ich halte es geradezu für einen Fluch, daß bei uns ein schlecht dotierter jüngerer Sohn, eine arme jüngere Linie – der unverheirateten Töchter gar nicht zu gedenken – einen aristokratischen Namen, einen hohen Titel durchs Leben schleppen müssen, einen Titel, der ihnen Verpflichtungen auferlegt, ihre Thatkraft lähmt und sie zu dem Elende der »verschämten Armut« bringt. In England ruht Titel, Besitz und Verpflichtung auf dem Haupte der Familie und seinem Erben – die jüngeren Söhne mit ihrem einfachen ›Mister‹ können ungehemmt durch irgendwelchen Titel den Stand ergreifen, der ihnen nach Veranlagung und Charakter zusagt, ohne daß ihre Verwandtschaft sich darüber den Mund zerreißt. Die Rasse hat dadurch meines Wissens nicht gelitten. Wenn aber hier ein Prinz, Graf, Baron oder Adliger einen Handel anfangen oder sonst eine für den Adel ungewöhnliche Carriere ergreifen wollte – stellen Sie sich den Aufruhr unter seinen Standesgenossen vor, trotzdem jeder Gutsbesitzer, ob adelig oder bürgerlich, ein Kaufmann ist in dürren Worten. Er lebt von dem Ertrage seines Bodens, seines Viehes, seiner Brennereien – nun, der Kaufmann thut nichts anderes, mag die Ware heißen, wie sie will. Also in diesem Sinne, in dem Sinne der englischen Aristokratie möchte ich die unsrige reformiert haben, und ich meine, das wäre ein gewaltiger Fortschritt für den Adel. Höhergestellte wird es in dieser Welt immer geben, selbst wenn der Socialismus je, was Gott verhüten wolle, regieren sollte. Denn das erste, was diese Weltbeglücker einführen würden, wäre eine Aristokratie, unter anderem Namen natürlich, aber mit bedeutend erweiterten Rechten. Sehen Sie sich doch die republikanischen Länder an –: die ›Gleichheit‹, die dort herrscht, ist doch stellenweise sehr merkwürdig, und die Privilegien gewisser Kreise gehen weit über die unseres Adels hinaus; – und nun, Sie freier Mann, der Sie bei mir doch wohl eingekehrt wären, wenn ich Hochwald schlichtweg geheißen hätte. Sie Mann ohne Vorurteile, ist ein Titel schon imstande. Sie gegen den einzunehmen, den Sie drunten am Nil Ihren Freund genannt? Ich glaub's nicht, denn das wäre ja ein Zweifel an Ihrem Verstand und an Ihrem Herzen!«
»Na,« meinte der Gelehrte achselzuckend, »den Zweifel an meinem Verstand möcht' ich noch hinnehmen, denn stand ist am Ende doch nur ein relativer Begriff, der für viele sehr wertlos ist. Aber wenn ein Mensch, den ich schätze und liebe, an meinem Herzen zweifelt – sehen Sie, das könnt' mir wehe thun –«
Das Ende vom Liede war, daß der gute Leipziger Professor nur zu gern als Gast auf der Jacht »Iris« gen Hochwald zog. – Die Einladung wurde nun natürlich auch auf Hans aus dem Winkel in liebenswürdigster Weise ausgedehnt, und da dieser einzig und allein zu seiner Erholung unterwegs war, so nahm er gern an, was ihm so freundlich und mit echter, guter, alter, deutscher Gastfreiheit geboten wurde. Das Boot der Herren wurde also entlassen mit der Bestellung, daß das Gepäck derselben umgehend nach Station Hochwald durch Eilfracht befördert werden müsse.
Als dann die Abendbrise übers Meer strich und die Sonne schon tief stand, da segelte die weiße Jacht zurück von dem Eilande Balders, des Frühlingsgottes, zurück an das Schloß am Meer, und die blonde Schloßherrin, die lieblich wie ein Elfenkind auf dem Verdecke stand und des schöneren Teiles von Heines »Sonnenuntergang« aus den Nordseeliedern gedachte – sie ahnte wenig, daß daheim schon die finsteren Dämonen thätig waren, die ihr Glück zu zerstören und den Frieden ihrer Seele zu vernichten kamen.
Das Abendrot stand in seiner vollsten Glut, als die Jacht in der Bucht von Hochwald ankerte. In ein Meer von Purpur und Gold verwandelt schien die See, Millionen leuchtender Funken tanzten auf der Flut und die Abendluft ging mild und erquickend darüber hin wie der Atem Gottes – – –
Als die kleine Gesellschaft vollzählig gelandet war, gingen sie zu Fuß über die Düne nach dem Schlosse – ein kurzer Weg, der an dem hohen, kunstreichen Gitter von Schmiedeeisen, das in den Park führte, mündete. Durch die hinter dem Gitter sich lang hinstreckende, breite Allee von uralten mächtigen Kastanienbäumen leuchtete von Westen her das Abendrot. Das barocke Muster des Thors mit der Fürstenkrone darauf hob sich wie ein Schattenbild von dem leuchtenden Hintergründe ab, in dem Thore aber stand eine hohe, durch die optische Täuschung der Beleuchtung zu überirdischer Größe gespenstisch verlängerte Gestalt eines Mannes, dessen Gesicht dem durch die Abendröte geblendeten Blick der Entgegenkommenden unerkennbar war – eine Gestalt, die in dem Thore stand wie ein Schatten kommenden Unheils, wie ein Dämon, der den Eintritt dem Glücklichen verwehrte. Und doch war diese Gestalt nur ein am Nachmittag um vierundzwanzig Stunden zu früh eingetroffener Gast – der Cavaliere Spini, Marchese della Pescaja.